Carol Marinelli, Lucy Clark, Leah Martyn

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 118

IMPRESSUM

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 118 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2016 by Carol Marinelli
Originaltitel: „Seduced by the Sheikh Surgeon“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MEDICAL ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Karin Klas

© 2016 by Anne ClarkLucy Clark
Originaltitel: „A Family for Chloe“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MEDICAL ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Susanne Albrecht

© 2016 by Leah Martyn
Originaltitel: „Weekend wsith the Best Man“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MEDICAL ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Michaela Rabe

Abbildungen: mauritius images/Masterfile / Kevin Dodge, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733711504

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

Zärtlich verführt von einem Scheich

1. KAPITEL

Es lag bestimmt nicht daran, dass es keine Gelegenheiten gegeben hätte. Hier war wieder eine!

Adele stand nach ihrem Arbeitstag an der Bushaltestelle gegenüber der Notaufnahme. Wie aus dem Nichts war ein spätes Frühlingsgewitter aufgezogen, und Blitze durchzogen den Himmel über London. Der Unterstand bot keinen Schutz vor dem heftigen Regen, und das weiße Kleid, das für solch ein Wetter nicht gemacht war, klebte ihr am Körper. Ihr blondes Haar hing ihr in nassen Strähnen über die Schultern.

Zum Glück trug sie keine Mascara, sodass sie nicht aussehen würde wie ein Pandabär, wenn Zahir sie nun mitnahm. Es war zehn Uhr abends, und sie sah schon, wie er in seinem silbernen Sportwagen vom Parkplatz fuhr, nach rechts abbog und auf sie zukam.

Adele trat einen Schritt aus dem sogenannten Unterstand, damit Zahir sie auch wirklich sah. Jeder einigermaßen hilfsbereite Mensch würde doch für eine Kollegin, die zitternd im heftigen Regen stand, anhalten und ihr anbieten, sie nach Hause zu fahren.

Adele würde lächeln, sich bedanken und ins Auto steigen. Zahir würde einen Blick auf ihr pitschnasses Kleid werfen und sich fragen, wieso er diese junge Krankenschwester eigentlich noch nie auf diese Weise bemerkt hatte, und sie würde ihm sofort vergeben, dass er sie schon ein ganzes Jahr ignoriert hatte. Endlich würden sie sich unterhalten, und wenn sie dann ihre Wohnung erreichten …

Weiter hatte Adele noch nicht gedacht. Sie hasste ihre Wohnung und ihre Mitbewohner und konnte sich Zahir in dieser Umgebung nicht vorstellen. Vielleicht würde er sie stattdessen auf einen Drink zu sich einladen, überlegte Adele, als ihr Traum endlich Wirklichkeit zu werden schien und das silberne Auto abbremste.

Sie ging einen Schritt darauf zu, so sicher war sie.

Da beschleunigte Zahir wieder und fuhr davon.

Am liebsten hätte sie ihm hinterhergebrüllt: Da hättest du mich auch gleich von oben bis unten nass spritzen können!

Einmal mehr hatte er sie nicht beachtet. Aber wer weiß, vielleicht hatte er nur am Radio herumgedreht und sie einfach nicht gesehen.

Wieso interessierte sie dieser Eisklotz nur so?

Nicht das erste Mal, dass sie sich diese Frage stellte.

Vielleicht mochte er keine Frauen? Was für eine unsinnige Frage. Sie wusste, dass Zahir mit Frauen ausging. Mit jeder Menge Frauen. Viel zu oft schon hatte Adele im Stationszimmer oder in der Mitarbeitercafeteria mitbekommen, wie er einen Anruf seiner jeweils aktuellen, wütenden Freundin entgegennahm. Wütend, weil es Samstagabend war und Zahir immer noch arbeitete, oder weil es Sonntagnachmittag war und er vor einigen Stunden gesagt hatte, er müsse „nur kurz“ im Krankenhaus vorbeischauen.

Die Arbeit war ihm wichtiger, das war nicht zu leugnen.

Während Adeles letzter Nachtschichten war er oft gerufen worden, obwohl er nicht im Dienst war, und jedes Mal war er im Smoking aufgetaucht. Gerade beim letzten Mal hatte er großartig ausgesehen, ausnahmsweise glatt rasiert und das dicke schwarze Haar zurückgekämmt. Adele hatte fast gestottert, als sie berichtete, was dem Patienten fehlte, um den sie und Janet, ihre Vorgesetzte, sich sorgten.

„Er war heute Nachmittag hier und ist mit einem Antibiotikum entlassen worden“, erklärte sie. „Seine Mutter macht sich aber immer noch Sorgen und hat ihn zurückgebracht. Der Kinderarzt hat ihr gesagt, dass das Antibiotikum eben nicht so schnell wirkt.“

„Und?“, fragte Zahir.

Sie roch sein Rasierwasser und meinte, sein Testosteron und die sexuelle Energie, die von ihm ausging, um ihn knistern zu hören. Sie liebte seinen starken Akzent, und jeder dunkle, raue Vokal traf sie so direkt, dass ihr die Beine zitterten.

„Adele“, wiederholte er. „Warum habt ihr mich gerufen?“

„Weil die Mutter sich Sorgen macht“, sagte Adele und schloss die Augen. „Und ich mir auch.“

Zahir verschwand hinter dem Vorhang, um das Kind zu untersuchen. Da betrat eine wunderschöne Frau den Raum, mit langen braunen Haaren und perfektem Make-up, trotz der späten Stunde. Sie trug ein silberglänzendes Kleid und fragte Janet auf ziemlich arrogante Weise, wie lange Zahir noch brauchen würde.

„Bella, du sollst doch im Auto warten.“ Zahir trat wieder hinter dem Vorhang hervor, und seine knappe Ansage ließ die Frau zusammenzucken. Vermutlich gab sie sich in seiner Gegenwart sonst nicht so anmaßend.

Janet unterdrückte ein Grinsen, als Bella davonstelzte. „Die hält nicht einmal bis morgen früh“, sagte sie leise zu Adele.

Zahir bat Janet, ihm Helene zur Unterstützung zu bringen. Er brauchte ihr Fachwissen.

Damit konnte Adele nicht dienen.

Zumindest nicht, was Männer anging. Aber nach einem Jahr in der Notaufnahme war es schon ärgerlich, dass er sie immer noch behandelte wie einen Neuling – vor allem als sich zeigte, dass es richtig gewesen war, sich um das Kind zu sorgen: Zahir führte eine Lumbalpunktion durch, und später bestätigte sich die Diagnose einer durch einen Virus ausgelösten Meningitis. Der kleine Junge musste fünf Tage im Krankenhaus bleiben.

Was sie natürlich nicht von Zahir erfahren hatte.

Mit ihr würde er nicht einmal über das Wetter sprechen.

Und trotz all seiner kommunikativen Fehler war Zahir das Highlight ihres Arbeitstages.

