Cover

Über dieses Buch:

Endlich mal die Seele baumeln lassen – ach, wie schön wäre es, in der Adventszeit entspannt durch die schneebedeckte Natur zu spazieren und abends am knisternden Kamin ein paar Lebkuchen zu naschen … Aber davon kann Saskia nur träumen: Sie will das perfekte Fest für ihre Lieben organisieren – und stolpert dabei von einem Fettnäpfchen ins nächste! Ähnlich geht es Pia, die sich eigentlich viel zu alt fühlt, um den Heiligabend im Schoß der Familie zu verbringen. Währenddessen hat Nina ganz andere Sorgen, als sie ausgerechnet vor dem Fest der Liebe merkt, dass ihr Freund eine grundsätzlich andere Auffassung von Treue hat als sie … Werden die drei trotzdem noch ihr ganz persönliches Weihnachtswunder erleben?

Informationen über die Herausgeberin und die Autorinnen finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Neuausgabe Oktober 2018

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von Shutterstock/Alexander Raths

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96148-194-1

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Claudia Weber (Hrsg.)

Weihnachtsengel zum Verlieben

Geschichten für die schönste Zeit des Jahres

dotbooks.

Inhalt

Kirsten Rick
AUSGESTOCHEN!

Eine Plätzchengeschichte

Markt und Straßen stehn verlassen,
still erleuchtet jedes Haus.
Sinnend geh ich durch die Gassen,
alles sieht so festlich aus.

An den Fenstern haben Frauen
buntes Spielzeug fromm geschmückt,
tausend Kindlein stehn und schauen,
sind so wunderstill beglückt.

Joseph von Eichendorff

27. November

Liebe Eltern,
für unseren diesjährigen Adventsbasar am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien möchten wir Sie bitten, ein paar selbstgebackene Plätzchen beizusteuern.
Vielen Dank und herzliche Grüße,
Eva Brandt, Klasse 2c

Saskia betrachtet den leicht zerknitterten Recyclingpapier-Zettel, den sie heute Morgen aus dem Schulranzen ihrer Tochter Ann-Sophie gezogen hat. Die tägliche Inspektion, die dezent durchgeführt wird, um das Kind in seiner natürlichen Entwicklung nicht zu beeinträchtigen, fördert neben gelegentlichen Mitteilungen der Schule regelmäßig Erstaunliches zutage. Manchmal hat Saskia den Verdacht, ihre Tochter plaziert die Fundstücke dort bewusst, um ihrer Mutter Rätsel aufzugeben, von den im Hausaufgabenheft getrockneten Blättern über die tote Biene, die in einem Überraschungsei ihre letzte Ruhe gefunden hat, bis hin zu den gelben Plastikfädchen, die darauf hindeuten, dass die Barbie-Puppe einer Mitschülerin nun einen modischen Kurzhaarschnitt trägt.

Doch heute ist Saskia alarmiert. Ein »Brand-Brief«, so nennen die beiden Klassenvertreterinnen der »Gazellen-Klasse« die knappen Schreiben der Klassenlehrerin. Der jungen und unbedarften Klassenlehrerin, da sind sich Saskia und ihre Co-Amtsinhaberin Philomena einig. Frau Brandt sieht alles ein bisschen lässig, meinen die gewählten Vertreterinnen der Elternschaft.

Nachdem Ann-Sophie mit einem Kuss und einem Pausenbrot an die Nachbarin übergeben ist, die in dieser Woche die Kinder zur Schule begleitet, greift Saskia zum Smartphone und ruft Philomena an.

»Fahr doch!«, brüllt Philomena ihr entgegen.

»Wohin?«, wundert sich Saskia.

»Ach, du bist es. Ich bin schon unterwegs.«

Saskia wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist doch noch recht früh am Tag, es sei denn, man bringt seinen Nachwuchs zur Schule, aber das lässt Philomena stets ihren Gatten erledigen. Dafür ist sie unermüdlich, wenn es darum geht, anstehende Besorgungen zu erledigen, und unerschütterlich der Meinung, dass man stets mit dem Auto in die Innenstadt fahren muss. Da gibt es zwar nie Parkplätze, aber deswegen fahre ich zeitig, sagt sie dazu mit einer Überzeugung, der man wenig entgegensetzen kann.

»Hast du schon die Ranzenpost gesehen?« Saskia schüttelt sich, als sie das Wort ausspricht. Ranzenpost – das klingt schon so … ranzig.

»Ja, das ist wieder unheimlich unkonkret!« Philomena schlägt sofort den ihr eigenen leicht atemlosen, leicht empörten Ton an. »Ein paar Plätzchen – wie viele sollen das überhaupt sein? Und es ist gar kein Rückmeldezettel dabei! Hat dieser kleine Torben nicht eine Lebensmittelunverträglichkeit? Was war es noch, Gluten, Fruchtzucker, Laktose …«

Saskia ist versucht, die Gegenfrage zu stellen, welches der Kinder in Ann-Sophies Klasse überhaupt alles essen kann, schluckt diese aber schnell hinunter.

»So etwas muss doch viel exakter geplant werden«, ereifert sich Philomena weiter. »Warum fragt sie uns denn nicht vorher?«

Saskia ist zufrieden. Genau das hat sie auch gedacht. Deshalb schaltet sie jetzt eine Stufe höher: »Was soll das überhaupt für ein Adventsbasar sein? Hoffentlich nicht schon wieder so eine tranige Veranstaltung wie im letzten Jahr. Das war ja gar nichts! Weißt du was, ich schreibe Frau Brandt mal eine Mail. Dich nehme ich mit in cc, die Schuldirektorin vielleicht auch.«

»Hervorragend! Und dann setzen wir uns mal gemütlich bei einem Tee zusammen und besprechen das alles. Ich muss auflegen, hier ist gerade ein Parkplatz vor dem süßen Laden, wo sie diese bezaubernden kleinen selbstgerechten Dinge verkaufen.«

»Diese … was?«, fragt Saskia erstaunt.

»Diese bezaubernden kleinen selbstgemachten Dinge«, wiederholt Philomena, die es gewohnt ist, alles zwei- bis dreimal zu erklären und dabei nie die Ruhe zu verlieren. »Perfekt für den Adventskalender. Meine Charlotte soll dieses Jahr so richtig staunen können. Ich hab ja schon fast alles, aber es fehlt doch noch so der letzte Schliff.« Philomenas Auto piept schrill. Saskia weiß, was das bedeutet: Ihre Freundin parkt rückwärts ein und ignoriert wie üblich die Abstandswarnung, da sie selbst nicht besonders entspannt darauf reagiert, wenn ihr etwas mehrfach erklärt oder angesagt wird. Es knirscht unschön metallisch. »Tschüss, danke, dass du die Mail schreibst, ciao!« Und aufgelegt.

