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Das Buch

In unvernünftigen Zeiten ist Richard Dawkins’ unnachgiebiges Plädoyer für die Vernunft aktueller und dringender denn je. Die in diesem Band versammelten Reden, Aufsätze und Briefe aus den letzten drei Jahrzehnten ermöglichen einen faszinierenden Einblick in das Werk eines überragenden Denkers. Von der Evolution über die Klimaveränderung und den Terrorismus bis hin zu intelligenten Außerirdischen – Dawkins argumentiert stets mit einer erzählerischen Leichtigkeit.

Der Autor

Richard Dawkins, 1941 geboren, ist Evolutionsbiologe. Von 1995 bis 2008 hatte er den Lehrstuhl für Public Understanding of Science an der Universität Oxford inne. Sein Buch Das egoistische Gen gilt als zentrales Werk der Evolutionsbiologie. Seine Streitschrift Der Gotteswahn ist ein Bestseller.

RICHARD DAWKINS

FORSCHER AUS LEIDENSCHAFT

GEDANKEN EINES
VERNUNFTMENSCHEN

Herausgegeben von Gillian Somerscales

Aus dem Englischen
von Sebastian Vogel

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

Sciene in the Soul. Selected Writings of a Passionate Rationalist

bei Penguin Random House, New York.



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ISBN 978-3-8437-1838-7


© 2017 Richard Dawkins

© der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018

Richard Dawkins, »Netzgewinn«. Aus: John Brockman (Hrsg.),
Wie hat das Internet Ihr Denken verändert?
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011

Lektorat: Susanne Warmuth, Darmstadt

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

In memoriam

Christopher Hitchens

Einleitung des Autors

Diese Zeilen schreibe ich zwei Tage nach einem atemberaubenden Besuch des Grand Canyons in Arizona. Für viele Völker der amerikanischen Ureinwohner ist der Grand Canyon ein heiliger Ort, Schauplatz zahlreicher Ursprungsmythen für Gruppen von den Havasupai bis zu den Zuni und heimliche Ruhestätte der Toten für die Hopi. Wenn man mich zwingen würde, mich für eine Religion zu entscheiden, so könnte ich mich mit einer solchen anfreunden. Der Grand Canyon verleiht der Religion Format. Er deklassiert die Kleinkariertheit der abrahamitischen Bekenntnisse, jener drei zänkischen Kulte, die aufgrund historischer Zufälle noch heute die Welt quälen.

In dunkler Nacht wanderte ich am Südrand des Canyons entlang, legte mich auf eine niedrige Mauer und blickte hinauf zur Milchstraße. Ich blickte in die Vergangenheit, wurde Zeuge einer Szene aus der Zeit vor hunderttausend Jahren – damals machte sich das Licht auf eine lange Reise, um schließlich in meine Pupillen einzutauchen und auf meinen Netzhäuten Funken zu schlagen. Im Morgengrauen des folgenden Tages kehrte ich noch einmal zu der Stelle zurück, schauderte schwindelnd, als mir klar wurde, wo ich in der Dunkelheit gelegen hatte, und sah hinunter zum Boden des Canyons. Wieder blickte ich in die Vergangenheit, zwei Milliarden Jahre in diesem Fall, zurück in eine Zeit, als nur Mikroorganismen blind unter der Milchstraße wimmelten. Wenn die Seelen der Hopi in diesem majestätischen Schweigen ruhten, leisteten ihnen die im Stein gefangenen Geister der Trilobiten und Schlangensterne Gesellschaft, ebenso die der Armfüßer und Belemniten, der Ammoniten und sogar der Dinosaurier.

Gab es im Verlauf der Evolution, die über fast zweitausend Meter in Schichten den Canyon hinaufzieht, irgendwo eine Stelle, von der man sagen könnte, dass dort eine »Seele« ins Dasein trat wie ein Licht, das plötzlich eingeschaltet wird? Oder schlich sich »die Seele« klammheimlich in die Welt: eine trübe Tausendstelseele in einem pulsierenden Röhrenwurm, eine Zehntelseele in einem Quastenflosser, eine halbe Seele in einem Koboldmaki, dann eine typisch menschliche Seele und schließlich eine Seele vom Format eines Beethoven oder Mandela? Oder ist es einfach töricht, überhaupt von Seelen zu sprechen?

Es ist nicht töricht, wenn man damit so etwas wie das überwältigende Gefühl einer subjektiven, persönlichen Identität meint. Dass wir sie besitzen, weiß jeder von uns, auch wenn viele moderne Denker beteuern, sie sei eine Illusion – eine Täuschung, die, so könnten Darwinisten spekulieren, ihre Entstehung einem kohärenten, nur einem einzigen Zweck, dem Überleben, dienenden System verdankt.

Optische Täuschungen wie der Necker-Würfel


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oder Penrose’ unmögliches Dreieck


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oder die Tiefenumkehr (englisch Hollow-Mask illusion) machen deutlich, dass die »Realität«, die wir sehen, aus eingeschränkten Modellen besteht, die im Gehirn konstruiert werden. Das zweidimensionale Linienmuster des Necker-Würfels auf dem Papier lässt sich mit zwei möglichen Konstruktionen eines dreidimensionalen Würfels vereinbaren, und diese Modelle macht sich das Gehirn abwechselnd zu eigen: Der Wechsel ist spürbar, und seine Häufigkeit kann man sogar messen. Die Linien des Penrose-Dreiecks auf dem Papier sind mit keinem realen Gegenstand zu vereinbaren. Solche Illusionen fordern die Modellbausoftware des Gehirns heraus und offenbaren so, dass sie existiert.