Jedes Tages.

Aber das würde jetzt ein Ende haben, bestimmte sie, als der Wagen an ihr vorbeifuhr.

Er war unverschämt und wusste sie nicht zu schätzen, und es war einfach unmöglich, dass er sie hier stehen ließ. Jetzt war es vorbei mit dieser Schwärmerei!

Adeles Welt war klein, sehr klein, das war ihr bewusst. Doch nun würde sie etwas dagegen unternehmen.

Endlich kam der Bus. Und gleich noch einer – der reguläre und der, der zu spät war. So viel Auswahl, dachte Adele sarkastisch, als sie in den weniger vollen Bus stieg und den Fahrer grüßte.

Sie erkannte einige der üblichen Fahrgäste.

Adele kannte den Weg und würde die nächste halbe Stunde nicht auf ihre Haltestelle achten müssen. Sie lehnte den Kopf gegen das Fenster und starrte ins Nirgendwo, während der Bus sich durch den Regen kämpfte. Sie träumte.

Von Zahir.

Verdammt!

Sie kam gegen seine Anziehungskraft einfach nicht an, sosehr sie es auch versuchte. Auf gewisse Weise hatte sie sich sogar schon daran gewöhnt. Vielleicht lag es daran, dass er einfach unerreichbar war, überlegte sie gerade, als jemand weiter hinten im Bus zu singen anfing.

Ja, sie musste öfter ausgehen, und damit würde sie auch praktisch sofort beginnen. Freitagabend hatte sie eine Verabredung mit Paul, einem der Sanitäter, der ihr sein Interesse ganz offen gezeigt hatte.

Sag einfach Ja, hatten ihr alle geraten.

Also hatte sie zugesagt.

Nur dass Paul sie überhaupt nicht reizte.

Immer nur Zahir. Schon der Name verursachte ihr eine Gänsehaut.

Auf seinem Namensschild stand lediglich „Zahir, beratender Arzt, Notaufnahme“. Die Patienten mussten nämlich nicht wissen, dass er der Kronprinz Scheich Zahir Al Rahal aus Mamlakat Almas war.

Ihr Herz hatte es auch nicht wissen müssen. Das hatte schon zu rasen begonnen, als sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte, schon bevor sie seinen Namen kannte.

Das war vor einem Jahr gewesen. Sein Haar war schwarz und glänzte, seine Haut hatte die Farbe von Karamell und war genauso verlockend. Sein Kittel spannte sich über breiten Schultern. Er stand im Wiederbelebungsraum, und obwohl die Patientin in Lebensgefahr schwebte, herrschte eine ruhige, kontrollierte Atmosphäre vor.

Er blickte kurz auf und sah Adele mit seinen silbergrauen Augen eine Sekunde lang an. Ihre Wangen wurden heiß.

„Ich zeige gerade Adele die Abteilung“, sagte Janet, die Leiterin der Krankenpfleger und – schwestern, bei der Adele gerade ihr Vorstellungsgespräch hatte.

Zahir nickte nur kurz und kümmerte sich weiter um seine Patientin.

„Wie du siehst“, sagte Janet und wandte sich wieder an Adele, „haben wir den Wiederbelebungsbereich modernisiert, seit du zuletzt hier warst. Wir haben fünf Betten und zwei Kabinen.“

Davon abgesehen sah vieles noch genauso aus wie damals. Adele erinnerte sich, wie sie vor einigen Jahren hier hereingeschoben worden war. Janet war damals auch hier gewesen, erwähnte es jedoch nicht weiter, und auf dem Weg zurück zu Janets Büro sprachen sie über andere Dinge.

„Das war Zahir, der beratende Arzt für die Notaufnahme“, erklärte Janet. „Wahrscheinlich hast du ihn gesehen, als die Bewerber zusammen hier durchgeführt wurden.“

Adele schüttelte den Kopf. „Vielleicht war er im Urlaub.“

„Möglich. Er ist viel weg, auch wenn er schon seit einigen Jahren hier arbeitet. Aber er ist zu Hause sehr eingespannt und hat deswegen immer nur Zeitverträge“, sagte Janet. „Wir hoffen jedes Mal, dass er zurückkommt, weil er wirklich wichtig für die Abteilung ist.“

„Ich habe aber mit seinem Bruder zusammengearbeitet, Dakan.“

Janet lächelte und nickte. Dakan hatte gerade sein praktisches Jahr abgeschlossen. Er war ein wenig wild und frech, und Adele wusste durch den Buschfunk, dass Zahir als der ernstere der beiden Brüder galt. Auch von seinem guten Aussehen hatte sie schon mehr als genug gehört. Doch dass er wirklich so attraktiv war, hätte sie nicht gedacht.

So sehr hatte Adele sich noch nie zu jemandem hingezogen gefühlt. Doch das spielte keine Rolle. In ihrem Leben gab es für so etwas keinen Platz, und Zahir würde sie nie auch nur einmal so ansehen.

„Also“, sagte Janet, als sie ihr Büro betraten. „Willst du hier arbeiten?“

Adele nickte überzeugt. „Vor dem Kurzpraktikum hätte ich nie gedacht, dass mich die Notaufnahme interessiert, aber jetzt liebe ich es.“

„Und du bist gut. Allerdings müsstest du in der Wiederbelebung arbeiten.“

„Das habe ich verstanden.“

In der Ausbildung war es ihr noch schwergefallen, diesen Bereich betreten zu müssen, in dem ihre Mutter zwar nicht gestorben war, in dem Adele aber erfahren hatte, dass sie nie mehr die Gleiche sein würde. Janet hatte das gewusst und ihre Zeit dort so kurz wie möglich gehalten. Doch wenn Adele sich nun wirklich auf die Notaufnahme konzentrieren wollte, konnte sie nicht mehr mit Samthandschuhen rechnen.

„Bist du sicher, dass dir das nicht zu viel ist?“, hakte Janet nach.

„Bin ich.“ Adele hatte viel darüber nachgedacht. Sie erklärte Janet, was ihr inzwischen klar geworden war: „Meine Mutter war ja nicht nur dort, sondern auch im OP-Saal, in der Radiologie und auf der Intensiv. Aus irgendeinem Grund hat mich die Wiederbelebung am meisten getroffen, aber eigentlich erinnere ich mich hier doch überall an sie.“

„Wie geht es ihr inzwischen?“

„Unverändert.“ Adele lächelte angestrengt. „Sie ist in einem guten Pflegeheim, die Mitarbeiter sind toll, und ich gehe sie mindestens einmal täglich besuchen.“

„Das belastet dich bestimmt.“

„Es geht.“ Adele schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, ob sie weiß, dass ich da bin, aber sie soll niemals denken, ich würde sie vergessen.“ Janet wollte etwas sagen.