Auweia.

Ja.

Der Adventskalender.

Saskia ist da noch nicht so weit. Genau genommen hat sie erst ein paar wunderhübsche Do-it-yourself-Ideen in ein paar Wohn-Design-Blogs betrachtet. Den aus leeren Milchtüten, die zu kleinen Häusern umgearbeitet wurden, fand sie ganz entzückend. Aber woher sollte sie spontan 24 leere Milchtüten besorgen? Vielleicht könnte sie einen Vorrat anlegen und den Inhalt einfrieren. Aber eingefrorene Milch? Und hatte sie überhaupt so viele Tupperdosen im Haus?

Der Adventskalender mit den weißen Päckchen am großen, knorrigen Ast hatte so etwas Dramatisches, Archaisches und würde sich perfekt über dem Esstisch machen. Die Frage ist nur, wie sie an diesen Ast kommen soll. In der kleinen Grünanlage um die Ecke sind die Bäume eher von schmächtigem Wuchs. Vielleicht könnte sie Jörg bitten, sich darum zu kümmern. Schließlich hat er »Ja« zu ihr gesagt und kurze Zeit später Ann-Sophie gezeugt. Das gibt ihm eine gewisse Beteiligungspflicht, findet Saskia. Andererseits hat Jörg immer sehr viel zu tun und kommt stets spät nach Hause. Konnte man ihn da noch in den Stadtpark schicken?

Vielleicht sollte sie sich doch besser an diese Kreuzstich-Arbeit setzen? Sticken ist ja wieder in, und die Anleitung sah nicht so schwierig aus. Außerdem würde ein solcher Kalender an die Sitten lang vergangener Zeiten erinnern. Zugegeben, Saskias Mutter hatte nie gestickt und die Großmutter auch nicht, aber bei der Urgroßmutter konnte man sich nicht sicher sein. Und vermutlich war es für Ann-Sophie wichtig, auch zu diesem Teil ihres Familienerbes einen emotionalen Zugang zu bekommen. Sticken also. Ist das eigentlich zeitaufwendig? Vielleicht könnte sie im Büro …

Nein, Saskia verwirft diesen Gedanken. Sticken geht da nicht. Höchstens mal ein paar Mails schreiben, das fällt nicht weiter auf. Die Kolleginnen haben alle keine Kinder. Die wissen ja gar nicht, was Weihnachten ist. Was das bedeutet! Diese entrückte Zeit, die glänzenden Kinderaugen, diese heimelige Gemütlichkeit … Es sollte Mütter geben, die sich nach den Zeiten zurücksehnten, in denen ihre Kinder noch ganz klein waren. Saskia gehörte nicht dazu. In den ersten zwei Jahren ihres Lebens hatte Ann-Sophie den leuchtenden und funkelnden Baum kaum zur Kenntnis genommen. Die liebevolle Dekoration der Wohnung motivierte sie eher zum Versuch, sie sich in den Mund zu stecken, statt sie ehrfürchtig zu bestaunen. Zum Glück hatte sich dies mit zunehmendem Alter geändert. Und Saskia hat eingesehen, dass sporadisch verteiltes Obst und diverse Schokoladenweihnachtsmänner das Kind auch nur unnütz in Versuchung führen. Aber das ist jetzt auch egal. Fest steht: Das ganze Jahr über freut sich Saskia schon darauf. Weihnachten!

Eigentlich müsste natürlich noch das Esszimmer neu gestrichen werden. Und wenn nur endlich das neue Sofa geliefert würde! Seit Wochen wartet sie schon darauf, ach was, seit Monaten. Im September hatte sie es bestellt, da wird man ja wohl erwarten können, dass die endlich mal in die Puschen kommen. Sie selber hockt ja auch nicht den ganzen Tag faul auf ebenjenem noch nicht gelieferten Sofa. Nein, sie muss ständig in Bewegung bleiben. Für Ann-Sophie beispielsweise. Und jetzt natürlich, um Weihnachten vorzubereiten. Damit es schön wird. Es wird einem schließlich nichts geschenkt!

***

Saskia ist eine pragmatische, wohlorganisierte Frau mit einer pragmatischen, wohlorganisierten Frisur und ebensolcher Kleidung. Ihren Tagesablauf hat sie filigran zwischen Teilzeitbürostelle und Mutterdasein aufgeteilt. Wobei sie ihre mütterlichen Aufgaben ernster nimmt, die Anforderungen im Büro sind eher stupide. Die wochentägliche Routine lässt sich meist ohne große Anstrengungen wegarbeiten. Deshalb bleibt mehr Energie für die andere Rolle. Das sind seltener ihre eigenen Termine, sondern vor allem die von Ann-Sophie. Bevor Ann-Sophie vor sieben Jahren zur Welt kam, hatte Saskia sich nicht vorstellen können, wie viel organisatorisches Geschick, wie viel persönlichen Einsatz, wie viel Tatkraft diese neue Aufgabe erfordern würde. Aber sie hat sich mit Eifer hineingestürzt, von den ersten Krabbelkursen über Solidaritätsveranstaltungen für die Elternschule, von Putzeinsätzen in der Kita bis zum Amt der Klassenelternvertreterin in der Grundschule. Dazu noch die vielen Nachmittagstermine. Saskia lebt nicht nur ihr eigenes Leben, sie lebt das ihrer Tochter gleich mit. Selbstverständlich! Das ist doch schön und richtig. Aber es nur schön zu finden, so innerlich, das reicht ihr nicht. Es soll auch schön aussehen. Sichtbar sein. Vor allem zu Weihnachten. Denn was ist Weihnachten denn, wenn nicht dieses Schwelgen in Tannenzweigen und Kerzenlicht, in üppiger Dekoration und festlichen Veranstaltungen, die herrliche Zeit des Selbermachens. Oder, wie jetzt alle dazu sagen: DIY. Weihnachten will zelebriert werden, und zwar ordentlich, findet Saskia. Dazu gehört selbstverständlich die gesamte Vorweihnachtszeit, die pünktlich am 1. November beginnt – der 1. Dezember ist nur etwas für Amateure, die das Fest der Feste nicht wohlorganisiert und gut vorbereitet in Angriff nehmen.

Wobei …

Auf einmal wird Saskia bewusst, dass sie selbst nicht besonders gut in der Zeit liegt. Sechsundzwanzig Tage sind nutzlos verstrichen! Es gilt, dies aufzuholen.

Sie eilt ins Büro und schreibt zwischen zwei Excel-Tabellen eine Mail.

