Ideologie und Aktionen
der Neuen Rechten
Editorische Bemerkung
Im Alltagsgebrauch hat sich die Selbstbezeichnung Identitäre Bewegung durchgesetzt. Herausgeber und Verlag haben sich daher entschieden, den Begriff der besseren Lesbarkeit wegen ohne Anführungszeichen zu verwenden, auch wenn uns bewusst ist, dass dies keine breite Bewegung, sondern ein Netzwerk ist.
Auf die Schreibung mit Binnen-I oder Gender-Gap wurde verzichtet, da das Netzwerk stark männlich dominiert ist.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
2., durchgesehene Auflage als E-Book, Februar 2020
Die 1. Druckauflage erschien im Oktober 2018.
© Christoph Links Verlag GmbH
Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Covergestaltung: Ch. Links Verlag, unter Verwendung einer Grafik von shutterstock (771592363)
eISBN 978-3-96284-437-1
Andreas Speit
APO von rechts?
Vorwort
Andreas Speit
Reaktionärer Klan
Die Entwicklung der Identitären Bewegung in Deutschland
Andreas Speit
Identitärer Aufbruch
Die Vorbilder und Vordenker aus Frankreich
Andreas Speit
Avantgarde rückwärts
Die geistigen Grundlagen der Identitären Bewegung
Stephanie Heide
Im Kampf gegen den Zeitgeist
Das Identitäre Zentrum in Halle
Carina Book
Identitäre »Kriegserklärung« an die plurale Gesellschaft
Vorbereitungen auf den Bürgerkrieg, Infokrieg in den Medien und reale Gewalt
Jean-Philipp Baeck
Unter einer Decke
Die Liebesaffäre von Identitären und AfD
Simone Rafael
Identitäre im Internet
Von Crowdfunding bis Meme Wars
Andrea Röpke
Alte Netzwerke für junge Kader
Die Verbindungen völkischer Familien zur Identitären Bewegung
Johanna Sigl
Identitäre Zweigeschlechtlichkeit
Über männliche Inszenierungen und Geschlechterkonstruktionen bei den Identitären
David Begrich und Jan Raabe
Tanz(t) die Reconquista?
Kultur und Musik in der Identitären Bewegung
Patrick Gensing
Zwischen PR und Realität
Die Wahrnehmung der Identitären Bewegung durch die Medien
Michael Bonvalot
Österreich als Warnung
Gründung, Aufstieg und internationale Bedeutung der Identitären Bewegung Österreich
Hinnerk Berlekamp und Jan Opielka
Nirgends eine Bewegung – überall Ideologie
Osteuropa: Identitäre in Konkurrenz zu anderen nationalistischen Strömungen
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Literatur- und Quellenverzeichnis
Register der Organisationen
Personenregister
Dank
Angaben zu den Autoren
Im weit rechten Milieu erfährt die Identitäre Bewegung breiten Zuspruch. Die Wochenzeitung Junge Freiheit, aber auch Zuerst! Deutsches Nachrichtenmagazin scheuen sich 2018 nicht vor der historischen Gleichsetzung mit der außerparlamentarischen Opposition (APO) der Studentenbewegung von 1968. Der Habitus der Identitären jenseits des ewig gestrigen Erscheinens, ihre Aktionen abseits des ständigen Aufmarschierens und ihre Slogans ohne plumpe Sprüche gefallen der Szene rechts von der Union. Das Bild von der Besetzung des Brandenburger Tors 2016 wurde zum Symbol der selbsternannten Bewegung. Keinem anderen Netzwerk aus diesem Milieu gelang es in den vergangenen Jahrzehnten, sich so provokant und politisch nachhaltig zu inszenieren. »Wir haben die Gesetze des Marketings, der sozialen Medien und des Gesellschaftsspektakels verstanden«, sagt ihr Vordenker Martin Sellner. Als »metapolitische Avantgarde« würden sie Aktionen der Studentenbewegung adaptieren, von »begrenzten Regelüberschreitungen« über »Spaßaktion« bis zu »zivilem Ungehorsam«, um so »Meinungsdogmen« und »Diskursräume« aufzubrechen und auszuweiten, erklärt er gegenüber der neurechten Wochenzeitung Junge Freiheit. Im Interview legt er das Konzept dar: »Wir richten uns an die zehn Prozent, die dissident denken, die kritisch nachfragen, nachbohren und entschlossen ›Stopp‹ sagen.« Schon »3,5 Prozent einer Bevölkerung mit einer kritischen Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Dogmen« genügten, damit »diese nicht mehr zu halten« seien. Der Herausgeber der weitrechten Zeitschrift Compact. Magazin für Souveränität, Jürgen Elsässer, meinte 2016, ihm käme Sellner »manchmal vor wie Rudi Dutschke«. Den Vergleich mit dem Wortführer der Studentenbewegung, der an den Spätfolgen eines Attentates durch einen Rechtsextremen 1979 starb, greift Sellner im Interview dankend auf: »Echte Kritik, die aufs Ganze geht, das hat auch Dutschke verstanden, kommt immer nur aus den an den Rand gedrängten Teilen der Gesellschaft. Heute sind Patrioten die am meisten unterdrückte, verleumdete, verlachte und verfolgte politische Gruppe«, behauptet er und meint, bei ihnen würde sich jetzt das »authentisch kritische Potenzial« sammeln, wozu »auch Leute wie Dutschke« gehörten.
