Frauen morden schöner

25 kriminelle Geschichten aus Baden-Württemberg

Mareike Fröhlich (Hrsg.)


ISBN: 978-3-95428-706-2
1. Auflage 2018
© 2018 Wellhöfer Verlag, Mannheim

Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
Lektorat: Eveline Seidel, Johannes Paesler
Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
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Inhalt

Der Hüftknochen

Anne Grießer

Löffingen (Hochschwarzwald)

 

»Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern im Glauben.«

Pfarrer Schnell senkte die Stimme, blickte über den Rand seiner Brille auf die sechs Menschen, die sich in der restaurierten Kapelle von Weiler eingefunden hatten, musterte jeden ausgiebig, versuchte einen Blick in ihre Seelen zu erhaschen und seufzte abgrundtief, als einer nach dem anderen die Augen niederschlug.

Alle bis auf Kommissar Moosmayer. Der Polizeibeamte erwiderte den Blick des Pfarrers. Sein Gesichtsausdruck wirkte düster und ein wenig leer, was aber kein Wunder war, denn die meisten Männer sahen so aus, wenn ihnen gerade die Frau davongelaufen war. Pfarrer Schnell konnte ein Lied davon singen, der Seelsorger hatte oft genug mit solchen Fällen zu tun.

Die kleine Schar in der Kapelle begann mit den Füßen zu scharren, als das Schweigen anhielt.

»Wir sind heute hier versammelt«, fuhr Pfarrer Schnell fort, nachdem er einen Frosch aus dem Hals weggeräuspert hatte, »um des unbekannten Toten zu gedenken, dessen Hüftknochen bei den Arbeiten an der Kapelle unter einem steinernen Grabkreuz zum Vorschein kam.«

Er legte erneut eine Kunstpause ein und erinnerte sich an den Tag des traurigen Fundes. Man hatte ihn sofort herbeigerufen. Ob er etwas von einem alten Friedhof neben der Kapelle wisse?

Nein, hatte er geantwortet. Die Verstorbenen aus den Ortsteilen Dittishausen und Weiler waren seines Wissens schon immer im Hauptort Löffingen beerdigt worden. Aber vielleicht war das Grab alt? In früheren Zeiten hatte man Selbstmörder, Verbrecher und Ungetaufte gern in der Nähe von Kirchen verscharrt. Im Kirchenbuch von 1440 war beispielsweise ein gewisser Nikolaus, »Ziginer aus Egypten«, erwähnt – den hatte man bestimmt nicht in geweihter Erde bestattet.

»Ein unbekannter Mensch aus vergangenen Tagen, der im Laufe der Zeit zu einem einzigen Hüftknochen geschrumpft ist«, sagte der Pfarrer laut. »Wir wissen nicht, ob dieser Mensch ein gutes oder ein böses Leben geführt hat. Ob er gottesfürchtig war oder ungläubig. Wir wissen nicht, wann, wo und warum er gestorben ist. Ob er freiwillig aus dem Leben schied, ob seine Zeit auf Erden friedlich oder gewaltsam endete.«

Pfarrer Schnell schloss die Augen und streckte die Hände mit der Innenfläche nach oben gekehrt von sich.

»Wer sind wir, über den armen Mann zu richten? Wir sind zusammengekommen, um für die Seele des Menschen zu beten, dessen Hüftknochen in unserer Gemeinde seine letzte Ruhe fand.«

Kurz fragte er sich, wo der Rest des Skeletts abgeblieben sein mochte. Sicher war nicht nur ein einzelner Knochen hier bestattet worden. Hatten sich die Wildschweine irgendwann alles Übrige geholt?

»Herr, schenke dem Toten die ewige Ruhe.«

Während er mit seiner kleinen Gemeinde einige Fürbitten sprach, wanderte Schnells Blick erneut zu Kommissar Moosmayer. Mit finsterer Miene saß der Polizeibeamte da, ohne sich am Gebet zu beteiligen.

Warum, zum Teufel, war er dann hier?

Sicher nicht aus dem Bedürfnis heraus, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. So einer war der Kommissar nicht. Beim Gottesdienst hatte Pfarrer Schnell ihn überhaupt noch nie gesehen. Wusste der Polizist etwas über den Knochen, was in Dittishausen bislang unbekannt war?

Alter, Geschlecht, Zustand, Todesursache – nichts war an die Öffentlichkeit gedrungen.

Aufmerksam folgte Schnells Blick dem des Ermittlers. Er hatte die Alte im Visier. Eindeutig. Sollte er etwa denselben Verdacht hegen wie er selbst? Die alte Theresia Kaltenbrunner …

 

Vier Männer waren ihr in den letzten zwanzig Jahren abhandengekommen. Auf und davon, ohne eine Spur zu hinterlassen. Genau wie jetzt die Frau des armen Kommissars.

Jedes Mal hatte Pfarrer Schnell die alte Dame besucht, um ihr neuen Mut zuzusprechen. Jedes Mal hatte sich sein Verdacht ein wenig erhärtet.

Da waren die Giftpflanzen in ihrem hübschen, gepflegten Gärtchen. Eibe hatte der Pfarrer erkannt, Tollkirsche und Blauen Eisenhut. Letzterer wirkte schnell und todsicher, das wusste er.

Dann die fehlende Niedergeschlagenheit. Pfarrer Schnell kannte alle Formen von Trauer und Verlust – die verhaltene, die wütende, die aggressive, die selbstzerstörerische, die leise, die wehmütige, die laute, die zeternde. Theresia Kaltenbrunner zeigte keine dieser Varianten. Genau genommen zeigte sie überhaupt keine Trauer. Sie wirkte eher fröhlich.

Schließlich war da noch ihr wachsender Wohlstand. Keiner der verschwundenen Lebenspartner war arm gewesen. Alle hatten offenbar dafür gesorgt, dass Theresia Kaltenbrunner an ihrem Reichtum Anteil hatte. Vor Kurzem erst, beim vierten verlustig gegangenen Mann, hatte Pfarrer Schnell der alten Dame beim Teetrinken ins Gewissen geredet. »Sie können mir alles anvertrauen«, hatte er gesagt. »Sogar die dunkelsten Geheimnisse. Manchmal hilft es, sein Gewissen zu erleichtern. Es ist mir ein Bedürfnis, mich auch um diejenigen zu kümmern, die vom rechten Weg abgekommen sind.«

Sie hatte ihn daraufhin etwas missmutig angesehen. Mit einem gefährlichen Funkeln in den betagten Augen. Danach war sie in der Küche verschwunden, um neuen Tee aufzubrühen. Pfarrer Schnell hatte sich an die Eibe, die Tollkirsche und den Blauen Eisenhut erinnert, etwas von einem dringenden Termin gemurmelt und augenblicklich das Weite gesucht.