Liebe Frau Brandt,

vielen Dank für Ihre Ranzenpost bezüglich der Plätzchen. Das ist ja eine schöne Idee, aber wir – die Elternvertreterinnen – denken, dass man diese noch konkretisieren sollte.

Wer backt welche Plätzchen?
Wie viele Plätzchen sollen gebacken werden?
Wann können wir mit einer auf den aktuellen Stand gebrachten Liste von Lebensmittelunverträglichkeiten und religiös motivierten Essenseinschränkungen rechnen?
Wie werden diese Plätzchen verpackt und beschriftet?
Wann findet der Adventsbasar genau statt? (Datum und Uhrzeit!!!)
Wer ist die Zielgruppe?
Zu welchem Preis werden die Plätzchen verkauft?
Wer übernimmt den Verkauf?

Könnten Sie diese Fragen bitte bis spätestens 28. November klären? Zur Unterstützung dabei stehen wir gerne bereit!

Ihre Klassenelternvertreterinnen

Philomena Schrenz-Jacobsen & Saskia Herzog

So. Damit wäre das auf dem richtigen Weg.

Saskia arbeitet gewissenhaft das nächste Excel-Sheet durch und vertieft sich danach zur Belohnung für den ökonomischen Einsatz ihrer Arbeitszeit noch ein wenig in die Betrachtung verschiedener Blogs, die neue Adventskalender-Ideen vorschlagen. Wunderschön ist ein Arrangement aus verschiedenen Schraubgläsern, die alle in die gleiche mattschilfgrüne Farbe getaucht wurden. Passend dazu ist die Wand im Hintergrund gestrichen. Das könnte noch zu schaffen sein, sie wollte ja eh das Esszimmer noch neu streichen – aber in Mattschilfgrün?

Oder vielleicht den Kalender aus den genähten Stofftüten? Zu einfach, befindet Saskia. Das geht noch besser. Es ist ja auch noch ein bisschen Zeit. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass keine Zeit mehr ist: Sie muss schnell den Computer runterfahren, sich von ihren Kolleginnen verabschieden und Ann-Sophie von der Schule abholen.

***

»Mama, können wir jetzt Plätzchen backen?« Ann-Sophie rennt über den komplett asphaltierten Schulhof und schaut ihre Mutter aus großen, murmelrunden Augen an.

»Nein, Schatz, du hast jetzt erst Ballettstunde und dann Chorprobe. Wie siehst du überhaupt schon wieder aus?« Saskia zuckt innerlich ein wenig zusammen, als sie sich so reden hört. Aber es stimmt doch! So sieht das Kind aus: Die am Morgen ebenso liebevoll wie stramm geflochtenen Zöpfe haben sich aufgelöst, die Hose hat einen Riss am Knie, und die Hände sind über und über mit Filzstift bemalt. Saskia hofft jedenfalls, dass es Filzstift ist und nicht Henna oder Edding.

»Och, ich will aber lieber Plätzchen backen«, schmollt Ann-Sophie, wirft ihre Schultasche ins Auto und sich hinterher.

Saskia seufzt, aber nur innerlich, sie will sich nichts anmerken lassen. Kritikgespräche aller Art sind ihr ein Greuel. Ihr Vorgesetzter hat dies nach einiger Eingewöhnungszeit erkannt und äußert sich deswegen inzwischen stets bedacht und konstruktiv. Eine Fähigkeit, die ihre Tochter definitiv noch nicht entwickelt hat. Aber dafür ist sicher auch noch Zeit bis zur dritten Klasse.

»Weißt du, Ann-Sophie, das ist nicht so einfach. Das will gut vorbereitet werden.« Saskia lässt den Wagen an und navigiert entschlossen durch den Stadtverkehr. Sie ist eine umsichtige und bedachte Autofahrerin, die weiß, was ihre Pflicht ist: zügig von A nach B zu kommen. Dass dies manchmal dazu führt, dass sie von anderen Verkehrsteilnehmern angehupt wird, ist unangenehm. Aber wer ans Ziel kommen will, muss nach vorne schauen, nicht nach links und rechts.

»Volllfffff«, kommt es von der Rückbank. Saskia ist nicht sicher, ob das Kind einfach nur ein Geräusch von sich geben wollte oder tatsächlich Voll doof sagen wollte. Auf jeden Fall scheint es ihr sinnvoll, einzulenken.

»Vielleicht können wir heute Abend ein Rezept aussuchen. Aber davor frage ich dich deine Rolle in der Weihnachtsvorführung ab.«

»Nee, langweilig, das habe ich doch schon in den Herbstferien auswendig gelernt«, mault Ann-Sophie. Hör mal: In Windeln gebündelt liegt das holde Knäblein in der Krippe. Ochs und Esel betrachten es froh, oben singt Joseph mit den Engeln oder so«, rezitiert Ann-Sophie gestenreich.

»Äh, bist du sicher, dass das der richtige Text ist? Bist du nicht einer der drei heiligen Könige?«, fragt Saskia verwirrt.

»Nee, das haben wir geändert. Ich bin jetzt der erzählende Engel. Und vielleicht auch noch Esel oder Ochse«, erzählt Ann-Sophie, schon leicht ermattet. »Wann backen wir denn Plätzchen?«

»Bald, Schatz«, vertröstet Saskia ihre Tochter, während sie mit einigem Gerumpel auf den Gehsteig vor der Ballettschule fährt. Die Radfahrerin, die sie dort fast touchiert, hat dort streng genommen nichts zu suchen. Außerdem gibt es nun Wichtigeres, um das sie sich kümmern muss. Engel? Esel und Ochse? Saskia ist alarmiert: »Und was ist mit den Kostümen?«

»Ach, das weiß ich doch nicht, Mama. Da kümmert ihr euch doch drum«, winkt Ann-Sophie ab, schnappt sich den Beutel mit ihren Ballettsachen und eilt in die Stunde.

***

Als Saskia ein paar Meter weiter in einer wie durch ein Wunder frei werdenden Lücke rückwärts einparkt, klingelt das Telefon.

»Philomena? Ja, einen kleinen Moment, ich bin gerade dabei …« Es knirscht deutlich. »Mist. Na ja, jetzt bleibe ich einfach mal so stehen. Was gibt es?«

»Ich habe mir deine Mail an Frau Brandt mal angeguckt und denke, es geht noch konkreter.«

»Wieso?«, will Saskia – augenblicklich schuldbewusst – wissen.