Auf die gleiche Weise konstruiert das Gehirn in seiner Software auch die nützliche Illusion einer persönlichen Identität, eines »Ichs«, das scheinbar unmittelbar hinter den Augen angesiedelt ist, eines »Handelnden«, der frei seine Entscheidungen trifft, einer einheitlichen Persönlichkeit, die nach Zielen strebt und Gefühle empfindet. Die Konstruktion der Persönlichkeit findet nach und nach in der frühen Kindheit statt, vielleicht indem Bruchstücke, die zuvor getrennt waren, zusammengefügt werden. Manche psychologischen Störungen werden als »gespaltene Persönlichkeit« interpretiert, als Fehler beim Vereinen von Fragmenten. Die Spekulation, dass sich beim allmählichen Heranwachsen des Bewusstseins im Kleinkind etwas Ähnliches abspielt wie im weit größeren Zeitmaßstab der Evolution, ist nicht unvernünftig. Könnte beispielsweise ein Fisch ansatzweise so viel bewusstes Ich-Gefühl besitzen wie ein menschlicher Säugling?

Über die Evolution der Seele können wir Spekulationen anstellen, allerdings nur dann, wenn wir mit dem Wort so etwas wie das innere, konstruierte Modell eines »Selbst« meinen. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir unter »Seele« ein Gespenst verstehen, das den Tod des Körpers überlebt. Die persönliche Identität erwächst aus der materiellen Aktivität des Gehirns; wenn das Gehirn zerfällt, muss sie sich auflösen und in das Nichts der Zeit vor der Geburt zurückkehren. »Seele« und ähnliche Wörter werden aber auch in poetischen Bedeutungen gebraucht, und die mache ich mir schamlos zu eigen. In einem Essay, der in meiner früheren Anthologie A Devil’s Chaplain erschienen ist, pries ich mit solchen Worten den großen Lehrer F. W. Sanderson, der meine spätere Schule noch vor meiner Geburt geleitet hatte. Der stets gegenwärtigen Gefahr zum Trotz, missverstanden zu werden, schrieb ich über den »Geist« (spirit) und den »Geist« (ghost) des verstorbenen Sanderson:

Sein Geist lebte in Oundle weiter. Kenneth Fisher, sein unmittelbarer Nachfolger, leitete gerade eine Mitarbeiterkonferenz, da klopfte es zaghaft an der Tür, und ein kleiner Junge kam herein: »Bitte, Sir, unten am Fluss sind Trauerseeschwalben.« – »Das hier kann warten«, sagte Fisher entschieden zu den Versammelten. Er erhob sich, griff nach seinem Fernglas neben der Tür und radelte in Begleitung des kleinen Ornithologen davon. Und man kann sich nicht der Vorstellung erwehren, dass ihnen Sandersons Geist mit seinem gutmütigen, runzeligen Gesicht strahlend nachblickte.

Im weiteren Verlauf schrieb ich von Sandersons »Schatten«. Zuvor hatte ich eine andere Szene aus meiner eigenen Schulzeit geschildert: Ioan Thomas, ein höchst anregender Lehrer für Naturwissenschaften (der an die Schule gekommen war, weil er Sanderson bewunderte, obwohl er jung war und den alten Direktor nicht mehr kennengelernt haben konnte), brachte uns einmal eindringlich bei, wie wichtig es ist, Unwissen einzugestehen. Er stellte uns einem nach dem anderen eine Frage, auf die wir alle mit wüsten Vermutungen antworteten. Schließlich war unsere Neugier (»Sir! Sir!«) auf die wahre Antwort geweckt. Mr Thomas wartete dramatisch ab, bis es ruhig war, und sagte mit effektvollen Pausen nach jedem Wort: »Ich weiß es nicht! Ich … weiß … es … nicht!«

Wieder kicherte in der Ecke Sandersons väterlicher Schatten, und keiner von uns wird diese Schulstunde je vergessen. Entscheidend sind nicht die Tatsachen, sondern die Art, wie man sie entdeckt und über sie nachdenkt: Das ist Bildung im eigentlichen Sinn und etwas ganz anderes als die heutige bewertungsbesessene Prüfungskultur.

Bestand die Gefahr, dass Leser meines damaligen Essays die Formulierung, Sandersons »Geist« habe »weitergelebt«, missverstanden? Oder dass sein »Geist« strahle? Dass sein »Schatten« in der Ecke kicherte? Ich glaube nicht, obwohl es in der Welt weiß Gott (da haben wir’s schon wieder) genügend Leute gibt, die geradezu nach Missverstehen lechzen.

Nach meiner Überzeugung ist es höchste Zeit, dass der Literatur-Nobelpreis an einen Naturwissenschaftler verliehen wird. Der nächstliegende Präzedenzfall, das muss ich leider sagen, ist ein sehr schlechtes Beispiel: Henri Bergson, mehr Mystiker als wahrer Wissenschaftler, dessen vitalistischer élan vital von Julian Huxley mit einer satirischen Eisenbahn, die vom élan locomotif angetrieben wird, verspottet wurde. Aber im Ernst: Warum sollte nicht ein wahrer Wissenschaftler den Literaturpreis bekommen? Carl Sagan ist leider nicht mehr unter uns, um ihn in Empfang zu nehmen, aber wer würde abstreiten, dass seine Schriften von nobelpreiswürdiger literarischer Qualität sind und auf einer Stufe mit denen von großen Romanautoren, Historikern und Dichtern stehen? Was ist mit Loren Eiseley? Lewis Thomas? Peter Medawar? Stephen Jay Gould? Jacob Bronowski? D’Arcy Thompson?

Aber abgesehen von den Verdiensten einzelner Autoren, die wir benennen können: Ist nicht die Wissenschaft selbst ein würdiges Thema für die besten Autoren, und ist sie nicht mehr als in der Lage, Anregungen für große Literatur zu liefern? Und welche Eigenschaften es auch sein mögen, derentwegen die Wissenschaft so ist – die gleichen Eigenschaften, derentwegen auch große Dichtung und nobelpreisgekrönte Romane so sind: Haben wir hier nicht einen guten Ansatz, um die Bedeutung von »Seele« zu begreifen?