Das zentrale Thema der jungen »Patrioten« ist die Angst vor dem Untergang des Abendlandes durch eine Islamisierung und die Sorge um einen »großen Austausch« der Bevölkerung. Dies verbindet sie mit den anderen Gruppierungen der Neuen Rechten vom Institut für Staatspolitik (IfS) des Götz Kubitschek über das Compact-Magazin von Jürgen Elsässer bis hin zur Alternative für Deutschland (AfD) unter Jörg Meuthen und Alexander Gauland. Die Identitären bilden eine junge Pressure-Group, die im gesellschaftlichen Raum mit popkulturellen Aktionen eine allmähliche Akzeptanz für eine nationalistische Weltsicht schaffen will, wonach jedes Volk, jede Ethnie eine eigene unveränderliche Kultur hätte, die nicht vermischt werden dürfe, sondern abgegrenzt voneinander leben sollte. Diesen Ethnopluralismus entwarf die Neue Rechte. Ihn durchzusetzen sei gerade für die junge Generation besonders dringlich, wie Martin Sellner in seinem Grundlagenwerk Identitär! Geschichte eines Aufbruchs 2017 hervorhebt: »Wenn wir es vergeigen, gibt es keine zweite Chance. Die europäischen Kinder, die heute geboren werden, werden bereits keinen politischen Kampf mehr führen können.« Sie würden in einen Rückeroberungskampf oder den »Untergang Europas« hineingeboren.
Eine derartige Endzeitstimmung, verbunden mit dem Endkampf, taucht im extrem rechten Denken immer wieder auf, wie Volker Weiß in Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes nachweist. Das »Abendland« sei längst ein Kampfbegriff geworden. Das Ethnokulturelle diene zur Verbrämung eines neu aufgelegten »Rassenkampfes«, betont der Historiker 2017. Bewusst greifen die Neuen Rechten auf die antiliberalen Denker der Konservativen Revolution aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und auf den italienischen Faschismus zurück.
In den ersten Jahren der Identitären, als sie sich ab 2012 in Österreich und Deutschland langsam etablierten, gelang es ihnen noch, dies halbwegs zu tarnen, eine politische Mimikry aufzuführen. Die verwendeten Motiven aus der Populärkultur und die kopierten Aktionsformen aus der Alternativszene überdeckten zunächst in der breiten Öffentlichkeit das ideologische Fundament von Blut und Boden. »100 % Identität – 0 % Rassismus« hieß ihr Slogan, der teilweise verfing – und zugleich verwirrte. Die Bezeichnung APO, die sie gern aufgreifen, ist eine weitere Mimikry-Form. Die ideologischen Unterschiede sollen verdeckt werden, ihre politischen Positionen als legitim erscheinen. Protest wird mit Protest gleichgesetzt, Kritik mit Kritik – so will Sellner Rudi Dutschke eingemeinden und möglichst gleich alle kritisch Denkenden. Ein Paradox: Denn zugleich werden »die 68er« verantwortlich gemacht für die »linksgrün versiffte Republik«, dominiert von den »Gutmenschen« und ihrer »Political Correctness«. Die mangelnde Stringenz der Argumentation stört jedoch nicht. Die politische Provokation ist allein entscheidend, geht es doch um die politische Resonanz in der Mitte der Gesellschaft. Die vergleichsweise geringe Zahl von geschätzt etwa 800 Aktivisten im Juli 2018 in Deutschland und Österreich darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die politischen Aktivitäten der Identitären in einen wachsenden Resonanzraum fallen, den sie selbst weiter ausdehnen. Ihr Unterstützerumfeld beläuft sich auf mehrere Zehntausend.