»Du lässt zu viel Raum für Interpretationsfreiräume«, doziert Philomena. »Ich habe mir da mal etwas überlegt. Also: Die Plätzchen sollten in Zellglas-Bodenbeutel verpackt werden. Mit Schleife zugebunden, da schwebt mir rotes Satinband vor. Darauf muss natürlich ein Etikett mit den Namen der Plätzchen – hier würde ich auch Phantasiebezeichnungen zulassen, je kreativer, umso besser. Dazu dann die exakte Zutatenliste, Warnung vor möglichen Allergieauslösern – ich habe mich erkundigt, dieser Torben ist eine wandelnde Zeitbombe! – und die Kalorienangabe.«

Saskia würde gerne einfügen, dass sie die Kalorienangaben mit Hilfe einer eigens dafür aufgesetzten Exceltabelle hervorragend berechnen kann, kommt aber nicht dazu, weil Philomena wieder einmal nicht zu stoppen ist.

»Das Etikett in Weiß, die Schrift schwarz, die Schrifttype suche ich noch aus. Mir schwebt etwas Klassisches vor, aber nicht zu streng, mit einem gewissen Schwung, aber geradlinig. Das schicke ich jetzt mal Frau Brandt, cc an dich und die Direktorin. Um die Standgestaltung könntest du dich dann kümmern, nicht wahr?«

»Hmmm«, murmelt Saskia und weiß nicht, ob sie das zustimmend meint. Sie dreht den Kopf und versucht abzuschätzen, ob sie an ihrem Auto oder der Umgebung Schaden angerichtet hat. Vielleicht sollte sie aussteigen? Aber da redet Philomena schon weiter:

»Noch was: An den nächsten drei Dienstagabenden ist der Kulissen-Workshop für das Weihnachtsspiel im Gemeindesaal. Die Kostüme können wir bei der Gelegenheit auch besprechen, aber die macht dann jeder zu Hause. Da setzen wir uns dann mal ganz gemütlich beim Tee zusammen. Ach, ich liebe die Vorweihnachtszeit! Jetzt muss ich aber los, ich habe gerade die perfekte Idee für einen Adventskranz.«

Ach ja.

Einen Adventskranz braucht sie ja auch noch.

Wann war noch gleich der erste Advent?

***

Ann-Sophie schleudert ihren Ballettbeutel ins Auto und sich hinterher.

»Wann backen wir endlich Plätzchen, Mama?«, mault sie.

Kann das Kind nicht mal fröhlich sein? Saskia beschließt, sich nicht von der Laune ihrer Tochter anstecken zu lassen, und verspricht: »Heute Abend suchen wir erst mal die Rezepte aus. Das wird gemütlich!«

»Langweilig«, murrt Ann-Sophie und gibt wieder ein »Volllfffff« von sich. Zum Glück muss sich Saskia dem nicht lange aussetzen, denn drei Straßen weiter muss ihre Tochter bereits wieder aussteigen und zur Chorprobe. Diesmal findet Saskia keinen Parkplatz. Ist das etwa schon der vorweihnachtliche Konsumrausch, der die Menschen in die Kaufhäuser der Innenstadt spült? Ach, es ist so schade, wenn es nur noch ums Kaufen geht, denkt Saskia. Sie hat sich vorgenommen, in diesem Jahr ganz viel selbst zu machen. Den Adventskalender, die Dekoration, den Adventskranz. Die ganze Wohnung soll stilvoll, feierlich, aber auch originell aussehen – wie bei den Bloggerinnen, die immer so hübsche Fotos ins Netz stellen. Da, endlich eine Lücke. Diesmal führt sie den Parkvorgang wie in Zeitlupe aus, um jeden Kontakt zum hinter ihr stehenden Auto zu vermeiden. Der sich dadurch rückstauende Verkehr dankt es ihr nicht. Aber so ist das nun einmal im Leben.

Dann vertieft Saskia sich in die Suche nach Adventskranz-Anregungen, bis ihr Akku schlappmacht. Während sie noch versucht, das Handy an den Zigarettenanzünder ihres Wagens anzuschließen, wird die hintere Autotür aufgerissen.

»Mama, wir brauchen Hochsteck- oder Flechtfrisuren für den Weihnachtsauftritt. Wir tragen nämlich Kerzen«, verkündet Ann-Sophie, während sie sich auf den Rücksitz plumpsen lässt. »Und backen wir jetzt Plätzchen?«

»Darüber haben wir doch schon gesprochen.«

»Haben wir gar nicht! Außerdem habe ich Hunger.«

Saskia reicht Ann-Sophie einen Apfel nach hinten. »Wir suchen erst mal die Rezepte aus. Dafür muss ich nur noch schnell die jährliche Plätzchenspezialausgabe-Zeitschrift kaufen.«

***

»Wie bitte? Die Plätzchenspezialausgabe ist ausverkauft? Aber wir haben doch erst November!«, empört sich Saskia.

»Es waren sofort alle Ausgaben weg. Gleich am ersten Tag. Aber ich kann Ihnen gerne ein Exemplar bestellen. Nächste Woche müsste das da sein«, bietet die Inhaberin des Tabak- und Zeitschriftenladens freundlich an.

»Nächste Woche? Nein, ich brauche das heute. Ich finde das schon irgendwo«, entscheidet Saskia.

»Ich möchte jetzt Plätzchen backen«, ergänzt Ann-Sophie.

»Ich auch, Schatz«, behauptet Saskia und fügt in Gedanken hinzu: und einen Adventskalender basteln, einen Adventskranz winden, das Esszimmer streichen, alle Geschenke besorgt und verpackt haben … Sie nimmt sich vor, eine Liste und einen Zeitplan zu erarbeiten.

***

Auf der Küchenarbeitsplatte liegt ein Zettel. Die Putzfrau – Perle, wie Saskia sie gerne nennt, Putzfrau klingt blöd – also Perle Katarzyna verkündet, dass sie bis Mitte Januar in ihrer Heimat sein wird. Saskia meint, sie hätte mal etwas Derartiges flüchtig erwähnt, aber so lange? Doch nicht so lange! Und gerade jetzt! Über Saskias ideales Vorweihnachtsbild legt sich ein leichter Grauschleier. Den wischt sie jedoch sofort wieder weg, gedanklich zumindest. Das bisschen Haushalt, das schafft sie alleine, so viel ist das nun auch wieder nicht. Und vielleicht hat das ja auch Vorteile: Sie muss dann zum Beispiel kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihre DIY-Projekte – die sie sich ja in großem Stil vorgenommen hat – mal über Nacht liegen lässt und niemand anderes sie wegräumen muss.

Drrrringspieps.

