Neue Politik für Deutschland und die SPD
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© Börsenmedien AG, Kulmbach
Foto: Remmer, Rote Straße 8, Flensburg
Gestaltung Cover: Holger Schiffelholz
Gestaltung, Satz und Herstellung: Martina Köhler
Lektorat: Karla Seedorf
Korrektorat: Philipp Seedorf
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86470-611-0
eISBN 978-3-86470-612-7
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Vorwort von Nicolas Jähring
Kapitel 1: Warum dieses Buch?
Kapitel 2: Wer ich bin
Kapitel 3: Was mich antreibt
Kapitel 4: Wie ich mich für den Bundesvorsitz bewarb
Kapitel 5: Deutschlandtour – Wie ich die SPD an der Basis erleb(t)e
Kapitel 6: Wie ich mich beim Bundesvorstand vorstellte und den Bundesparteitag erlebte
Kapitel 7: Weshalb wir neue Strategien brauchen
Kapitel 8: Wie uns die Agenda-Politik bis heute bestimmt
Kapitel 9: Was Finanzpolitik mit Gerechtigkeit zu tun hat
Kapitel 10: Krankheit und Rente – Wie wir ein 130 Jahre altes System an unsere Lebenswirklichkeit anpassen sollten
Kapitel 11: Flucht und Einwanderung – Weshalb Integration nur in Freiheit gelingen kann
Kapitel 12: Warum unsere Zukunft von unserer Bildung abhängt
Kapitel 13: Was wir statt Hartz IV und ALG II brauchen
Kapitel 14: Deutschland und Europa: Weshalb es verändert werden muss, bevor es uns verändert
Kapitel 15: Ein Resümee für meine SPD
Ein lieber Dank
12. Februar 2018. Es ist Montagabend. Die neun und elf Jahre alten Kinder liegen schon im Bett und ich sitze mit Simone und zwei weiteren Freunden an ihrem Esstisch. Das Internet funktioniert nicht und trotzdem sind wir uns sicher, dass wir mit der Ankündigung der Kandidatur für den SPD-Parteivorsitz im April das Richtige tun.
Ich kenne Simone seit fast zehn Jahren. Wir fühlen uns beide im selben SPD-Ortsverein zu Hause. Ich habe sie bei der Kandidatur im Landtagswahlkampf 2012 und bei der Oberbürgermeisterwahl 2016 unterstützt. Sie hat mich auch bei meinen Kandidaturen unterstützt, auch wenn diese nicht so erfolgreich waren. Heute begleite ich sie als ehrenamtlicher Pressesprecher für ihre politischen Aktivitäten außerhalb des Rathauses.
Wir haben zusammen schon einige politische Höhen und Tiefen erlebt, und als Simone mir an diesem besagten 12. Februar mittags mal eben per WhatsApp mitteilte, dass sie für den Bundesvorsitz kandidieren möchte, wusste ich sofort: Das meint sie ernst, sie zieht das durch – und ich werde sie dabei unterstützen. Simone ist eine Macherin, sie lässt auf Worte gerne Taten folgen. Sie ist spontan, ehrgeizig und schnell. Manchmal ist sie zu schnell. Dann muss man sie bremsen. Ich kritisiere sie auch und oftmals nimmt sie die Kritik an.
Wir sind ehrlich zueinander und respektieren einander. Glücklicherweise verstehen sich unsere beiden Familien ebenfalls gut und zeigen Verständnis dafür, dass wir nachts um zwei noch Ideen austauschen. In diesen seltenen Momenten greift Simone gern einmal zur Zigarette, bei der sie ganz offensichtlich etwas zur Ruhe kommen kann. Simone ist selten ruhig. Sie ist stets ansprechbar und sehr aktiv. Wochenlang kommt sie mit wenig Schlaf aus und sie hält selbst das Unmögliche für machbar.
Nach langen Abendveranstaltungen braucht man nur das kleinste Anzeichen der Müdigkeit zeigen, schon setzt sie sich hinters Steuer, damit die anderen sich ausruhen können.
Ihren Elan und Optimismus schätze ich besonders.