Vier Jahre nach den ersten »Abendspaziergängen« von Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) und nach den ersten Wahlerfolgen der AfD hat sich die Bundesrepublik spürbar politisch verändert. Eine soziale Bewegung von rechts richtet seit 2014 das bundespolitische Koordinatensystem neu aus. Diese Bewegung kommt nicht aus dem Nichts oder vom Rand, sie kommt zu einem großen Teil aus der Mitte einer nervösen Gesellschaft. Jene Herkunft ohne vermeintlich rechte Anrüchigkeit war die Voraussetzung, um das Sag- und Wählbare weit nach rechts zu verschieben – bis in den Bundestag. Erstmal zog mit der AfD nach 1945 eine Partei weit rechts von CDU / CSU mit einem zweistelligen Ergebnis in das Bundesparlament ein. Mit ihr kamen Helfer und Freunde aus der Gruppierung der Identitären, die nun Mitarbeiter der AfD-Abgeordneten wurden und als geladene Gäste bei Abendveranstaltungen ihre Themen im hohen Haus platzieren können.
Dieser Erfolg ist nicht allein durch ein parteipolitisches Agieren erzielt worden, sondern auch durch ein publizistisches Wirken. 2010 veröffentliche Thilo Sarrazin Deutschland schafft sich ab. Das Buch des renommierten SPD-Politikers mit rechten Ressentiments und biologistischen Positionen stieg zum Bestseller auf. »Sarrazin war ein Rammbock«, sagt Götz Kubitschek. Er sei »auf eine vorher nicht zu ahnende Weise durchgestoßen. Das war eine Resonanzbodenerweiterung für uns, Begriffe wurden ventiliert, die wir seit Jahren zuspitzen, aber nicht im Mindesten so durchstecken können, wie Sarrazin das konnte«, betont der Mitbegründer des neurechten Instituts für Staatspolitik. Aus dem Hintergrund heraus hat Kubitschek die Identitäre Bewegung maßgeblich mit vorangetrieben. Die rechten Verschiebungen mit den rhetorischen Einleitungen »das-muss-man-aber-doch-mal-sagen-können« oder »ich-bin-ja-kein-Rechter-aber« sind nicht bloß abstrakten Diskursen geschuldet.
Seit Jahren erfolgen aus Politik- und Sozialwissenschaften Warnungen vor den Auswirkungen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die mit der Globalisierung einhergeht. Die herrschende Politik entlässt den einzelnen Menschen in die individuelle Auseinandersetzung mit dem weitgehend unregulierten Markt. Das Motto, jeder Einzelne könne seine Chancen nutzen, verschweigt, dass nicht alle die gleichen Bedingungen haben. Dieser radikale Individualismus unterläuft jede solidarische Gesellschaft. Wo der soziale Staat sich zurückzieht, folgen Gruppenkämpfe und rechte Ressentiments. Die Empathie für die Mitmenschen sinkt. Es entsteht ein »Kältestrom«, vor dem der Sozialphilosoph Oskar Negt bereits vor mehr als zwanzig Jahren warnte. Die Langzeitstudien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die ein Team um den Soziologen Wilhelm Heitmeyer erarbeitet hat, belegen diesen Zusammenhang. Sie offenbaren außerdem, dass bundesweit ein rechtspopulistisches Potenzial von konstant 20 Prozent besteht. In ihrer Studie Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland zeigten Beate Küpper, Andreas Zick und Daniela Krause 2015, dass 20 Prozent der Befragten »eine ganz deutliche rechtspopulistische Haltung« haben und 42 Prozent zu »rechtspopulistischen Einstellungen« neigen, die sich gegen bestimmte soziale Gruppen richten – von Flüchtlingen und Muslimen über Sinti und Roma bis zu Homosexuellen und Frauen. Stück für Stück würde sich der Rechtspopulismus einschleichen, sagt Küpper, da die Gleichwertigkeit von verschiedenen sozialen Gruppen gesamtgesellschaftlich in Frage gestellt werde. Und die Sozialpsychologin warnt 2018 ebenso: »Wenn es dann heißt: Wir müssen die Sorgen der Bürger ernst nehmen – dann geht es weniger um die Sorgen derjenigen, die unmittelbar von Abwertung betroffen sind, beispielsweise eingewanderte Personen und Personen, die sich für Geflüchtete engagieren, sondern viel häufiger um diejenigen, die nicht nur Sorgen haben, sondern ihre Sorgen durchaus – nicht immer, aber manchmal – mit Hass und Hetze unterfüttern.«