Eine Nachricht auf ihrem Telefon. Philomena schickt Fotos. Die Bilder zeigen, laut Textnachricht, Engel im Schoko-Ingwer-Kleid, gefüllte Lakritzherzen und Minz-Schoko-Tannenbäume (vegan). Sie schreibt:

Ich habe schon mal zur Probe etwas gebacken. Und mir überlegt: Es müssen mindestens sechs Plätzchen in jede Tüte, mit einem Gesamtgewicht von 150 Gramm. Das sollten wir so festlegen, sonst sieht es aus wie Kraut und Rüben. LG Philomena

»Darf ich auch mal sehen?«, fragt Ann-Sophie und schnappt sich gleichzeitig das Telefon. »Oh, die sehen aber lecker aus! Machen wir auch solche? Ich würde die aber bunter verzieren! Von wem sind die? Bestimmt von Charlotte und ihrer Mama. Die machen immer sooooo coole Sachen!«

Natürlich. Philomena macht mit ihrer Tochter Charlotte immer viel coolere Sachen. Der Vorwurf trifft Saskia mitten ins Herz.

»Wollen wir zusammen einen Adventskranz basteln?«, schlägt Saskia vor, obwohl sie gar kein adventskranztaugliches Material zur Hand hat. Da würde sie wohl improvisieren müssen.

»Adventskranz? Langweilig. Ich lese lieber!«

»Jetzt wird erst zu Abend gegessen!«, ordnet Saskia an.

»Aber Papa ist noch nicht da!«, stellt ihre Tochter ganz richtig fest. Der Vorwurf in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Erstaunlicherweise entlädt sich dieser Unmut nie, wenn Jörg dann tatsächlich bei seiner Tochter ist. Die schlechte Stimmung scheint das Kind ausschließlich für seine Mutter reserviert zu haben.

»Es gibt«, Saskia reißt die Kühlschranktür auf und versucht, aus den verschiedenen Versatzstücken eine ansprechende Mahlzeit zu komponieren, »es gibt Käse oder geräucherte Makrele und Gewürzgurken und … äh … du kannst auch noch Joghurt haben. Und Knäckebrot.«

»Gewürzgurke? Lecker!« Ann-Sophie strahlt.

»Meinst du das ernst?«, fragt Saskia vorsichtig nach. Begeisterung für Gewürzgurken hätte sie nun nicht gerade erwartet.

»Völlig! Ich liebe Gewürzgurken! Kann ich alle haben?«

»Ja klar, Schatz.« Saskia drückt Ann-Sophie das Glas in die Hand und wundert sich. Aber nur kurz, dann zerstört sie diesen zarten Moment der Zufriedenheit mit der Frage: »Musst du noch Hausaufgaben machen?«

Und obwohl Ann-Sophie mit einem forschen »Da möchte ich nicht drüber reden!« antwortet, entspinnt sich ein kleiner, aber gewohnter, dabei unschöner, letztendlich aber moderater Streit, der damit endet, dass das Kind zum Zähneputzen geschickt wird.

»Volllfffff!«

»Bald backen wir Plätzchen«, verspricht Saskia noch vage und um gute Stimmung zu machen, als sie Ann-Sophie die Bettdecke zurechtstreicht, ein paar Kuscheltiere anreicht und ihr ein Gutenachtküsschen gibt.

»Wann genau?«, fragt Ann-Sophie.

»Sag ich dir morgen. Nun schlaf schön.«

***

Obwohl es erst 20.30 Uhr ist, fallen Saskia beinahe die Augen zu. Wie gemütlich wäre es jetzt, ein paar Kerzen anzuzünden und sich mit einem Tee auf das Sofa zu kuscheln, aber das wäre angesichts der nahenden feierlich-gemütlichen Zeit sehr kontraproduktiv. Es gibt noch so viel zu tun! Deshalb knipst Saskia jede verfügbare Lampe an und leert, in einem Zug und gut beleuchtet, eine Sojamilchpackung. Diese wäscht sie aus und beklebt sie mit weißem Papier, schneidet Türchen hinein und schreibt eine große 1 darauf. Dann stellt sie ihr Werk auf den Esstisch und betrachtet es kritisch von allen Seiten.

Sie ist nicht zufrieden.

Das Miniaturgebäude hat Optimierungspotential.

Ehrlich gesagt: Es sieht scheiße aus. Das gesteht Saskia sich aber nur insgeheim ein, aussprechen würde sie es in dieser Formulierung nicht. Stattdessen murmelt sie: »Nicht wie auf dem Foto in dem Blog.« Dabei hat sie das doch alles ganz genau nach Beschreibung …

Vielleicht ist das Licht zu grell? Saskia schaltet die Lampen bis auf zwei aus. Nein, es ist immer noch nicht hübscher. Und der Gedanke daran, dass sie jetzt noch 23 Sojamilchtüten kaufen und leer trinken müsste, ist auch nicht gerade verlockend. Deshalb verwirft sie den Milchtütenhäuschenadventskalenderplan und öffnet die Tür zur Abstellkammer. Dort, ganz hinten oben im Regal, müssten noch ein paar Stoffreste liegen. Sehr zerknitterte Stoffreste, wie Saskia bei der Sichtung des Materials feststellt. Immerhin steht das Bügeleisen direkt daneben. Bis die Stoffreste ordnungsgemäß geglättet sind, vergehen 20 Minuten. Und bis sie ein – zugegeben sehr einfaches – Adventskalenderbeutelschnittmuster gefunden und ausgedruckt hat, sind weitere 25 Minuten um. Warum rast die Zeit so? Aber egal, das macht doch Spaß, redet Saskia sich ein und versucht, den Faden durch das Nadelöhr zu fädeln. Dafür hat sie wieder Festbeleuchtung eingeschaltet, trotzdem ist das nicht so leicht. Nach dem fünften Versuch gelingt es ihr. Aber wie war das noch mit Vorstich und Rückstich und so? Nähen war noch nie ihre Stärke. Aber so schwer kann das doch nicht sein!

Saskia friemelt etwas Beutelähnliches zusammen. Jetzt nur noch ein Ripsband oben in den Tunnel einziehen – verdammt, in welchen Tunnel? Wie näht man überhaupt einen Tunnel? Muss man den nicht eher graben?

Saskia konsultiert YouTube und erfährt zunächst, wie man einen Vokuhila-Rock näht. Interessantes Projekt, sieht auch gar nicht schwierig aus. Vielleicht wäre das was für Heiligabend? Weniger attraktiv, aber dem Adventskalender deutlich näher ist die Videoanleitung für die Beuteltasche. Wenn sie diese nun in ganz klein nähen würde …

Nachdem Saskia bei YouTube noch rasch eine Stadtführung durch Venedig und ein Zeitraffervideo von Nordkorea angesehen hat, kommt sie auf eine kreative Lösung: Sie bindet den Mini-Beutel einfach mit einem Bändchen zu. So! Mit Daumen und Zeigefinger hebt sie ihr Produkt an und lässt es vor ihren Augen hin und her baumeln, während sie es kritisch betrachtet. Ganz – okay. Geht doch. Jetzt nur noch 23 weitere davon.

