Darum geht es in diesem Buch:
Wien im Jahr 1921: Nach Jahren ohne Kontakt findet Dante seinen Schöpfer Alfio in einer Wiener Irrenanstalt wieder. Der Hemykin Alfio hat jegliche Erinnerung an sein altes Leben verloren, sogar seine eigenen Fähigkeiten sind ihm fremd geworden. Was ihm seit ihrer Trennung widerfahren ist, das kann er nicht sagen. Das einzige Indiz: eine ominöse Tätowierung auf seinem Arm. Gemeinsam mit einer Expertin für Unsterblichenkrankheiten suchen die beiden Wolfswandler nach Alfios verlorener Vergangenheit und decken dabei Ungeheuerliches auf. Am Ende muss Alfio sich nicht nur seinem größten Feind, sondern auch seinem schlimmsten Albtraum stellen. Die Zeit der Flucht ist endgültig vorüber!
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Copyright © 2018 Papierverzierer Verlag
Papierverzierer Verlag, Essen
Lektorat, Herstellung: Papierverzierer Verlag
Cover: Legendary Fangirl Design
ISBN 978-3-94952-336-0
www.papierverzierer.de
Damals …
New Orleans, Louisiana, Vereinigte Staaten von Amerika, 1909 n. Chr.
Seite an Seite gingen sie die Straße Richtung Port Nola hinunter. Als Alfio Dante vor einigen Tagen von seinem Entschluss erzählt hatte, Semjon Jaroslawitch aufzusuchen, unter der Hitze der prasselnden Flammen, die den Leichnam seines Dieners verzehrten, da hatte er nicht überrascht gewirkt. Es war der einzige Weg, und Dante wusste das. Der kapitale Blutsauger wollte ihn sehen, und Alfio würde ihm das Treffen nicht länger verweigern. Doch wenn sie aufeinandertrafen, würde es zu Alfios Bedingungen geschehen, nicht zu denen des alten Strigois. Er würde ihm nicht als sein Gefangener gegenübertreten, sondern als Ebenbürtiger.
»Hier sind Funars Reiseunterlagen.« Dante reichte Alfio ein schweres, dickes Kuvert aus teuer aussehendem Papier. Es war nicht verschlossen.
Alfio warf einen Blick hinein, blätterte durch die Fahrpläne und Billets. »Das sind viele Transportmittel.«
»Es ist ein weiter Weg.«
»Die Fahrkarten gelten nur für eine Person. Du begleitest mich nicht?«
»Mein Weg ist ein anderer. Ich hätte niemals fortgehen dürfen, das ist mir jetzt klar. Das Wiedersehen mit dir hat viele Wunden aufgerissen, aber es hat mir auch etwas Bedeutendes klargemacht: Ich bin dir schon jetzt ähnlicher, als ich jemals sein wollte. Das muss ein Ende haben. Ich will deine Fehler nicht wiederholen.«
Alfio nahm es nicht persönlich. »Eine weise Entscheidung.«
Unvermittelt wurde Dantes Stimme eindringlicher: »Es ist noch nicht zu spät, Alfio. Du kannst immer noch mit mir kommen. Zurück nach London. Zurück zu Shannon.«
Alfio schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht geht.«
»Natürlich nicht«, gab Dante bitter zurück. »Der weiße Wolf muss rennen. Vorwärts, nie zurück. Selbst wenn seine Beine gebrochen sind, muss er rennen, darf niemals stehen bleiben.«
»Es ist anders diesmal.«
Zu seiner Überraschung nickte Dante. »Ich weiß. Diesmal läufst du nicht vor etwas davon. Du läufst auf etwas zu. Stellst dich deinen Ängsten.« Er blickte Alfio ernst in die Augen.
»Ich hoffe, sie brechen dir nicht das Genick.«
1. Buch:
Verirrt
Flieht auch manche Illusion,
die dir einst dein Herz erfreut,
gibt der Wein dir Tröstung schon
durch Vergessenheit!
Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.
