Karl von Frisch
und die Entdeckung der Bienensprache
Aus dem Englischen
von Barbara Sternthal
Gedruckt mit unterstützung der Stadt Wien / MA7 Wissenschafts- und Forschungsförderung sowie der Familie von Frisch
Munz, Tania: Der Tanz der Bienen – Karl von Frisch und die
Entdeckung der Bienensprache / Tania Munz
Wien: Czernin Verlag 2018
ISBN: 978-3-7076-0648-5
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Dancing Bees – Karl von Frisch and the Honeybee Language«.
Licensed by The University of Chicago Presse, Chicago, Illinois; U. S. A.
© 2018 Czernin Verlags GmbH, Wien
© 2016 by The University of Chicago. All rights reserved.
Übersetzung: Barbara Sternthal
Autorenfoto: Michelle Kaffko
Umschlagbild: Karl von Frisch, Über die »Sprache« der Bienen –
Eine tierpsychiologische Untersuchung (Jena: G. Fischer, 1923)
Umschlaggestaltung nach Jill Shimabukuro
Satz: Mirjam Riepl
Druck: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
ISBN Print: 978-3-7076-0648-5
ISBN E-Book: 978-3-7076-0649-2
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien
Für meine Eltern
Und für Tim
Das Leben der Bienen ist ein Zauberbrunnen.
Je mehr man aus ihm schöpft, desto reicher fließt er.
Karl von Frisch,
Aus dem Leben der Bienen
(1958)
EINLEITUNG
Sensationelle Entdeckungen
BIENENSKIZZE I
Viktorianische Bienen
KAPITEL EINS
Aufwachsen in Wien
KAPITEL ZWEI
Die fähigen Bienen
BIENENSKIZZE II
Die Wahrnehmung der Sinne
KAPITEL DREI
Die Ruhe vor dem Sturm
KAPITEL VIER
Im Dienste des Reichs
BIENENSKIZZE III
In den Tiefen des Bienenstocks
KAPITEL FÜNF
Im Zustand der Gnade
KAPITEL SECHS
Stückwerk im Nachkriegsdeutschland
KAPITEL SIEBEN
In Amerika
BIENENSKIZZE IV
Bienen sehen
KAPITEL ACHT
Angriff auf die Tanzsprache
ZUM ABSCHLUSS
180/60
Dank
Anmerkungen
Bibliografie
Personenverzeichnis
Im Januar 1946, als Europa unter den Trümmern des Zweiten Weltkriegs begraben lag, schrieb Karl von Frisch enthusiastische Briefe an seinen Freund und Kollegen, den Verhaltensforscher Otto Koehler. Der aus Österreich stammende Physiologe und Bienenforscher berichtete von seinen »sensationellen Neuigkeiten über die Sprache der Bienen«.1 Im Laufe der vergangenen zwei Sommer hatte er herausgefunden, dass Bienen ihren Stockgenossinnen die Entfernung und Richtung von Nahrungsquellen mithilfe von »Tänzen« mitteilen, die sie vorführen, wenn sie von ihren Trachtflügen zurückkehren. Nahe gelegene Futterstellen, stellte er fest, bezeichnen die Insekten durch einen kreisförmigen Tanz, größere Distanzen durch einen Schwänzeltanz in Form der Ziffer Acht. Die geraden Abschnitte des Schwänzeltanzes, erklärte er, beinhalten auch Informationen über die Richtung, und die Häufigkeit der Drehungen korreliert mit der Entfernung – je näher die Nahrungsquelle, desto schneller der Tanz. »Und wenn Du jetzt glaubst, dass ich spinne, so hast Du doch nicht recht, aber ich könnte es verstehen …«,2 schloss der ansonsten so zurückhaltende von Frisch ein Schreiben.
Er hatte recht: Seine Entdeckung war eine Sensation, und die Nachricht davon verbreitete sich rapide über ganz Europa und darüber hinaus. Zwar sah sich seine Interpretation der Bienenkommunikation phasenweise heftigen Widersprüchen ausgesetzt, doch das Werk überdauerte als Klassiker der Verhaltensforschung und platzierte Bienen neben Primaten, Delfinen und Vögeln erfolgreich im Pantheon kommunizierender Tiere, wie er Mitte des 20. Jahrhunderts bestand. Mit fieberhafter Betriebsamkeit nahmen interdisziplinäre Studiengruppen, Buchausgaben und Symposien in der Nachkriegszeit das Problem tierischer Kommunikation in Angriff.3 Den Bienen kam innerhalb dieser Forschungen ein herausragender Rang zu. Während der i96oer-Jahre war ihre »Sprache« die meistuntersuchte Form tierischer Kommunikation, wobei einige sie für die komplexeste nach der menschlichen Sprache hielten.4 Auf dem Spiel stand besonders viel, da Sprache lange Zeit als Fenster in die Köpfe und Seelen der Menschen betrachtet wurde und als einer der maßgeblichsten Unterschiede zwischen Mensch und Tier.
Viele der bekanntesten Wissenschaftler jener Zeit – darunter der Soziobiologe und Ameisenspezialist E. O. Wilson, der Fachmann für Kognitive Ethologie Donald Griffin und der Ethologe und Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen – rühmten von Frischs Entdeckungen und seine Methode. Ganze Generationen von Bienenforschern diskutierten und zitierten sein Werk seither. Und 1973 wurde er mit einer der höchsten Ehren bedacht, die einem Wissenschaftler zuteilwerden kann: Seine Entdeckungen brachten ihm seinen Anteil am Nobelpreis für Physiologie oder Medizin, den er mit Tinbergen und Konrad Lorenz teilte.5
In weiten Kreisen bekannt war von Frisch jedoch bereits, bevor er den Nobelpreis erhielt. Fast während seiner gesamten Laufbahn verfasste er Bücher und Beiträge für Laien und gab eine kleine Buchreihe unter dem Titel Verständliche Wissenschaft mit dem Ziel heraus, dem deutschsprachigen Publikum die Arbeit bekannter Wissenschaftler nahezubringen. Vor einem Publikum, das die ganze Bandbreite von Schulkindern bis zu Senioren abdeckte, hielt er Vorträge und produzierte einige wegweisende Filme, in denen die Sinneswelt der Tiere mithilfe ausgeklügelter Methoden dargestellt wurde.6 Seine jungenhafte Drahtgestellbrille auf der Nase führte er Jung und Alt in die rätselhafte Welt der Bienen ein.