Ein anderes Wort, mit dem man literarische Wissenschaft im Stile Sagans beschreiben könnte, lautet »spirituell«. Allgemein herrscht die Vorstellung, Physiker würden sich häufiger selbst als religiös bezeichnen als Biologen. Dafür gibt es sogar statistische Belege von den Mitgliedern der Londoner Royal Society und der US-amerikanischen National Academy of Sciences. Die Erfahrung legt aber eine Vermutung nahe: Wenn man bei solchen Elitewissenschaftlern genauer nachfragt, so stellt man fest, dass selbst die zehn Prozent, die sich zu irgendeiner Form von Religiosität bekennen, in den meisten Fällen nicht an Übernatürliches glauben: Es gibt für sie keinen Gott, keinen Schöpfer, kein Streben nach einem Jenseits. Was sie besitzen – und das sagen sie bei genauem Nachfragen auch –, ist ein »spirituelles« Bewusstsein. Ihnen gefällt vielleicht die abgedroschene Phrase vom »ehrfurchtsvollen Staunen«, und wer wollte es ihnen vorwerfen? Sie zitieren vielleicht – wie auch ich in diesem Buch – den indischen Astrophysiker Subrahmanyan Chandrasekhar, der »vor dem Schönen schauderte«, oder den amerikanischen Physiker John Archibald Wheeler:

Hinter alledem steht sicher eine so einfache, so schöne Idee, dass wir dann, wenn wir sie begreifen – in einem Jahrzehnt, einem Jahrhundert oder einem Jahrtausend –, alle zueinander sagen werden: »Wie könnte es anders sein? Wie konnten wir so blind sein?«

Einstein selbst erklärte sehr deutlich, dass er zwar spirituell sei, aber in keiner Form an einen persönlichen Gott glaube.

Was Sie über meine religiösen Überzeugungen lesen, ist natürlich eine Lüge, und zwar eine, die systematisch wiederholt wird. Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott und habe das auch nie verhehlt, sondern immer klar zum Ausdruck gebracht. Wenn in mir etwas ist, das man als religiös bezeichnen kann, so ist es die grenzenlose Bewunderung für den Aufbau der Welt, soweit unsere Wissenschaft ihn offenbaren kann.

Und bei einer anderen Gelegenheit:

Ich bin ein tiefreligiöser Ungläubiger. Das ist eine irgendwie neue Art von Religion.

Ich selbst würde es zwar nicht genauso formulieren, aber in diesem Sinn eines »tiefreligiösen Ungläubigen« halte auch ich mich für einen »spirituellen« Menschen, und in diesem Sinn verwende ich die »Seele« im Titel dieses Buches, ohne mich dafür zu entschuldigen.

Wissenschaft ist wunderbar und notwendig. Wunderbar für die Seele – beispielsweise wenn man sich am Rand des Grand Canyons in den fernen Weltraum und ferne Zeiten versenkt. Aber sie ist auch notwendig: für die Gesellschaft, für unser Wohlergehen, für unsere kurz- und langfristige Zukunft. Beide Aspekte sind in dieser Anthologie vertreten.

Ich habe während meines gesamten Erwachsenenlebens Wissenschaft gelehrt, und die meisten hier gesammelten Essays stammen aus den Jahren, in denen ich die erste Charles-Simonyi-Professur für die Förderung des Wissenschaftsverständnisses in der Öffentlichkeit innehatte. Wenn ich mich für Wissenschaft einsetze, vertrete ich schon seit Langem die Carl-Sagan-Denkschule, wie ich sie nenne: die visionäre, poetische Seite der Wissenschaft – Wissenschaft zur Anregung der Fantasie im Gegensatz zur »Teflonpfannen-Denkschule«. Mit Letzterer meine ich die Neigung, beispielsweise den Aufwand für die Weltraumforschung mit dem Hinweis auf Nebenprodukte wie die teflonbeschichtete Bratpfanne zu rechtfertigen – eine Neigung, die ich mit dem Versuch verglichen habe, Musik als gute Übung für den rechten Arm des Geigers zu rechtfertigen. Das ist billig und abwertend, und vermutlich könnte man meiner satirischen Beschreibung vorwerfen, dass sie die Billigkeit übertreibt. Dennoch benutze ich sie weiterhin, um meine Vorliebe für die Romantik der Wissenschaft zum Ausdruck zu bringen. Zur Rechtfertigung der Weltraumforschung würde ich mich eher auf das berufen, was von Arthur C. Clarke gerühmt und von John Wyndham als »Drang nach draußen« bezeichnet wurde: die moderne Version des Dranges, der Magellan, Columbus und Vasco da Gama dazu trieb, sich ins Unbekannte aufzumachen. Aber ja, die »teflonbeschichtete Bratpfanne« ist eine unfaire Herabwürdigung der Denkschule, die ich mit dieser Kurzbezeichnung belege, und ich werde mich jetzt dem ernsten, praktischen Wert der Wissenschaft in unserer Gesellschaft zuwenden, denn von ihm handeln viele Aufsätze in diesem Buch. Wissenschaft ist für das Leben wirklich wichtig – und mit »Wissenschaft« meine ich nicht die schlichten wissenschaftlichen Tatsachen, sondern die wissenschaftliche Denkweise.

Diese Zeilen schreibe ich im November 2016, einem düsteren Monat in einem düsteren Jahr, in dem sich einem die Formulierung »Barbaren vor den Toren« ohne jede Ironie aufdrängt. Treffender noch wäre »innerhalb der Tore«, denn die Katastrophen, von denen die beiden bevölkerungsreichsten Völker der englischsprachigen Welt 2016 betroffen waren, sind hausgemacht: Es sind Wunden, die nicht durch ein Erdbeben oder einen militärischen Staatsstreich geschlagen wurden, sondern durch den demokratischen Prozess selbst. Mehr denn je ist es notwendig, dass die Vernunft in den Mittelpunkt rückt.