»Das macht Spaß«, behauptet Saskia in die Stille des Zimmers hinein. Volllfffff, echot es in ihren Gedanken.

Bei der Naht des zweiten Beutels sticht sie sich in den Finger. Es ist mittlerweile 23.45 Uhr. Ein Schlüssel klackert im Schloss der Wohnungstür.

»Du bist noch wach? Und seit wann lutschst du am Daumen?«, fragt Jörg verwundert. Er kommt von einem Jobtermin irgendwo in der Nordheide, vermutet Saskia. Oder war es Berlin? Es ist nicht ungewöhnlich, dass er so spät nach Hause kommt. Meistens schläft sie dann schon.

Saskia zieht sich den Daumen aus dem Mund. Sofort tropft wieder Blut aus dem Einstichloch.

»Ich mache einen Adventskalender«, erklärt sie, während sie das Blut mit einem Papiertaschentuch auffängt. Fasziniert betrachtet sie, wie der Tropfen darin verläuft. Könnte man damit nicht etwas verzieren?

»Jetzt schon?«, fragt Jörg. Er scheint jetzt noch verwunderter zu sein. »Ist das nicht etwas früh?«

»Ich würde eher sagen: Es ist schon etwas spät«, gibt Saskia zurück.

»Wieso? Der erste Advent ist doch erst in über einer Woche«, sagt Jörg und öffnet den Kühlschrank. »Sind keine Gewürzgurken mehr da? Du weißt doch, ich liebe die.«

Saskia stöhnt auf. Genau genommen solltest du mich lieben, will sie klarstellen, entscheidet sich dann aber für: »Der erste Advent hat doch mit dem Adventskalender gar nichts zu tun. Der Adventskalender muss am 1. Dezember fertig sein. Denk mal nach: Wozu hat der denn 24 Türchen?« Wie kann man nur so ignorant sein, wundert sich Saskia. Dass Jörg mit Weihnachten auch so gar nichts am Hut hat! Dabei ist es doch ein Familienfest.

Jörg überspielt sein Unwissen, indem er die beklebte Sojamilchtüte hochhebt: »Und das werden die Türchen?« Das weiße Papier löst sich an einer Seite und hängt nun herunter. Es sieht noch schlimmer aus als bei der Erstbetrachtung. »Ganz … hmm … hübsch. Selbstgemacht?«

»Ja. Aber vergiss das Ding, das kann weg. Die ›Türchen‹ werden Beutel, diese hier.«

Jörg gießt sich ein Glas Wein ein. »Möchtest du auch eins?«, fragt er vom Kühlschrank herüber. Offensichtlich hat er den gemütlichen Teil des Abends eingeläutet.

Saskia könnte sich schon wieder aufregen, zischt aber nur: »Nein, du siehst doch, dass ich arbeite.«

»Ja, natürlich«, lenkt Jörg ein. Warum ist der so ruhig, so entspannt? Weil er nicht sieht, noch nicht mal ahnt, was noch alles zu tun ist!

»Wie viele Türchen hast du denn schon fertig?«, fragt er, völlig arglos.

Saskia hält die eineinhalb Beutelchen hoch. Dann lässt sie die Arme kraftlos sinken.

»Hey!« Jörg stellt das Glas ab und will Saskia in seinen Arm ziehen. Vermutlich könnte man dies als aufmunternde Geste verstehen.

»Ich bin total müde, ich geh mal ins Bett.« Saskia schafft es gerade noch, ihr »Projekt« in einer blickdichten Papiertüte zu verstauen und sich die Zähne zu putzen. Als sie ins Bett fällt, meint sie kurz, dass Jörg sie küsst und ihr die Decke fürsorglich über die Schultern zieht, aber da kann sie sich auch irren, denn sie ist bereits eingeschlafen.

1. Dezember

»Was ist das?« Ann-Sophie betrachtet verwundert das einzelne Stoffbeutelchen, das an einem knorrigen, dünnen Ast über dem Esstisch hängt.

»Dein Adventskalender«, erklärt Saskia.

»Aber es ist nur ein Beutel«, wundert sich Ann-Sophie und stupst diesen einen Beutel vorsichtig an. Er pendelt hin und her. »Ein richtiger Adventskalender hat 24 Türchen.«

»Kluges Kind«, bemerkt Jörg.

»In diesem Jahr gibt es einen Adventskalender ohne Türchen. Einen individuellen Adventskalender. Etwas, das sonst keiner hat«, versucht Saskia, ihr leicht unvollendetes DIY-Projekt anzupreisen. Es ist ihr nicht gelungen, weitere Beutel zu nähen, irgendwie war keine Zeit mehr dafür da. Allerdings hat sie diesen Ast unter Einsatz all ihrer Kräfte aus einer öffentlichen Grünanlage gezerrt. Er war schon halb abgebrochen, deshalb hat sie keinem Baum Leid zugefügt, doch trotzdem hatte Saskia das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Das wurde noch dadurch verstärkt, dass eine ältere Dame mit Dackel ihr dabei zusah.

»Das ist kein richtiger Adventskalender«, murrt Ann-Sophie. »Ich will einen richtigen Adventskalender. So einen, wie alle ihn haben.«

Das Argument weiß Saskia sofort zu entkräften: »Bei euch in der Klasse haben alle verschiedene Adventskalender. Jeder ganz individuell. Und sieh mal: Ist der nicht auch hübsch?«

»Nein«, meint Ann-Sophie, womit sie nicht ganz unrecht hat. Das würde Saskia aber nicht zugeben, nicht vor dem Kind. »Igitt!«, kreischt das Mädchen auf.

»Na, na, so schlimm ist der doch auch wieder nicht«, steht Jörg Saskia bei.

»Da ist eine Spinne in meinem Müsli«, beschwert sich Ann-Sophie.

»Die kommt bestimmt aus dem Gestrüpp, das hier über dem Tisch baumelt«, folgert Jörg und beäugt den Ast kritisch, als erwarte er, dass sich spontan noch mehr Natur in seinem Lebensraum ausbreiten könnte.

»Das ist ein Adventskalender«, stellt Saskia richtig. »Außerdem wolltest du doch immer ein Haustier.« Vorsichtig fischt sie die Spinne aus dem Müsli der Tochter und setzt sie auf dem Balkon aus.

»Aber eins, was man streicheln kann! Eins mit Fell!«, fordert Ann-Sophie, ihre Chance witternd.