 

Heute war Theresia Kaltenbrunner nicht allein in der Kapelle von Weiler erschienen. Neben ihr saß ein graumelierter Herr im tadellosen, nicht gerade billigen Anzug. Die Alte strahlte ihn an und der arme Narr strahlte zurück, wie Pfarrer Schnell fröstelnd feststellte.

Ob er Kommissar Moosmayer einen Tipp geben sollte? Schließlich unterlag er in diesem Fall nicht dem Beichtgeheimnis, da die alte Dame ihm gar nichts anvertraut hatte. Aber konnte er dem Polizeibeamten wirklich aufgrund eines unbewiesenen Verdachtes mit einer solchen Geschichte kommen?

Nein. Pfarrer Schnell schüttelte in Gedanken den Kopf. Er war Pfarrer, kein Hilfssheriff. Trotzdem schauderte ihn plötzlich, als er an den Hüftknochen dachte.

»Der Herr sei seiner Seele gnädig«, beendete er das Gebet ein wenig abrupt. »Wir üben uns nun in stiller innerer Einkehr, während ich die Totenglocke läute.«

Plötzlich wollte er nur noch schweigen und seinen Gedanken nachhängen. Als er am Glockenseil zog, atmete er tief durch.

Dong.

Es war nicht immer einfach, Seelsorger zu sein. Manchmal wurde man dabei mit Dingen konfrontiert, die man gar nicht wissen wollte.

Dong.

Mit Geschichten, die man am liebsten nie gehört und sofort wieder vergessen hätte.

Dong.

Mit Abgründen, die einen tagtäglich daran erinnerten, dass der Mensch fehlbar war und zu bösen Taten fähig.

Dong. Dong.

Pfarrer Schnell schrak zusammen, als sein Blick auf den jungen Michael Vogt fiel, der in der ersten Reihe saß. Er ließ das Glockenseil fahren und der Schwengel schlug im falschen Takt an.

Der junge Mann zuckte nervös mit den Beinen und drehte sich immer wieder nach Kommissar Moosmayer um.

Pfarrer Schnell schloss die Augen, aber es war, als könnte er Michaels Stimme in seinen Gedanken hören: »Sie haben doch der Polizei nichts erzählt, oder?«

Nein, natürlich hatte er das nicht. Eigentlich ging ihn die ganze Sache gar nichts an. Die Polizei auch nicht. Eher schon die Rentenkasse.

 

Drei Jahre war es jetzt her, dass er den alten Anton Vogt, Michaels Großvater, anlässlich seines fünfundachtzigsten Geburtstages aufgesucht hatte.

Er konnte sich gut daran erinnern. Ein wolkenloser, ungewöhnlich warmer Herbsttag war es gewesen. Die Tür zum Vogt-Häuschen öffnete sich erst nach dem dritten Läuten.

»Pfarrer Schnell?«, empfing ihn der junge Michael mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

»Gott zum Gruß«, antwortete der Seelsorger. »Ich möchte dem Geburtstagskind meine Glückwünsche überbringen.«

Ganz Dittishausen bewunderte den jungen Mann, der sein Anglistik-Studium in Freiburg abgebrochen hatte, um den gebrechlichen Großvater zu pflegen, der sonst niemanden mehr hatte.

»Na, wo steckt er denn, dein Opa?«

Michael Vogt rührte sich nicht vom Fleck und machte keine Anstalten, den Pfarrer ins Haus zu bitten. »Das … geht jetzt nicht«, stotterte er. »Mein Großvater schläft. Ich möchte ihn nicht wecken.«

»Na schön, dann komme ich eben später wieder. Wann passt es am besten?«

»Gar nicht!« Die Stimme des jungen Mannes nahm eine hysterische Höhe an.

Pfarrer Schnell sagte nichts, zog nur die Stirn kraus, aber das reichte vollkommen aus, um die Schleusen zu öffnen. Wie ein Wasserfall, der sich durch einen Riss in der Staumauer ergoss, brach die Wahrheit aus Michael Vogt heraus, als hätte er nur auf diesen Moment der Erlösung gewartet. Sie überflutete die Ohren des armen Seelsorgers, der den Blumenstrauß und die Weinflasche sinken ließ und fassungslos den Kopf schüttelte, als der junge Mann endete.

»Ich hatte keine Wahl!«, schloss der gescheiterte Student seine Beichte. »Ich wäre pleite gewesen! Glauben Sie mir, mein Opa ist ganz friedlich eingeschlafen! Ich hatte nichts damit zu tun. Aber ohne die Rente – eine ganz ordentliche Rente, schließlich war er ein hoher Beamter –, ohne das Geld hätte ich das Häuschen nie halten können und mir eine Arbeit suchen müssen. Eine Arbeit! Es war ganz einfach. Ich musste nur schweigen. Opa hatte ja schon Pflegestufe drei, da hat sich doch keiner gewundert, dass er nicht mehr aus dem Haus ging!«

Der Pfarrer schnappte nach Luft.

»Ich habe schließlich niemandem etwas zuleide getan!«, begehrte der junge Mann auf und sah in diesem Moment sehr verletzlich aus.

Was hätte der Seelsorger denn tun sollen? Zur Polizei gehen? Nein. Schließlich handelte es sich nicht um ein Kapitalverbrechen. Nur um schlichten Betrug. Also sprach er dem jungen Mann ins Gewissen und schenkte ihm jedes Mal, wenn er ihn traf, einen strengen Blick. Er war nicht für das Einhalten der Gesetze, sondern für das Seelenheil zuständig.

 

Dong.

Pfarrer Schnell öffnete die Augen und erwiderte Michaels Blick. Warum war der junge Mann ausgerechnet heute so nervös?

Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Der Hüftknochen.

Nie zuvor hatte er den jungen Mann gefragt, wo genau er seinen toten Großvater eigentlich bestattet hatte. Auf dem Friedhof in Löffingen wäre es ja schlecht gegangen.