Dass Adele jahrelang jeden Tag mindestens einmal ihre Mutter besuchte, das musste anstrengend sein. Aber sie verstand auch, warum es Adele so schwer fiel, weiterzumachen. Sie wusste schließlich, was geschehen war.

Janet hatte an diesem Tag Schicht gehabt, und es kam die Nachricht herein, es habe einen Autounfall gegeben und fünf Verletzte seien aus den Fahrzeugen befreit worden.

Lorna Jenson, die auf dem Beifahrersitz des einen Wagens gesessen hatte, hatte schwere Verletzungen an Kopf und Brust. Der Fahrer des anderen Wagens war im Bauchbereich und am Kopf verletzt und musste wiederbelebt werden. Seine Frau und Tochter hatten kaum etwas abbekommen, waren allerdings hysterisch und schrien die ganze Abteilung zusammen.

Schließlich wurde Lorna Jenson in den Operationssaal geschoben, wo der Druck auf ihr Gehirn gelöst werden sollte. Janet trat auf Lornas Tochter zu, die achtzehn Jahre alt war und reglos auf ihrer Liege lag. Adeles blondes Haar war blutverklebt, ihr Gesicht weiß wie ein Laken. Mit ihren kobaltblauen Augen blickte sie ohne zu blinzeln an die Decke.

„Adele?“

Die junge Frau versuchte zu nicken, was wegen der starren Halskrause kaum möglich war. Janet drückte ihr kurz den Arm. „Phillip war schon hier, oder? Der beratende Arzt? Hat er mit dir über deine Mutter gesprochen?“

„Ja.“

Phillip hatte ihr also schon gesagt, wie schlecht es ihrer Mutter ging und dass die sehr reale Gefahr bestand, dass sie die Operation nicht überleben wurde.

Adele hingegen sah nicht so aus, als ob sie geweint hätte. Nun blickte Janet zu ihr hinab. „Sie wird gleich in den OP gebracht.“

„Wie geht es dem Mann …?“, fragte Adele.

„Tut mir leid, das darf ich dir nicht sagen.“

„Aber ich höre, dass seine Familie da draußen weint.“

„Ja.“

„Wie schlimm sind sie verletzt?“

„Tut mir leid, Adele, das darf ich dir auch nicht sagen, das sind vertrauliche Informationen.“

„Ich weiß“, erwiderte Adele. „Ich studiere Krankenpflege. Ich will nur wissen, ob er noch lebt.“

„Das ist nicht einfach für dich“, sagte Janet und drückte ihr noch einmal den Arm. Dennoch gab sie ihr keine Informationen. „Möchtest du deine Mutter vorher noch einmal sehen?“

Adele versuchte, sich aufzusetzen.

„Bleib einfach liegen“, beruhigte Janet sie. „Wir schieben dich so rüber. Ich kann dir den Kragen abnehmen, Phillip hat auf den Röntgenbildern gesehen, dass dein Hals in Ordnung ist.“

Vorsichtig nahm sie die Halskrause ab.

„Wie geht es dir?“

„Ganz gut“, sagte Adele. Janet war sich sicher, dass das nicht stimmen konnte. Sie hatte bestimmt Kopfschmerzen von dem Lärm, als die Feuerwehr das Autodach hatte aufschneiden müssen.

Janet hörte das Knacken eines Funkgeräts vor dem Vorhang, und ein Polizist fragte, ob er mit Adele Jenson sprechen könne.

„Einen Augenblick“, sagte sie zu Adele. Sie zog den Polizisten mit ans andere Ende des Flurs, sodass Adele sie nicht mehr hören konnte.

„Ich will sie gerade zu ihrer Mutter bringen. Kann das warten?“

„Natürlich“, sagte der Polizist. „Aber mit der anderen Fahrerin müssen wir unbedingt sprechen.“

„Fahrschülerin“, betonte Janet.

Der Polizist nickte.

Janet ging zurück zu Adele und schob sie hinüber zu ihrer Mutter. Zu diesem Zeitpunkt war sie sich ziemlich sicher, dass Lorna die Operation nicht überleben würde.

Doch das hatte sie.

Seitdem lag sie im Koma.

Ihre Tochter würde diesen schlimmen Tag bestimmt niemals vergessen können.

2. KAPITEL

„Was für ein Gewitter gestern“, sagte Janet.

„Allerdings“, antwortete Helene. „Ich habe Hayden eine Fahrstunde gegeben und musste ihn zwingen, anzuhalten.“

Adele hatte erneut Spätschicht, und sie saßen zu dritt im Schwesternzimmer. Doch die Fahrstunden von Helenes Sohn interessierten sie wirklich nicht. Sie konnte es einfach nicht mehr hören! Helene war vor einigen Monaten nach langer Elternzeit zurückgekommen und sprach über nichts anderes mehr als über ihre perfekte Familie.

„Bist du gut nach Hause gekommen, Adele?“, fragte Janet.

„Klar“, sagte Adele und warf einen Blick zu Zahir hinüber, der mit dem Rücken zu ihnen saß und sich am Computer Laborergebnisse ansah. Er trug die dunkelblaue Krankenhauskleidung und hatte die langen Beine von sich gestreckt. Sie dachte immer noch viel zu oft an ihn. „Ein netter Mann hat angehalten und mich mitgenommen.“

Sie sah, wie Zahir kurz innehielt, dann aber sofort weiter durch die Ergebnisse scrollte.

„Wer? Paul?“, fragte Janet. Sie wussten alle, dass Adele morgen eine Verabredung mit ihm hatte.

„Nur irgendein Mann. Ich hab dann herausgefunden, dass er aus der Geschlossenen ausgebrochen ist, aber das war nicht weiter schlimm. Er hatte ja seine Kettensäge nicht dabei.“

Janet lachte. Sie verstand Adeles leicht schrägen Humor. „Du bist also mit dem Bus gefahren.“

„Ja, ich bin mit dem Bus gefahren.“

Nach einigen Minuten Geplauder kamen sie auf Berufliches zu sprechen. „Adele, du musst langsam wirklich deinen Urlaub nehmen.“

Janet legte den Jahresplaner vor sie hin, und Adele runzelte die Stirn. „Wir sollen nicht immer so viel nach hinten verschieben. Du hattest noch keinen Tag Urlaub, seit du hier bist.“

„Luxusproblem“, sagte Helene.

„Wie wäre es mit September?“, schlug Adele vor. Dort waren noch einige freie Zeiten. Janet nickte und wählte zwei Wochen aus. „Vorher musst du dir aber auch schon vierzehn Tage auswählen.“

Jetzt war Mai. Die Sommermonate waren alle schon reserviert. Adele hatte vor einigen Wochen ihre geplanten Urlaubstage wieder zurückgenommen, als Helene ein Preisausschreiben gewonnen hatte und ihre perfekte Familie mit auf eine Seereise nehmen wollte.