»Die Fledermaus«, Johann Strauss
I
Journal von Dr. Manfred Grauner
Nervenheilanstalt Rosenhügel, 12.03.1921
Die meisten unserer Patienten sind uninteressant. Wahn ist nicht kreativ, er ist vorhersehbar, ein Netzwerk wiederkehrender Muster wie in einem kundig gefertigten elektrischen Kreislauf. Manchmal allerdings, in vielleicht einem von hundert Fällen, begegnet man einem Patienten, der … interessant ist. Unvorhersehbar und undurchschaubar. Ein Enigma.
Nummer 62 ist ein solcher Patient. Er wurde vor einer Woche aus der Heilanstalt B. überführt. Seine Akte ist mager, es mangelt ihr an jeglicher persönlichen Information, ja, sie enthält nicht einmal seinen Namen. Das Personal in B. taufte ihn Weiß, eine Bezeichnung, die sich angesichts seiner Mähne ungezähmten schlohweißen Haares und seiner milchblassen Haut geradezu aufdrängt. Nummer 62 alias Weiß ist von imposanter Gestalt, ein Riese von über zwei Metern Körpergröße mit sehnigen Muskeln und einem schmalen, aristokratisch geschnittenen Gesicht, wie ein Wesen aus einer finsteren Fabel. Sein ungewöhnliches Erscheinungsbild hebt ihn sichtbar von den übrigen Patienten ab, allerdings würde das allein ihn noch nicht zu einem außergewöhnlichen Fall erklären. Sein psychisches Profil ist es, das ihn wahrhaft faszinierend macht.
Die Diagnose der Kollegen in B. lautet Amnesie, was den akuten Mangel an Informationen über den Patienten erklärt. 62 erinnert sich weder an seinen Namen noch an seine Herkunft. Es ist davon auszugehen, dass er kein gebürtiger Österreicher ist, denn sofern er überhaupt spricht, ist sein Deutsch durch einen nicht näher festzumachenden Akzent gefärbt. Möglicherweise aufgrund der Sprachbarriere ist 62 überaus unkommunikativ und wortkarg. In der Woche, die er sich nun bereits in dieser Einrichtung aufhält, hat er zusammengenommen kaum zehn Worte gesprochen. Dies gilt allerdings ausschließlich für den wachen Zustand. Seine Nächte hingegen sind hochaktiv.
Nummer 62 alias Weiß redet im Schlaf. Bislang war noch nicht festzustellen, ob es sich um Kauderwelsch oder eine tatsächliche Sprache handelt. Einer der Wärter war der Ansicht, Rhythmus und Sprachmelodie von seiner Zeit an der Isonzo-Front wiedererkannt zu haben, und behauptete, Weiß spreche Italienisch. Dies würde sich auch mit dem Verdacht einiger Kollegen decken, dass es sich bei Weiß um einen verirrten Kriegsgefangenen handle, der aufgrund seines Gedächtnisverlustes im Feindesland strandete. Kurz darauf erklärte der Wärter allerdings, er habe sich geirrt, er habe einen Kollegen gebeten, der die Sprache beherrscht, sich das Gebrabbel von Nummer 62 anzuhören, und der habe kein Wort davon verstanden. Es ist daher anzunehmen, dass es sich nur um sinnleere Silben handelt. Überaus bedauerlich, denn bestimmt wäre Weiß redseliger, würde man ihn in seiner eigenen Muttersprache adressieren.
Seiner Akte ist zu entnehmen, dass Nummer 62 zusätzlich zu seiner Amnesie an ausgeprägten Wahnvorstellungen leidet. Welcher Art diese Wahnvorstellungen sind, ist nicht vermerkt. Unser eigenes Personal konnte dergleichen bislang nicht beobachten, was allerdings nicht Weiß´ geistiger Gesundheit, sondern vielmehr dem Fehlen von Äußerungen jeglicher Art geschuldet ist, seien sie rational oder wahnhaft. Den Großteil des Tages verbringt er in einem Zustand der Katatonie, er interagiert weder mit Mitpatienten noch mit dem medizinischen Personal, es sei denn, er wird dazu genötigt. Das Pflegepersonal behauptet, er würde jegliche Nahrung verweigern. Unnötig hinzuzufügen, dass das medizinisch gesehen ausgeschlossen ist, andernfalls hätte er die vergangenen sieben Tage schwerlich überlebt. Festzuhalten ist jedoch, dass ihn bislang noch niemand bei der Nahrungsaufnahme beobachtet hat, was bei der engmaschigen Überwachung, die wir ihm auf meine Anordnung hin angedeihen lassen, durchaus bemerkenswert ist.