Das rechte Milieu wurde neben der fortschreitenden sozialen Spaltung und der verstärkten Globalisierung durch die Auflösung einst stabiler geopolitischer Strukturen befördert, da dies starke Flüchtlings- und Migrationsbewegungen zur Folge hatte. Alle Untersuchungen verweisen in diesem Zusammenhang auf zwei wesentliche Faktoren, die Joachim Bischof und Bernhard Müller in ihrem Aufsatz in Neue soziale Bewegungen von rechts 2016 herausstellen: einerseits die Tendenz zur Erosion der sozialökonomischen Basis der unteren Mittelschicht und andererseits die wachsende Angst vor einem Statusverlust. Der rechte Populismus sei »eine Bewegung der unteren Mittelschicht in wohlhabenden kapitalistischen Gesellschaften«, so Bischof und Müller. Ihr Kampf ist denn auch der Verteilungskampf von weißen Männern mit Bildung und Besitz um das »verlorene Paradies« oder die bedrohte Idylle der eigenen Heimat.
In diesem Kampf ist die AfD das parteipolitische Gravitationsfeld, das Institut für Staatspolitik eines der ideologischen Zentren und die Identitäre Bewegung ein aktionistischer Anheizer. Daran änderten auch zeitweilige Rückschläge für die Bewegung kaum etwas. Ende Mai 2018 sperrten Facebook und Instagram die Seiten der IB in Österreich und Deutschland. Kurz zuvor waren schon diejenigen der Génération Identitaire in Frankreich, Vorbild der gesamten Bewegung, blockiert worden. »Organisationen oder Personen, die organisierten Hass verbreiten, sind weder auf Facebook noch auf Instagram erlaubt«, sagte eine Sprecherin des Unternehmens kurz und knapp.
Ein weiterer kurzfristiger Rückschlag wurde indes zu einem Erfolg für die Identitären. Im April 2018 führte die Staatsanwaltschaft Graz gegen die IB Österreich eine Razzia wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung und »Verhetzung« durch. Eine Anklage folgte. Knapp drei Monate später sprach das Landgericht Graz aber 16 Männer und eine Frau der IBÖ vom Vorwurf der »Verhetzung« und der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung frei. Zwei der Angeklagten verurteilte das Gericht wegen Sachbeschädigung, einen wegen Nötigung und Körperverletzung jeweils zu Geldstrafen von 240 und 720 Euro. »Wenn eine Organisation im Kernbereich legale Tätigkeiten ausübt, ist es keine kriminelle Vereinigung, auch wenn sich daraus Straftaten ergeben«, erklärte der Richter am 26. Juli. »Neuer Schwung für Widerstand« jubelte am selben Tag bereits der Verein Ein Prozent für unser Land. In Deutschland unterstützte der Verein die Identitären immer wieder – auch gleich nach der Durchsuchung.
Dieser Verein hat nach eigenen Angaben »über 40 000 aktive Unterstützer«. Der Zuspruch ihm Netz ist nicht minder groß, teilweise gar größer. Die Blogs, Vlogs und Webseiten offenbaren die tatsächliche Ausstrahlung. Allein auf YouTube hat Martin Sellner 39 000 Abonnenten. Den YouTube-Kanal Laut gedacht der IB-Kader Alex Malenki und Philip Thaler verfolgen regelmäßig 17 700 Nutzer. Einzelne Videos der Bewegung erreichen 150 000 Aufrufe.