„Die ersten beiden Juniwochen?“, schlug Janet vor. „Das geht noch.“

„Das ist ja schon in drei Wochen.“

„Da findest du noch etwas Preiswertes last minute“, sagte Janet. Sie berührte Adele kurz am Arm, stand auf und verließ den Raum.

„Weißt du schon, wo du hinwillst?“, fragte Helene.

„Überhaupt nicht.“

Selbst wenn sie es sich hätte leisten können, irgendwo hinzufliegen, hätte sie ihre Mutter nicht allein lassen wollen. Doch hierbleiben, ganz ohne die Routine, die ihr die Arbeit bot, wollte sie auch nicht. Ihr gefiel die Wohnung nicht, in der sie wohnte, und auch wenn sie es nicht gern zugab, wollte sie auch nicht mehr Zeit als sonst im Pflegeheim verbringen. Vielleicht könnte sie sich einen Aushilfsjob suchen und etwas zusammensparen, um endlich eine eigene Wohnung zu finden.

„Wie geht es Mr. Richards, Adele?“, fragte plötzlich Zahir. An Mr. Richards’ Akte hatte Adele gerade gearbeitet, bevor der Urlaub zum Thema geworden war.

„Ganz gut.“

„Und seine Werte?“

„Stabil.“

Mr. Richards’ Werte mussten alle dreißig Minuten gemessen werden und würden in … huch, in anderthalb Minuten fällig sein.

Das hatte Zahir dann wohl damit sagen wollen.

Als ob sie eine Erinnerung brauchte! Doch sie sagte nichts und stand auf.

Mr. Richards hatte eine instabile Angina. Während Adele ihn untersuchte, lächelte sie den alten Mann an, der sich unter seiner Decke zusammengerollt hatte und vor sich hin brummte, während sich die Manschette zum Blutdruckmessen aufblies.

„Ich will schlafen.“

„Ich weiß“, sagte Adele. „Aber wir müssen Sie momentan gut im Auge behalten.“

Sein Blutdruck war gestiegen, und sein Herz schlug zu schnell. „Haben Sie im Moment Schmerzen?“, fragte sie.

„Nein. Hätte ich auch nicht, wenn Sie mich einfach schlafen lassen würden.“

Adele wollte Zahir über die Veränderungen informieren, wurde jedoch von einer eleganten Frau aufgehalten. Ihr langes schwarzes Haar floss ihr über den Rücken, und sie trug ein dunkelblaues bodenlanges Kleid, das mit goldenen Blüten bestickt war. Um den Hals hatte sie eine eng anliegende Kette aus Gold, in deren Mitte ein riesiger Rubin prangte. Sie war die wunderschönste Frau, die Adele je gesehen hatte.

„Ich bin mit Zahir verabredet“, sagte sie würdevoll. „Bitte richten Sie ihm doch aus, dass ich warte.“

Normalerweise würde Adele fragen, mit wem sie sprach, aber diese Frau hatte etwas so Majestätisches an sich, dass sie sich unhöflich gefühlt hätte. Außerdem hatte sie vorhin gehört, dass Phillip die nächsten Stunden für Zahir übernehmen würde, da er und Dakan ihre Mutter zum Fünf-Uhr-Tee ausführen wollten.

Die Frau musste also seine Mutter sein – die Königin von Mamlakat Almas!

„Ich sage ihm Bescheid.“

Zahir saß immer noch im Schwesternzimmer und war allein. Er meldete sich gerade vom Computer ab.

„Zahir?“

Er drehte sich nicht um. „Ja?“

„Da ist eine Dame für dich. Wahrscheinlich deine Mutter.“

„Danke.“ Er stand auf. „Ich nehme sie mit in mein Büro. Wenn du Dakan siehst, sag ihm das bitte.“

„Ich wollte …“ Adele unterbrach ihn. „Ich wollte dir gerade sagen, dass Mr. Richards’ Blutdruck und Herzschlag erhöht sind.“

„Hat er Schmerzen?“

„Er sagt Nein. Er will nur schlafen.“

„Okay.“ Zahir warf einen Blick auf die Patientenakte. „Könntest du meine Mutter bitte in mein Büro bringen, damit sie dort wartet?“

„Klar. Wie rede ich sie denn an?“, rief sie hinter ihm her, aber er war schon verschwunden.

„Mein Name ist Leila.“

Adele drehte sich um und sah, dass Zahirs Mutter ihr durch die andere Tür auf die Schwesternstation gefolgt war.

„Entschuldigung“, sagte Adele und lächelte. „Kommen Sie bitte mit mir?“

Sie gingen durch die Abteilung. Leila sagte, wie schön es sei, in London zu sein und mit ihren Söhnen essen zu gehen.

„Hier ist alles viel weniger förmlich als zu Hause“, erläuterte sie. „Deswegen möchte ich auch meinen Titel nicht benutzen. Sonst starren mich immer gleich alle so an.“

Sie würden sowieso starren, dachte Adele. Leila war so unglaublich schön und schien neben ihr zu schweben.

„Ich hätte gedacht, Sie haben Bodyguards“, sagte Adele, und Leila lachte auf.

„Mein Fahrer ist als Bodyguard ausgebildet, aber er wartet draußen. Wenn meine Söhne in der Nähe sind, brauche ich keinen weiteren Schutz.“

„Zahirs Büro ist etwas versteckt“, erklärte Adele auf dem Weg durch die Beobachtungsstation. Da bemerkte sie, dass die Königin nicht mehr neben ihr ging. Adele drehte sich um und sah, dass sie stehen geblieben war und sich die Finger auf die Stirn drückte.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Adele.

„Mir ist nur ein wenig …“ Leila führte den Satz nicht zu Ende. Sie atmete tief ein, und Adele sah, wie blass sie war. „Könnten Sie mir die Toiletten zeigen?“

„Die sind gleich hier.“ Adele wies auf die Toiletten für die Mitarbeiterinnen. „Ich warte kurz auf Sie.“

Adele wartete. Und wartete.

Vielleicht musste sie sich nachschminken, überlegte sie. Aber Leila hatte wirklich blass ausgesehen. Ihr war bestimmt schwindelig gewesen. Sie wollte sie nur ungern stören. Sie war schließlich Zahirs Mutter und eine Königin.

Doch letztendlich war sie auch einfach nur eine Frau und Adele Krankenschwester. Sie begann sich zu sorgen. Sie drückte die Tür auf und sah sich um. Leila stand nicht am Waschbecken, um neues Make-up aufzutragen.

„Leila?“, rief Adele in die Stille.

„Bitte helfen Sie mir“, hörte sie Leila hinter der Tür einer Kabine.

„Ich bin schon da.“ Adele überlegte kurz und suchte nach einer Münze in ihrer Tasche, die sie von außen in das Schloss stecken konnte. Die Tür ließ sich öffnen.

„Meine Söhne dürfen nicht sehen, dass ich blute“, flüsterte Leila.