Der Tanz der Bienen ist eine zweifache Biografie: Einerseits jene von Frischs als einem der innovativsten und erfolgreichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, andererseits die seiner Bienen als Versuchstiere, vor allem aber kommunizierender Tiere, die eine wesentliche Rolle in der Kultur der Menschheit spielen. Erzählt wird von der Entdeckung der Tanzsprache im Kontext mit der Politik und jenen Ereignissen, die Deutschland und die Welt im 20. Jahrhundert veränderten. Bis Aristoteles reicht die Reihe jener zurück, die Bienentänze vor von Frisch beobachtet haben. Und Imker haben lange über eine mögliche Form von Bienenkommunikation spekuliert, mit der Sammlerinnen zur Trachtquellensuche mobilisiert werden. Doch es war von Frisch, der den definitiven Zusammenhang zwischen den Tänzen der Bienen und ihren Fähigkeiten, Stockgenossinnen zur Futtersuche zu rekrutieren, als Erster herstellte. Wie, fragen wir uns, stellte von Frisch es an, dieses Verhalten wahrzunehmen, wo andere jahrhundertelang zwar hinsahen, aber nicht erkannten?
Neben der Geschichte von Frischs füge ich in diesem Buch eine Reihe von Skizzen hinzu. Sie sind einzelnen Aspekten aus dem Leben der Bienen gewidmet und illustrieren den Wandel, den diese Insekten in der Vorstellung von Laien und Wissenschaftlern im Laufe des Jahrhunderts vollzogen haben. Lange bevor von Frisch die bemerkenswerte Tanzsprache dieser Tiere offenbarte, teilten Mensch und Biene eine innige und komplexe Geschichte. Beginnend mit Vergils Lehrgedicht aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert bis zu Bernard Mandevilles subtil subversiver Fabel über das Gemeinwesen der Bienen: Der Bienenstock diente als Inspiration dafür, wie ein gut geführter Staat funktionieren könnte und erwies sich als taugliche Projektionsfläche für moralische Übertragungen auf die Natur.7 Ich schreibe die Geschichte der Bienen parallel zu der Menschheitsgeschichte, um aufzuzeigen, wie sich das Verständnis für diese Insekten kulturell und wissenschaftlich – von politisch über physiologisch bis hin zum kommunizierenden Tier – verändert hat.
Doch während Studenten in aller Welt weiterhin über die Tanzsprache der Bienen lernen, sind die Umstände, unter denen von Frisch seine Entdeckungen gemacht hat, heute weit weniger bekannt. Der Brief zu den »sensationellen Neuigkeiten« vom Januar 1946 legt nahe, dass er einen Teil seiner wesentlichsten Arbeiten vor dem Hintergrund des tödlichsten Konflikts der Menschheitsgeschichte durchführte.
Als Hitler 1933 die Macht übernahm, war von Frisch Professor für Zoologie an der Universität München. Im Zuge der »Gleichschaltung«8 übernahmen die Nazis bald darauf die Kontrolle über die Stadt und deren Institutionen. Um sämtliche öffentliche Einrichtungen von Juden und anderen »Unerwünschten« zu »säubern«, verlangte die nationalsozialistische Verwaltung von allen öffentlich Bediensteten – auch vom universitären Lehrpersonal – einen Nachweis ihrer arischen Abstammung. Im Fall von Karl von Frisch stellte sich Ende i940 als verhängnisvolle Tatsache heraus, was anfänglich nur ein vages Gerücht gewesen war: Nach Monaten der Suche lag dem Reichssippenamt ein Beweis vor, dass von Frischs Großmutter mütterlicherseits jüdischer Abstammung war. Wie viele assimilierte Juden im 19. Jahrhundert, die sich selbst als loyale Bürger des Kaiserreichs betrachteten, waren deren Eltern nur ein paar Jahre vor der Geburt der Großmutter zum Katholizismus konvertiert.9 Der Grund war vermutlich derselbe gewesen wie meistens: die Hoffnung, der Familie eine bessere Zukunft in einer christlich dominierten Gesellschaft zu sichern. Doch was die Nazis unter »jüdisch« verstanden, wurzelte in den Begriffen »Blut« und »Abstammung« und nicht in jenen eines kulturellen Erbes oder der Konfession. Das führte dazu, dass Menschen wie Karl von Frisch, die sich nie zuvor als jüdisch betrachtet hatten, aufgrund eines mehr oder weniger weit zurückliegenden Astes ihres Stammbaums plötzlich Juden waren.
Das Schicksal der »Vierteljuden« war nie so fatal wie jenes von »Halbjuden« oder »Volljuden«.10 Doch nach und nach schloss man sie von höherer Bildung aus und verwehrte ihnen bestimmte Berufszweige wie Medizin oder Rechtswissenschaften. Was von Frisch betraf, bedeutete die Statuserklärung als »Vierteljude« durch den Präsidenten der Münchner Universität Anfang 1941 auch, dass man ihm ankündigte, er würde seiner Position enthoben. Von Frisch war am Boden zerstört. Er war vierundfünfzig Jahre alt und die Arbeit sein ganzes Leben.
Karl von Frisch betrachtete sich nicht nur vor dem Krieg, sondern während seines ganzen Lebens als unerschütterlich unpolitisch. Dennoch stellte sich sein Instinkt, wem er sich wann zuwenden und wo auf der wissenschaftlichen Landkarte seiner Zeit er seine Arbeit platzieren sollte, als klug heraus. Aufgrund einer merkwürdigen Fügung des Schicksals führte er einige seiner wesentlichsten Arbeiten weniger trotz, sondern wegen des Regimes aus. Und eine entscheidende Rolle dabei spielten die Bienen.
Genau in jenem Moment, als von Frisch von seiner bevorstehenden Entlassung erfuhr, war auch sein bevorzugtes Forschungsobjekt – die Biene – in Gefahr. Ein kleiner Darmparasit, den man unter seinem lateinischen Namen Nosema apis (kurz: Nosema) kennt, richtete im Inneren der Insekten verheerenden Schaden an. Die Eindringlinge vermehrten sich so rasch, dass sie die Eingeweide der Tiere buchstäblich sprengten und befallene Bienen eine Kotspur hinter sich herzogen, während sie ihrem Tod entgegenkrochen. Hunderttausende Bienenstöcke in Deutschland wurden in den Jahren 1940 und 1941 von diesem Parasiten zerstört.11 Zwar war der Grund für die plötzlich auftretende Epidemie unbekannt, doch dass der Verlust des Hauptbestäubers in der Landwirtschaft ein Verhängnis für die Menschen sein würde – zumal für das vom Krieg geschwächte Deutschland –, war klar.
Bis zum Winter 1941 waren die aus deutscher Sicht überwältigenden Erfolge des Blitzkriegs einem aufreibenden Zermürbungskrieg gewichen. Der Krieg, so schien es, würde nicht durch kurze Kraftdemonstrationen gewonnen, sondern von jener Nation, die ihre Soldaten am längsten bewaffnen und versorgen konnte. Deutschland verdoppelte seine Anstrengungen. Militärische Strategie, Ökonomie, Agrarpolitik, Propaganda: die Essenz aller Ressourcen floss in die Kriegsmaschinerie. Und als sich Deutschland dem totalen Krieg näherte, konnte von Frisch einen kleinen Platz innerhalb der Nazi-Bürokratie für sich behaupten. Die Abhängigkeit der hungrigen Kriegsnation von der Landwirtschaft, die sowohl die Soldaten an der Front als auch die Menschen zuhause versorgen musste, war gravierend.12 Der Ackerbau hing von der erfolgreichen Kultivierung und dem Wachstum von Nahrungspflanzen ab, von denen wiederum viele auf Bienen angewiesen waren. Nur von diesen Insekten bestäubte Blüten würden später Früchte tragen. Von Frisch hatte eine klassische Ausbildung in Experimenteller Physiologie erhalten und wusste kaum etwas über Darmparasiten und noch weniger über Landwirtschaft im großen Stil. Doch er wusste enorm viel über Bienen.