Obwohl sie sich ein neues Auto finanzieren kann und in einer attraktiven Wohngegend mit nicht ganz günstigen Mieten wohnt, war sie sich nicht zu schade, im Frühherbst 2015 tage-, ja, monatelang am Flensburger Bahnhof zu stehen und ihre doch relativ kostbare Zeit damit zu verbringen, Busse und Unterkünfte mitzuorganisieren, geflüchteten Müttern ihre schreienden Kinder abzunehmen und diese in den Schlaf zu wiegen. Simone hat wenig Berührungsängste und ein großes Herz. Das zeichnet sie und ihre konsequent herzbetonte Politik aus. Sie weiß, wie gut es ihr geht, aber sie weiß auch, dass dies, wenn wir nicht bald in diesem Land etwas grundsätzlich ändern, ein Privileg sein wird. Sie ist sich im Klaren darüber, dass es Menschen gibt, denen es schlechter geht als ihr. Viel schlechter. Und seit ich sie kenne, nutzt sie ihre privilegierte Stellung (die sie selbst gar nicht als Privileg empfindet), um sich dafür einzusetzen, dass es allen Menschen in diesem Land besser geht.
Simone hat viele Ideen und Vorstellungen für ein besseres und gerechteres Deutschland. Einige dieser Ideen hat sie hier aufgeschrieben. Zu diesem Buch habe ich sie ermuntert und ich freue mich daher umso mehr, das Vorwort dazu beisteuern zu dürfen. Nach der Lektüre sind mir wieder einmal die Gründe klar geworden, warum ich Simone unterstütze.
Jetzt möchte ich aber, dass Sie sich selbst ein Bild davon machen.
Viel Spaß beim Lesen,
Ihr Nicolas Jähring,
Sozialdemokrat und Freund in der Hoffnung
auf eine neue, bessere Politik
Nicolas Jähring ist 34 Jahre alt, hat zwei Kinder und lebt mit seinem Partner in Flensburg. Er ist ausgebildeter Systemgastronom, hat viele Jahre in einem Schnellrestaurant gearbeitet, später in Dänemark als Briefträger, bevor er dort Opfer einer größeren Digitalisierungsstrategie wurde. Nach kurzer Arbeitslosigkeit nahm er ein Stellenangebot in einem Callcenter an. Nicolas ist einer von vielen, die aktuell mit weniger als 1.200 Euro ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen.
Liebe Genossinnen und Genossen,
wie so viele habe ich in den letzten Tagen die Diskussion um die Neubesetzung des Bundesvorsitzes unserer Partei verfolgt. Ich kann das Gefühl der Ohnmacht vieler Mitglieder gegenüber denen, die in Berlin Entscheidungen treffen, ohne die Basis einzubeziehen, sehr gut nachvollziehen.
Das Amt der Bundesvorsitzenden ist von weitreichender Bedeutung für die Partei und das gesamte Land und darf nicht von einer kleinen Gruppe intern festgelegt werden. Ich finde, es sollte eine offene Diskussion um die Besetzung geben. Jedes Mitglied muss die Möglichkeit haben, sich über Kandidatinnen und Kandidaten zu informieren und seine oder ihre Meinung dazu abzugeben. Eine Einzelkandidatur, die von Funktionsträgerinnen und -trägern beschlossen und ohne große Diskussion durchgewinkt wird, kann kein Zeichen für einen Aufschwung oder einen Neuanfang sein. Sie wird nur das Ohnmachtsgefühl vieler bestätigen.
Ich werbe für eine Basiskandidatur und möchte den Mitgliedern wieder eine Stimme geben und sie an diesem Entscheidungsprozess ernsthaft beteiligen. Ich möchte der Partei eine Wahl ermöglichen. Das wäre ein erster Schritt, den Mitgliedern wieder das Gefühl zu geben, dass sie es sind, die die Stimmung und die Richtung der Partei bestimmen. Ein erster Schritt, die SPD wieder zu dem zu machen, was sie einst war: eine stolze Partei der sozialen Gerechtigkeit.
Ich habe mich daher entschlossen, mich für das Amt der Bundesvorsitzenden zu bewerben, und möchte euch als Erste darüber in Kenntnis setzen. Viele von euch haben mich dazu ermutigt, andere haben mich auf das hingewiesen, was daraus folgen kann. All denen möchte ich an dieser Stelle noch einmal danken. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Schritt jetzt notwendig ist, denn mutige Politik braucht mutige Entscheidungen.