Anders als die meisten Patienten auf seiner Station ist Nummer 62 ein Quell des Gleichmuts. Während die übrigen Kranken, nicht wenige davon Zitterer und Hysteriker, leicht zu erregen sind, verliert Weiß niemals die Beherrschung. Selbst auf offene Provokationen und Handgreiflichkeiten anderer Patienten reagiert er mit Indifferenz. In dieser Hinsicht widerspricht er klar dem Krankheitsbild eines typischen Kriegsnervösen. Noch gilt es herauszufinden, ob dieses Verhalten auf seine Persönlichkeit oder vielmehr auf das Fehlen einer solchen (aufgrund eines Hirnschadens) zurückzuführen ist. Es gibt keine äußeren Anzeichen einer Schädelfraktur oder sonstiger Traumata, auch keine potenziellen Kriegsverletzungen, lediglich einige uralte, fast verblasste Narben, bei denen es sich um Messerstiche oder Bisse handeln könnte. Außerdem prangt auf seinem Unterarm eine ausgebleichte, wenig fachkundig gestochene Tätowierung, die ein bauchiges Symbol darstellt. Je nach Winkel der Betrachtung sind unterschiedliche Interpretationen möglich, es könnte sich um einen Huf oder um den Buchstaben D handeln, ein Halbmond oder die Zahl 0 lägen ebenfalls im Bereich des Möglichen. An mir nagt das intensive Gefühl, dass diese Tätowierung von Bedeutung ist, doch bislang war es mir nicht möglich, anhand des Zeichens irgendwelche Rückschlüsse auf Weiß´ Herkunft zu ziehen; das Symbol ist innerhalb des Pflegepersonals gänzlich unbekannt.
Bei Patient 62 zeigen sich weder Tremor noch Paralysen. Er ist, abgesehen von seiner psychischen Indisposition, in geradezu bemerkenswerter gesundheitlicher Verfassung. Kann er also überhaupt Kriegsdienst geleistet haben? Ist er womöglich ein Deserteur? Oder war er untauglich für den Dienst aufgrund seiner psychischen Störung? Ich habe mehrere Briefe nach B. geschrieben, um zu ermitteln, unter welchen Umständen Weiß in das Institut überstellt wurde, bislang allerdings keine Antwort erhalten.
Das Personal hat weiterhin Anweisung, mir über jeden ungewöhnlichen Zwischenfall betreffend 62 Bericht zu erstatten. Allein, wir stochern im Dunkeln.
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Wien, 25.03.1921
Geschätzter Kollege,
verbindlichsten Dank für die Zusendung des Nachtschlafprotokolls Ihres Patienten Nummer 62. Die Konsultation mehrerer kompetenter Kollegen brachte Klarheit und ermöglichte eine Aufschlüsselung des hochinteressanten Materials. Offenbar handelt es sich nicht um eine Sprache, derer Ihr Patient sich im Schlaf bedient, sondern um eine Vielzahl von Sprachen. Die phonetische Schreibweise erschwerte ein Entziffern des Gehalts, doch in Zusammenarbeit gelang es uns, das Protokoll in eine angemessene Form zu bringen (im Anhang zu Ihrer Begutachtung die bereinigte Version). Wie Sie dem beigelegten Dokument entnehmen können, machten wir folgende Sprachen aus: Englisch, Französisch, Italienisch, Tschechisch, Ungarisch, Russisch und Latein. Eine weitere Sprache konnten wir noch nicht näher identifizieren, es ist jedoch anzunehmen, dass es sich um eine Art Ureinwohnerdialekt handelt. Davon gibt es zahlreiche und nur eine verschwindend geringe Anzahl an Schriftzeugnissen, was eine nähere Bestimmung verkompliziert.