Als ich Karl von Frischs Werk zum ersten Mal las, zogen mich die elegante Schlichtheit und die überzeugende Logik seiner Experimente in ihren Bann. Er schien in der Lage, aus der potenziell überwältigenden Komplexität der Natur ein Destillat zu erzeugen, das der sauberen, ordentlichen Welt eines Laboratoriums ähnelte. Doch je mehr ich in seinen Notizen, Briefen und Büchern las, desto stärker wurde mein Bedürfnis, etwas über die chaotische Welt zu erfahren, die er in Schach zu halten schien, wenn er mit seinen Bienen arbeitete. Und als ich ihm auf seinem Pfad folgte, ergab sich ein weitaus weniger sauberes Bild: Seine Arbeit, so zeigte sich, war doch sehr seiner Zeit und seinem Ort verhaftet. Kurz nachdem er von seiner bevorstehenden Entlassung erfahren hatte, wandte er sich hilfesuchend an Freunde und Kollegen. In der Hoffnung, die Nazis würden eine Fortsetzung seiner Arbeit für sinnvoll halten, verschob er darüber hinaus den Fokus seiner Forschungen in eine eher praktische Richtung. Was, so fragte ich mich, sollen wir damit anfangen, dass er seine wichtigsten Forschungen finanziert vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft durchführte? Wie, müssen wir uns heute fragen, sollen wir diese Entscheidungen im Lichte dessen, was wir über den Nationalsozialismus und seine Beziehung zur Wissenschaft wissen, beurteilen? Und welche Konsequenzen hatte es in der Nachkriegszeit, dass er von den Nazis zum »Vierteljuden« erklärt worden war?
Über die Jahre, in denen ich mich in von Frischs Arbeit und Leben vertiefte, stellte sich heraus, dass sich seine Geschichte einfachen Antworten widersetzt. Stattdessen gewährt sie einen seltenen Einblick in die Art und Weise, wie er durch die erdrückende und oft beängstigende Nazi-Bürokratie navigierte. Zieht man von Frischs Biografie heran, ist man gezwungen, jene vereinfachten Darstellungen zu vermeiden, die das Bild eines Regimes malen, das den Wissenschaften – die rohsten und rassifiziertesten ausgenommen – feindlich gegenüberstand. Karl von Frischs Arbeit war weder rassistisch motiviert noch (so wie vieles aus den Bereichen der Nazi-Genetik, -Anthropologie, -Psychologie, -Medizin und -Physik) pseudowissenschaftlich. Dennoch fügte sich seine Forschung gut in das langfristige Bestreben Deutschlands, sich von kriegswichtigen Nahrungsmittel- und Rohstoffimporten unabhängig zu machen.13
Nach dem Krieg wandte sich von Frisch neuerlich an seine Kollegen jenseits des Atlantiks und des Ärmelkanals, wobei sein Schicksal während des Kriegs keine geringe Rolle dabei spielte, diese Kontaktaufnahme zu erleichtern. Wissenschaftler, die während des Kriegs im Deutschen Reich gearbeitet hatten, wurden von ihren Kollegen und alten Freunden in den alliierten Staaten nun oft ausgeschlossen oder zumindest sehr kühl behandelt. Doch als bekannt wurde, dass die Nazis von Frisch zum »Vierteljuden« erklärt und dadurch seine Arbeit gefährdet hatten, betrachtete man seine politische Legitimation bald als tadellos. Wer als Nazi-Feind wahrgenommen wurde, konnte nun als Alliierten-Freund betrachtet werden.14 Für die Amerikaner, die nach dem Krieg auf der Suche nach dem »guten Deutschen« waren – vor allem Ende der I940er-Jahre, als sich die Aufmerksamkeit weg von der Entnazifizierung und hin zum heißer werdenden Kalten Krieg mit der Sowjetunion verlagerte –, machte diese Form der politischen Entlastung von Frisch zum attraktiven Kandidaten für Unterstützung und Förderung. Als er sich 1949 auf einer Vortragsreise durch die USA befand, ließ von Frisch wichtige Kontakte neu aufleben, die ihm Zugang zu den tiefen Taschen der Rockefeller Foundation verschafften. Und auch während der hitzigen Debatten über die Bedeutung der Bienentänze in den 1960er- und I970er-Jahren boten ihm diese transatlantischen Verbindungen Rückhalt.
Zur Debatte stand in diesem Disput, der in den 1960ern einsetzte, nicht bloß die Frage, ob die Bienentänze zur Übermittlung von Informationen über Trachtplätze dienten, sondern der Denkansatz an sich: Waren Tiere zu einer symbolischen Kommunikation fähig? Und wenn ja, welche Bedeutung hatte dies für das wissenschaftliche Verständnis von der Grenze zwischen Tier und Mensch?
Karl von Frischs Methoden und Antworten auf diese Fragen hielten der Herausforderung letzten Endes stand, und die Verleihung des Nobelpreises war ein Zeugnis davon, dass diese Wissenschaft vom Tier ihre volle Geltung erlangt hatte. Ihren aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ruf, es mangle ihr an Objektivität und sie schwelge in Anekdoten über moralisch aufrechte Arbeitsbienen, weise Königinnen und faule Drohnen, hatte die zoologische Verhaltensforschung erfolgreich abgestreift. Und doch tauchte an ihrer Stelle ein neues Modell für die Menschheit auf. Als die Rockefeller Foundation von Frischs Arbeit in der Nachkriegszeit neuerlich förderte, tat sie dies mit dem expliziten Wunsch, es möge zum Verständnis der Kommunikation zwischen Völkern und Kulturen beitragen, zumal nach einem Krieg, der als eine der größten Katastrophen der Menschheit in die Geschichte einging.