Gefühle abzuwerten liegt mir fern – ich liebe Musik, Literatur, Dichtung und die geistige wie auch körperliche Wärme menschlicher Zuneigung. Aber Gefühle sollten ihren Platz kennen. Politische Entscheidungen, Entscheidungen des Staates, zukünftige Vorgehensweisen sollten aus der klarsichtigen, rationalen Abwägung aller Möglichkeiten erwachsen, aller Belege, die für sie von Bedeutung sind, und ihrer voraussichtlichen Folgen. Bauchgefühle sollten selbst dann, wenn sie nicht aus den aufgewühlten dunklen Untiefen von Fremdenfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit oder anderen blinden Vorurteilen aufsteigen, aus der Wahlkabine verbannt werden. Lange waren solche trüben Emotionen weitgehend unter der Oberfläche geblieben. Aber im Jahr 2016 brachten politische Feldzüge auf beiden Seiten des Atlantiks sie ans Licht und machten sie vielleicht nicht respektabel, aber zumindest konnte man sie ungehindert äußern. Demagogen wurden zum Vorbild und erklärten Vorurteile, die man ein halbes Jahrhundert verschämt in heimliche Winkel verbannt hatte, für salonfähig.

Welches auch die innersten Gefühle einzelner Wissenschaftler sein mögen, Wissenschaft selbst funktioniert durch strenges Festhalten an objektiven Werten. Es gibt in der Welt eine objektive Wahrheit, und unsere Aufgabe ist es, sie zu finden. Wissenschaft verfügt über festgelegte Vorsichtsmaßnahmen gegen persönliche Voreingenommenheiten, Bestätigungsfehler, vorzeitige Urteile über Fragen, bevor man die Fakten kennt. Experimente werden wiederholt, Doppelblindversuche schließen das verzeihliche Bestreben von Wissenschaftlern aus, recht behalten zu wollen – aber auch die lobenswerten Bemühungen, möglichst viele Gelegenheiten zur Widerlegung zu schaffen. Ein Experiment, das in New York angestellt wurde, kann man in einem Labor in Neu-Delhi wiederholen, und wir rechnen damit, dass man ungeachtet der geografischen Lage und unabhängig von den kulturellen oder historischen Voreingenommenheiten der Wissenschaftler zu dem gleichen Ergebnis gelangt. Könnte man doch nur über andere akademische Fachgebiete wie die Theologie das Gleiche sagen! Philosophen sprechen fröhlich von der »kontinentalen Philosophie« im Gegensatz zur »analytischen Philosophie«. An amerikanischen oder britischen Universitäten bemühen sich die philosophischen Fakultäten unter Umständen um eine Neuberufung, um »die kontinentale Tradition fortzuführen«. Kann man sich ein naturwissenschaftliches Institut vorstellen, das in einer Stellenanzeige einen neuen Professor sucht, der die »kontinentale Chemie« fortführen soll? Oder »die östliche Tradition in der Biologie«? Schon die Idee ist ein schlechter Witz. Dies sagt etwas über die Werte der Wissenschaft aus und ist nicht nett gegenüber den Werten der Philosophie.

Nachdem ich also von der Romantik der Wissenschaft und dem »Drang nach draußen« ausgegangen bin, habe ich mich nun den Werten der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Denkweise zugewandt. Manch einer hält es vielleicht für seltsam, dass ich die Nützlichkeit wissenschaftlicher Kenntnisse völlig hintanstelle, aber in dieser Reihenfolge spiegeln sich meine persönlichen Prioritäten wider. Natürlich sind medizinische Wohltaten wie Impfung, Antibiotika und Anästhesie ungeheuer wichtig, und sie sind auch so bekannt, dass ich sie hier nicht noch einmal durchkauen muss. Das Gleiche gilt für den Klimawandel (düsteren Warnungen zufolge könnte es schon zu spät sein) und für die darwinistische Evolution der Antibiotikaresistenz. Ich möchte hier aber auf eine weitere Warnung aufmerksam machen, die weniger unmittelbar und weniger bekannt ist. Sie fügt sich nahtlos an die drei Themen des Dranges nach draußen, der wissenschaftlichen Nützlichkeit und der wissenschaftlichen Denkweise an. Ich meine damit die unausweichliche, wenn auch nicht zwangsläufig unmittelbar bevorstehende Gefahr einer katastrophalen Kollision mit einem großen Objekt aus dem Weltraum, höchstwahrscheinlich einem, das unter dem Gravitationseinfluss des Jupiter aus dem Asteroidengürtel abgelenkt wurde.

Die Dinosaurier wurden – mit der bemerkenswerten Ausnahme der Vögel – durch einen massiven Einschlag aus dem Weltraum ausgelöscht, einen Einschlag, wie er sich früher oder später erneut ereignen wird. Stichhaltigen indirekten Indizien zufolge schlug ein großer Meteorit oder Komet vor rund 66 Millionen Jahren auf der Halbinsel Yucatán ein. Mit seiner Masse (so groß wie ein stattlicher Berg) und seiner Geschwindigkeit (vielleicht 70.000 Stundenkilometer) setzte das Objekt beim Einschlag eine Energie frei, die plausiblen Schätzungen zufolge mehreren Milliarden gleichzeitig explodierender Hiroshima-Bomben entsprach. Auf die sengenden Temperaturen und die gewaltige Druckwelle des ersten Einschlags folgte ein langer »nuklearer Winter«, der vielleicht zehn Jahre dauerte. Zusammen töteten diese Ereignisse alle Dinosaurier, die keine Vögel waren, außerdem Pterosaurier, Ichthyosaurier, Plesiosaurier, Ammoniten, die meisten Fische und viele andere Lebewesen. Zu unserem Glück überlebten einige Säugetiere, die vielleicht geschützt waren, weil sie in ihrer Version von unterirdischen Bunkern ausharrten.

