ISBN: 978-3-95428-705-5
1. Auflage 2018
© 2018 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
Lektorat: Eveline Seidel, Johannes Paesler
Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
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Für Elisabeth Legrain
La langue est la clé de la culture
Frédéric Mistral
In jeder Sprache sitzen andere Augen
Herta Müller
Geschlossen wegen Glaubensurlaub
Das Kind rutschte vom Schlitten hinunter und platschte in einen dampfenden Kuhfladen, der sich auf dem verschneiten Weg ausgebreitet hatte. Die gesamte Familie Graff lachte herzlich, obwohl es nichts zu lachen gab. Sie hatten gerade den Bauernhof verlassen, um samt Kuhherde über den Col de la Schlucht nach Frankreich evakuiert zu werden. Noch waren sie deutsche Staatsbürger, dennoch hatte sie die Republik aufgenommen. Ein paar Stunden später erreichten sie Saulxure sur Moselotte am westlichen Rand der Vogesen: eine Flüchtlingsfamilie, die kein Wort Französisch sprach. Das Kind war mein Vater.
Das elsässische Heimatdorf Stosswihr (damals Stossweier) hatten sich Franzosen und Deutsche geteilt: Stellungskrieg. Wir schreiben Januar 1915. Die Einwohner der östlichen Hälfte wurden Richtung Deutschland evakuiert.
Drei Jahre später, als die Familie ohne Großeltern in die elsässische Heimat zurückkam, sprachen Kinder und Eltern zwar Französisch, aber das Haus war nur noch ein Steinhaufen. Sie lebten drei Jahre in Holzbaracken, bis alles wieder aufgebaut war.
Auf dem Felsen, an dem das Haus vor dem Krieg angelehnt war, liest man heute die Botschaft eines Soldaten: »Gott strafe die Weltbrandstifter.«
Das Elsass gehörte ab sofort wieder zu Frankreich, wie früher, vor dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71.
Le beau jardin, der schöne Garten, wie der Sonnenkönig das Elsass nannte, war schon immer ein Flüchtlingskorridor von hüben nach drüben und umgekehrt, je nach politischer Witterung.
Einige Zeit später, am 16. Juni 1940, besuchte Adolf Hitler den Col de la Schlucht. Die Nazis schnappten sich ohne Wenn und Aber das kleine Land zwischen Rhein und Vogesen und trennten es von Frankreich. Das Dorf lag in der Sperrzone und wurde erneut zum Korridor für Flüchtlinge. Französische Soldaten, denen die Flucht aus der deutschen Gefangenschaft gelungen war und die im Elsass kurz ausschnauften, bevor sie es wagten, über die Vogesen in ihre französische Heimat zurückzukehren. Auch junge Elsässer, denen die Zwangsrekrutierung in die Wehrmacht drohte, flüchteten. Versteckspiele ums Überleben.
Ich bin in diesem Grenzdorf auf die Welt gekommen. Erst als Jugendlicher verstand ich, dass mein Vater in deutscher Uniform in Polen gefallen war. 1939-40 war er französischer Soldat. Ab 1944 deutscher Soldat. Er hatte sich nicht geweigert, weil die Nazis der Familie mit Zwangsarbeit im Reich gedroht hatten. Es gab aber Cousins, die aus dem Zug gesprungen sind und in die Schweiz flüchteten. Die Eltern wurden verhaftet und nach Deutschland versetzt: Flüchtlinge.
Jahre später entdeckte ich in Großhennersdorf bei Zittau ein Heim für Behinderte, in dem elsässische Familien während der Nazizeit zur Strafe einquartiert worden waren, weil die Söhne geflüchtet waren, um nicht in deutscher Uniform kämpfen zu müssen. Die behinderten Kinder aus diesem Heim wurden schon 1941 bei Pirna vergast.
Ich frage mich oft, warum ich immer wieder Geschichten über Flüchtlinge schreibe. Hat das mit dieser Vergangenheit zu tun?
Der deutsche Soldat, der in unserem Haus in Stosswihr einquartiert war, kam uns mit seiner Frau nach dem Krieg überraschend besuchen. Sie waren aus Schlesien geflüchtet. Ich erfuhr erst später, dass meine Mutter ihm die Kleider meines Vaters geschickt hatte, der in Polen als zwangsrekrutierter Elsässer gefallen war.
Irgendwann stand das Foto eines Jungen aus Aleppo auf der Kommode. Mutter hatte ihn als Patenkind adoptiert. Verfolgte Christen in Syrien? Was ist aus dem Jungen geworden? Kam er vielleicht 2015 als Flüchtling nach Deutschland?