Pfarrer Schnell schluckte hart. Hatten die Wildschweine etwa den alten Anton Vogt ausgegraben? Ihm wurde ein wenig übel und er zog ein letztes Mal das Glockenseil.

Am Altar griff er nach der Gitarre, die er zuvor dort bereitgestellt hatte. »Lasset uns zum Abschluss singen.«

Das Saitenspiel würde seine zitternden Hände beruhigen. Ganz sicher.

»Herr, deine Liebe ...«

Nur Thomas Brunner sang mit. Der Kfz-Händler. Ein passionierter Jäger. Dass er auch singen konnte, war Pfarrer Schnell neu. Doch die Töne kamen ihm fehlerfrei und wohlklingend über die Lippen. Den Text kannte er sogar auswendig.

»... ist wie Gras und Ufer ...«

So konnte man sich in seinen Mitmenschen täuschen! Gesangstalent war das Letzte, was der Pfarrer dem etwas grobschlächtigen Brunner zugetraut hätte.

»... wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.«

Der Kommissar räusperte sich lautstark und Pfarrer Schnell schlug einen falschen Akkord an.

Thomas Brunner sang unverdrossen weiter.

Wie konnte der Mann nur so kaltblütig sein? Machte es ihm überhaupt nichts aus, direkt neben dem Polizeibeamten zu sitzen? Kam er gar nicht auf die Idee, Moosmayer könnte ihm auf die Schliche gekommen sein? Nun, vielleicht musste man als Jäger abgebrüht sein, durfte keine Furcht zeigen. Fast beneidete Pfarrer Schnell den kräftigen Mann mit dem vollen Bariton um diese Fähigkeit.

Ein Funken Mitgefühl musste aber doch in Brunner stecken, sonst wäre er damals, als es geschah, ja nicht zu ihm gekommen. Hätte ihn nicht gebeten, dem unscheinbaren Rasenstück den Segen zu geben.

Ja, Thomas Brunner war ein gottesfürchtiger Mann, irgendwie.

 

»Es war ein Unfall«, hatte er an jenem Tag versichert.

Seine Hände waren noch blutverschmiert, auch auf dem Hemd und den Drillichhosen zeichneten sich dunkle Flecke ab. Er wirkte ganz ruhig, nur die gelegentlichen Flüche, die er in seine Beichte einwob, zeugten von einem gewissen inneren Aufruhr.

»Ich sitze also auf meinem Ansitz, mit dem Gewehr im Anschlag. Wissen Sie, Herr Pfarrer, ich kenne meine Rotte! Am liebsten suhlt sie sich in den frühen Morgenstunden, wenn das Gras noch voller Tau ist. Feucht und kühl, das lieben sie, meine Wildsäue. Ich hatte es auf die Fette abgesehen, die helle. Kaum behaart, sieht fast wie ein verwildertes Hausschwein aus. Rosi hab ich sie genannt.«
Pfarrer Schnell lauschte schweigend und hoffte, dass seine Ahnung ihn trog.

»Dass meine Augen nicht mehr hundertprozentig funktionieren«, fuhr Thomas Brunner indes gnadenlos fort, »hatte ich längst bemerkt. Aber, großer Gott, wie hätte ich denn auch mit einem Nacktwanderer rechnen können?«

Er schüttelte den Kopf, als wäre das Wandern im Adamskostüm schon Grund genug, um die Tat zu rechtfertigen.

»Ein Nacktwanderer!«, wiederholte er. »Ich bitte Sie!«

Pfarrer Schnell schloss voller schlimmster Befürchtungen die Augen.

»Ich hab nur gesehen, dass etwas Helles, Fleischiges aus dem Gebüsch bricht, es hat ja gerade erst gedämmert. Natürlich habe ich sofort an die fette Rosi gedacht und abgedrückt.«

Er hielt kurz inne und ahmte die Bewegung nach.

»Bumm. Volltreffer! Erst als ich vom Ansitz runterstieg, um die Beute … Na ja, es war aber nicht die Rosi.«

Pfarrer Schnell versuchte, nüchtern zu bleiben. »Das ist ein Fall für die Polizei«, sagte er.

»Verflixt und zugenäht, nein!« Brunner stampfte mit dem Fuß auf. »Das macht den Kerl auch nicht wieder lebendig.«

Wo er recht hatte, hatte er recht. Das sah Pfarrer Schnell ein.

»Papiere hatte er natürlich keine bei sich«, erklärte Brunner. »Wo hätte er die denn hinstecken sollen? Nur Wanderschuhe. Die Fußsohlen waren wohl ein wenig zart. Ich hab ihm sogar die Socken ausgezogen, um nachzusehen, ob ein Ausweis drinsteckt. Aber nichts! Der war nicht von hier, so viel stand fest. Also habe ich ihn gleich dort drüben hinter der Kapelle begraben. Ich komme nur zu Ihnen, Herr Pfarrer, damit Sie ein Gebet für den armen Kerl sprechen und sein Grab segnen.«

Was war ihm da schon anderes übriggeblieben? Der tote Nacktwanderer konnte schließlich nichts dafür, dass ein kurzsichtiger Jäger aus dem Schwarzwald ihn mit einem Wildschwein verwechselt hatte. Also hatte Pfarrer Schnell Thomas Brunners Wunsch erfüllt und ein paar Worte am Grab gesprochen.

 

Jetzt ließ er die Gitarre sinken.

Thomas Brunner lächelte. Seine Nerven mussten dick wie Drahtseile sein. Was man von denen des Pfarrers nicht gerade behaupten konnte. Der Seelsorger wünschte sich dringend, diesen idyllischen, friedlichen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Er schloss die Trauerfeier mit dem Hinweis auf den nächsten regulären Gottesdienst und versicherte seiner kleinen Gemeinde, wie sehr er sich darauf freue, sie alle wiederzusehen.

Was eine glatte Lüge war. Vor allem auf die Anwesenheit von Kommissar Moosmayer legte er nicht den geringsten Wert. Trotzdem schüttelte er ihm zum Abschied die Hand.

»Gibt es«, wagte er zögernd zu fragen, »gar keinen Hinweis auf den Toten und die Todesursache? Alter und Geschlecht lassen sich doch heutzutage leicht herausfinden, wenn ich mich nicht irre?«

Der Kommissar warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Männlich«, sagte er knapp. »Zum Todeszeitpunkt zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt.«

Pfarrer Schnell schwankte. Ein leichter Schwindel erfasste ihn.