Selbst heute noch, da uns die Wissenschaft hochmoderne Einsicht in Bienenstöcke und Zugang zu deren Bewohner gewährt, nehmen Bienen einen wesentlichen kulturellen und politischen Raum ein. Heute, da wir uns von Neuem der ernüchternden Perspektive sterbender Bienen stellen müssen, reflektieren Bienenstöcke aktuelle Werte, Ängste und Erwartungen. Aufgrund des Bienensterbens werden wir sowohl mit den Grenzen der Wissenschaft konfrontiert als auch mit unserer ernährungsbedingten Abhängigkeit von diesen Wesen. Was verursacht das Bienensterben?15 Wir wissen es nicht genau. Doch wir gehen davon aus, dass ihre katastrophal ansteigenden Sterblichkeitsziffern irgendwie mit unserer modernen Lebensart in Verbindung stehen. Die möglichen Ursachen rangieren von Klimawandel und Stress, der mit den Monokulturen der industriellen Agrarwirtschaft und Pestiziden zusammenhängt, über zu intensiven Einsatz von Antibiotika bis zu der aus Asien importierten parasitären Varroamilbe. Ungeachtet unseres fortgesetzten Bemühens, die moderne Wissenschaft von den anthropomorphen Affinitäten vergangener Generationen zu entschlacken, fordern Bienen unsere Auffassung von einer Abgrenzung zwischen »uns«, den Menschen, und »ihnen«, den Tieren, nach wie vor heraus.
Im Dunkel des Bienenstocks gehen Zehntausende Bienen ihren Geschäften nach. Während einige die Jungen betreuen, reinigen andere die Zellen. Wieder andere reparieren oder bauen Waben, und ein paar Bienen bewachen den Eingang. Eine andere Gruppe nimmt jene in Empfang, die vom Nektarsammeln zurückkehren. Diese Insekten erhalten die von ihren Schwestern ausgewürgte Nahrung und bringen sie in die Vorratszellen. Andere Sammlerinnen wiederum gehen mit ihren von Pollen schweren Hinterbeinen tief in den Stock hinein, wo sie ihre Ladung in dafür vorgesehene Zellen streifen. Eine Handvoll Bienen wendet sich der Königin zu, die sich durch das enge Gewirr aus Körpern bewegt und dabei ihren Hinterleib in eine Zelle nach der anderen taucht. Jedes Mal hinterlässt sie dabei ein einzelnes kleines Ei – glänzend und durchscheinend wie ein perfektes Reiskorn. Nach drei Tagen erschauern die Eier und machen winzigen, wurmartigen Larven Platz, die nun eingerollt in den Zellen liegen und fressen. Und fressen. Neun Tage darauf ist das Gewicht einer Larve auf mehr als das Tausendfache jenes Eis gestiegen, das sie ursprünglich war. Nun werden die Zellen von Arbeitsbienen versiegelt, und die eingeschlossenen Kreaturen verpuppen sich – ein Stadium, in dem sie weder essen noch trinken. Am einundzwanzigsten Tag ist die Transformation vollzogen und eine neue Arbeitsbiene schlüpft aus der Zelle. Solcherart sind die Mechanismen eines Bienenstocks – und das ist der jahrhundertealte Stoff der Bienenkunde.
Seit langer Zeit fesseln Bienen nicht nur die Aufmerksamkeit von Imkern und Naturforschern, sondern auch jene von Ökonomen, Poeten, Staats- und Sozialtheoretikern. Man hat Bienen für ihre Arbeitsethik ebenso bewundert wie für ihre Staatskunst und ihre aus Honig und Wachs bestehenden Gaben. Erstaunt waren die Kommentatoren vor allem jedoch über die bemerkenswerten Fähigkeiten der kleinen Tiere, ihre komplexe soziale Welt zu organisieren. Wenn kein einzelnes Tier – nicht einmal die Königin – das Ganze überblicken kann, wie kommt dann der gesamte Bienenstock zu Entscheidungen, die das Überleben sichern? Als Tiere, deren jede einzelne Bewegung von komplexen angeborenen Verhaltensprogrammen bestimmt war, stellten Bienen für Naturforscher den Gipfel der Instinkte dar.
Wenn die Naturforscher die Bienen zur uneingeschränkten Herrscherin der Instinkte krönten, so würdigten sie den Wabenbau als ein besonders beeindruckendes Beispiel im Repertoire ihrer Fertigkeiten. Charles Darwin war von den eleganten Waben der Tiere in einem solchen Ausmaß ergriffen, dass er zum »beschränkten Menschen« erklärte, »welcher bei Untersuchung des ausgezeichneten Baues einer Bienenwabe, die ihrem Zwecke so wundersam angepasst ist, nicht in begeisterte Bewunderung geriete.« Beschränkt, allerdings. Reihe um Reihe perfekt – fast wie maschinell erzeugt – gestapelt, hielt man die Zellen für Wunderwerke geometrischer Effizienz. Diese Formen sind so geschachtelt, dass sie ihr Gewicht gleichmäßig auf die benachbarten Zellen verteilen. Jedes dieser Sechsecke teilt seine Wände mit direkt anschließenden Zellen, womit für die Konstruktion die geringstmögliche Menge an Wachs benötigt wird. Colin Maclaurin, Mathematiker im 18. Jahrhundert, schrieb über die Zellenform: »Was besonders schön und regelmäßig ist, stellt sich zudem als besonders nützlich und vortrefflich heraus.«16
Doch während alle darin übereinstimmen konnten, dass die Waben elegant und vortrefflich sind, unterschieden sich die Meinungen darin, was den Bienen abverlangt würde, um diese Konstruktionen errichten zu können. Für viele verlangte der offensichtlich hohe Grad an Perfektion der Waben eine über das bloß Natürliche hinausgehende Erklärung. Tatsächlich hielten sie die Waben für einen Beweis des göttlichen Plans in der Natur. So argumentierte der neuzeitliche Philosoph Thomas Reid, Bienen würden »ohne jegliches Wissen über Geometrie überaus geometrisch arbeiten – ein wenig wie ein Kind, das den Griff der Drehorgel betätigt und Musik macht, ohne etwas über Musik zu wissen.« Seine Folgerung: »Die Geometrie ist nicht in der Biene, wohl jedoch in jenem großen Geometer, der die Biene wie alle Dinge in Anzahl, Gewicht und Maße schuf.«17
Darwin wird weithin dafür gefeiert, dass er solchen göttlichen Erklärungen von natürlichen Strukturen und Funktionen ein Ende gesetzt hat. Doch wie, wenn nicht durch Gottes Hand, gerieten Tiere und Pflanzen so ausnehmend gut angepasst an ihre jeweilige Umgebung? Laut Darwin waren Instinkte ebenso wie physische Strukturen Gegenstand einer natürlichen Selektion, da sie variierten und erblich waren. Und weil manche Instinkte dienlicher waren als andere, war anzunehmen, dass jene Tiere, die über diese Instinkte verfügten, länger lebten und mehr Nachkommen hinterließen als ihre weniger glücklichen Verwandten. Jene Merkmale, die ihnen einen Überlebensund Fortpflanzungsvorteil verschafft haben, wurden an ihre Söhne und Töchter weitergegeben. Darwin wusste sehr wohl, dass Erfolg oder Scheitern seiner Evolutionstheorie wesentlich von seiner Fähigkeit abhing, ein derart komplexes Verhalten wie den Wabenbau der Bienen erklären zu können. Tatsächlich wandte er in seinem Werk Die Entstehung der Arten beachtlich viel Raum und Energie auf, um zu beschreiben, wie der Instinkt zum Wabenbau bei primitiveren Bienen, die einfach Löcher in Wachs gebohrt hatten, entstanden sein könnte.18
Doch selbst unter jenen, die Darwins Bemühungen um natürliche Erklärungen für die Welt der lebendigen Dinge mit Beifall bedachten, waren manche, die sich fragten, ob da nicht doch noch irgendetwas – vielleicht näher an der Urteilskraft – sein könnte, das das rätselhafte Verhalten der Tiere steuert. Bis zum späten 19. Jahrhundert zeigte sich zumindest ein Naturforscher willens, diesem Irgendetwas einen Namen zu geben: Intelligenz. Für sein 1882 erschienenes Buch Animal Intelligence untersuchte der Evolutionsbiologe George John Romanes das Tierreich von Mollusken bis Primaten, um Beispiele anführen zu können, die den Titel seines Buchs bekräftigen würden. In einem Bienen und Wespen gewidmeten Kapitel erzählte er von vielen Wundertaten, die er für viel zu spektakulär hielt, um sie bloßen Ins tinkten zu überlassen. Diese Beispiele, argumentierte er, bewiesen die Existenz von Vorausschau- und Erkenntnisfähigkeit, immerhin das Charakteristikum menschlicher Intelligenz.