»Es gibt auch haarige Spinnen«, weiß Jörg. »Vogelspinnen. Die kann man auch als Haustier halten.«

»Du spinnst, Papa!« Ann-Sophie gluckst dabei fröhlich vor sich hin, als habe ihr Vater gerade den Witz des Jahrhunderts erzählt und ihr einen 100-Euro-Schein zugesteckt. Als ihr Blick danach wieder auf den Adventskalender und die dahinter auf Anerkennung hoffende Mutter fällt, verdüstert er sich wieder.

»Nein, ehrlich. Das kann man«, beharrt Jörg. »Die sehen auch aus wie richtige Schmusespinnen.« Er lässt die Finger seiner rechten Hand über Ann-Sophies Unterarm flitzen, als wären es Spinnenfüße. Seine Tochter dankt es ihm mit einem Blick, aus dem pure Liebe spricht.

»Schluss damit«, sagt Saskia mit Blick auf die Uhr. »Mach jetzt endlich deinen Adventskalender auf, sonst kommst du zu spät zur Schule!«

»Volllfffff.« Ann-Sophie macht sich trotzdem an dem Beutel zu schaffen. Sie zieht einen Schokoriegel heraus und macht ein zufriedenes Gesicht. Aber dann fällt ihr ein: »Und morgen? Was mache ich morgen auf?«

»Den gleichen Beutel«, erklärt Saskia das Konzept.

»Und da ist dann wieder ein Schokoriegel drin?«, fragt Ann-Sophie hoffnungsvoll.

»Mal sehen«, sagt Saskia. Eigentlich sind abwechslungsreiche Überraschungen vorgesehen und kleine Bastelarbeiten. Dafür blieb allerdings keine Zeit. Der Gedanke an 23 Schokoriegel ist verführerisch, zumal er bedeuten könnte, dass ihre Tochter wunschlos glücklich ist.

»Und wann backen wir die Plätzchen?«, hakt Ann-Sophie nach.

***

Später, einen Halbtagsstellenarbeitstag und diverse Kioskbesuche, in denen man Saskia erklärte, die Plätzchenspezialausgabe sei nun wirklich ausverkauft und auch nicht mehr nachlieferbar, legt Ann-Sophie einen neuen Zettel auf den Tisch, mit dem Kommentar: »Dafür backen wir aber endlich Plätzchen!«

Noch ein Termin.

Liebe Eltern,
ich freue mich, Sie zu unserer Klassenweihnachtsfeier am 12. Dezember um 14.30 Uhr einladen zu dürfen.
Eva Brandt, Klasse 2c

Passend dazu kommt eine SMS von Philomena rein.

Habe gerade die Klassenweihnachtsfeier mit Frau Brandt besprochen. Der Zettel ist mal wieder viel zu unkonkret. Und der Termin, den hat sie ja gar nicht mit uns abgestimmt. Aber nun ist das mal so. Ich schicke gleich mal eine Mail an alle Eltern hinterher. Da können wir ja schon mal probeweise die Plätzchenqualität testen! LG, Philo

Saskia checkt ihre Mails. Da ist das von Philomena angekündigte Schriftstück ja auch schon:

Liebe Eltern der Gazellenklasse!

Wir laden Sie ganz herzlich zu einer besinnlichen Weihnachtsfeier am 12. Dezember um 14.30 Uhr im Klassenraum der 2c ein.

Bitte bringen Sie dafür mit:

Selbstgebackene Plätzchen für das süße Knabberbuffet, Kaffee und Tee in Isolierkannen, Becher, Teller und Servietten

Die Kinder werden Szenen aus der Weihnachtsgeschichte vorführen, ein kleines Blockflötenkonzert ist auch geplant. Bitte reservieren Sie mindestens zwei Stunden in Ihrem Zeitplan für den Tag. Bitte beachten Sie auch die als PDF beigefügte Ergänzung zur »Ranzenpost« der Klassenlehrerin Frau Eva Brandt.

Wir freuen uns auf Sie!

Beste Grüße

Ihre Elternvertreterinnen

Saskia klickte auf das PDF-Symbol und wartete geduldig, bis das Schriftstück sich öffnete.

ADVENTSBASAR – Ihre persönlichen To-Do’s
Bitte denken Sie daran, zur Weihnachtsfeier bereits die selbstgebackenen und zur Verteilung konfektionierten Plätzchen für den Adventsbasar am 21. Dezember mitzubringen!

Dabei sollten Sie Folgendes beachten:

Die Plätzchen werden von Ihnen in einem Zellglas-Bodenbeutel verpackt, diesen binden Sie bitte mit einem roten Satinband zu. (Gibt es alles in der Drogerie; eine genaue Einkaufsliste mit Händlerempfehlungen übersenden wir gerne auf Anfrage.)

Jeder Beutel muss mit einem Etikett versehen werden. Darauf sollte stehen:
1. Der Name des Gebäcks (möglichst kreativ-deskriptiv, Phantasiebezeichnungen sind zugelassen)
2. die exakte Zutatenliste
3. Warnungen vor möglichen Allergieauslösern
4. wenn möglich: die Kalorienangabe (das lässt sich ganz leicht anhand der Zutaten ausrechnen)

Jeder Beutel sollte mindestens fünf, höchstens aber neun Gebäckteile enthalten und 150 Gramm wiegen.

Die Beutel werden für zwei Euro das Stück verkauft, zugunsten des Schulvereins.

Zusätzlich werden wir noch einen kleinen festlichen Plätzchenwettbewerb veranstalten, dafür bitte einzelne Bewerbungsplätzchen gesondert abgeben. Es winken attraktive Preise!

Ihre Elternvertreterinnen

»Sehr konkret. Sehr ausführlich«, lobt Saskia Philomena beim abendlichen Kulissenbauworkshop für – ja, für welchen Auftritt der Kinder war das noch gerade? Saskia rattert im Kopf die bevorstehenden Ereignisse durch: Ballettvortanzen, Chorauftritt, Schulweihnachtsvorführung, Krippenspiel – ja, Krippenspiel, das wird es sein. Das heißt in diesem Jahr aber irgendwie anders. Saskia kommt gerade nicht darauf, sie muss sich konzentrieren: Platten festhalten, Stoff festtackern, mit der Lacksprühdose goldene Farbe auftragen. Genau auf die Anweisungen der Kulissenbauworkshopleiterin achten. Die scheint einen exakten Plan zu haben, was wer wann zu tun hat. Saskia bekommt Kopfschmerzen von den Lackausdünstungen. Oder liegt es daran, was die anderen Mütter erzählen? Philomena schwärmt von der stimmungsvollen Lichtinstallation, die sie auf ihrem Balkon installiert hat. »Weihnachten, das ist Licht in der dunklen Zeit«, schwärmt sie. Nadine Schmitz fällt ein und beschreibt die Eiswindlichter, die sie so ganz nebenbei in der Gefriertruhe herstellt, weil es draußen ja noch nicht kalt genug ist. Die Dritte im Bunde ist Saskia gänzlich unbekannt, was aber eventuell auch an ihrem sehr avantgardistischen Kurzhaarschnitt liegt, mit dem sie eventuell kurzfristig eine komplette Typveränderung vorgenommen hat. Sie berichtet von dem Adventskranz, den sie aus Beton gegossen hat.