Sie schrieben, die Herkunft Ihres Patienten sei ungeklärt. Bedauerlicherweise sind wir mit dem vorliegenden Material nicht in der Lage, die Unklarheiten diesbezüglich auszuräumen. Es kann lediglich festgehalten werden, dass ein solches Ausmaß von Polylingualität bemerkenswert ist. Viele hochgebildete und lange studierte Kollegen äußerten sich neidvoll über die Sprachfähigkeiten Ihres Patienten.
Mein bescheidener Vorschlag für die weitere Vorgehensweise in dieser Causa: Beschaffen Sie sich kompetente Nutzer der betreffenden Sprachen und testen Sie sie der Reihe nach durch, um zu sehen, auf welche Ihr Patient am besten anspricht.
Unterrichten Sie mich umgehend, sollten Sie in dieser Angelegenheit zu neuen Erkenntnissen gelangen.
Hochachtungsvoll,
Prof. Dr. Heinrich Scheib
Universität Wien
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Gesprächsprotokoll
Station 4
Patientennummer: 62
Patientenname: »Weiß«
Datum: 04.04.1921
Zuständiger Arzt: Dr. Manfred Grauner
Sachverständige: J. Hilling, Dr. T. Vakov, P. Rathmann
Frage: Wie heißen Sie?
Weiß: Ich weiß nicht.
F: Woher kommen Sie?
W: Ich weiß nicht.
F: Wissen Sie, wo Sie sind?
W: … Gefängnis.
F: Sie sind in einer Anstalt für psychisch Kranke. Wissen Sie, warum Sie hier sind?
W: Krank.
F: Ja, Sie sind krank. Wissen Sie, was Ihnen fehlt?
W: Der Wolf. Der Wolf.
F: Ist Wolf ein Name?
W: gibt keine Antwort.
F: Haben Sie Familie?
W: Ich weiß nicht.
F: Haben Sie im Krieg gedient? Waren Sie an der Front? Für welche Seite haben Sie gekämpft?
W: Ich weiß nicht.
F: Wurden Sie verwundet?
W: unverständlich
F: Können Sie das wiederholen?
W: Der Wolf.
F: Erzählen Sie mir mehr über den Wolf. Wurden Sie von einem Tier angegriffen?
W: Das Tier …
F: Der Wolf ist ein Tier?
W: Der Wolf ist eine Bestie.
F: Wie meinen Sie das?
W: gibt keine Antwort.
Kommentar des behandelnden Arztes: Die Fragen wurden von den hinzugezogenen Sachverständigen auf Deutsch, Ungarisch, Französisch, Italienisch, Tschechisch, Englisch und Russisch gestellt, was keine relevante Variation in Ws Antworten erbrachte. Festzuhalten ist, dass W. in der Tat jede der Sprachen verstand und, im Rahmen seiner geistigen Möglichkeiten, schlüssige und grammatikalisch korrekte Antworten gab. Dies schließt den Erklärungsansatz aus, dass er im Schlaf lediglich memorierte Sprachfetzen reproduziert. Auch ist nach diesem Gespräch fraglich, ob Ws Mangel an Kommunikationsbereitschaft fehlendem Sprachverständnis anzukreiden ist.
W. reagierte ungewöhnlich emotional auf den Klang des Russischen, allerdings nicht, wie erhofft, im positiven Sinne, sondern mit einer für den Patienten atypischen Gereiztheit. Die Sitzung wurde daraufhin abgebrochen und W. wurden drei Einheiten Morphium verabreicht.
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Journal von Dr. Manfred Grauner
Nervenheilanstalt Rosenhügel, 18.04.1921
Der Zustand von Patient Nummer 62 ist unverändert. Meine Bemühungen, Informationen über die Umstände seiner Aufnahme von den Kollegen in B. zu beziehen, bleiben fruchtlos. Anders als bei unserem eigenen Institut handelt es sich bei B. um eine private Einrichtung, jemand muss also für Weiß die Rechnungen beglichen haben. Aber das Personal der Anstalt weigert sich, Auskunft darüber zu geben, wer die Kosten für Weiß´ Behandlung und Unterkunft übernommen hat, obwohl ich mehrmals darauf hingewiesen habe, dass diese Informationen für den Heilprozess meines Patienten unabdinglich seien. Ebenfalls verweigerte man mir die Auskunft darüber, wer Weiß´ Verlegung initiierte und weswegen.