Auch Romanes hielt die Waben der Bienen für »das Erstaunlichste, das aus Instinkt im Tierreich hervorgebracht wird.« Aber, fuhr er fort, das sei »kein gänzlich blinder oder mechanischer Instinkt, sondern einer, der fortwährend von intelligenter Absicht gesteuert ist.« Um diese Behauptung zu bekräftigen, zitierte er eine Reihe von Augenzeugen, die sahen, wie die Tiere mit anscheinend menschenähnlicher Intelligenz feine Anpassungen an ihren Waben vornahmen. Dabei zitierte er einen bekannten Bienenzüchter, der ein paar Bienen dabei beobachtet hatte, wie sie Teile der Wabe, die ihre Schwestern errichtet hatten, abtrugen, um sie dann neuerlich zu errichten, weil sie es für notwendig hielten. Bei einer anderen Gelegenheit, als ein Stück Wabe zu Boden gefallen war, reparierten die Bienen nicht nur diese Stelle, sondern verstärkten auch andere, um weiteres Unheil zu verhindern. Für Romanes bezeugten solche Schadenskorrekturen Vorausschau- und Erkenntnisfähigkeit und widersprachen dem, was andere postuliert hatten: dass Bienen blind Instinkten folgten.19
Darüber hinaus vermittelten den viktorianischen Beobachtern auch weniger erfreuliche Beispiele den Eindruck, sie hätten es mit etwas »Allzumenschlichem« zu tun und daher mit anderen Fähigkeiten als bloßem tierischem Instinkt. Mit Bedauern berichteten sie von schrecklichen Beispielen, in denen Bienen Kriege führten, raubten und mordeten. Solche Beschreibungen der dunklen Seite der Tiere waren, wenig überraschend, voller moralischer Entrüstung. Wurden raublustige Bienen dabei beobachtet, wie sie in einen fremden Bienenstock eindrangen, waren ihre Intentionen unmissverständlich: »Mit ihrem ganzen Verhalten, wie sie vorsichtig und wachsam in den Bienenstock kriechen«, so Romanes, »zeigen sie, dass sie sich ihres bösen Handelns vollkommen bewusst sind. Arbeitsbienen, die zu diesem Stock gehören, fliegen nämlich schnell und offen und in vollem Bewusstsein ihres Rechts hinein.« Das schändliche Verhalten jedenfalls breitet sich schnell aus, sodass »das gesamte Bienenvolk frevelhafte Gewohnheiten entwickeln kann. Tun sie dies, so agieren sie im Verband, um gewaltsam zu rauben.«20
Wenn die Charakterstärke der Bienen mit solchen Berichten in Frage gestellt wird, dann lässt sich von Beschreibungen ihrer emotionalen Verfassung noch weniger erwarten. Sir John Lubbock, ein führender Insektenexperte aus dem 19. Jahrhundert, malte ein durch und durch düsteres Bild: »Weit davon entfernt, irgendein Anzeichen von Gefühl unter ihnen entdecken zu können, erschienen sie untereinander vielmehr völlig herzlos und absolut gleichgültig.« Einmal, berichtete er, war er gezwungen, eine Biene aufgrund eines Experiments zu töten. Er zerquetschte das unglückliche Tier unmittelbar neben einer Stockgenossin. Die beiden Tiere standen dabei so eng nebeneinander, dass sich ihre Flügel berührten und dennoch »nahm die Überlebende keinerlei Notiz vom Tod ihrer Schwester, sondern fraß gelassen und genüsslich weiter, als wäre nichts geschehen.«21
Ungeachtet solch ernüchternder Berichte über die Gleichgültigkeit gegenüber ihren Stockgenossinnen, schienen die Tiere dennoch ein hohes Maß an Zusammenarbeit zu demonstrieren. Tatsächlich sahen sich Kommentatoren exakt durch diese Fähigkeit, gemeinsam komplexe Angelegenheiten zu regeln, zur Frage veranlasst, ob Bienen auch die Fähigkeit zur Kommunikation haben. So gibt es beispielsweise lebhafte Berichte über die kollektive Reaktion auf den Verlust einer Königin. Da ein Bienenstock ohne Königin so gut wie tot ist, versetzt die Todesnachricht den Bienenstock schnell in Raserei. Der deutsche Bienenforscher Ludwig Büchner berichtete darüber: »Erst einige Zeit, ungefähr eine Stunde danach wird dieses traurige Ereigniß einem kleinen Theile des Volkes bemerkbar, welcher Theil aufhört zu arbeiten und hastig auf der Wabe hin- und herläuft. Doch gilt dieses nur für einen Teil des Stockes … Die aufgeregten Bienen treten aber bald aus dem kleinen Kreise, in welchem sie sich anfangs umhertrieben, heraus, und wenn ihnen Gefährtinnen begegnen, so kreuzen sie gegenseitig ihre Fühler und berühren sich leicht. Die Bienen, welche den Eindruck dieser Fühler-Berührung erhalten haben, werden nun ihrerseits unruhig und bringen ihre Unruhe und Verwirrung auf dieselbe Weise auch in andere Theile der Wohnung.«22 Laut Büchner also verbreiten die emsigen Bienen die schlechten Nachrichten mit der Schnelligkeit eines Dorfgerüchts.