Aus Beton?

Saskia ist fasziniert. »Und deine … Tochter?«, fragt sie nach und mutmaßt das Geschlecht des Beton-beschenkten Kindes.

Alle sehen sie erstaunt an. »Hast du Tochter gesagt?«, fragt die Mutter mit hochgezogener Augenbraue.

»Nein, sie hat Torben gesagt«, springt Philomena Saskia hilfreich zur Seite. »Saskia würde niemals sagen, dass Torben etwas Mädchenhaftes hat. Wobei natürlich nichts dagegen einzuwenden wäre, wenn Torben sich anders entwickelt als die Masse. Individualität ist wichtig, gerade auch in dem Alter. Und wie findet Torben nun den Kranz?«

»Er liebt ihn«, erklärt Torbens Mutter, bedenkt Saskia aber weiterhin mit einem misstrauischen Blick. »Ihr wisst ja, dass wir vermuten, dass er eine schlimme Pollen- und Grünpflanzenallergie hat, deswegen wollten wir lieber auf Nummer sicher gehen. Mein Torben ist bei so etwas so verständig, und das in seinem Alter.«

Saskia nickt benommen und sprüht weiter Goldfarbe.

Die vierte Mutter komponiert ein kleines Weihnachtsoratorium, das sie mit ihren drei Kindern unterm Weihnachtsbaum aufführen wird. Die Fünfte spricht sich gegen einen traditionellen Weihnachtsbaum aus und beschreibt die Wandinstallation, die sie stattdessen entworfen hat. Die Sechste hat eine neue Stanztechnik für Weihnachtsbaumschmuck und Fensterbilder entwickelt. Die Siebte entwirft eine harmonisch aufeinander abgestimmte Festtagskollektion für ihre Töchter und sich, die sie aus handbedruckten Stoffen nähen wird. Sie alle illustrieren, sobald sie eine Hand frei haben, ihre Erzählungen mit perfekt ausgeleuchteten Fotos auf ihren Smartphones. Die Achte … die achte Mutter, auf die sich nun alle erwartungsvollen Blicke richten, ist Saskia selber, die zu dem alles beherrschenden DIY-Thema noch keine vorzeigbaren Erfolge herzuzeigen hat. Das sind alles so engagierte Projekte, und sie scheinen den Müttern so leicht von der Hand zu gehen! Und so ganz nebenbei backen sie auch noch, jede hat bereits eine Dose mit Plätzchen dabei, selbst kreiert natürlich, die meisten gleich mehrere Sorten, Torbens Mutter sogar elf – 11! – verschiedene (»Ihr wisst ja, wir haben mit ein paar kleineren Unverträglichkeiten zu kämpfen, und deswegen ist es mir besonders wichtig, dass Torben von Anfang an versteht, dass dies für ihn keine Einschränkung bedeuten muss!«). Und jeder einzelne Keks schmeckt köstlich. Saskia weiß das nicht etwa daher, weil sie alle probiert hat, sondern weil jede Sorte gelobt und kommentiert wird. Sie selbst schmeckt kaum noch etwas wegen der Lackdämpfe aus der Sprühdose. Zum schwummerigen Grundgefühl gesellt sich nun eine gewisse Panik.

Die Adventszeit fängt ja gerade erst an, versucht sie, sich selbst zu beruhigen. Ich habe noch viel Zeit. Sie nimmt sich vor, Beton zu kaufen, für einen Adventskranz, und den in verschiedenen Tönen einzufärben, damit Ann-Sophie nicht unter irgendeiner Einschränkung leiden muss.

Und sie wird endlich mit dem Kind Plätzchen backen!

Montags geht es nicht, da hat Ann-Sophie erst Ballettunterricht und dann Chorprobe.

Dienstags geht es auch nicht, da hat Ann-Sophie länger Schule, danach Turnen, und Saskia arbeitet länger.

Mittwochs ist es schwierig, da muss Ann-Sophie zum Kletterkurs, die Halle liegt leider etwas abseits.

Donnerstags geht Saskia regelmäßig (na ja, fast) zum Pilates. Und Ann-Sophie hat Schwimmkurs.

Freitags gibt es abwechselnd gesonderte Chor- und Weihnachtsmärchenkrippenspieldingsbumsirgendwas-Proben.

Samstags besuchen sie meist Jörgs Eltern.

Sonntags …

Ja, sonntags ginge.

Oder, nein: Da sind sie alle zum Geburtstagsbrunch bei Philomena eingeladen, ihr Mann Jakob wird 38 oder 44, und Saskia darf sich diesmal auf keinen Fall wieder darüber amüsieren, dass seine Eltern ihn tatsächlich Jakob Jacobsen genannt haben, das hat beim letzten Treffen für eine unschöne Situation gesorgt. Vor dem Brunch muss sie Jörg gut zureden, das wird einige Zeit dauern. Jörg kann Jakob nicht ausstehen, weil er ihn für einen aufgeblasenen Dampfplauderer hält, und hat zu Philomena ein eher ambivalentes Verhältnis. »Die ist ganz unterhaltsam auf ihre leicht überspannte Art«, hat er es mal auf den Punkt gebracht, »aber sie kann dir nicht mal das Wasser reichen, wenn du schläfst.« Vermutlich sollte das ein Kompliment sein; Saskia hatte sich jedenfalls dazu entschieden, es so zu sehen.

Vielleicht soll sie den Brunch in diesem Jahr sausenlassen? Außerdem muss Ann-Sophie am Sonntag für die Mathearbeit lernen …

Also Donnerstag. Ist doch ganz logisch. Wer braucht schon Pilates? Bis dahin dürfte Saskia ja wohl ein geeignetes Plätzchenrezept aufgetrieben haben. Sie wird es im Internet versuchen.

Oder vielleicht auf die Oldschool-Methode? In echt. So von Freundin zu Freundin …

Sie fragt Mutter Nummer 6: »Könntest du mir dein Plätzchenrezept geben?«

Die Stanztechnik-Erfinderin weicht unmerklich zurück. »Ach, das ist aus der neuen Plätzchenspezialausgabe«, wiegelt sie ab. »Vielleicht besorgst du dir einfach das Heft?«

»Ist ausverkauft«, sagt Saskia.

»Ach«, meint Mutter Nummer 6, »das findest du bestimmt im Internet.«