„Ich werde nichts sagen.“

Leila war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

„Hängen Sie den Kopf zwischen die Knie“, sagte Adele. „Ist Ihnen das schon mal passiert?“

„Ein paar Male. Ich gehe zu einem Arzt in der Harley Street.“

Es war nicht gut, dass sie so sitzen blieb, falls sie ohnmächtig werden würde, aber Adele wollte sie auch nicht auf den Boden legen. Sie eilte zur Tür und versuchte gleichzeitig, Leila im Auge zu behalten. Im Flur sah sie zum Glück gleich Janet, die gerade eine Patientin in ein Zimmer führte.

„Janet!“ Adele winkte ihr zu und schloss die Tür wieder.

„Atmen Sie tief ein und aus“, sagte Adele, als sie sich wieder zu Leila hockte. Janet betrat den Raum.

„Das ist Leila, Zahirs Mutter“, sagte Adele. „Sie hat vaginale Blutungen.“

„Ich hole eine Trage.“

„Warte“, rief Adele Janet hinterher. „Sei vorsichtig. Sie will nicht, dass Zahir sie so sieht.“

Dann ging alles ganz schnell. Sie legten Leila auf die Trage und verabreichten ihr Sauerstoff. Adele breitete zwei Decken über sie, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen.

Natürlich war Zahir gerade mit Mr. Richards fertig und auf dem Weg in sein Büro.

„Was ist passiert?“, fragte er und warf Adele einen Blick zu, der besagte: Ich habe dich fünf Minuten mit ihr allein gelassen!

„Deine Mutter ist ohnmächtig geworden“, sagte Adele und verlangsamte ihre Schritte nicht.

Janet rief nach der diensthabenden Assistenzärztin: „Maria!“

„Ich kümmere mich selbst um meine Mutter“, sagte Zahir, als sie die angesteuerte Kabine erreichten. Adele stellte sich ihm in den Weg. Nun ja, er hätte leicht an ihr vorbeigehen können, so klein wie sie war, aber das würde sie nicht zulassen.

„Zahir“, sagte sie und sah zu ihm hoch. Das zweite Mal innerhalb der zwölf Monate, die sie sich kannten, trafen sich ihre Blicke.

„Lass mich durch.“

„Nein.“ Sie bewegte sich nicht. „Zahir, es gibt Dinge, von denen eine Mutter nicht will, dass ihr Sohn sie sieht.“

Er verstand offensichtlich und nickte kurz. „Okay.“

„Wir kümmern uns um sie.“

Es fiel ihm schwer, aber schließlich trat er einen Schritt zurück.

„Hältst du mich auf dem Laufenden?“

Sie nickte.

Arme Leila, dachte Adele, als sie sich die Schutzkleidung überzog und der Patientin den Blutdruck maß. Leila weigerte sich, ihren Schmuck abzunehmen.

Janet legte ihr eine Infusion, und Maria wies Adele an, welche Flüssigkeiten Leila bekommen sollte. Wenig später sah Zahirs Mutter bereits besser aus.

„Mir geht es schon eine Weile nicht gut“, erklärte sie schließlich. „Ich war letzten Monat in der Stadt, um meine Söhne zu sehen, aber auch, um mich untersuchen zu lassen. Morgen soll mir die Gebärmutter entfernt werden. Mein Mann soll davon aber nichts wissen.“ Sie atmete tief ein. „Ich hatte geplant, meinen Söhnen heute Nachmittag davon zu erzählen. So unangenehm es auch gewesen wäre.“

Maria fragte sie nach ihrer medizinischen Vorgeschichte, aber Leila blieb sehr vage.

„Wie oft waren Sie schwanger?“

„Ich habe zwei Kinder.“

„Und wie oft waren Sie schwanger?“, wiederholte Maria.

„Drei Mal.“ Adele sah, dass Leila eine Träne die Wange hinunterlief und in ihrem Haar verschwand. „Darüber möchte ich nicht sprechen.“

Maria sah Adele an, die nach Leilas Hand gegriffen hatte.

„Die Ärztin muss Ihre Vorgeschichte kennen, Leila“, versuchte Adele es. „Sie muss alles über Ihre Schwangerschaften und Geburten wissen und welche Probleme es gegeben hat.“

„Meine Gebärmutter hat mir viele Probleme gemacht. Mit Zahir bin ich ganz schnell schwanger geworden, aber er ist zu früh gekommen. Die Geburt war schwierig.“

Sie warteten, ob Leila noch mehr sagen würde. Sie schwieg.

„Und die nächste Schwangerschaft?“, hakte Adele nach.

„Bis dahin hat es fünf Jahre gedauert. Das war Dakan. Die Geburt war wieder schwierig. Er hatte so breite Schultern. Zwei Jahre darauf wurde ich noch einmal schwanger, aber mein Körper ist damit nicht fertiggeworden. Ich hatte zwar einen großartigen Heiler und einen speziellen attar, aber sie konnten beide nichts für mich tun.“

„Attar?“

„Der stellt die Kräutersude her, die der Heiler empfiehlt. Ich habe jeden Tag eine bestimmte Mischung genommen, aber mir ging es trotzdem nicht gut, und ich musste mich ständig übergeben.“

„In welcher Phase der Schwangerschaft war das?“, fragte Maria.

„Der Heiler meinte, ich hätte noch vier Monate“, sagte Leila. „Es wurde immer schlimmer, und ich habe darauf bestanden, ins Ausland in eine Klinik geflogen zu werden. Mein Mann und der Heiler waren dagegen, aber ich habe nicht aufgegeben. In Dubai haben sie dann gesagt, mein Blutdruck sei zu hoch und ich müsse das Kind gebären. Daraufhin habe ich meinen Mann angerufen, Fatiq, und der Heiler sagte, es sei zu früh und das Baby werde sterben, wenn es jetzt auf die Welt käme. Ich solle nach Hause kommen. Also ist Fatiq nach Dubai gekommen, um mich zu holen.“

Nun begann Leila richtig zu weinen.

„Aber da war die Geburt schon vorbei, und der Heiler hatte recht behalten. Ein paar Stunden nachdem mein Mann angekommen war, war unser Sohn tot.“

„Das tut mir so leid“, sagte Adele.

„Ich habe ein Bild von ihm.“

Sie zeigte auf ihre Tasche und Adele reichte sie ihr. Aus dem Geldbeutel zog Leila ein Foto, das sie mit einem winzigen Baby auf dem Arm zeigte.

„Wir haben ihn Aafaq genannt, das ist der Ort, an dem Erde und Himmel sich treffen.“

„Ein schöner Name“, sagte Adele. Neben der jungen Leila saß ein Mann, dem Zahir sehr ähnlich sah. Sie hielten das Baby gemeinsam.

„Und so ein schönes Kind“, sage Adele.