Aber nicht alle waren sich darüber einig, dass Bienen kommunizieren. Der ausgesprochen vernünftige Sir John Lubbock zum Beispiel berichtete dem britischen Journal Nature, dass seine Experimente keinerlei Beweise dieses Phänomens gezeitigt hätten. Er hatte einer seiner Bienen Nahrung an einer vom Bienenstock aus nicht sichtbaren Stelle bereitgelegt. Während das Tier fraß, markierte er es, um zu sehen, ob sie gemeinsam mit anderen Stockgenossinnen wiederkommt. Er wartete vergeblich, denn die markierte Biene kehrte zwar immer wieder zurück, doch ihre Schwestern tauchten nie auf.23
Typischer ist da schon die Sichtweise eines Amerikaners namens Josiah Emery, der Lubbocks Skepsis in einem Brief an Nature widersprach. Zum Beweis der Kommunikationsfähigkeit der Bienen erzählte er von den Methoden der amerikanischen »Bienenjäger«. Ein Jäger auf der Suche nach wildem Honig, so erklärte er, würde zuerst eine einzelne Biene auf ihrem Trachtflug einfangen und sie in eine Schachtel mit Honig setzen. Hatte sich die Biene so richtig vollgefressen, würde sie vom Jäger wieder entlassen. Nun wartete der Jäger darauf, dass die Biene mit ihren Stockgenossinnen wiederkam, die nun ebenfalls eingefangen und in die Schachtel gesetzt würden, auf dass sie sich am Honig sättigten. Nun ging der Jäger auf dem Areal herum und entließ eine Biene nach der anderen, wobei er jedes Mal genau beobachtete, in welche Richtung sie jeweils flogen. Und da die Tiere schnurgerade in Luftlinie zu ihrem Stock zurückkehrten, konnte der Bienenjäger mit Hilfe der Triangulation den Ort der Bienenwohnung feststellen. Der Verfasser des Briefs betonte, dass sich die Bienenjäger – wenn sie ihre erste Biene entlassen hatten und warteten – eben gerade auf diese Fähigkeit der Bienen verließen, mit ihren Stockgenossinnen zu kommunizieren und sie für Futterflüge anzuwerben. »Es ist möglich, dass unsere amerikanischen Bienen intelligenter sind als die europäischen«, witzelte Emery gegenüber der in der Hauptsache britischen Leserschaft, »doch kaum wahrscheinlich. Und natürlich werde ich von keinem Engländer fordern, das einzugestehen.«24 Waren amerikanische Bienen klüger als britische? Wohl kaum. Aber es dauerte noch ein ganzes Jahrhundert, bis sorgfältige Forschungsarbeit enthüllte, wie gewaltig der trockene Sir John Lubbock die Kommunikationsfähigkeit der Bienen unterschätzt hatte.
Anton von Frisch, Karls Vater, war ein neunzehnjähriger Medizinstudent, als er zum ersten Mal Marie von Exner traf. Sie war die Schwester eines Freundes, der ihn eingeladen hatte, seine Sommerferien zum Teil im schönen Salzkammergut zu verbringen. Seit fünf Jahren verbrachten Marie und ihre Geschwister die Sommer nun hier. Anfangs kamen sie auf Einladung, später, je älter sie wurden, mieteten sie ihre Unterkünfte. Fast ein Jahrzehnt zuvor – der Jüngste war damals erst zehn Jahre alt gewesen – waren die fünf Exner-Kinder zu Waisen geworden. Ungeachtet dessen, dass jeder einen eigenen Vormund hatte und in einem anderen Haushalt aufwuchs, blieben sie einander während ihres Aufwachsens und auch später als Erwachsene eng verbunden. Und so freuten sie sich auch in diesem Sommer 1868 wieder sehr über ihr Wiedersehen. Noch besser wurde die Stimmung, als mehrere Freunde – darunter eben Anton – dazustießen und man gemeinsam im nahen See schwamm und die Wälder und Berge erkundete.25
Marie, vierundzwanzig Jahre alt und das mittlere Kind, war das einzige Mädchen unter den Geschwistern. Die Anziehungskraft zwischen ihr und Anton war, so hieß es in der Familie, ebenso unmittelbar wie überwältigend. Doch zunächst behielten die beiden ihre Gefühle für sich, und zwar auch voreinander. Wie Anton bald erfuhr, war Marie mit Ludwig Zitkovsky, einem jungen Philosophen und Freund der Familie, verlobt. Zitkovsky hoffte auf eine Lehrerstelle, um bald heiraten zu können. Doch wenn Ludwig noch nicht in der Lage war, Marie eine sichere Zukunft zu bieten, so war Anton noch viel weiter davon entfernt, überhaupt heiratsfähig zu sein. Zwar stammte er aus einer gut situierten Wiener Medizinerfamilie, doch er selbst war gerade einmal in seinem zweiten Studiensemester an der Wiener Medizinischen Fakultät.
Als auch Ludwig Zitkovsky mit seiner Familie am Ferienort anreiste, erkannte Marie mit schmerzlicher Klarheit, welchen Gegensatz die beiden Männer bildeten. An Ludwig, gestand sie später ein, habe sie »die ganze Zeit eine bestimmte Kraftlosigkeit und Willensschwäche gestört«.26 Als ihre Gefühle für Ludwig schwanden, sie jedoch keine Möglichkeit sah, die Verlobung zu lösen, versank sie in Mutlosigkeit. Ludwig spürte, dass sie sich abwandte, und versuchte die Veränderung zu verstehen. Eines Tages, als er und seine Mutter drauf und dran waren, die unglückliche junge Frau nach ihren Plänen zu fragen, wurde ihr alles zu viel. Marie floh aus dem Zimmer und »rannte in den Wald, den Berg hinauf, bis sie nicht mehr weiter konnte.«27 Nach diesem Sommer wurstelten die beiden weiter – Marie, die sich emotional immer weiter entfernte, und Ludwig, der immer noch hoffte, sie würden überwinden, was immer zwischen sie beide gekommen war. Marie fühlte sich wie in einer Falle.