Eine Katastrophe gleichen Ausmaßes wird auch wieder drohen. Wann, weiß niemand, denn die Einschläge sind Zufallsereignisse. Sie werden in keiner Hinsicht wahrscheinlicher, wenn der zeitliche Abstand zwischen ihnen wächst. Es könnte zu unseren Lebzeiten geschehen, aber das ist unwahrscheinlich, denn der durchschnittliche Zeitraum zwischen solchen riesigen Einschlägen liegt in der Größenordnung von hundert Millionen Jahren. Kleinere, aber immer noch gefährliche Asteroiden, die aufgrund ihrer Größe eine Stadt wie Hiroshima zerstören können, treffen die Erde ungefähr alle ein- bis zweihundert Jahre. Dass wir uns deshalb nicht beunruhigen, liegt daran, dass die Oberfläche unseres Planeten zum größten Teil unbewohnt ist. Und natürlich gilt auch hier, dass sie nicht regelmäßig einschlagen; wir können also nicht auf den Kalender blicken und sagen: »Jetzt ist aber wieder einer fällig.«

Für Beratung und Informationen zu solchen Themen bin ich dem berühmten Astronauten Rusty Schweickart zu Dank verpflichtet. Er ist zum hochkarätigsten Vertreter der Ansicht geworden, man solle das Risiko ernst nehmen und sich bemühen, etwas dagegen zu tun. Was können wir dagegen tun? Was hätten die Dinosaurier tun können, wenn sie Teleskope, Ingenieure und Mathematiker gehabt hätten?

Die erste Aufgabe besteht darin, ein näher kommendes Geschoss zu erkennen. »Näher kommen« vermittelt einen falschen Eindruck vom Wesen des Problems. Es handelt sich hier nicht um Kanonenkugeln, die geradewegs auf uns zukommen und sichtbar werden, wenn sie herannahen. Die Erde und das Geschoss kreisen auf elliptischen Bahnen um die Sonne. Wenn wir einen Asteroiden entdeckt haben, müssen wir seine Umlaufbahn vermessen – was wir mit umso größerer Genauigkeit tun können, je mehr Messwerte wir berücksichtigen – und dann berechnen, ob der Asteroid während eines zukünftigen Umlaufs zu irgendeinem Zeitpunkt – der vielleicht Jahrzehnte in der Zukunft liegt – mit unserer eigenen Umlaufbahn zusammentreffen wird. Nachdem man einen Asteroiden entdeckt und seine Umlaufbahn genau aufgezeichnet hat, ist der Rest nur noch Mathematik.

Das pockennarbige Gesicht des Mondes bietet ein beunruhigendes Bild der Verheerungen, die uns wegen der schützenden Erdatmosphäre erspart geblieben sind. An der statistischen Verteilung von Mondkratern mit unterschiedlichem Durchmesser können wir ablesen, was dort draußen vor sich geht; sie stellen quasi eine Grundlinie dar, an der wir den mageren Erfolg unserer eigenen Versuche, Geschosse im Vorhinein ausfindig zu machen, abgleichen können.

Je größer ein Asteroid ist, desto leichter kann man ihn erkennen. Da kleine Himmelskörper – darunter auch solche, die ganze Städte zerstören können – schwer vorab auszumachen sind, ist es durchaus möglich, dass uns nur eine sehr kurze oder gar keine Vorwarnzeit bleibt. Wir müssen unsere Fähigkeit verbessern, Asteroiden zu erkennen. Und das bedeutet, dass wir eine größere Zahl von Weitwinkel-Überwachungsteleskopen brauchen, die Ausschau nach ihnen halten, darunter auch Infrarotteleskope, die sich in Umlaufbahnen außerhalb der Reichweite der von der Erdatmosphäre verursachten Verzerrungen befinden.

Angenommen, wir haben einen gefährlichen Asteroiden identifiziert, dessen Umlaufbahn die unsere irgendwann zu kreuzen droht: Was tun wir dann? Wir müssen seine Umlaufbahn verändern – entweder indem wir ihn so beschleunigen, dass er in eine größere Umlaufbahn übergeht, später an dem Überschneidungspunkt ankommt und eine Kollision vermeidet, oder wir verlangsamen ihn so, dass sich seine Umlaufbahn verkleinert und er zu früh kommt. Erstaunlicherweise reicht für beide Maßnahmen schon eine sehr geringfügige Geschwindigkeitsveränderung aus: Sie muss nicht größer als 45 Meter in der Stunde sein. Auch ohne zu starken Explosionen zu greifen, können wir dies mit der vorhandenen – wenn auch teuren – Technik erreichen, einer Technik nicht unähnlich der spektakulären Leistung der Europäischen Raumfahrtagentur, die im Rahmen ihrer Rosetta-Mission eine Raumsonde auf einem Kometen landen ließ, nachdem diese zwölf Jahre zuvor, im Jahr 2004, gestartet war. Wird hier nicht deutlich, was ich meinte, als ich davon sprach, den »Drang nach draußen« der Fantasie mit den nüchtern-praktischen Themen einer nützlichen Wissenschaft und der Strenge des wissenschaftlichen Denkens in Einklang zu bringen? Darüber hinaus macht dieses Beispiel einen anderen Aspekt der wissenschaftlichen Denkweise deutlich, einen weiteren Vorteil dessen, was wir als Seele der Wissenschaft bezeichnen können. Wer außer einem Wissenschaftler könnte exakt den Zeitpunkt einer weltweiten Katastrophe voraussagen, die hunderttausend Jahre in der Zukunft liegt, und dann einen sehr präzisen Plan vorlegen, um sie zu verhindern?