Viele Grüße
Eure Simone Lange
Schreib ein Buch, das uns Mut macht und der SPD neuen Schwung verleiht”, sagte eine gute Freundin direkt nach dem Bundesparteitag am 22. April 2018 in Wiesbaden zu mir. Ich soll ein Buch schreiben? Das haben doch schon genügend andere getan! Buschkowsky, Schröder, Gabriel, Schulz – sie alle haben über die SPD geschrieben. Während ich ihr Ansinnen abwehre, steigt in mir die Lust auf, es zu versuchen. Ja, warum eigentlich nicht?
Jetzt erst recht – eine Einstellung, die mir schon so oft im Leben wegweisend war.
Ich will den Versuch wagen, für einen menschlichen Umgang zu werben und davon zu erzählen, wie man es schaffen kann, mehr Herz und Mitmenschlichkeit in die harte Regierungsarbeit zu bringen. Und wie notwendig es ist, die Menschen wieder zu erreichen, ihnen Wohlstand und Freiheit zurückzugeben, statt sie durch eine Politik der Angst einzuschüchtern.
Ich möchte erzählen von meinem Leben in der DDR, von einem Systemwechsel, wie er größer nicht sein konnte. Ich möchte erzählen von meiner fast 15-jährigen Berufserfahrung als Polizistin, von meinen Erfahrungen als zweifache Mutter und Frau. Und ich möchte erzählen von meiner Vorstellung einer Welt, in der Menschlichkeit regiert und wir Gewinn nicht allein über Zahlen definieren und Macht nicht über Ängste.
Seit geraumer Zeit herrschen diverse Ängste über die Welt. Ich weiß, was Menschen aus oft unbegründeter Angst zu tun in der Lage sind. Polizisten erleben dies täglich und könnten Bücher füllen mit Geschichten aus dem Leben, wie sie sich Kriminalautoren nicht besser ausdenken könnten.
Ich weiß, wie verführbar Menschen sind und wie groß der Einfluss von Geld und Macht auf unseren Verstand ist. Angst ist eine Emotion, die jederzeit erzeugt werden kann, auch wenn objektiv gar keine Gründe dafür vorliegen. Heutzutage wird dieses Gefühl aus politischem Kalkül heraus geschürt, um persönliche Macht und Kontrolle zu erhalten. Deswegen ist Angst das Demokratierisiko Nummer 1. Schon oft wurde sie von den Herrschenden dieser Welt für Machtfragen instrumentalisiert, und zwar stets auf Kosten der Menschlichkeit – nicht selten forderte dies sogar Menschenleben, etwa in der NS- und in der DDR-Diktatur.
Deshalb sage ich, habt Mut zur Menschlichkeit und Mut zu Empathie, habt Mut, auch aus den dunkelsten Flecken unserer Geschichte die richtigen Schlüsse zu ziehen, habt Mut, euch zu versöhnen und gut miteinander umzugehen.
Das beschreibt in Kurzfassung das, was mich antreibt, was mir jeden Tag aufs Neue die Kraft gibt, Politik für Menschen zu machen. Es geht mir nicht bloß um Geld und Macht.
Ich möchte auch davon erzählen, weshalb wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten es den Kritikern oft so leicht gemacht haben, uns in die Bedeutungslosigkeit zu schreiben. Wie ist es möglich, dass aus einer so wichtigen gesellschaftlichen Idee, der sozialdemokratischen Idee, eine die Menschenwürde verletzende Politik erwachsen kann? Und wie kann es gelingen, wiedergutzumachen, zu versöhnen und zu befrieden?
Dieses Buch liegt nun in Ihren Händen. Nicht von einem der üblichen Polit-Zampanos geschrieben, nicht einmal von einer Funktionärin, die seit 30 Jahren ihren Weg in der Partei geht, über die sie jetzt schreibt. Nein, dies ist mein Buch, entstanden aus meiner Leidenschaft, es ist meine Herzensangelegenheit, es spricht von meiner Motivation und meiner Entscheidung, mich ein Leben lang für mehr Menschlichkeit in der Politik einzusetzen.