Nachdem mehrere Briefe unbeantwortet geblieben waren, rief ich schließlich persönlich in B. an und ließ mich mit dem Leiter der Anstalt verbinden. Von diesem wurde mir auf den Kopf zugesagt, ich solle mich nicht in die Angelegenheiten seiner Einrichtung einmischen, er wisse ohnehin, dass Patienten in unserem Institut lediglich bis zu ihrem Exitus verwahrt würden und von Behandlung oder gar Heilung keine Rede sein könne, meine impertinenten Fragen seien also eindeutig nicht meiner Sorge um meinen Patienten geschuldet, sondern allein meiner persönlichen und indiskreten Neugier. Er drohte mir ernstliche Konsequenzen an, sollte ich diese Neugier nicht zukünftig in Zaum halten. Ehe ich mich ausreichend fassen konnte, um eine Antwort auf diese Frechheiten zu formulieren, hängte er auf.
Diese Beleidigung konnte ich selbstverständlich nicht auf sich beruhen lassen. Ich tauschte mich mit mehreren Kollegen meiner Fachrichtung aus und berichtete, auf welch empörende Weise ich behandelt worden war. So erfuhr ich, dass die Einrichtung wohl einen überaus suspekten Ruf genoss. Offenbar hatten bereits mehrere Kollegen ähnliche Erfahrungen mit B. gemacht wie ich. Neben der Unwilligkeit, Informationen über Patienten herauszugeben, mit der ich selbst schon Erfahrung gemacht hatte, berichtete man mir ferner von großen Summen, die in B. verschwanden, sowie von einem undurchsichtigen Aufnahmeprozedere und offensichtlich gefälschten Studien. Die Leitung in B. wechselt regelmäßig, die Geldgeber und Entscheidungsträger hinter dem Institut halten sich im Dunkeln. Je tiefer ich grabe, desto mehr Ungereimtheiten decke ich auf. Patienten, Ärzte, Personal, Gelder … B. verschluckt alles und breitet den Mantel des Schweigens darüber.
Heute Morgen lag ein Brief auf meinem Schreibtisch. Der Umschlag war völlig blank, ohne Namen oder Adresse eines Absenders. Das einzelne Blatt darin war maschinenbeschrieben und enthielt nur eine Zeile:
Dies ist Ihre letzte Warnung. Zügeln Sie ihre Neugier oder tragen Sie die Konsequenzen.
Keine Unterschrift – natürlich nicht –, und als ich meine Schreibkraft auf die Korrespondenz ansprach, behauptete sie, mir heute noch keine Post gebracht zu haben, sie wisse nicht, wie der Brief in mein Büro gelangt sei. Dennoch kann es keinen Zweifel geben, wem ich diesen charmanten Gruß zu verdanken habe.
Wenn die Anstaltsleitung von B. denkt, mich so leicht einschüchtern zu können, irrt sie sich. Mein Interesse ist nun erst richtig geweckt.
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Journal von Dr. Manfred Grauner
Nervenheilanstalt Rosenhügel, Datum 01.05.1921
Keine erkennbaren Fortschritte bei der Behandlung von Patient Nummer 62. Weiß ist lethargisch wie eh und je, seine Träume nach wie vor lebhaft. Wir sind dazu übergegangen, seine nächtlichen Äußerungen mit dem Phonographen aufzuzeichnen, in der Hoffnung, dadurch an brauchbare Informationen zu gelangen, aber die Übersetzung ist selbst in Zusammenarbeit mit der Universität mühselig und zeitaufwendig, das Ergebnis wenig aussagekräftig. Auch im Schlaf spricht Weiß vom »Wolf«, vom »Tier«, von der »Bestie« – Topoi, die wir bislang nicht zu entschlüsseln imstande waren. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, dass wir es nur mit bedeutungslosen Wahnideen zu tun haben, die uns keinerlei Aufschluss über seine Person oder gar die Umstände in B. geben können.