Diesen selbsternannten »Partisanen« und »Dissidenten« des Geistes wird inzwischen vielerorts widersprochen und ihrer politischen Agenda offen begegnet. Bei den 42. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt wurde Feridun Zaimoglu am 1. Juli 2018 deutlich. Bei Eröffnung der Lesungen zum Ingeborg-Bachmann-Preis erklärte er in seiner »Rede zur Literatur«: »Die neuen alten Patrioten erzählen die neuen alten Märchen.« Den »Rechten edle Motive zu unterstellen, wie es mancher Feuilletonist tut«, helfe nicht. »Es geht ihnen einzig und allein um die Fremdabwehr, die Vaterländerei ist ihre Phrase der Stunde. Der Moslem, der Morgenländer, der Einwanderer, der Flüchtling: Sie sind in ihren Augen Geschöpfe dritten Ranges«, sagte er. »Der Rechte ist kein Systemkritiker, kein Abweichler und kein Dissident, er ist vor allen kein besorgter Bürger. Wer die einen gegen die anderen ausspielt und hetzt, ist rechts. Punkt.«
In dem vorliegenden Sammelband werden die »neuen alten Märchen« in ihren verschiedenen Facetten aufgezeigt und klare Grenzen für eine offene, demokratische Gesellschaft markiert.
Die ersten drei Beiträge haben die Geschichte der Identitären Bewegung in Deutschland, ihre ideologischen Grundlagen sowie das Vorbild in Frankreich zum Thema. Es werden die geistigen Ahnen sowie die Kader und Strukturen der Identitären vorgestellt, ihre Strategien, Konzepte und Aktionen beleuchtet. Überdeutlich wird hier, dass die IB in Deutschland ohne ein enges Unterstützernetzwerk nicht bestehen könnte.
Stefanie Heide stellt in ihrem Beitrag das Zentrum der Identitären in Halle und das dort angewendete Konzept der Ortsgruppe Kontrakultur vor, das an die rechtsextreme Szene von Casa Pound in Italien und an die Jungen Nationaldemokraten in Deutschland angelehnt ist.
Die Vereinsstrukturen in Rostock umreißt Carina Book, die dabei auch das Selbstbild der IB als vermeintlich gewaltlose Organisation hinterfragt.
Jean-Philipp Baeck verfolgt die praktische Umsetzung des vermeintlichen Unvereinbarkeitsbeschlusses der AfD zur Zusammenarbeit mit der IB und kann deutlich machen, dass es entgegen allen Beteuerungen eine aktive Vernetzung gibt, was sich unter anderem an den Beschäftigungsverhältnissen der Abgeordneten zeigt.
Da das Internet die Hauptkommunikationsform der Bewegung ist, folgt Simone Rafael den vielfältigen Spuren im Netz und deckt die dahinterliegenden Strategien auf.
Dass zum Netzwerk der Identitären auch völkische Familien gehören, umreißt Andrea Röpke in ihrem Beitrag. Sie zeigt daran exemplarisch die Verstrickungen der Neuen mit der Alten Rechten auf.
Johanna Sigl wendet sich dem Männer- wie dem Frauenbild der Identitären zu, wobei sie den Widerspruch herausarbeitet, dass sich die Identitären gern postmodern geben, aber letztlich ein sehr konservatives Geschlechter- und Rollenverständnis haben. Echte Männer und wahre Frauen sind bei ihnen vereint in der Ablehnung von sexueller Vielfalt.
David Begrich und Jan Raabe hinterfragen die Musikprojekte der Bewegung – von Rap über Neofolk bis hin zum Varieté – und zeigen, wie darüber eine gezielte Emotionalisierung der Jugendlichen erreicht werden soll.
Halfen Berichte der Medien, die Identitären bekannt oder gar größer zu machen? Dieser Frage geht Patrick Gensing nach. Er fordert von den Journalisten in diesem Kontext mehr kritische Selbstreflexion.
Michael Bonvalot schildert den Aufstieg der Identitären in Österreich, deren Kader auch die Entwicklung in Deutschland stark beeinflusst haben. Er beschreibt zugleich das internationale Netzwerk und zeigt die unterschiedliche Verwendung der Begriffe von rechtsextrem bis neofaschistisch in Österreich auf.