Ich lebe nach der Prämisse „‚Geht nicht‘ gibt’s nicht.“ und antworte auf den Spruch „Das haben wir aber immer so gemacht!“ mit den Worten: „Dann wird es Zeit, dass wir es anders machen.“
Den Verlust von mehr als zehn Millionen sozialdemokratischen Wählerstimmen in den letzten 20 Jahren will ich nicht hinnehmen. Sicherlich hat dies auch Ursachen, gegen die wir als Partei machtlos sind. Aber es gibt viel mehr gute Gründe, die wir selbst zu verantworten haben. Hier will ich ansetzen, hier müssen wir etwas ändern. Und dabei geht es wirklich um Veränderung und nicht darum, Schuld zuzuweisen oder sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen.
Dies hier ist ein optimistisches Buch, das von Veränderung handelt und hoffentlich Anstöße dazu gibt. Anstöße für Leserinnen und Leser, was wir tun können und tun sollten. Das ist nämlich das Entscheidende, das offenbar niemand zur Kenntnis nehmen will: Veränderung findet nicht mehr in geschlossenen Machtzirkeln, in Hinterzimmern und mittels Seilschaften statt. Veränderung geht heutzutage nur ganz transparent und vor Ort. Angestoßen von Menschen wie dir und mir. Von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, aber auch von Menschen, die davon überzeugt sind, dass Deutschland wieder eine starke und durchsetzungsfähige sozialdemokratische Partei braucht.
Mit all denen zusammen, also mit Ihnen, die jetzt dieses Buch lesen, will ich nicht nur meine Partei, unsere SPD, verändern, sondern eine neue Politik beschreiben, die wieder selbstbewusst und mit klarem sozialen Profil Wahlen gewinnt. Und der einzig richtige Zeitpunkt, damit anzufangen, ist: jetzt!
Vor genau 42 Jahren wurde ich in der DDR im thüringischen Rudolstadt als erstes Kind meiner damals 19-jährigen Mutter geboren. Ich wuchs behütet auf, meine Eltern würde ich als sehr arbeitsame, pflichtbewusste und disziplinierte Menschen charakterisieren. Hätte ihnen im Oktober 1976, am Tag meiner Geburt, jemand meinen Lebensweg vorhergesagt, sie hätten ihn wohl für verrückt erklärt. 40 Jahre später sehen Deutschland und die Welt ganz anders aus, als sie sich das vorgestellt hätten.
Mein Vater wurde in der DDR zum Laboranten ausgebildet, meine Mutter studierte Ingenieur-Pädagogik, als ich zur Welt kam. Sie sind bis heute sehr bescheiden geblieben. Im zauberhaften Rudolstadt wohnten wir in einer Doppelhaussiedlung mit großem Garten. Meine Mutter und meine Oma, mit der wir unter einem Dach lebten, konnten beinahe den gesamten Obst- und Gemüsebedarf der Familie durch Selbstanbau decken. Der Zusammenhalt in der Gemeinde war enorm. Statusunterschiede gab es kaum und das durch das DDR-Regime vorgegebene Kollektivleben schweißte uns alle zu einer großen Gemeinschaft zusammen. Erst sehr spät erkannte ich, dass das System der Bevormundung aus uns allen Kinder gemacht hatte. Niemand war allein und niemand durfte allein entscheiden, leben oder gar denken. Bis heute bin ich froh, dass ich bereits im Teenageralter den Weg in die Demokratie gehen durfte.
Schon kurz nach meiner Geburt ging meine Mutter wieder zur Arbeit. Frauen blieb damals gar nichts anderes übrig. Meine Mutter erhielt für mich einen Platz in der nahe gelegenen Krippe, und genauso handhabte man das sechs Jahre später, als mein Bruder zur Welt kam. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um die heute so viel Wind gemacht wird, war, wenn auch alternativlos, in der DDR gelebter Alltag.
Mit Politik beschäftigte ich mich zum ersten Mal, kurz bevor ich dreizehn Jahre alt wurde. Gezwungenermaßen, denn das Land, in dem ich geboren wurde und bis zu diesem Zeitpunkt gelebt hatte, löste sich auf. Die DDR sollte schon bald Geschichte sein.
Ob zu Hause, in der Schule oder im Freundeskreis, überall wurde natürlich über den Mauerfall im Herbst 1989 und seine Folgen diskutiert. Damals war mir nicht klar, dass ich zu einer besonderen Spezies gehörte: zu denen, die in der DDR geboren und aufgewachsen waren, dann aber in einem wiedervereinigten Deutschland ihr Leben gestalten würden.