Die ganze Familie war schön, trotz der Schmerzen, die sie gerade erlitten hatten. Der König, der damals wohl so alt gewesen sein mochte, wie Zahir es heute war, hatte den Arm um seine Frau gelegt und sah auf seinen Sohn herunter. Die Trauer stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Wir sprechen nie von Aafaq“, sagte Leila seufzend, „und nie von dieser Zeit. Ich glaube, mein Mann gibt mir die Schuld, dass ich dem Heiler nicht geglaubt habe. Trotzdem liebt er mich natürlich. Ich würde so gerne mit ihm über unseren Sohn sprechen, unseren verlorenen Sohn. Aber es geht nicht. Aafaq würde nächsten Monat fünfundzwanzig Jahre alt werden, und ich vermisse ihn immer noch jeden einzelnen Tag.“

Adele hielt Leilas Hand weiterhin in ihrer eigenen, während Maria die Königin untersuchte. Ein Ultraschall zeigte eine Reihe von Uterusmyomen, und Maria erklärte Leila, was sie tun konnte.

„Wir haben einen Privatflügel, und ich kann mit dem Gynäkologen sprechen, Dr. Oman. Sie können sich aber auch in das Krankenhaus überweisen lassen, in das Sie sowieso gehen wollten. Allerdings glaube ich nicht, dass die Operation morgen stattfinden kann. Sie müssen sich erst ein paar Tage von der Blutung erholen.“

„Ich würde lieber hier bleiben“, sagte Leila. „Aber ich muss es mit meinem Sohn besprechen. Können Sie mit ihm reden, Maria? Er macht sich Sorgen, und mir ist es so peinlich.“

„Es muss Ihnen nicht peinlich sein“, sagte Adele. „Zahir ist Arzt. Er hat ständig mit so etwas zu tun.“

„Adele hat recht“, bestätigte Maria. „Darf ich Zahir sagen, dass die Operation schon geplant war?“

Leila nickte. „Aber sagen Sie ihm nicht, was ich Ihnen über Aafaq erzählt habe.“

„Werde ich nicht. Soll ich ihn zu Ihnen schicken, wenn wir gesprochen haben?“

„Ja, bitte.“

„Aber schau vorher selbst noch einmal kurz rein“, sagte Adele, bevor Maria ging. „Ich werde Leila helfen, sich etwas frisch zu machen.“

Adele holte alles, was sie brauchte, um Leila zu waschen und die Laken zu wechseln. Als sie wiederkam, starrte Leila noch immer auf das Foto, schob es dann jedoch in die Tasche zurück.

Es musste schwer für sie sein, dass sie nicht über ihren Sohn sprechen konnte. Ob Zahir überhaupt wusste, dass seine Mutter ein Kind verloren hatte?

„Wollten Sie Ihrem Mann später von Ihrer Operation erzählen?“, fragte Adele, während sie Leila wusch.

„Ja. Vielleicht hätte ich ihm sogar noch vorher Bescheid gesagt oder hätte es einen meiner Söhne machen lassen. Ich weiß, dass es schwer ist, unsere Sitten zu verstehen. Meist bin ich sehr dankbar, wie gut ich behandelt werde, aber manchmal reicht es eben nicht aus.“

So wie damals bei Aafaq, dachte Adele.

Bald sah Leila wieder besser aus.

„Danke, dass Sie sich um mich kümmern.“

„Gerne. Jetzt muss ich aber noch einmal Ihren Blutdruck messen.“

Da steckte Maria den Kopf herein, gefolgt von Zahir und Dakan, die beide besorgt aussahen. Zahir nahm seine Mutter in die Arme und sprach sanft auf Arabisch mit ihr.

„Du hättest mir sagen können, dass es dir nicht gut geht.“

„Ich wollte selbst damit fertigwerden.“

„Aber das musst du nicht. Du hast zwei Ärzte als Söhne.“

„Der Heiler scheint zu glauben …“

Zahir biss die Zähne zusammen.

„Zahir, sperr dich nicht gleich dagegen. Zuerst hat der Kräutersud geholfen, aber am Schluss nicht mehr. Genauso wie damals bei …“ Sie beendete den Satz nicht.

Zahir blickte seiner Mutter in die geröteten Augen und wusste, dass sie bestimmt zu ihren Schwangerschaften befragt worden war. Er wusste auch, dass er sie niemals danach fragen durfte.

„Als es nicht besser wurde, hat der Heiler gesagt, ich solle in London zu einem Arzt gehen.“

„Das hat er gesagt?“

„Ja, aber bitte sag das deinem Vater nicht. Ich will nicht, dass der Heiler Schwierigkeiten bekommt.“

Es war ein langer Nachmittag, der schließlich in den Abend überging. Dakan musste zurück auf seine Station, und Zahir kümmerte sich um seine Patienten, während er gleichzeitig seine Mutter im Auge behielt.

Dr. Oman kam und sprach mit ihr. Sie entschieden, dass sie in den Privatflügel verlegt werden und die Operation am Montag stattfinden würde.

„Jetzt bringen wir Sie erst einmal in ein gemütlicheres Zimmer, wo Sie sich ausruhen können.“

Auf dem Weg nach draußen sprach er mit Zahir.

„Sie wissen, dass ich mich bestmöglich um sie kümmern werde.“

„Natürlich. Danke.“

„Und machen Sie sich nicht zu viele Sorgen. Ich werde laparoskopisch vorgehen und sie nicht lange in der Narkose lassen.“

Zahir wusste, dass es eine Routineoperation war. Doch seine Mutter hatte dafür eine Reise von zehn Stunden auf sich nehmen müssen, weil zu Hause nicht einmal solche Eingriffe möglich waren.

Dakan kam erneut vorbei, und zusammen überzeugten sie ihre Mutter, dass König Fatiq noch heute informiert werden müsse. Sie stimmte schließlich zu.

„Aber geh nachsichtig mit ihm um“, sagte Leila. „Er macht sich bestimmt solche Sorgen um mich.“

Zahir nickte. Zu Beginn des Anrufs blieb er auch tatsächlich freundlich. Er wusste, wie sehr seine Eltern sich liebten und was für ein Schreck diese Nachricht für seinen Vater sein musste. Er erklärte ihm so gut wie möglich, was passiert war, und dass seine Mutter am Montag operiert werden würde.

„Nein“, sagte sein Vater. Zahir hörte die Angst in seiner Stimme. „Sie soll herkommen. Letztes Mal, als sie im Krankenhaus war …“

Diese Sätze sprach nie jemand zu Ende. Niemand sprach über dieses Thema.

„Zahir, wenn ihr etwas passiert …“

Fatiq meinte, der Heiler könne sie gesund machen, eine Operation sei nicht nötig.

„Sie muss operiert werden“, unterbrach Zahir ihn. Sie diskutierten eine Weile, drehten sich jedoch nur im Kreis. Zahir widerstand dem Drang, seinem Vater zu sagen, dass der Heiler diese Reise überhaupt erst vorgeschlagen hatte – was Zahir wirklich überrascht hatte. Doch es war eine positive Überraschung. Vielleicht würde es doch endlich Fortschritt geben.