Seit sie den Hüftknochen gefunden hatten, dachte er wieder täglich an den Obdachlosen. Den Fremden, den er nie zuvor in der Gegend gesehen hatte.

Damals war die Kapelle noch nicht restauriert gewesen. Völlig heruntergekommen und verlassen stand sie da. Jugendliche missbrauchten sie als Partyraum, Penner als trockenen Unterschlupf. Nur Pfarrer Schnell kam manchmal zur inneren Einkehr, weil der Heilige Geist ihn dort umwehte.

 

So hatte er eines Tages den Obdachlosen angetroffen. Der ziemlich betrunken war. Anfangs hatten sie sich ganz nett unterhalten, der Pfarrer hatte sogar mitgetrunken, da er zufällig ein paar Flaschen Messwein dabei hatte. Aber mit steigendem Alkoholpegel wurde der Penner ausfallend. Lästerte Gott und verspottete den Pfarrer. Fluchte grässlich und verlachte die Religion.

Das konnte Pfarrer Schnell doch nicht einfach so hinnehmen! Zumindest nicht in dem angetrunkenen Zustand, in dem er sich mittlerweile befand.

Es sollte nur ein kleiner Denkzettel sein. Ein einziger Schlag, damit der Bursche begriff, was Respekt bedeutete.

Ein einziger Schlag!

Nun ja, Pfarrer Schnell war in seiner Jugend ein guter Boxer gewesen – und der Alkohol mochte seine Selbstbeherrschung ein wenig getrübt haben.

Aber ein einziger Schlag?

Nun. Dumm getroffen, dumm gestürzt, dumm gelaufen. Die Wege des Herrn sind unergründlich.

Der Obdachlose bewegte sich nicht mehr. Er atmete auch nicht mehr. Die ganze Nacht hielt Pfarrer Schnell Totenwache. Betete, zitterte, weinte und bereute. In der Morgendämmerung verscharrte er den leblosen Körper hinter der Kapelle. Dann ging er nach Hause und schlief seinen Rausch aus.

 

Seither wartete er auf Erlösung. Doch sie kam nicht. Ganz im Gegenteil. Das Einzige, was kam, war eine quälende Beichte nach der anderen.

War sie nun endlich gekommen, die Stunde der Wahrheit?

Es sah ganz danach aus. Tief sog er die Luft ein, schwankte ein weiteres Mal, öffnete die Augen und blickte Kommissar Moosmayer entschlossen ins Gesicht.

»Ich möchte ...«, flüsterte er.

»Seit mindestens 200 Jahren tot«, fuhr der Polizeibeamte fort, ohne auf den Einwurf des Pfarrers zu achten.

»Oh!« Pfarrer Schnell schluckte.

»Zum Glück für uns«, lächelte Moosmayer ein wenig gequält. »Wäre der Knochen frischer gewesen, hätten wir das gesamte Gelände umgraben müssen, um den Rest zu suchen.«

»Oh!«, wiederholte der Seelsorger. »Gott sei Dank war das nicht nötig.« Er zögerte kurz, dann seufzte er resigniert und wandte sich ab.

»Moment mal«, hielt Moosmayer ihn zurück und trat etwas unsicher von einem Bein aufs andere.

»Kann ich noch einen Augenblick mit Ihnen reden, Herr Pfarrer? Unter vier Augen, meine ich. Es geht um ... um meine Frau. Die, um ganz ehrlich zu sein, ein ziemlicher Giftdrachen sein konnte. Das … unterliegt doch dem Beichtgeheimnis, nicht wahr?«

Die Fürstin

Alexa Rudolph

Freiburg

 

Es war elf Uhr. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ihr Nickerchen dauerte nicht länger als zehn Minuten, danach streckte sie ihre Glieder und blickte neugierig um sich. Den Vorgang wiederholte sie mehrmals am Tag. Zum Ausruhen wählte sie eine Parkbank im Stadtgarten oder einen der Schalensitze am Busbahnhof. Wenn sie Lust auf etwas Besonderes hatte, suchte sie das Biedermeiersofa im überdachten Hinterhof des neulich verstorbenen Antiquitätenhändlers auf. Der freundliche Herr, mit karierter Fliege und Goldrandbrille, hatte ihr noch zu Lebzeiten erlaubt, hierher zu kommen. Meistens jedoch döste die Fürstin mitten in der Stadt, hockte seitlich des Haupteingangs der Deutschen Bank, wo sie sich vor einem vergitterten Kellerfenster ein Plätzchen eingerichtet hatte. Was sie empfand, wenn sie ihren Rücken an das Geldinstitut lehnte, hätte sie selbst kaum beschreiben können. Kein Schatten spendender Baum, kein weiches Sofa vermittelten ihr eine solche Zufriedenheit. Von Zeit zu Zeit klimperten Geldstücke, kleine Zuwendungen, die wie Sterntaler vom Himmel fielen, in den Becher zu ihren Füßen. Auf ein Pappschild hatte sie Dankeschön geschrieben und ein lachendes Smiley gemalt.

»Ach ja, meine Hausbank«, dachte sie.

Natürlich gab es auch Tage, da fielen nur wenige Münzen in ihren Becher. Heute war anscheinend so ein Tag. Außer dem leichten Sommerregen, der auf den Asphalt tröpfelte, den an- und abfahrenden Straßenbahnen, einer Armada Wasser spritzender Fahrräder, dem Klick und Klack von Absätzen und eiligen Schritten hörte sie nichts. Sie hatte ihre Beine ganz nah an den Körper gezogen, Arme und Kopf auf die Knie gebettet und die Fläche ihres großen, mächtigen Körpers auf ein Minimum reduziert. Sie wartete geduldig, dass die Welt wieder trocknete, als ein Mann, der schon beinahe an ihr vorübergegangen war, plötzlich stehen blieb und sich vorstellte: »Mein Name ist Tiez, August Tiez.«

Die Fürstin blinzelte in ein glatt rasiertes Gesicht mit grauen Schläfen. »Okay, was ist los mit dir, Alter?«

»Ob wir uns vielleicht ein bisschen unterhalten können?«, wollte der Mann im hellen modischen Regenmantel wissen.