Ein weiteres wiederkehrendes Wort ist detvora, der russische Begriff für »Kinder«. Hat 62 Familie? Um das herauszufinden, haben wir vergangene Woche eine Anzeige in einer regionalen Zeitung mit einer Fotografie und der Bitte um Informationen geschaltet. Sollte ihn jemand erkennen und Kontakt mit ihm aufnehmen wollen, wird die Person sich bei uns melden. Allerdings ist es nach dem Stand unserer aktuellen Erkenntnisse unwahrscheinlich, dass Weiß´ Familie sich in Wien aufhält; ebenfalls ist nicht gesichert, ob etwaige Familie überhaupt Bedarf an einer Wiedervereinigung sieht. Vielleicht wurde Weiß nach B. abgeschoben, nachdem seine psychische Indisposition nicht mehr zu verstecken war, aus Scham vor dem Auge der Öffentlichkeit verborgen. So ergeht es nach wie vor vielen Patienten mit Geistesstörungen, es ist nur naheliegend, dass Nummer 62 in diesem Fall keine Ausnahme bildet.
Das Pflegepersonal berichtete wiederholt von der Sichtung eines großen Tieres auf dem Klinikgelände, wahrscheinlich ein streunender Hund. Die Patienten sind beunruhigt. Sie haben Weiß´ Reden vom Wolf aufgeschnappt und befürchten wohl, er könnte sie holen kommen wie im Märchen. Der Tierfänger wurde verständigt, wurde aber auf dem Gelände nicht fündig und zog unverrichteter Dinge wieder ab.
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Journal von Dr. Manfred Grauner
Nervenheilanstalt Rosenhügel, 14.05.1921
Empörend! Eben ertappte ich R., einen langjährigen Wärter auf dieser Station, der mein vollstes Vertrauen und das des Anstaltsleiters genoss, beim handschriftlichen Kopieren vertraulicher Patientenakten. Die betreffende Akte gehörte natürlich zu Patient Nummer 62. Was schreibe ich, natürlich? Natürlich oder selbstverständlich ist nichts an dieser Angelegenheit, Frage häuft sich auf Frage, Mysterium auf Mysterium.
Trotz der Weigerung R.s, irgendetwas zuzugeben, liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei ihm um die undichte Stelle handelt, die B. über mein Tun in Kenntnis setzte. R. muss auch für den anonymen Drohbrief verantwortlich gewesen sein, den ich auf meinem Schreibtisch vorfand. Dass es sich bei dem Überbringer dieser unerfreulichen Botschaft um einen Eingeweihten handelte, vermutete ich bereits. Doch welche neuen Erkenntnisse habe ich dadurch gewonnen?
R. kam nicht mit Weiß in dieser Anstalt an. Bedeutet das, dass er nachträglich infiltriert wurde? Oder wurde er bereits vorsorglich eingeschleust, Jahre vor der Verlegung von Nummer 62? R. verweigerte uns die Antworten auf diese Fragen.
Bei seiner Befragung fiel mir zum ersten Mal die verblasste Tätowierung an seinem Unterarm auf. Die Entdeckung jagte mir kalte Schauer über den Rücken, denn es handelte sich um dasselbe Zeichen wie jenes auf dem Unterarm von Weiß. Was aber bedeutet es? Auch dazu gab R. keine Auskunft.
»Ich nehme an, Sie werden mir erneut eine geschmacklose Warnung zukommen lassen?«, sagte ich, als klar wurde, dass dem Verräter keine Information abzupressen war.
»Zu spät«, behauptete er. »Sie hatten Ihre Warnungen. Nun erfolgt die Strafe.« Dabei grinste er, was bei mir ernste Zweifel über seinen eigenen Geisteszustand aufkommen ließ.
Die Polizei weigerte sich, R. in Gewahrsam zu nehmen; es läge keine Straftat vor. Doch ich weigere mich, ihn einfach so entwischen zu lassen.
Er hat die Antworten. Ich muss sie nur aus ihm herausholen.
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Journal von Dr. Manfred Grauner
Nervenheilanstalt Rosenhügel, 18.05.1921
Ich habe eine große Torheit begangen.