Bis heute sind mir noch die Mauern gewärtig, deren Verlauf sich an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten bis 1989 orientierte. Und bis heute unterscheiden sich die neuen Bundesländer von den alten in ihrer Biografie, in den Löhnen und Gehältern und oft bezüglich der Stadt- und Landentwicklung.
Es ist nicht nur das Wahlverhalten, das diesseits und jenseits dieser Mauern voneinander abweicht, und auch nicht nur das Rentenniveau. Das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten erfolgte von Anfang an nicht auf Augenhöhe und verursachte Ungerechtigkeiten, die bis heute spürbar und leider auch fest in den Erinnerungen der Menschen verankert sind. Tragisch genug, dass Parteien und Regierungen noch heute, fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, „Ostbeauftragte“ brauchen, damit die Interessen der Menschen, die in den neuen Bundesländern leben, halbwegs angemessen vertreten sind.
Ich werde nicht in den Chor derer einfallen, die über die Zustände jammern, die den Wegzug der Jungen und Qualifizierten beklagen und nach Hilfe für die Übriggebliebenen rufen. Ich bin der Ansicht, die Menschen in den neuen Bundesländern sind sehr wohl in der Lage, ihre Situation selbst zu verbessern – wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt und die äußeren Bedingungen gerecht gestaltet.
In der Wendezeit nach 1989 hat die Politik den Fehler gemacht, vielen Menschen aus der ehemaligen DDR ihre Lebensleistung abzuerkennen. Bis heute kann mir niemand erklären, warum meine Eltern eines Tages für ein Jahr Arbeit in der DDR weniger Rente bekommen sollen als ein Paar, das zur selben Zeit eine absolut vergleichbare Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland gemacht hat. Ganz unabhängig von den Summen, um die es hier geht, ist das ein Angriff auf die Würde all derer, die ihr Erwerbsleben zu einem großen Teil in der DDR verbracht haben.
Zwei Wochen nachdem ich 1995 mein Abiturzeugnis in der Tasche hatte, ging es für mich beruflich in den Westteil des Landes, nach Kiel-Altenholz in die Nähe der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt. Dort begann ich ein Studium, das ich 1998 als Diplomverwaltungswirtin, Fachrichtung Polizei, abschloss. Nach der Ausbildung als Schutzpolizistin hängte ich noch eine Ausbildung zur Kriminalbeamtin an und begann 1999 meine Dienstzeit in Flensburg.
Dass es mich in die nördlichste Stadt des Landes zog, war kein Zufall. Ich hatte während der Ausbildung meinen späteren Ehemann und Vater meiner wunderbaren Kinder kennengelernt und mich wegen ihm dorthin beworben. 13 Jahre lang war ich in Flensburg bei der Kripo tätig, zeitweise zuständig für den gesamten nördlichen Landesteil.
Es war eine Zeit, die mich bis heute geprägt hat. Schon nach kurzer Zeit wurde ich im Kommissariat für Sexualdelikte, Todesermittlungen und Branddelikte eingesetzt. Fünf Jahre lang war das, was wir sonst nur in den Schlagzeilen der Presse lesen, mein täglich Brot. Nach einer Weiterbildung war ich dann ab 2004 für die sogenannte „Weiße-Kragen-Kriminalität“, also für Wirtschaftskriminalität, zuständig.
Wie schon in meiner Thüringer Heimat beschäftigte ich mich auch in Flensburg mit Politik. Nachdem die rot-grüne Koalition nach den Bundestagswahlen 2002 den Plan für die Agenda 2010 auf den Tisch gelegt hatte, stieg mein Interesse für die SPD und 2003 wurde ich Parteimitglied. Nicht, weil Gerhard Schröders Agenda-Pläne mich begeistert hätten, sondern weil ich schon zu dieser Zeit das Gefühl hatte, dass in der großen Politik etwas zu kurz käme, was mir am Herzen lag: die Würde der Menschen. Das war einer dieser Jetzt-erst-recht-Momente. Ich bin nicht wegen, sondern trotz der Reformen der Nuller-Jahre in die SPD eingetreten, weil ich davon überzeugt war, dass es falsch ist, davonzulaufen. Dass nur durch Einmischung, durch das Einbringen eigener Kräfte Politik und Gesellschaft zum Besseren bewegt werden könnten.