»Will denn sonst niemand mit dir quatschen?«

»Oh, doch, natürlich.« Er zögerte und fügt hinzu: »Viele.«

»Also, wieso ich?«

»Ich möchte Sie einladen. In ein Café.«

Sie überlegte, dann nickte sie. »Na gut. Mein Gepäck muss ich aber mitnehmen.«

August Tiez machte Platz, damit die Frau ihren zweirädrigen Taschenkarren ordnen und packen konnte. Umständlich versuchte sie, zwei prallvolle Tüten und einen Schlafsack darauf unterzubringen.

»Und jetzt, wohin?«, knurrte sie kurzatmig.

»Café Schmidt, dort entlang, wenn’s recht ist«, murmelte August Tiez, sehr wohl bemerkend, dass einige Passanten auf ihn und die Fürstin aufmerksam geworden waren. Die Situation war ihm etwas peinlich, also lief er rasch los, die Frau mit dem strähnigen, rosarot gefärbten Haar und das vollbepackte, quietschende Wägelchen hinter sich.

Es hatte aufgehört zu regnen, auf dem Gehweg dampften Pfützen. August Tiez wich dem Wasser aus und als er sich umdrehte, sah er, wie die Fürstin unbeirrt durch die Nässe stapfte und sich Zeit ließ. Er wartete, bis sie endlich neben ihm angekommen war. Er blickte sie missbilligend an. Sie lächelte schief. »Na, anders überlegt? Kann auch wieder abhauen.«

August Tiez schüttelte den Kopf. Er musterte ihre großen Füße, die nackt und schmutzig in ramponierten Riemchenschuhen steckten. Ihre Waden waren kräftig und gebräunt, die Knie seit Längerem nicht gewaschen. Die Frau trug ein dunkelblaues durchgeknöpftes Kleid, an dem der Saum aufgegangen war.

Sein Blick wanderte langsam höher. Sie war deutlich größer als er. »Los, jetzt kommen Sie schon!«, knurrte er.

Gemeinsam quetschten sie sich durch die Menschenmenge an der Haltestelle für Busse und Straßenbahnen. Kurz darauf erreichten sie das Café. Tiez öffnete die Tür und ließ die Frau zuerst hindurch. Ohne rechts und links zu schauen, schritt sie durch den hohen, schlanken Raum. Dunkelgrüne Polsterstühle, Kristalllämpchen und weiße Tüllgardinen bestimmten die Einrichtung. Auf der Höhe der Pralinentheke blieb sie stehen. Ein Zucken huschte über ihr Gesicht, während sich ihre Mundwinkel verächtlich senkten.

August Tiez atmete auf. Lediglich zwei kleine Tische waren besetzt. Die Eckbank hinter der Garderobe war noch frei. Rasch deutete er mit dem Zeigefinger auf den dunklen Winkel und meinte: »Sehr gut, dort können Sie Ihren Karren abstellen, ohne dass es jemand stört.«

Sie setzten sich und August Tiez bestellte ein Kännchen Kaffee sowie ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte.

»Für mich ein großes Glas Leitungswasser, eiskalt«, gurrte die Fürstin.

»Keinen Kuchen?«, hakte die Bedienung nach, blickte dabei an der Fürstin vorbei, als wäre diese gar nicht vorhanden.

»Haben Sie nicht gehört, sie wünscht nur ein Glas Wasser«, antwortete Tiez unwirsch.

Nachdem die Bedienung gegangen war, meinte er, es sei wirklich schade, nichts von den Köstlichkeiten der Konditorei zu probieren. Sie ignorierte seine Bemerkung, kramte stattdessen mit beiden Händen in ihrem Wägelchen herum und stellte eine Flasche Gin auf den Tisch. »Habe alles dabei.«

Tiez seufzte, blickte sich um. Niemand sah zu ihnen her. »Oh, Mann, komm zum Punkt, lass endlich raus, was du von mir willst«, grantelte die Fürstin neben ihm.

»Ja, natürlich, sofort.«Nachdenklich rieb er sein Kinn. »Woher kommt es eigentlich, dass man Sie Fürstin nennt?«

»Hey, du bist mal ein komischer Heini. Das willst du wissen? Na gut, von mir aus. Schon immer nennt man mich so. Hat in der Schule angefangen. Heiße Angelina Fürst. Darum. Fürstin ist sozusagen mein Künstlername, wenn dir das als Erklärung genügt. Die Kollegen von der Straße, alle sagen Fürstin zu mir. Ist mir recht. Andererseits, sie könnten auch Queen oder Arschloch sagen, es würde mich nicht jucken. Kommt nicht auf den Namen an.«

»Sondern?«

»Auf den Kopf!«

»Wie?«

»Wie man ihn trägt. Meiner ist oben und geradeaus. Auch wenn es mir beschissen geht, der Kopf bleibt oben.«

»Ich weiß.«

»Okay. Du weißt was?«

»Fürstin, ich beobachte Sie schon seit einiger Zeit und stelle fest, Sie haben kein Zuhause, Sie leben auf der Straße. Wieso und warum? Vielleicht erzählen Sie ein bisschen von sich?« Tiez rieb erneut sein Kinn und fuhr fort, ohne ihre Antwort abzuwarten: »Sie sind mir aufgefallen, weil Sie trotzdem aufrecht und stolz wirken. Oder täusche ich mich?«

Ihre Antwort bestand aus einem verächtlichen Blick, den sie Tiez entgegenschleuderte, dann nahm sie einen kräftigen Schluck aus der Flasche, wischte die Lippen trocken und schraubte das Deckelchen wieder darauf.

Die Bedienung brachte Kaffee, Kuchen und Wasser und stellte alles auf den kleinen Tisch. August Tiez probierte sofort die Torte, seine Gabel fuhr durch die Sahne. Die Fürstin suchte derweil in einer ihrer Plastiktüten herum, legte endlich ein Döschen mit Tabletten auf den Tisch.

»Wozu sollen die gut sein?«, wollte Tiez wissen.

»Herz!«, grinste sie und spülte zwei Pillen mit dem Wasser hinunter. »Wenn ich das Zeug vergesse, bin ich morgen tot, behauptet der Doktor. Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde, aber momentan habe ich überhaupt keine Lust auf Friedhof. Ist garantiert langweilig dort. Möchte vorher noch etwas erleben. Und wenn ich keine Freude mehr am Herumziehen habe, verfüttere ich die Herzbonbons an die Enten und mache meinen Abflug.«

Tiez schob den Kuchenteller mit der angefangen Torte zur Seite. Seine Augen waren blau und kalt, die Lippen schmal. »Ich sollte vielleicht zur Sache kommen«, meinte er.