Hinnerk Berlekamp und Jan Opielka schauen nach Osten und verfolgen die weitere Ausbreitung der Identitären Bewegung. Sie stellen u.a. Projekte in Polen, Tschechien und Ungarn vor, wo die vorherrschende Regierungspolitik inzwischen selbst ein weit rechtes identitäres Angebot bietet.
Da die einzelnen Kapitel, je nach Interesse der Nutzer, auch unabhängig voneinander gelesen werden, gibt es unvermeidbar kleinere inhaltliche Wiederholungen, die aber zum Verständnis des Kontextes erforderlich sind.
Ein Literaturverzeichnis sowie Register zu Organisation und Personen sollen im Anhang schließlich die Möglichkeit eröffnen, sich weitergehend über die demokratiegefährdenden Kräfte zu informieren und das vorliegenden Sammelwerk als eine Art Handbuch mit Nachschlagecharakter zu nutzen.
Leipzig 2018: Über ein Mikrofon erklingt eine männliche Stimme in der Messehalle. Kleine Papierzettel fliegen durch die Luft. Vor den Ständen des Antaios Verlages und von Compact. Magazin für Souveränität drängen sich immer mehr Menschen. Hier rechts in der Ecke der Halle 3 wollten am 18. März mehrere Initiativen auf der Buchmesse gegen die rechten Verlage protestieren. Kaum hat der Sprecher vom subversiven Komitee für Wahrheit und Sachlichkeit begonnen, über die mitgebrachte Verstärkeranlage zu Anhängern der Neuen Rechten zu reden, dreht einer der kritisch Angesprochenen die Lautsprecher runter. »Die Rechte zeigt mal wieder, dass sie nicht fähig ist, sich Argumente anzuhören«, sagt der Sprecher unbeeindruckt laut weiter. »Wir wollen zeigen, wer wirklich die Meinungsfreiheit vertritt«, betont er. Nach einem kurzen Gerangel hebt eine Sprecherin des Komitees hervor, die Neue Rechte nutze die Meinungsfreiheit bloß als Werkzeug, um ihr menschenverachtendes Weltbild zu verbreiten.
Wenige später stehen sich Sympathisanten des Verlags von Götz Kubitschek und Demonstranten bei angekündigten Verlagsveranstaltungen nahe dem Stand direkt gegenüber. »Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen«, skandiert die neurechte Anhängerschaft – eine alte rechtsextreme Parole. Mit dabei: Aktivisten der Identitären Bewegung (IB). Einer ihrer bekanntesten Kader, Martin Sellner, wollte Kubitschek als Gesprächspartner auf der Buchmesse ein Podium bieten, um über das »Abenteuer ›Defend Europe‹« zu berichten. Mit erzählen sollte Alexander Schleyer, ein ehemaliger Soldat der deutschen Marine, der für das neurechte Magazin Blaue Narzisse schreibt und parlamentarischer Mitarbeiter eines Abgeordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) war. Beide waren beim Mittelmeer-»Abenteuer« dabei.
Die Aktion war der Versuch von Identitären aus Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland, 2017 mit einem gecharterten Schiff nahe der libyschen Küste gegen »Schlepperschiffe vermeintlich humanitärer NGOs« vorzugehen, »die durch Spenden finanziert unter dem Deckmantel humanitärer Rettungsaktionen Hunderttausende illegale Migranten nach Europa« schleppen würden.
Knapp eine Woche war die Crew der Identitären im August des vergangenen Jahres mit der »C-Star« im Mittelmeer unterwegs. Nach wenigen Tagen erreichte die italienische Seenotleitzentrale am 11. August ein Notruf der Identitären wegen Manövrierunfähigkeit. Ein Boot der Organisation Sea-Eye für Geflüchtete kam zur Rettung, die Crew von »C-Star« lehnte ab. Über Twitter erklärte einer der Identitären: »Wir haben ein technisches Problem, das aber keine Seenotrettung erforderlich macht.« Es handele sich lediglich um ein »kleines Problem«. Noch wenige Tage fuhr das Schiff im Mittelmeer. Auf See erfolgte aber keine Konfrontation zwischen Identitären und NGOs. »Ich dachte, das wäre ein Scherz«, sagte der Sprecher von Sea-Eye, Hans-Peter Buschheuer, als sie offiziell zur Rettung gerufen wurden. Und er betonte: Den rechten Aktivisten ging es um ein »groß angelegtes Propagandamanöver«.