Im darauffolgenden Frühling kam Adolf, ihr ältester Bruder, in den Osterferien nach Wien. Er hatte eben eine Professur für Rechtswissenschaften an der Universität Zürich angetreten und lud Marie nun ein, ihn dort zu besuchen. Glücklich nahm sie die Einladung an, um ihren zunehmend bedrückenden Banden zu Ludwig entfliehen zu können. Während der Zugreise in die Schweiz brach sie schließlich zusammen. Sie gestand ihrem Bruder, dass sie Ludwig nicht mehr lieben konnte und dass sie sich in ihren gemeinsamen Freund Anton verliebt hatte. Der ältere Bruder nahm das schluchzende Mädchen in die Arme und tröstete sie so gut er konnte: »Ihr habt euch eben auseinanderentwickelt. Ihr passt nicht mehr zueinander, dafür kann niemand.« In diesem Rückhalt durch ihren Bruder fand Marie den dringend benötigten Trost und setzte, nach ihrer Ankunft in Zürich, schließlich einen Brief auf, mit dem sie die Verlobung löste. Später erinnerte sie sich, sie habe sich wie jemand gefühlt, der »nach harter Gefangenschaft endlich frei geworden.«28
Adolf blieb drei Jahre in Zürich. Gefolgt war ihm dorthin sein jüngerer Bruder Franz-Serafin, um an der neu gegründeten Eidgenössischen Polytechnischen Schule (später die Eidgenössische Technische Hochschule, kurz: ETH, Zürich) Physik zu studieren. Während dieser Zeit reiste Marie nochmals für einen ausgedehnten Besuch an, und die drei Geschwister saugten das reiche intellektuelle Leben der Stadt auf. Durch Adolfs juristische und Franz-Serafins naturwissenschaftliche Kollegen wurden die drei Teil eines lebhaften Kreises. Zu ihren Freunden zählten der berühmte Architekt Gottfried Semper, der Archäologe Karl Dilthey und der bekannte Poet, Schriftsteller und Politiker Gottfried Keller.29 Obwohl Keller die Fünfzig bereits überschritten hatte, als er Adolf kennenlernte, entwickelte sich zwischen den beiden eine innige und dauerhafte Freundschaft. Kellers bezaubernde Korrespondenz mit Adolf, vor allem aber auch mit Marie Exner, dauerte bis kurz vor Kellers Tod im Jahr 1890.30 Darüber hinaus besuchte der Schriftsteller die Exners im Sommer 1873 im Salzkammergut und dann nochmals 1874, als er für drei Wochen nach Wien kam.31
Zu jener Zeit als Keller die Exners zum zweiten Mal besuchte, hatte sich für die Geschwister bereits viel verändert. Adolf hatte Zürich verlassen, eine Professur an der Wiener Universität angetreten und teilte sich mit Marie einen Hausteil in der Stadt. Für Kellers Besuch hatten sie ein Zimmer hergerichtet – »ganz still und freundlich, mit einem Rosenbeet vor dem Fenster.«32 Auch Maries Leben hatte sich in eine bedeutsame Richtung entwickelt. Nach der Auflösung ihrer Verbindung mit Ludwig erblühte die Beziehung zu Anton von Frisch. Ihre Hochzeit planten die beiden für den Spätherbst 1874. Anton hatte sich mittlerweile eine Assistentenstelle bei dem berühmten Wiener Chirurgen Theodor Billroth erarbeitet und wurde im Jahr seiner Hochzeit mit Marie zum Anatomieprofessor an der Akademie der bildenden Künste ernannt, eine Position, die er während der folgenden fünfundzwanzig Jahre innehatte. Seine Karriere gedieh auch weiterhin: Er publizierte über alle möglichen Themen von Bakteriologie über Diagnostik bis Chirurgie und war schließlich wesentlich an der Etablierung des modernen Fachs der Urologie beteiligt.33 Anton von Frischs beruflicher Erfolg stellte einen hohen Lebensstandard sicher. Karl erinnerte sich später zwar, dass sie nie besonders vermögend gewesen waren, bekannte aber, dass sein Aufwachsen dank des von Marie geschickt gelenkten sozialen und intellektuellen Lebens der Familie privilegiert war.
Tonangebend war Marie auch beim Kauf und der Führung dessen, was ständige Sommerresidenz der Familie, sicheres Refugium während der beiden Weltkriege und Ort von Karls wesentlichsten Experimenten wurde.34 Kurz nach ihrer Hochzeit erwarben Marie und Anton eine alte Mühle in Brunnwinkl am Wolfgangsee, an jenem Ort im Salzkammergut, an dem sie sich erstmals getroffen hatten. Nach und nach kaufte die Familie Grundstücke und Häuser rund um die Mühle dazu, sodass sich die ländliche Familienresidenz schließlich auf fünf Häuser am See erstreckte. Das Anwesen wurde zum ständigen Ferienort, und zwar nicht nur für die Familie von Frisch selbst, sondern auch für ihre diversen einflussreichen Freunde.35 Marie führte hier eine Art ruralen Salon, zu dessen Gästeschar ihre gelehrte Familie ebenso zählte wie Theodor Billroth, der Komponist Johannes Brahms und die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach, die in Brunnwinkl aus ihren unvollendeten Manuskripten vorlas.
Abb. 1. 1. Die Mühle samt den benachbarten Häusern in Brunnwinkl im Salzkammergut. Marie hatte ihren Mann Anton von Frisch in den 1870ern davon überzeugt, das Anwesen zu kaufen. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden die fünf Häuser am Ufer des Wolfgangsees zum glänzenden intellektuellen Zuhause für die Familie von Frisch und deren Freunde. Auch während der beiden Weltkriege war diese Sommerkolonie Familie und Freunden ein Refugium, und für Karl von Frisch war es ein zentraler Ort seiner wissenschaftlichen Arbeit. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Auch der Nachwuchs des Ehepaars von Frisch wurde während der folgenden anderthalb Jahrzehnte mehr. Im Sommer nach der Hochzeit kam Hans zur Welt. Etwas weniger als zwei respektive drei Jahre später wurden Otto und Ernst geboren, und nach einer Unterbrechung von acht Jahren – im November 1886 – Karl. Als Jüngster wuchs er umgeben von Natur und Tieren auf, aber auch unter der intellektuellen Führung von Marie und deren Brüdern, die allesamt Universitätsprofessoren waren.
Seine Kindheit verwurzelte Karl von Frisch sowohl persönlich als auch intellektuell tief mit der Mühle und ihrer Umgebung in Brunnwinkl. Es war hier, wo er seine ersten Experimente an Aalen durchführte und eine Sammlung lokaler Fauna und Flora anlegte, die über die Jahre auf nahezu fünftausend Exemplare anwuchs. Die Fülle der Natur nahm ihn gefangen und er erinnerte sich, dass er »alles sammeln [wollte], nicht nur Schmetterlinge oder irgend eine andere ausgewählte Gruppe, wie es gewöhnlich geschieht.« Und auch seinen ersten »wissenschaftlichen Vortrag« hielt er in Brunnwinkl, und zwar vor einem Publikum, zu dem auch sein Onkel Sigmund Exner zählte, der später, an der Wiener Universität, sein Physiologieprofessor und intellektueller Mentor wurde.36
Abb. 1. 2. Karl von Frisch als Kind mit seinem Spielzeug. Wien, um 1888. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Marie förderte das Interesse ihres Sohns an Tieren. Als sie zur Erholung nach einer Krankheit nach Istrien ans Meer reiste, nahm sie ihren Jüngsten mit. Jahre später erinnerte sich Karl von Frisch daran, dass es für ihn nichts Schöneres gab, als »stundenlang regungslos auf den Klippen zu liegen und zuzusehen, was sich auf den algenbewachsenen Steinen unter der Wasseroberfläche an Lebendigem zeigte. Ich kam dahinter, welche Zauberwelt sich dem geduldigen Beobachter enthüllen kann, wo der flüchtige Wanderer überhaupt nichts bemerkt.«37
Abb. 1. 3. Das Familien-Streichquartett bestand aus Karl (ganz rechts) und seinen älteren Brüdern (v. l. n. r.) Otto, Ernst und Hans. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Karl von Frischs Unterricht begann mit Privatlehrern zu Hause. Später trat er in das exklusive humanistische Wiener Schottengymnasium ein, wo rund siebzehn Jahre später auch sein Mit-Nobelpreislaureat Konrad Lorenz Schüler war. Für den jungen von Frisch war der formale Unterricht kein ungetrübtes, erfolgreiches Vergnügen, und es waren vor allem die theoretischen Fächer wie Mathematik und Latein, die ihn peinigten.38 Doch in Fächern wie Naturgeschichte und Biologie machte ihn seine Leidenschaft für alles Lebendige zu einem fleißigen und fähigen Schüler. Diese beiden wurden seine Lieblingsgegenstände und ermöglichten ihm, Zusammenhänge zwischen Bücherwissen, seinen Begegnungen in der Natur und den zahlreichen Haustieren, die er hielt, herzustellen.