Nach der fruchtlosen Befragung des Verräters R. teilte ich der Anstaltsleitung mit, ich hätte ihn unehrenhaft entlassen und vor die Tür begleitet. Das war eine Lüge. R. hat das Klinikgelände in den vergangenen Tagen nicht verlassen. Ich katalogisierte ihn als Patient Nummer 63 und teilte ihm ein Bett zu. Im Kliniknachthemd und nach der einen oder anderen Dosis Morphium unterschied er sich nicht mehr sonderlich von den übrigen Insassen, und das Personal, das den Mann als ehemaligen Kollegen kannte, war leicht zum Schweigen zu bringen. Das Gehalt eines Wärters ist nicht besonders hoch, die meisten von ihnen sind dankbar für jede Möglichkeit, ihren Verdienst aufzubessern. Ironisch, wenn man bedenkt, dass R.s Verrat wohl aus ähnlichen Gründen seinen Anfang genommen hat.
Trotzdem vertraute ich keinem der Wärter genug, um ihn an den weiteren Befragungen R.s teilhaben zu lassen. Ich erspare mir eine genaue Beschreibung dieser Unterhaltungen. Sollten diese Aufzeichnungen je in die falschen Hände gelangen, diskreditiert mich die bisherige Schilderung bereits genug. Doch so viel sei gesagt: R. grinste nicht länger. Was noch viel wichtiger ist: R. schwieg nicht länger. Es war harte Arbeit, doch schließlich gab er mir einen Namen: Semjon Jaroslawitch. Russisch, wenn mich nicht alles täuscht. Allmählich fügen sich die einzelnen Teile zu einem Bild zusammen. Ich bin nur noch nicht sicher, was es darstellt.
Gewiss hätte ich ihm noch weitere Informationen abringen können, weitere Namen, Details, doch unglücklicherweise ist R. nicht mehr in der Lage, irgendetwas von seinem Wissen preiszugeben. Heute Morgen wurde er vom Personal tot in seinem Zimmer aufgefunden. Die körperlichen Anzeichen weisen auf eine Morphiumüberdosis hin. Vielleicht gelang es ihm trotz Schwäche und Drogenrausch, sich seines Wissens als ehemaliger Wärter zu besinnen und sich das Mittel zu beschaffen, doch ich bezweifle es. Ich denke, er hatte Hilfe.
Es war ein großer Fehler zu glauben, dass R.s Verrat ein Einzelfall war. Wie viele Mitglieder des Personals sind bereits infiltriert? Kann ich überhaupt noch jemandem trauen?
Ein weit größeres Problem, das sich mir nun stellt: Was tun mit der Leiche? Offiziell hat Patient Nummer 63 niemals existiert. Kann man den Tod von jemandem bekanntgeben, der nie wirklich gelebt hat? Es ist die Anstaltsleitung, die neue Patienten aufnimmt. Bei einer näheren Untersuchung, und die wird ein unvorhergesehener Todesfall nach sich ziehen, wird auffallen, dass etwas mit diesem Insassen nicht stimmt. Die offiziellen Wege sind zu riskant, also muss ich mich der sterblichen Überreste auf andere Weise entledigen. Noch gestern hätte ich mich dabei hilfesuchend an einen meiner Untergebenen gewandt, aber das wage ich nun nicht mehr. Ich traue ihnen nicht, keinem von ihnen. Je weniger sie über diese Angelegenheit wissen, desto sicherer ist es für mich.
Was also tun? Die Leiche hinausschaffen? Und dann? In der Welt außerhalb der Anstaltsmauern bin ich nur ein einfacher Mensch, der Gerichtsbarkeit hilflos ausgeliefert. Auf meiner Station bin ich mächtiger, sicherer. Ich muss den Körper hier entsorgen, und ich muss es allein tun.
Das sollte nicht allzu schwierig sein. Es gibt genügend Chemikalien, die Kochschinken schmelzen lassen wie Butter in der Sonne.