„Sie ist bei einem der besten Chirurgen Londons in Behandlung“, sagte Zahir. „Ich sorge dafür, dass alles optimal verläuft. Ich rufe dich wieder an.“

Er legte den Hörer auf. Mit zwei Fingern übte er Druck auf die Nasenwurzel aus und atmete tief durch. Er war so wütend auf seinen Vater, der sich nicht um die Gesundheitsversorgung in seinem Land kümmerte. Diesen Kampf führten sie schon seit über zehn Jahren, und deshalb lebte Zahir auch in London.

3. KAPITEL

„Ist alles in Ordnung?“

So eine sanfte, angenehme Stimme. Er öffnete die Augen. In der Tür stand Adele. Zahir hatte gedacht, er hätte die Tür geschlossen. Es war ihm unangenehm, in einem solchen Moment gesehen zu werden.

„Heute wird doch nicht noch jemand aus der Familie Al Rahal in Ohnmacht fallen?“, fragte sie. Zahir musste lächeln.

„Nein.“

„Wir bringen deine Mutter jetzt in den Privatflügel.“

„Gut.“ Zahir sah auf die Uhr. „Und du hast gleich Feierabend. Danke für deine Hilfe.“

„Kein Problem.“

„Wer bringt sie hoch?“

„Ich. Deine Mutter hat darauf bestanden, und einer Königin wollte wohl niemand einen Wunsch abschlagen. Sie fragt, ob du mit ihrem Mann gesprochen hast.“

„Ja, sag ihr, dass er Bescheid weiß. Ich komme später zu ihr hoch. Zuerst muss ich mich noch um ein paar Patienten kümmern.“

Es dauerte ewig, bis Leila im Privatflügel untergebracht war. Sie war eine reizende Frau, aber sehr anspruchsvoll. Als Adele endlich alles so hergerichtet hatte, dass die Königin zufrieden war, war ihre Schicht schon lange vorbei, und sie war erschöpft.

„Wir sehen uns morgen“, sagte Leila, als Adele ihr eine gute Nacht wünschte.

Zahir war gerade ins Zimmer getreten, um nach seiner Mutter zu sehen.

Adele schüttelte den Kopf.

„Aber Sie haben gesagt, dass Sie morgen um sieben anfangen“, sagte Leila verwundert.

„Ja, aber ich arbeite in der Notaufnahme.“

Mutter und Sohn unterhielten sich lange auf Arabisch. Schließlich wandte sich Zahir an Adele.

„Sie fragt, ob du dich nicht um sie kümmern möchtest, aber ich habe ihr erklärt, dass das nicht geht.“

Jetzt sprach auch Leila wieder Englisch.

„Adele soll meine Krankenpflegerin werden.“

„Sie ist daran gewöhnt, alles zu bekommen, was sie sich wünscht.“ Zahir lächelte kühl und sprach auf Arabisch weiter. Als Adele sah, dass seine Mutter begann sich aufzuregen, sprach sie Leila direkt an.

„Leila, ich würde mich wirklich gern um Sie kümmern, aber die Gynäkologie ist nicht mein Fachgebiet, und ich bin morgen auch schon in der Notaufnahme eingeplant. Ich komme Sie aber gern besuchen.“

„Wirklich?“

„Sehr gern.“ Adele nickte. Sie ging oft ihre Patienten besuchen, die aus der Notaufnahme auf eine Station gebracht worden waren – und die waren meist nicht einmal so interessant wie Leila. „Ich komme einfach in der Mittagspause vorbei. Aber Sie müssen jetzt schlafen.“

Adele fuhr nach unten, zog sich im Umkleideraum die Arbeitskleidung aus und Jeans und T-Shirt an. Es war nach zehn Uhr, und sie hatte den Bus verpasst. Der nächste würde auf sich warten lassen. Doch das war schon öfter passiert.

Allerdings war es noch nie geschehen, dass der silberne Sportwagen, der sonst immer an ihr vorbeifuhr, an der Bushaltestelle zum Stehen kam. Das Fenster wurde geöffnet, und Zahir rief ihr zu: „Soll ich dich nach Hause fahren?“

Adele war immer noch beleidigt, wenn sie an gestern Abend dachte, aber es wäre albern gewesen, jetzt Nein zu sagen. Also setzte sie sich auf den Beifahrersitz.

„Hast du kein Auto?“, fragte Zahir.

„Ist in London nicht nötig.“

Das sagte sie immer, aber in Wahrheit hatte sie sich nach diesem schlimmen Tag nie mehr hinter ein Steuer setzen wollen. Schon der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit.

„Aber es wäre bequemer, als jeden Tag Bus zu fahren, oder?“

„Mag sein.“ Adele zuckte mit den Schultern.

Vielleicht konnte sie sich kein Auto leisten? Er hatte gehört, dass sie sparte, um eine neue Wohnung zu finden.

Er würde ihr eines kaufen!

Er seufzte innerlich. Ein Gedanke, der wie automatisch kam und ihm zeigte, wie in seinem Hirn zwei Kulturen aufeinandertrafen. Das war nämlich genau das, was seine Familie tun würde: ihr ein Auto kaufen, die Schulden zurückzahlen, ihr ihre Freundlichkeit zehnfach vergelten. Dabei würde er sie damit lediglich beleidigen.

Er hatte keine Schulden bei ihr, nur weil sie sich um seine Mutter gekümmert hatte.

Das war ihr Job. Sie war Krankenpflegerin. Eine sehr gute übrigens. Es war nicht ihre Schuld, dass er ihr gegenüber oft so streng war.

Sie faszinierte ihn. Sie war lustig und offen und gleichzeitig zurückgezogen. Stille Wasser sind tief, hatte er schon öfter gedacht.

Er hielt sich von Adele fern, weil sie der einzige Mensch war, dem er gern nahekommen würde. Doch das würde nur negative Folgen haben.

„Ich bin dir sehr dankbar für deine Hilfe heute“, sagte er.

„Ich hab nur meine Pflicht getan.“

„Ich weiß, aber damit hast du meiner Mutter sehr geholfen. Sie hätte sonst viel mehr Angst gehabt, so weit von zu Hause und niemand, mit dem sie reden konnte.“ Zahir zögerte. Er dachte an die geröteten Augen seiner Mutter. Sie hatte bestimmt geweint.

„Hat sie erwähnt, dass sie ein Baby verloren hat?“

Er warf Adele einen Blick zu. Sie runzelte die Stirn.

Leila hatte darum gebeten, Zahir nichts von dem kleinen Jungen zu erzählen, und sie hatte gedacht, dass Zahir gar nichts von ihm wusste. Doch nun rechnete sie nach. Zahir musste etwa sieben Jahre alt gewesen sein. Sie sagte nichts, und Zahir sprach weiter.