»Jawohl, das wäre nicht schlecht, um sechzehn Uhr bin ich nämlich im Stadtgarten und nehme wieder eine Handvoll Schlaf. Mein Herz braucht Ruhe. Außerdem werde ich erwartet.«

»Von wem?«

»Von ...«, sie brach ab, trank aus der Flasche, hustete, fuhr fort: »Von meinen Enten.«

»Sonst erwartet Sie niemand?«

Sie lachte kurz auf. »Richtig. Absolut niemand. Aber weißt du, es würde mir ziemlich auf den Geist gehen, wenn mich ..., hör mal, ach, verdammt, es geht dich echt nichts an. Spuck endlich aus, was du von mir willst!«

August Tiez senkte die Stimme. »Ich fasse zusammen: Sie sind obdachlos, herzkrank, trunksüchtig, allein. Ihr Leben hängt von ein paar rosaroten Pillen ab. Kurz gesagt, Sie haben nichts mehr zu verlieren.«

Ihre Stimme klang gelangweilt. »Oh, das ist noch nicht alles. Vorbestraft bin ich auch.«

Er nickte, als ob er Bescheid wüsste und es ihn nicht weiter störte. Er blickte sie an und sie fuhr im selben Tonfall fort. »Körperverletzung mit Todesfolge. Ganz alte Geschichte, ist lange her, habe meine Strafe abgesessen. Fünf Jahre! Im Knast ging’s mir eigentlich richtig gut, durfte sogar in der Küche arbeiten, habe getöpfert und gemalt, musste eine Antiaggressionstherapie machen. Heute ist alles paletti.« Sie lächelte stolz, hob den Finger und drohte: »Vorausgesetzt, dass mich niemand ärgert.«

»Nein, nein, ich habe nicht vor, Sie zu ärgern, im Gegenteil, ich, nein, ich ...«, er kam ins Stottern, »ich möchte Ihnen ein Angebot machen.«

Sie rülpste, stand auf und ging zur Toilette.

»Nein, danke«, sagte sie, als sie kurz darauf zurückkam, sich wieder hinsetzte und die Flasche sorgfältig verstaute.

»Schade, es hätte sich gelohnt.«

»Wie viel?«

»Hundert Euro!«

Sie zeigte ihm den Vogel. »Vergiss es! Für hundert Euro verlässt die Fürstin ihre Bank nicht.«

»Sie wissen noch gar nicht ..., Sie müssen nur ...«

»Nein!«, schrie sie ihn an und Tiez zuckte zusammen, senkte seine Stimme bis zum Flüstern.

»Pssst. Nicht so laut! Sie sollen doch nur einen Hund entführen.«

»Einen Köter? Wozu?«

»Ich erkläre es Ihnen.«

August Tiez erläuterte ihr seinen Plan. Sie hörte aufmerksam zu. Sie zeigte keine Regung. Plötzlich ging ein Zucken über ihr Gesicht und auf ihrer Stirn entstand eine Falte. »Jawohl, ich wusste es, hinter deiner glatten Visage verbirgt sich ein Mistkerl. August Tiez, du hast mich also für dein schäbiges Spielchen ausgewählt. Okay, okay, ich werde darüber nachdenken. Du kannst morgen wieder vorbeikommen. Um achtzehn Uhr bin ich vielleicht im Stadtpark oder am Bahnhof.« Sie sah ihn an und fuhr fort: »Und noch etwas, für hundert Euro kannst du die Sache komplett vergessen.« Aufrecht stolzierte sie aus dem Café.

August Tiez bezahlte. Er legte seinen Regenmantel über den Arm. Draußen lockte die Junisonne. Die Tür schloss sich mit dem Klang eines Glöckchens. Um seinen Mund spielte ein zufriedenes Lächeln, er setzte die Sonnenbrille mit den verspiegelten Gläsern auf und lief ohne Eile zu seinem Sportwagen, der in der Nähe parkte.

 

Am nächsten Tag. Der Stadtgarten war nahezu menschenleer und die meisten Bänke waren frei. Dicke Weiden spiegelten im Teich, der sich wie eine Acht im gepflegten Grün aalte. Eine Schar Enten paddelte gelangweilt hin und her, die Paarungszeit war vorbei. Die männlichen Tiere hatten ihr Prachtkleid abgelegt und sahen jetzt fast so schlicht wie die Weibchen aus. Nur ein einsamer Erpel trug noch seinen rostroten Helm und einen schillernden blaugrünen Kragen. Der Vogel verfolgte seine Auserwählte, die sich schleunigst davonmachte. Wasser spritzte. Die anderen Enten gingen dem gereizten Pärchen aus dem Weg. Eine Verfolgungsjagd begann. Doch mit einem Mal ergab sich das Entenweibchen und der Rotschopf drückte sie mit seinem kräftigen Körper rabiat unter Wasser, während er immer wieder in ihren Kopf biss. August Tiez blickte auf die Uhr. Fünfzehn Sekunden, dann war das Begattungsspektakel beendet. Die Tiere trennten sich und jedes schwamm in eine andere Richtung.

Tiez war nicht sicher, ob die Fürstin die Verabredung im Park einhalten würde oder vielleicht zum Bahnhof gegangen war. Nervös umrundete er zum dritten Mal den See. Eine imposante Gestalt mit quietschendem Wägelchen bewegte sich direkt auf ihn zu. Da stand sie auch schon vor ihm und er war hocherfreut. Er streckte ihr im Überschwang sogar die Hand hin, die sie ignorierte.

»Können wir uns einen Moment hinsetzen?«, fragte er.

Schweigend nahmen sie auf einer der Parkbänke Platz.

»Und?«, drängte Tiez.

Sie schlug die Beine übereinander und kratzte Schorf vom Knie. »Was ist dir der Köter wert?«

»Ich lege 200 Euro drauf.«

»Nö. Ich will einen Tausender!«

»Es ist ein sehr kleiner Hund«, stöhnte Tiez.