Obwohl die Essays in diesem Buch über einen sehr langen Zeitraum verfasst wurden, finde ich nur wenig, was ich heute ändern würde. Ich hätte alle Hinweise auf das ursprüngliche Erscheinungsdatum tilgen können, aber ich habe mich entschlossen, das nicht zu tun. In einigen Fällen handelt es sich um große Reden, die ich bei bestimmten Gelegenheiten gehalten habe, beispielsweise bei einer Ausstellungseröffnung oder als Nachruf auf einen verstorbenen Menschen. Ich habe sie unverändert gelassen, wie sie ursprünglich gehalten wurden. Sie haben immer noch ihre innere Unmittelbarkeit, und die wäre verloren gegangen, hätte ich alle Anspielungen auf die jeweilige Zeit gestrichen. Bei Aktualisierungen habe ich mich auf Anmerkungen und Nachworte beschränkt – kurze Ergänzungen und Reflexionen, die man vielleicht parallel zum Haupttext als Dialog zwischen meinem heutigen Ich und dem Autor des ursprünglichen Artikels lesen kann.

Zusammen mit Gillian Somerscales habe ich aus meinen Essays, Vorträgen und journalistischen Schriften 41 Beispiele ausgewählt und in acht Abschnitten gruppiert. Neben der Wissenschaft selbst enthalten sie meine Überlegungen über den Wert der Wissenschaft, die Geschichte der Wissenschaft und die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft; außerdem gibt es ein wenig Polemik, einen kleinen, sanften Blick in die Kristallkugel, etwas Satire und Humor und auch persönliche Traurigkeit, mit der ich hoffentlich kurz vor dem Punkt der Selbstgefälligkeit aufhöre. Jeder Abschnitt beginnt mit einer feinfühligen Einleitung aus Gillians Feder. Dass ich dazu noch etwas hinzufüge, wäre überflüssig, aber wie bereits erwähnt, habe ich meine eigenen Anmerkungen und Nachworte ergänzt.

Gegenüber Gillian empfinde ich grenzenlose Dankbarkeit. Außerdem danke ich Susanna Wadeson von Transworld und Hilary Redmon von Penguin Random House USA für ihren begeisterten Glauben an das Projekt und ihre nützlichen Vorschläge. Miranda Hales Internetkenntnisse halfen Gillian, vergessene Essays ausfindig zu machen. Es liegt in der Natur einer Anthologie, deren Beiträge viele Jahre überspannen, dass die Schuld der Dankbarkeit die gleichen Jahre überspannt. Sie wurde in den Originalartikeln zum Ausdruck gebracht, und man wird hoffentlich verstehen, dass ich sie hier nicht alle wiederholen kann. Das Gleiche gilt für die bibliografischen Angaben zu den Zitaten. Wer sich dafür interessiert, kann sie in den Originalartikeln nachschlagen, zu denen sich in der Liste am Ende des Buches alle Details finden.

Einleitung der Herausgeberin

Richard Dawkins hat sich stets dem Kategoriendenken entzogen. Als ein bedeutender, mathematisch orientierter Biologe The Selfish Gene (dt. Das egoistische Gen) und The Extended Phenotype (dt. Der erweiterte Phänotyp) rezensierte, fand er zu seiner Verblüffung wissenschaftliche Arbeiten vor, die offensichtlich frei von logischen Fehlern waren und doch keine einzige Zeile Mathematik enthielten; damit konnte er nur zu einer einzigen Schlussfolgerung gelangen, auch wenn es ihm unbegreiflich erschien: Dawkins dachte offensichtlich in Prosa.

Dass er in Prosa denkt, ist ein Glück. Hätte er nicht in Prosa gedacht – in Prosa gelehrt, in Prosa sinniert, in Prosa gestaunt, in Prosa argumentiert –, wir besäßen nicht das beglückend breite Spektrum von Arbeiten dieses vielseitigsten aller Wissenschaftsvermittler. Das gilt nicht nur für seine dreizehn Bücher, auf deren Qualitäten ich hier nicht noch einmal hinweisen muss, sondern auch für die atemberaubende Fülle seiner kleineren Schriften auf vielen Plattformen – in Tageszeitungen und Wissenschaftsjournalen, in Hörsälen und Onlineforen, in Streitschriften, Periodika, Rezensionen und Retrospektiven –, aus denen wir gemeinsam die vorliegende Sammlung herausdestilliert haben. Sie enthält neben vielen aktuellen Arbeiten auch einige ältere Klassiker, die sich in den reichhaltigen Schätzen aus der Zeit vor und nach seiner ersten Anthologie A Devil’s Chaplain fanden.

Angesichts seines Rufes als streitbarer Mensch erscheint es mir umso wichtiger, gebührende Aufmerksamkeit auf Richard Dawkins’ Wirken als Hersteller von Verbindungen zu lenken, als unermüdlicher Erbauer von Wortbrücken über die Kluft zwischen wissenschaftlichem Diskurs und einem breiten Spektrum öffentlicher Debatten. Ich halte ihn für einen Elite-Gleichmacher: Er will komplexe Wissenschaft nicht nur zugänglich, sondern begreiflich machen, und das ohne »verdummende Vereinfachung«. Immer besteht er auf Klarheit und Richtigkeit, und dabei dient ihm die Sprache als Präzisionswerkzeug, als chirurgisches Instrument.

Wenn er Sprache als Stoßdegen und manchmal sogar als Keule benutzt, dann um die Luft aus Vernebelung und Anmaßung zu lassen, um Ablenkung und Konfusion aus dem Weg zu räumen. Schwindel – ob er nun als falscher Glaube, falsche Wissenschaft, falsche Politik oder falsches Gefühl daherkommt – ist ihm ein Gräuel. Als ich die Artikel, die als Kandidaten für dieses Buch infrage kamen, immer und immer wieder las, dachte ich mir eine Gruppe aus, die man »Pfeile« nennen könnte: kurze, pointierte Texte, manche lustig, manche voll glühendem Zorn, manche voll herzzerreißendem Schmerz oder atemberaubender Unhöflichkeit. Ich war versucht, eine Sammlung solcher Stücke als eigene Gruppe zu präsentieren, aber nach längerem Nachdenken entschloss ich mich, einige davon zwischen die längeren, nachdenklicheren, getragenen Aufsätze einzustreuen, einerseits um einen besseren Überblick über das Spektrum der Schriften zu vermitteln, und andererseits um dem Leser das unmittelbare Erlebnis der Tempo- und Tonartwechsel zu verschaffen, die den Reiz der Dawkins-Lektüre ausmachen.