Mein Eintritt in die SPD brachte mir auf der Dienststelle nicht wenig Häme ein. „Was willst du denn in der SPD?“ war noch einer der harmlosen Kommentare, am größten war jedoch die Verwunderung darüber, wieso ich überhaupt in die Politik ging. Schon damals war das etwas, was überwiegend als abstoßend galt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir überhaupt jemand zugetraut hätte, politisch erfolgreich zu sein. Meine nicht vorhandenen rhetorischen Fähigkeiten wurden ins Feld dafür geführt, dass ich auf diesem Gebiet keine Chance hätte. Ohnehin sei es in der Politik nicht möglich, seine eigene Meinung einzubringen, ohne dafür bestraft zu werden.
All diese Einwände bekam ich zu hören, und sie ärgerten mich. Trotzdem engagiere ich mich in der SPD bis heute für sozialdemokratische Ziele. Sicher hätten all jene damals jeden ausgelacht, der ihnen gesagt hätte, ich würde 2012 eine Landtagswahl und 2016 eine Oberbürgermeisterwahl gewinnen und als erste Frau nach 770 Jahre Stadtgeschichte das Amt der Oberbürgermeisterin in Flensburg annehmen.
Neben meinem Beruf als Polizistin betätigte ich mich bereits ab 2003 kommunalpolitisch in der SPD. Wie so viele andere übernahm ich Ämter und Funktionen im SPD-Ortsverein. Ob als Schriftführerin, als Beisitzerin oder als Vorsitzende im Ortsverein und im Kreisverband meiner Partei, ich war seit meinem Eintritt in die SPD immer aktiv. 2008 kandidierte ich bei der Kommunalwahl und zog als Ratsfrau in die Flensburger Ratsversammlung ein. 2007 und 2009 kamen meine beiden Töchter zur Welt. Und wie meine Mutter ging ich nach einem Jahr wieder zur Arbeit, obwohl es zu dieser Zeit in Flensburg keineswegs eine Selbstverständlichkeit war, für die beiden Mädchen einen Krippenplatz zu finden. Bis zwei Wochen vor Wiederaufnahme meiner Arbeit als Polizistin hatte ich für meine Erstgeborene keinen Betreuungsplatz und musste beinahe bis zur sprichwörtlich letzten Minute darum kämpfen.
Daraus folgte unter anderem, dass ich mich in der Kommunalpolitik sehr für die Belange junger Familien einsetzte. Von 2008 bis 2012 war ich Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses der Stadt Flensburg und engagierte mich für die Schaffung neuer Kitaplätze und die sogenannten „Frühen Hilfen“, Förder- und Unterstützungsmaßnahmen für die Jüngsten und ihre Familien, die notwendig sind, um echte Chancengerechtigkeit zu erreichen.
2012 gab es in Schleswig-Holstein vorgezogene Landtagswahlen. Drei Jahre vorher hatte die SPD den Direktwahlkreis Flensburg an die CDU verloren. Ich bewarb mich zunächst parteiintern um das Mandat und setzte mich gegen zwei männliche Mitbewerber durch. Dann stürzte ich mich in den Wahlkampf und schaffte es tatsächlich, auf Anhieb in den Kieler Landtag gewählt zu werden. Beruflich bedeutete das eine gewaltige Veränderung.
Mandatsträger in Parlamenten genießen zwar in Deutschland Kündigungsschutz für die Zeit, in der sie dem Parlament angehören, aber Landtagsabgeordnete ist eine Vollzeitbeschäftigung, neben der man keinen anderen Beruf mehr ausüben kann. Ich räumte also schweren Herzens meinen Schreibtisch bei der Flensburger Kriminalpolizei und bezog stattdessen ein Büro im Kieler Landeshaus.
Schon fünf Jahre später fand die nächste große Veränderung statt. 2016 stand in Flensburg die Oberbürgermeister/-innenwahl an. Freunde und Bekannte ermutigten mich, für dieses Amt zu kandidieren. Ich war anfangs etwas zögerlich. Anders als Bundes- oder Landtagsabgeordnete werden Oberbürgermeister in Schleswig-Holstein zwar direkt gewählt, können aber nach ihrer Amtszeit nicht mehr in ihren ursprünglichen Beruf zurückkehren. Ich musste mich also entscheiden, ob ich bereit war, gegebenenfalls meinen Beruf als Polizistin aufzugeben, der immer auch Berufung für mich war.