»Idiot!«

»Ich brauche ihn unbedingt bis in zwei Tagen, ich muss verreisen und will ihn mitnehmen.«

»Und ich brauche eine Anzahlung, jetzt sofort, drei grüne Lappen!«

August Tiez zog eine Fotografie aus der Brieftasche. »Schauen Sie, das sind Brigitte und der Hund. Sein Name ist Jonas. Die Aufnahme ist schon ein paar Jahre alt. Trotzdem, meine Frau, also meine Ex-Frau, hat sich seither nicht verändert. Sie ist noch immer sehr schön«, er seufzte, »und natürlich viel jünger als ich.«

Er hielt ihr das Foto vor die Augen. »Das ist der kleine Jonas. Meistens trägt er ein silbernes Kettenhalsband und eine rote Leine. Wissen Sie, wir streiten uns seit unserer Trennung um den Hund. Sie rückt ihn nicht raus, behauptet, Jonas bedeute ihr so viel wie ein Kind. Das sagt sie nur, um mich zu demütigen, weil ich ihr keines schenken konnte.«

»Euer Ehekrieg interessiert mich einen Scheiß. Will davon nix wissen. Der Plan ist doch, dass ich den Köter kidnappe. Okay, habe durchaus verstanden. Der feine Herr Tiez möcht seine Finger nicht schmutzig machen. Von mir aus, ich tu’s!«

»Sehr gut!«

»Wenn ich den Dackel habe, die Übergabe, wo? Vielleicht beim Antiquitätenhändler?«

August Tiez nickte erfreut.

Sie stand auf. »Also, Freitag, vierzehn Uhr. Ich werde auf dem Sofa hinter den Geschäftsräumen sitzen. Du gibst mir das restliche Geld, ich gebe dir den Köter. Und jetzt bitteschön die Anzahlung, danach will ich gefälligst allein sein.«

 

Freitagmorgen. Sie hockte auf ihrem Platz vor der Deutschen Bank. Brigitte und Dackel Jonas würden gleich vor dem Bankhaus erscheinen wie jeden Freitag um diese Zeit. Brigitte würde Jonas an der Säule neben dem Haupteingang festbinden, Jonas würde sich brav hinlegen und warten, bis Frauchen ihre Bankgeschäfte erledigt hatte. Ungefähr eine Viertelstunde dauerten die Angelegenheiten in der Regel, hatte August Tiez behauptet.

Sie musste also nur die Leine losbinden und den Hund mitnehmen, rasch auf die andere Straßenseite gehen und in der Unterführung für Fußgänger verschwinden. Dies alles musste in wenigen Minuten zu schaffen sein. Eine einzige kleine Schwierigkeit gäbe es, hatte August Tiez gemeint. Die stark befahrene Straße überquerte man nur an einer Stelle, die von einer Ampel geregelt wurde. Dort sammelten sich Fußgänger und dadurch entstanden Wartezeiten. Trotzdem, auch das hatte August Tiez angeblich mehrmals getestet, selbst wenn Jonas auf seinen kurzen Beinchen nicht schnell genug mitkam und man auf eine zweite Grünphase warten musste, der Fluchtweg war zu schaffen. Bis Brigitte das Bankhaus verlassen würde, dürfte von Jonas eigentlich nichts mehr zu sehen sein.

Die Fürstin spähte hinter halb geschlossenen Augen zum Haupteingang. Im Sekundentakt kamen und gingen Kunden. Manche grüßten und warfen eine Münze in ihren Becher. Seit über einer Stunde saß sie jetzt da, zog immer mal wieder diskret das Foto von Brigitte aus dem Ärmel und betrachtete das Portrait. Die zierliche dunkelhaarige Frau mit kurzem, glänzendem Haar, tiefroten Lippen, goldenen Kreolen an den Ohren und einem schwarzen, glatthaarigen Dackel an der Leine war bisher nicht erschienen. Beim nächsten Geldstück fragte sie den gehbehinderten alten Herrn, der sich zu ihr heruntergebeugt hatte: »Entschuldigung, wie spät?«

»Gleich zwölf Uhr

Sie überlegte. Vielleicht gingen Brigitte und Jonas heute nicht zur Bank? Also gut, sie würde noch ein Weilchen ausharren, dann aber den Platz verlassen. Es war nicht gut, zu lange an derselben Stelle zu bleiben. Schon wegen der Videokamera, die über dem Haupteingang schwenkte.

Endlich lief der Mann weiter und sie konnte ihre Aufmerksamkeit ungestört dem Eingang widmen.

Da sah sie ihn! Vor der Säule hockte der Dackel, war pechschwarz und mit einer prächtigen roten Leine angebunden. Das Tier schien etwas nervös zu sein, drehte sein Köpfchen hin und her.

Sie verließ ihren Platz, ging zur Säule, redete mit gedämpfter Stimme drauflos: »Also aufgepasst, Jonas, ganz ruhig, bist doch ein braver, blöder Hund. Wir gehen jetzt zusammen fort, mach bloß kein Theater, sonst dreh ich dir den Hals um, gell, mein Freundchen. Jawohl, guter Hund, siehst ja aus wie eine Ratte, schön brav, Jonas, ganz lieb sein, alles ist in Ordnung, wenn du mir gehorchst, andernfalls gibt es was auf die Schnauze!« Sie band ihn rasch los, und ohne dass sie von irgendjemandem daran gehindert wurde, machte sie sich mit dem Hund auf den Weg. Die Ampel schaltete auf Grün. Kurz darauf waren sie in der Dunkelheit der Unterführung verschwunden.

 

August Tiez hatte seinen Wagen nur eine Querstraße hinter dem Geschäftshaus des Antiquitätenhändlers geparkt. Wenn alles geklappt hatte, mussten die Fürstin und Jonas in wenigen Minuten auf dem Hof ankommen.

Es war ihm zu warm, er zog die leichte Jacke aus, darunter trug er ein kurzärmeliges Hemd und eine Seidenkrawatte. Er löste Knoten und Kragenknopf. Nach einem kurzen Blick in den Spiegel öffnete er die Autotür und stieg aus. Mit sanftem Klack schloss die automatische Verriegelung. Tiez schlenderte die Straße entlang und schwenkte in den Seitenweg, der zum Hintereingang führte. Hier war er schon zwei- oder dreimal gewesen. Wenn er ein Bild oder ein kleines Möbelstück erworben hatte, konnte er an dieser Stelle parken und bequem einladen. Tiez kannte das Sofa, auf dem ihm die Fürstin zum ersten Mal aufgefallen war. Sie sei eine Obdachlose, die sich gern auf dem kaputten Kanapee ausruhen dürfe, sie nenne sich übrigens Fürstin und sei mit den größten Händen und Füßen ausgestattet, die er je bei einem Menschen gesehen habe, hatte ihm der Händler damals lachend erzählt.