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Sehr geehrter Herr Dr. Grauner,
uns wurden diverse Beschwerden über die Leitung Ihrer Station zugetragen. Einige der Ihnen unterstellten Mitarbeiter zweifeln offensichtlich an Ihrer Eignung, die Ihnen anvertrauten Insassen weiterhin angemessen zu betreuen. Besonders Ihre Fixierung auf einen einzelnen Patienten, während so viele Ihrer Aufmerksamkeit bedürfen, wurde mehrfach kritisch erwähnt. Das Personal hat daher von uns das Zugeständnis erhalten, Ihre Anweisungen bezüglich der Beobachtung des betreffenden Patienten nach eigenem Ermessen zu ignorieren, sollten ihre Kräfte an anderer Stelle dringlicher benötigt werden.
Wir selbst beobachteten mit Missbilligung die horrenden Ausgaben, die Sie in den vergangenen Wochen getätigt haben und in keiner Weise zu rechtfertigen wussten. Der fahrlässige Umgang mit den Geldmitteln in einer Zeit wie dieser ist keinesfalls zu dulden.
Betrachten Sie dies als Ihre offizielle Warnung. Sollte sich keine baldige Besserung Ihrer Führungsqualitäten einstellen, sehen wir uns gezwungen, Ihre Stellung anderweitig zu besetzen.
Für die Anstaltsleitung
Dr. Friedrich Jotta
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Journal von Dr. Manfred Grauner
Nervenheilanstalt Rosenhügel, 25.05.1921
Die Patienten spüren, dass etwas nicht stimmt. Die Station gleicht einem Affenhaus: wildes Gekreisch und fliegende Exkremente. Die Wärter sind überfordert, manche erscheinen nicht mehr zur Arbeit. Ich kann mich nicht darum kümmern. Es gibt so viel Wichtigeres, das meiner Aufmerksamkeit bedarf.
Weiß ist der Einzige, der ruhig bleibt. Alle sind irrsinnig vor Furcht, aber er nicht. Nicht er. Er weiß, was kommt.
Und ich … weiß es auch.
Der Wolf. Ich habe ihn gesehen. Das Tier, das auf dem Anstaltsgelände herumschleicht. Es ist kein Hund. Ich bin nicht einmal sicher, ob es ein Tier ist.
Es beobachtet mich. Belauert mich. Gelbe Augen wie Eiter. Pelz wie Staubgespinst. Kein Tier, ein Geist. Ein Dämon. D wie Dämon. Ich habe die Zeichen gesehen, wenn auch nicht gleich verstanden. Aber jetzt verstehe ich. Jetzt sehe ich. Zuerst hat er Weiß´ Verstand gestohlen, nun ist er hinter meinem her. Aber mich wird er nicht in die Knie zwingen. Mich nicht.
Ich werde ihn fangen. Ihn zähmen.
Ich habe die Station seit Tagen nicht verlassen. Wann habe ich zuletzt geschlafen? Ich entsinne mich nicht. Nacht für Nacht sitze ich an Weiß´ Bett. Ich kann den Aufnahmen des Phonographen nicht trauen. Aufnahmen kann man manipulieren, so viel einfacher als Menschen, und ich muss hören, was Weiß zu sagen hat. Die Worte, die er im Schlaf stöhnt, sind eine Botschaft an mich. All die Sprachen, hinter denen er sich versteckt, sind nur Maskerade, eine billige Ablenkung, damit wir die Wahrheit nicht erkennen. Aber ich werde die Botschaft entschlüsseln.
Wolf.
Wolf.
Wolf.
Immer wieder Wolf.
Heute Nacht habe ich ihn wachgerüttelt. Habe von ihm eine Antwort verlangt, eine Erklärung. Der Wolf ist ihm gefolgt, hierher. Er hat ihn zu uns geführt. Er ist uns die Antwort schuldig. Zumindest das. Zumindest das! Was will der Wolf? Was will er von uns? Ich habe ihm die Frage ins Gesicht geschrien, immer wieder, bis ein Wärter kam und mich von ihm fortzog.
Weiß starrte nur. Starrte nur.
Und sagte ein Wort.
Manchmal ist ein Wort genug.
Manchmal ist ein Wort zu viel.
Er sagte: »Fressen.«