Hier finden sich Extreme von Vergnügen und Verhöhnung und auch Zorn – aber nie Zorn über das, was gegen ihn selbst gesagt wird, sondern stets Zorn über Schaden, den andere erleiden: insbesondere Kinder, Tiere und Menschen, die unterdrückt werden, weil sie sich dem Diktat von Autoritäten widersetzen. Diese Wut und dahinter die Traurigkeit über all das, was geschädigt wird und verloren geht, erinnern mich – und ich muss betonen, dass es nicht Richards, sondern meine Wahrnehmung ist – an den tragischen Aspekt seiner Schriftsteller- und Rednerlaufbahn seit Erscheinen des Buches The Selfish Gene (dt. Das egoistische Gen). Wer »tragisch« für ein zu starkes Wort hält, sollte Folgendes bedenken: In jenem ersten Aufsehen erregenden Buch erläuterte er, wie die Evolution durch natürliche Selektion einer Logik folgt, die ihren Ausdruck im unbarmherzigen, selbstsüchtigen Verhalten der winzigen Replikatoren findet, aus denen die Lebewesen aufgebaut sind. Anschließend wies er darauf hin, dass allein wir Menschen die Macht haben, uns über das Diktat unserer egoistischen Replikationsmoleküle hinwegzusetzen, uns selbst und die Welt in die Hand zu nehmen, unsere Zukunft zu konzipieren und sie dann zu beeinflussen. Als erste Spezies sind wir in der Lage, unegoistisch zu sein. Das ist eine Art Weckruf. Und da liegt die Tragödie: Statt anschließend seine vielfältigen Begabungen der Aufgabe widmen zu können, die Menschen zu ermahnen, damit sie das kostbare Attribut ihres Bewusstseins und die stetig wachsenden Erkenntnisse von Wissenschaft und Vernunft nutzen, um sich über die egoistischen Triebe unserer evolutionsbedingen Programmierung hinwegzusetzen, musste er einen großen Teil seiner Energie und Fähigkeit darauf verwenden, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Evolution wirklich wahr ist. Eine triste Aufgabe, vielleicht, aber irgendjemand musste sie übernehmen, denn »die Natur kann niemanden verklagen«, wie er es formuliert. Und wie er in einem der hier wiedergegebenen Aufsätze anmerkt: »Aber ich habe seither gelernt, dass strenger gesunder Menschenverstand für große Teile der Welt keineswegs auf der Hand liegt. Manchmal ist es sogar notwendig, den gesunden Menschenverstand mit nicht nachlassender Wachsamkeit zu verteidigen.« Richard Dawkins ist nicht nur der Prophet der Vernunft, er ist auch unser unermüdlicher Wächter.

Dass in Verbindung mit Sorgfalt und Klarheit so viele brutale Adjektive – »unerbittlich«, »gnadenlos«, »erbarmungslos« – gebraucht werden, ist eine Schande, sind Richards Prinzipien doch durch und durch von Mitgefühl, Großzügigkeit und Freundlichkeit durchtränkt. Selbst seine Kritik ist nicht nur streng im Urteil, sondern auch von bissiger Witzigkeit, so wenn er in einem Brief an den Premierminister die Baroness Warsi erwähnt, »Ihre Ministerin ohne Geschäftsbereich (und ohne Wahl)«, oder wenn er einen fiktiven Blair-Gefolgsmann auftreten lässt, der sich für den Einsatz seines Chefs für die religiöse Vielfalt engagiert: »Wir werden die Einführung von Scharia-Gerichten unterstützen, aber nur auf rein freiwilliger Basis – nur für diejenigen, deren Ehemänner und Väter sich aus freien Stücken dafür entschieden haben.«

Ich bevorzuge klare Bilder: Prägnanz, kriminalistische Aufmerksamkeit für Logik und Details, durchdringende Ausleuchtung. Und ich bezeichne einen solchen Schreibstil nicht als schlagend, sondern eher als sportlich – er ist nicht nur ein Instrument der Kraft und Stärke, sondern auch einer Flexibilität, die sich auf praktisch jeden Leser, jedes Publikum und jedes Thema einstellen kann. Es gibt wahrlich nicht viele Autoren, denen es gelingt, Kraft und Raffinesse, Wirkung und Präzision mit so viel Eleganz und Humor zu verbinden.

Zum ersten Mal arbeitete ich mit Richard Dawkins vor über zehn Jahren bei The God Delusion (dt. Der Gotteswahn) zusammen. Wenn diejenigen, die die hier folgenden Seiten lesen, nicht nur die gedankliche Klarheit und die leichte Ausdrucksweise des Autors zu schätzen wissen, die Furchtlosigkeit, mit der er sehr großen Elefanten in sehr kleinen Räumen gegenübertritt, die Energie, mit der er sich der Erläuterung des Komplizierten und Schönen in der Wissenschaft widmet, sondern ein wenig auch die Großzügigkeit, Freundlichkeit und Höflichkeit, die meinen Umgang mit Richard Dawkins in den Jahren seit unserer ersten Zusammenarbeit stets geprägt haben, hat der vorliegende Band eines seiner Ziele bereits erreicht.

Ein weiteres Ziel ist erreicht, wenn sich ein Zustand einstellt, der in einem hier wiedergegebenen Aufsatz sehr treffend beschrieben wird: »Harmonische Teile gedeihen in ihrer gegenseitigen Gegenwart, und daraus erwächst die Illusion eines harmonischen Ganzen.« Ich glaube sogar, dass die Harmonie, die aus dieser Sammlung erwächst, keine Illusion ist, sondern das Echo einer der lebhaftesten und lebendigsten Stimmen unserer Zeit.