Na, geht doch!, jubelte August Tiez innerlich, als sie kurz darauf um die Ecke bog.

Etwas unkoordiniert, weil der Hund an der Leine zog und rechts und links schnüffeln musste, sein Beinchen hob, immer wieder erwartungsvoll hochsprang, kamen die Frau und ihr vierbeiniger Begleiter nur langsam vorwärts.

»Tja, siehst du, meine liebe Brigitte, Jonas gehört mir, nicht dir«, flüsterte Tiez, während er die Fürstin und Jonas auf sich zukommen sah. »Ich habe ihn gekauft und werde ihn von nun an bei mir behalten. Das arme Tier anzubinden und ohne Aufsicht zurückzulassen, so etwas Dummes kannst nur du dir leisten.« Leise fuhr er fort: »Mit einem Kind dürftest du dir das auch nicht erlauben.«

Sie waren nur noch wenige Schritte von Tiez entfernt, als dieser erkannte, dass Jonas nicht Jonas war. Das war ein fremder Hund. Durchaus ein schwarzer Dackel mit Kettenhalsband und roter Leine, aber nicht Jonas.

In August Tiez krochen Entsetzen und Wut empor. Mit schneidender Stimme brüllte er los: »Sie blöde Kuh, was bringen Sie mir denn da für einen Köter? Das ist nicht mein Hund! Sind Sie von allen guten Geistern verlassen

»Nein? Nicht dein Hund? Er gehorcht aufs Wort, wenn ich ihn Jonas rufe.«

»Himmeldonnerwetter! Sie haben einen fremden Hund entführt, ich kenne doch meinen Jonas. Schauen Sie gefälligst das Bild an! Jonas’ Pfoten sind braun, wie Socken, das sieht man auf dem Foto ganz genau. Dieser Hund hier hat schwarze Pfoten, das hätte auch Ihnen auffallen müssen. Sagen Sie bloß, Sie haben meine Ex-Frau nicht erkannt? Was sind Sie nur für eine Idiotin.«

»Schätzchen, deine Ex hab ich überhaupt nicht gesehen, die war schon in der Bank verschwunden. Es ging alles superschnell. Der Köter an der Säule, ich hin und ihn losgemacht, dann ab durch die Mitte. Alles lief perfekt. Du kannst jetzt wirklich nicht meckern. Nimm den Hund, egal wem er gehört. Ist ein liebes Tier. Könnte mich glatt an die Ratte gewöhnen. Wenn du ihn nicht willst, behalte ich ihn. Der dürfte mein Image enorm aufpolieren.«

»Was? Ich höre wohl nicht richtig. Sie bringen auf der Stelle den Hund zurück!«

»Pah. Hättest du wohl gern. Mach ich aber nicht. Gehört jetzt mir. Und das restliche Geld ebenso. Verstanden?«

Tiez fing an zu lachen. Sein Lachen klang derart grässlich, dass sogar der Hund erschrak und wild drauflos bellte.

»Geld? Ich soll für einen fremden Hund bezahlen? Niemals, ich bin doch nicht verrückt! Auf der Stelle bringen Sie das Tier dahin, wo Sie es entführt haben, und am besten, Sie lösen sich anschließend in Luft auf. Laufen Sie mir niemals mehr über den Weg, ich warne Sie!«

Sie war tatsächlich einen Kopf größer als Tiez und stand so dicht vor ihm, dass er ihren scharfen Schweiß roch. Sie griff nach seiner Krawatte und zischte: »Kleiner komischer Lackaffe, soll das etwa eine Drohung sein? Weißt du was, du gibst mir jetzt meinen versprochenen Lohn und dann verpiss dich! Mit deinem Geld werde ich es mir noch ein einziges Mal in meinem Leben richtig gut gehen lassen und danach ist Feierabend. Nur deshalb habe ich mich auf dein Angebot eingelassen, hast du mich verstanden? Wir verhandeln nicht. Hier ist der Hund und ich krieg die Mäuse!«

Er packte ihr Handgelenk und drehte es wütend herum. »Weib, lass sofort meine Krawatte los, ich mach dich fertig!«

Dass er sie anfasste und ihr Schmerz zufügte, versetzte sie vollends in Rage. Sie stürzte sich auf ihn, dass ihm die Sonnenbrille herunterfiel. Ihre Pranken legten sich wie Schraubstöcke um seinen Hals. Sofort war ihm klar, dass diese Furie den Würgegriff einer Schlange hatte. Er versuchte zu treten und zu schlagen, doch unbeirrt drückte sie zu, quetschte seine Halsschlagader, bis ihm schwarz vor Augen wurde. Wie eine Katze, die ein tödliches Spiel mit ihrer Beute treibt, ließ sie kurz los, ließ ihn röchelnd nach Luft schnappen, presste die Hände erneut um seinen Hals, würgte ihn bis zur völligen Bewusstlosigkeit. Keine fünfzehn Sekunden dauerte der Kampf, den er verlor und sterbend an ihrem Körper entlang abwärtsglitt. Ganz und gar dem Rausch verfallen, machte sie sich über ihn her und hieb ihm ihre Zähne in den Adamsapfel. Es knackte, Blut spritzte. Erst als seine Gliedmaßen vollends erschlafft und seine Augen weit aufgerissen stehengeblieben waren, löste sie sich von ihm.

Vom Blut besudelt, schweißtriefend und schwer atmend durchsuchte sie ihn, fand aber nur seinen Autoschlüssel. Sie hob die Sonnenbrille auf, die unversehrt war.

 

Beinahe ruhig war sie jetzt, der Anfall vorbei. Ihr Herz stach. Jeder Schlag ein Signal. Sie taumelte und stolperte, schleppte sich fort.

Es dauerte, bis sie den eleganten Zweisitzer fand. In der Brusttasche der dort abgelegten Jacke steckte ein Bündel Geld.

Was für ein göttlicher Tag, dachte sie und drückte sich August Tiez’ Sonnenbrille ins Gesicht. Sie hielt die Tür des Sportwagens auf. »Komm, Jonas!«

Sie fiel in den Ledersitz, ihre Hände umschlossen das Lenkrad. Mit einem zufriedenen Lächeln ließ sie das Verdeck herunter und den Motor aufheulen.