Ich arbeitete als junger Pfarrer in der ehemaligen Dominikaner-Kirche – heute Temple Neuf. Sie wurde 1870 Opfer preußischer Kanonen, genauso wie die nahe liegende Bibliothek und die Uni aus dem Mittelalter, gegründet von Johannes Sturm. Meine erste Weihnachtspredigt sorgte für Stress.
Pfarrer Bernard Fritsch ist in der kleinen Stadt, die weltweit wegen ihres Käses bekannt ist, nie besonders aufgefallen. Er ist ein bescheidener und hilfsbereiter Mensch, doch ohne große Persönlichkeit. Er ist immer ein mittelmäßiger und manche sagen langweiliger Prediger gewesen, der durch seine Ansprache nicht die Aufmerksamkeit der Gemeindemitglieder auf sich zu lenken vermag. Niemand weiß, wie er politisch denkt. Er spielt nie auf die Tagesereignisse an und zieht es vor, sich in ebenso gelehrte wie sterile biblische Erklärungen zu flüchten. Aber alle ordnen ihn dem Lager der Konservativen zu.
Umso mehr Aufsehen erregte der Skandal, den er am 24. Dezember auslöste. Professor Haeberlin, Vorsitzender des Presbyteriums, entdeckte als Erster die rote Inschrift auf dem alten Portal: Wegen Glaubensurlaub geschlossen.
Der Schreiber hatte ganz offensichtlich eine Spritzpistole benutzt, weil der allzu mächtige Strahl die romanische Arkade beschmutzt hatte. Das Portal war abgeschlossen, doch die Glocken hatten bereits ein erstes Mal geläutet und der Gottesdienst sollte in zwanzig Minuten beginnen. Léon, der Küster, der völlig außer sich war, stocherte mit einem Schraubenzieher im Schlüsselloch herum. »Die Schlüssel sind verschwunden. Ich komme nicht hinein, dabei soll ich die Kerzen am Tannenbaum anzünden.«
Nach und nach füllte sich der Kirchplatz. Die Inschrift war von weitem sichtbar, einprägsam wie ein Bibelvers. Ein missbilligendes Gemurmel ging durch die Menge. »Es ist ein Skandal. Die Jungen respektieren überhaupt nichts mehr.«
Raymond, der Lokalreporter, befragte die ersten Zeugen: »Wer hat was und wen wo, wann und wie gesehen?« Eine junge Frau sprach von einem Skin. Eine alte, sehr würdevolle Frau hatte einen Ausländer gesehen. Ein Mann mittleren Alters beschwor eine Bande Jugendlicher.
Plötzlich mischte sich Pfarrer Fritsch unter die Menge und wandte sich mithilfe eines »grellroten«, wie Raymond notierte, Megafons an seine Gemeindemitglieder. »Liebe Gemeindemitglieder, ich freue mich, dass ich mich an diesem Weihnachtstag an euch wenden darf. Ich habe nach reiflicher Überlegung beschlossen, auf die traditionelle Predigt zu verzichten, und bitte euch, alle eure Geschenke den Kindern von Somalia zu geben. Wir dürfen uns nicht mehr mit Worten begnügen, die Enterbten der ganzen Welt erwarten Taten. Heute ist es genau vierzig Jahre her, dass ich Pfarrer geworden bin. Ich habe jede Weihnacht die frohe Botschaft von der Geburt Christi gepredigt, vierzig Mal hintereinander. Ihr habt mir vierzigmal aufmerksam zugehört. Aber es ist nichts geschehen. Frohe Weihnacht. Ich danke euch.«
Im gleichen Augenblick hielt ein großer Lastwagen mit einer Leuchtschrift am Ende des Platzes: »Weihnachten für die Kinder von Somalia«. Zur allgemeinen Überraschung saß Annette, die Tochter des Pfarrers, am Steuer. Ein unbeschreibliches Stimmengewirr überflutete den Platz. Die Gemeindemitglieder fielen über den Pfarrer her, der sich tapfer, aber erfolglos wehrte. Seine Schäfchen gingen missmutig und verdrossen nach Hause. Pfarrer Fritsch, seine Tochter Annette und Léon, der Küster, standen allein vor dem hoffnungslos leeren Sattelschlepper. Martin, der Clochard, den alle kannten, trat zu ihnen, um zwei Mandarinen, eine Tafel Schokolade, einen Apfel, ein altes Paar Socken und zwei abgetragene Pantoffeln unterschiedlicher Größe zu spenden.
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