TEIL I

Wert(e) der Wissenschaft






Wir beginnen beim Kern der Sache: der Wissenschaft. Was ist sie, was macht sie, wie betreibt man sie (am besten)? Der Vortrag, den Richard 1997 bei den Oxford Amnesty Lectures hielt, trug den Titel »Die Werte der Wissenschaft und die Wissenschaft der Werte«. Mit dieser Verschränkung der Begriffe deckte er ein riesiges Terrain ab und verfolgte mehrere Themen, die in der vorliegenden Sammlung an anderer Stelle weiterentwickelt werden: den überragenden Respekt der Wissenschaft für objektive Wahrheit, das moralische Gewicht, das der Leidensfähigkeit beigemessen wird, und die Gefahren des »Speziesismus«, die wichtige Unterscheidung, »ob man mit rhetorischen Mitteln deutlich machen will, was nach eigener Überzeugung wirklich der Fall ist, oder ob man sich der Rhetorik bedient, um das, was wirklich der Fall ist, wissentlich zu verschleiern«. Das ist die Stimme des Wissenschaftsvermittlers, der entschlossen daran festhält, sich der Sprache zu bedienen, um die Wahrheit mitzuteilen, und nicht, um eine künstliche »Wahrheit« zu erschaffen. Schon der allererste Absatz trifft eine wichtige Unterscheidung: Das eine sind die Werte, die der Wissenschaft zugrunde liegen, ein stolzes, kostbares System von Prinzipien, die es zu verteidigen gilt, weil von ihnen der Fortbestand unserer Zivilisation abhängt; ein ganz anderes, verdächtigeres Unternehmen sind die Versuche, Werte aus wissenschaftlichen Kenntnissen abzuleiten. Wir müssen den Mut haben, uns einzugestehen, dass wir von einem ethischen Vakuum ausgehen, dass wir unsere eigenen Werte erfinden.

Der Autor dieses Vortrags ist kein faktenverhafteter Gradgrind, kein trockener Erbsen-(oder Knochen-)zähler. Die Passagen über den ästhetischen Wert der Wissenschaft, die poetische Vision eines Carl Sagan, Subrahmanyan Chandrasekhars »Erschaudern vor dem Schönen« sind Musterbeispiele für Leidenschaft und Begeisterung angesichts der Pracht, der Schönheit und der Möglichkeiten einer Wissenschaft, Freude in unser Leben und Hoffnung in unsere Zukunft zu bringen.

Anschließend wechseln wir sowohl das Tempo als auch die Plattform, und die Sprachebene verschiebt sich vom Ausführlichen, Nachdenklichen zum Prägnanten und Pointierten, das heißt zu dem, was ich mir gern als »Dawkins-Pfeil« vorstelle. Hier verfolgt Richard mit eiserner Höflichkeit mehrere Aussagen weiter, die er in seinem Amnesty-Vortrag vertreten hat: Er erinnert Großbritanniens nächsten Monarchen daran, wie gefährlich es ist, sich nicht von evidenzbasierter Wissenschaft, sondern von einer »inneren Weisheit« leiten zu lassen. Wie es für ihn typisch ist, entbindet er die Menschen nicht davon, ihr Urteilsvermögen im Hinblick auf die Möglichkeiten einzusetzen, die Wissenschaft und Technologie bieten: »Die hysterische Opposition wegen möglicher Risiken gentechnisch manipulierter Nutzpflanzen hat den beunruhigenden Aspekt, dass sie die Aufmerksamkeit von den tatsächlichen Gefahren ablenkt, die bereits gut bekannt sind, aber im Wesentlichen ignoriert werden.«

»Wissenschaft und Sensibilität«, der dritte Aufsatz in diesem Abschnitt, ist wiederum ein ausführlicher Vortrag, der mit einer charakteristischen Kombination aus Bedeutungsschwere und Brillanz gehalten wurde. Auch hier erleben wir eine messianische Begeisterung für Wissenschaft – die aber durch die nüchterne Betrachtung der Frage gedämpft wird, wie weit wir zur Jahrtausendwende hätten kommen können und welche Strecken wir noch nicht zurückgelegt haben. Wie es für ihn typisch ist, wird dies nicht als Rezept für Verzweiflung präsentiert, sondern als Ansporn zu verdoppelten Anstrengungen.

Und woher kommt all diese unstillbare Neugier, dieser Hunger nach Wissen, diese kämpferische Leidenschaft? Der Abschnitt schließt mit »Dolittle und Darwin«, einem liebevollen Rückblick darauf, wie die Werte der Wissenschaft in die Erziehung eines Kindes eingeflossen sind – einschließlich einer Lektion zur Unterscheidung zwischen zentralen Werten und ihrer vorübergehenden historischen und kulturellen Färbung.

In allen diesen ganz unterschiedlichen Texten stechen die Kernaussagen deutlich hervor. Es ist nicht gut, den Überbringer der Nachricht zu erschießen, nicht gut, sich illusorischen Tröstungen hinzugeben, nicht gut, das Ist mit dem Sollte zu verwechseln oder mit dem, was uns vielleicht lieb wäre. Letztlich sind es positive Aussagen: Die klare, nachhaltige Konzentration auf die Frage, wie Dinge funktionieren, führt in Verbindung mit der intelligenten Fantasie des unheilbar Neugierigen zu Erkenntnissen, die inspirieren, herausfordern und anregen. So entwickelt sich Wissenschaft immer weiter, das Verständnis wächst, die Kenntnisse erweitern sich. Zusammengenommen bilden diese Texte ein Manifest der Wissenschaft und einen Aufruf, für sie zu kämpfen.

G. S.