Abb. 1. 4. Der Student Karl von Frisch mit seinem Onkel, dem Experimentalphysiologen Sigmund (Schiga) Exner. Die Fotografie entstand in Brunnwinkl und zeigt Karls naturhistorische Sammlung. Bereits als Kind begann Karl die einheimischen Arten rund um die Mühle zu sammeln. Teile dieser Sammlung sind heute im nahen Heimatkundlichen Museum St. Gilgen zu sehen. (Nachlass Karl von Frisch, Bayerische Staatsbibliothek, München, ANA 540.)
Bis zu jener Zeit, als Karl von Frisch ins Gymnasium eintrat, war seine Menagerie beachtlich angewachsen. Er hatte erstaunliche 123 Tierarten zusammengetragen, unter denen sich lediglich neun Säugetiere befanden.39 Darüber hinaus kümmerte er sich versiert um seine Salzwasseraquarien, was ihn, wie er später sagte, die Kunst sorgfältiger Beobachtung gelehrt hat. Die innigste Beziehung jedoch entwickelte er zu einem Vogel: ein kleiner brasilianischer Sittich namens Tschocki, der rund fünfzehn Jahre bei der Familie lebte. Der Vogel beeindruckte den Jungen zutiefst, und er erinnerte sich, dass der Vogel ihn allen anderen Familienmitgliedern vorzog. Tschocki war sein ständiger Begleiter zu Hause, der »auf meiner Schulter saß, auf meinen Knien ein Schläfchen hielt, auf dem Schreibtisch Schulhefte und Bleistifte zernagte oder sich anderweitig in meiner Umgebung betätigte. […] Nachts schlief er neben meinem Bett, und am Morgen war der erste Griff in den Käfig, um den Vogel zur Begrüßung und Unterhaltung zu mir zu holen.« Als vogelkundiges Vorbild diente seine Mutter, die Jahr für Jahr eine Blaumeise in der Zoohandlung kaufte, sie mit der Hand aufzog und im Frühling freiließ.40
Im Jahr 1905 begann Karl von Frisch an der Wiener Universität Medizin zu studieren. Wien hatte sich bis zu dieser Zeit zur lebhaften Metropole entwickelt, in der es vom Komponisten Gustav Mahler über den Architekten Adolf Loos bis zu Gustav Klimt und Sigmund Freud von enorm wichtigen Denkern und kulturellen Erneuerern nur so wimmelte. Zwar war die pulsierende Hauptstadt des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs weder das einzige noch das erste urbane Zentrum, in dem diese Strömungen Wurzeln schlugen, und doch hat sich nach Meinung der Forscher »im Wien der Jahrhundertwende … die europäische Moderne in klarster und intensivster Form etabliert.«41 Auch die Naturwissenschaften waren Teil dieser Blüte, und die Exners – Karls Verwandte mütterlicherseits – zählten zu den glanzvollsten intellektuellen Familien der Stadt.
Ausgehend vom frühen 19. Jahrhundert bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus waren es drei Generationen der Familie Exner, die sich auf den Gebieten Physik, Physiologie, Meteorologie, Avantgardekunst, Rechtswissenschaften und Medizin auszeichneten und aus der nicht weniger als zehn Universitätsprofessoren hervorgingen. Mit den intellektuellen Strömungen in der Stadt waren sie ebenso eng vertraut wie mit der wachsenden Sommerkolonie in Brunnwinkl, wobei Privates und Berufliches durch Arbeit, Freizeit und Ehe nahtlos ineinander übergingen. Gemeinsam mit anderen, darunter die Physiker Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, waren die Exners bestrebt, den Gespenstern, die Österreichs Politik und Kultur heimsuchten, etwas entgegenzusetzen. Ihre liberale Antwort auf linke Anarchie und rechten Klerikalismus war, einen auf Wahrscheinlichkeit beruhenden, wissenschaftlichen Denkansatz zu bieten. »Sie ›bändigten‹ die Ungewissheit, indem sie sie quantifizierten«, um es mit den Worten der Wissenschaftshistorikerin Deborah Coen auszudrücken.42
Trotz des zunehmenden intellektuellen und beruflichen Erfolgs, der ihn von allen Seiten umgab, war der junge Karl von Frisch weit davon entfernt, mit Zuversicht auf seinen eigenen Weg an der Wiener Universität zu blicken. Sein Herz gehörte der Zoologie, aber sein Vater, selbst Mediziner, hatte ihn überzeugt, dass ihm die Medizin eine sicherere Zukunft bieten würde. Doch ungeachtet der Zweifel war die Zeit an der Universität nicht vergebens, denn er hatte sich eine starke Basis in Anatomie, Zoologie und Histologie erworben. Vor allem arbeitete er mit seinem Onkel, dem Experimentellen Physiologen Sigmund Exner, der selbst unter den hervorragendsten Physiologen des 19. Jahrhunderts – zuerst bei Ernst Wilhelm von Brücke in Wien, später bei Hermann Helmholtz in Heidelberg – Medizin studiert hatte.
Die Sorgfalt, mit der Exner seine Experimente durchführte, und die Eleganz, mit der er sie demonstrierte, beeindruckten den jungen Karl von Frisch tief. Noch Jahre später erinnerte er sich voller Begeisterung an die Lehrveranstaltung seines Onkels, der »die Funktionsweise der menschlichen Organe ohne jedes unnötige Beiwerk in vorbildlicher Klarheit zur Darstellung« brachte. Er pries seinen Onkel für die Fähigkeit, »dem Gesagten durch wohldurchdachte Versuche die Kraft der Überzeugung zu verleihen.« Abend für Abend übertrug von Frisch seine Mitschrift in Sigmunds Vorlesungen und studierte sie sorgfältig. Insbesondere »die physiologischen Übungen interessierten mich brennend.«43 Neben diesen Pflichtveranstaltungen übernahm von Frisch unter der Führung seines Onkels auch sein erstes unabhängiges Forschungsprojekt. Mit diesen Experimenten erweiterte er Untersuchungen seines Onkels an Facettenaugen, indem er die Pigmente in den Augen von Motten, Hummern und Garnelen studierte.44