„Ich weiß nichts Genaues. Im Palast wird darüber nicht gesprochen. Ich weiß nur, dass sie ein Baby bekommen sollte und nach Dubai geflogen ist, mein Vater hinterher. Und als sie wiederkamen, wurde der kleine Aafaq in der Wüste begraben. Aber bis heute …“

„Darüber musst du mit deiner Mutter sprechen“, sagte Adele. Es fiel ihr nicht leicht, denn sie wusste noch genau, wie schlimm es war, keine Informationen zu bekommen. Janet hatte ihr damals nichts über den anderen Autofahrer gesagt, auch wenn sie es unbedingt hatte hören wollen.

„Tut mir leid.“

„Schon gut“, sagte Zahir. „Mir tut es leid, dass ich gefragt habe. Ich hoffe nur, dass sie Dr. Oman gegenüber offener war.“

Adele antwortete nicht.

„Hier.“ Adele zeigte aus dem Fenster, und er hielt neben einem großen Gebäude mit einem schmiedeeisernen Tor davor.

„Nochmal vielen Dank“, sagte er.

„Kein Problem. Danke fürs Mitnehmen.“

„Jederzeit“, sagte er automatisch.

Sie lachte laut auf. Ein Jahr lang war er an ihr vorbeigefahren. Gestern Abend war sie vollkommen durchnässt gewesen, und er hatte sie ignoriert. Es mochte vielleicht zickig sein, aber jetzt würde sie es trotzdem sagen. „Du meinst: jederzeit, wenn du das Gefühl hast, mir etwas zu schulden?“

Zahir sah wortlos geradeaus, aber die Knöchel seiner Hände, mit denen er das Lenkrad umklammerte, waren weiß vor Anspannung.

Natürlich sprach Adele von gestern Abend. Er war ja nicht blöd. Oder blind. Natürlich hatte er sie gesehen, und es hatte ihn viel Kraft gekostet, nicht anzuhalten.

„Gute Nacht, Zahir.“

Sie stieg aus und öffnete das Tor.

Das hier war nicht ihr Zuhause. Das hier war ein Pflegeheim. Adeles Mutter, das wusste er, war sehr krank, und sie besuchte sie oft.

Er hatte nie viel darüber nachgedacht, weil er versuchte, insgesamt nicht viel über Adele nachzudenken. Auch wenn er es gewollt hatte. Er wollte herausfinden, welche Gefühle er für Adele hegte. Denn eins war klar: Er wollte sie so sehr, wie er noch nie eine Frau gewollt hatte.

Doch er war schließlich Thronfolger und würde König werden. Er musste sich zusammenreißen, seine Gefühle für sich behalten und durfte sein Herz erst dann verschenken, wenn er heiratete.

Was hoffentlich bald geschehen würde. Denn eine Hochzeit war das letzte Verhandlungsargument, das er seinem Vater gegenüber hatte. König Fatiq wollte schon lange eine sogenannte Auswahlzeremonie veranstalten, bei der Zahir seine zukünftige Ehefrau aussuchen sollte. Es gab mehrere potenzielle Bräute, und die Verbindung sollte dem Land viele Vorteile bringen.

Aber Zahir hatte noch nicht zugesagt. Er würde sich nur dann für eine Frau entscheiden, wenn er das Gesundheitssystem des Königreichs vollständig erneuern durfte. Bislang hatte sein Vater sich dagegen gesperrt, aber mittlerweile war Zahir zweiunddreißig, und der König wollte seinen Sohn wieder bei sich im Land haben. Verheiratet.

Also ging Zahir in London keine engen Beziehungen ein. Er hoffte, dass sein Vater bald nachgeben würde und ihn zu sich rief, um ihn endlich das Gesundheitssystem reformieren zu lassen.

Doch Adele stellte ihn auf eine harte Probe. Sie war geradezu gefährlich.

Als er das letzte Mal in seiner Heimat gewesen war, hatte er sich in die Wüste begeben und dort nach einer Lösung gesucht. Früher hatte er für Aafaq gebetet, für eine bessere Beziehung zu seinem Vater und immer dafür, dass er seinen Untertanen bestens dienen könnte. Doch letztes Mal hatte er auch über Adele nachgedacht.

Es schien keine Lösung zu geben, und trotzdem hatte er um Hilfe gebeten, um eine Antwort.

Sei geduldig.

Mit der Zeit werden alle Fragen beantwortet werden.

Tu das, was am wichtigsten ist.

Also versuchte er sich in Geduld. Doch das war nicht einfach. Er sah zu, wie Adele auf die Klingel drückte. Bevor sie das Gebäude betrat, drehte sie sich noch einmal um und runzelte die Stirn.

Sie war überrascht, dass der Mann, der sie jeden Abend allein im Dunkeln an der Haltestelle stehen ließ, nun darauf wartete, dass sie in Sicherheit war. Sie ging den Flur zum Zimmer ihrer Mutter hinab.

„Hallo, Adele“, sagte Annie. Die Pflegerin hatte ihre Mutter gerade umgedreht, damit sie sich nicht wund lag, und lächelte Adele zu.

„Ziemlich spät heute“, gab Adele zu, „aber ich habe es heute Morgen nicht geschafft.“ Sie unterbrach sich selbst. Die Pflegerinnen sagten ihr immer, dass sie sich nicht entschuldigen musste, wenn sie nicht kommen konnte. Morgen hatte sie Frühschicht und am Abend war sie mit Paul verabredet.

Worauf sie sich nicht einmal freute.

„Hallo, Mum“, sagte Adele, setzte sich neben sie und griff nach ihrer Hand.

Die Nägel waren korallrot lackiert, denn Adele machte jede Woche ihre Maniküre und Pediküre. Das ehemals braune Haar war jedoch silbergrau geworden. Anfangs hatte Adele es immer noch nachgefärbt, aber das hatte sie inzwischen aufgegeben.

Oh, sie wusste, dass sie ihr eigenes Leben leben musste, aber es fiel ihr so schwer, ihre Mutter nicht zu besuchen, und das verstanden die Leute einfach nicht.

Ihre Mum war so ein lebendiger, offener Mensch gewesen. Sie hatte Adele allein aufgezogen, gleichzeitig gearbeitet und sogar noch jede Menge Freunde gehabt. Kurz nach dem Unfall waren alle gekommen, auch ihre Verwandten, hatten im Wartezimmer der Intensivstation gesessen und sie später hier besucht.

Doch mit den Jahren wurden es immer weniger. Nun erhielt sie hin und wieder eine Karte oder einen Brief. Adele las sie ihr vor und pinnte sie dann an die Wand über dem Bett. Ihre Tante kam zweimal im Jahr zu Besuch, aber ansonsten war Adele immer mit ihrer Mutter allein.