Das Echo – nicht nur über die eigenen virtuellen Kanäle und nahestehende Medien – war nicht gering. Auf Facebook erklärte die IB am 18. August ihre Aktion für beendet und hob hervor, sie sei »ein politischer Erfolg, ein medialer Erfolg und ein aktivistischer Erfolg« gewesen. Am 5. Oktober berichtet der Kurier.at allerdings, dass die von den Identitären angeheuerte Bootsmannschaft in Spanien strandete – ohne Proviant und Geld. Im Verlauf der Aktion beantragten 13 Bootsangehörige von »C-Star« Asyl. Via Twitter versicherte Sellner: »Wir haben [die Crew] nicht im Stich gelassen. Wir haben nach Ende unserer bezahlten Charter das Schiff verlassen.«
Doch nicht erst die Aktion der Identitären im Mittelmeer und die mediale Auseinandersetzung darüber machten sie bundesweit bekannt. Ein Jahr zuvor, im August 2016, gelang der IB Deutschland (IBD) mit einer Besetzung bundesweite öffentliche Beachtung. Eine »temporäre Inbesitznahme eines Ortes mit Strahlkraft«, um »das ›eine‹ Bild« zu erlangen, wie Sellner es als grundlegend in Identitär! Geschichte eines Aufbruchs bezeichnet. 2017 ist das Standardwerk der Bewegung beim Verlag Antaios erschienen.
Bei strahlendem Sonnenschein wehte über dem Brandenburger Tor das gelbschwarze Zeichen der Identitären: der griechische Buchstabe Lambda. Schon auf den Rundschildern der 300 Spartaner, die sich einer tausendfach stärkeren Armee der Perser 480 v. Chr. am Thermopylen-Pass entgegenstellten, soll der Winkel geprangt haben. Diesen Mythos des heroischen Abwehrkampfs von fremden Mächten und feindlichen Einflüssen wollen die Identitären heraufbeschwören. In einem Video erklären sie: »Das Lambda, gemalt auf einem Schild stolzer Spartaner, ist unser Symbol. Verstehst du, was es bedeutet? Wir werden nie zurückweichen, niemals aufgeben!« An das 20 Meter hohe Tor der Bundeshauptstadt haben am 27. August 2016 rund 15 Kader der Identitären zudem ein großes Transparent angebracht: »Sichere Grenzen – sichere Zukunft«. Über den »Raum der Stille« an der Seite waren sie auf das 1791 fertiggestellte symbolträchtige Bauwerk mit Hilfe von Leitern gekommen. Der Coup war geglückt, in Echtzeit berichteten ausgiebig Nachrichtensender und später Printmedien. Die Public Relations gelangen – die Aktionsgruppe hatte ein Bild geschaffen. Ihre Idee war indes nicht neu. Schon Greenpeace nutzte den symbolischen Ort mit medialer Resonanzchance mehrfach für Aktionen. Neu aber war, dass eine rechtsextreme Gruppierung mit neurechtem Habitus sehr erfolgreich eine politische Aktionsform der sozialen Bewegungen adaptierte. Dass die Polizei die Besetzung an diesem Samstag schnell auflöste, minderte nicht den Effekt. Bis zu dem Tag erschien vielen in Politik und Medien die neurechte Szene von der Wochenzeitung Junge Freiheit (JF), der Bibliothek des Konservatismus über das Institut für Staatspolitik (IfS) und den Antaios Verlag bis hin zu Sezession und Blaue Narzisse als elitär-esoterischer Debattierzirkel von überwiegend gediegenen Herren mit akademischem Abschluss.
So richtig wie falsch. Schon sechs Jahre zuvor hatte Helmut Kellershohn vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) auf eine zunehmende »rechte Diskurspiraterie« hingewiesen. In dem von Martin Dietzsch, Regina Wamper und ihm herausgegebenen Sammelband mit ebenjenem Titel resümieren sie, dass »ein verstärktes Bemühen auf Seiten der extremen Rechten zu beobachten« sei, »Themen, politische Strategien, Aktionsformen und ästhetische Ausdrucksmittel linker Bewegungen zu adaptieren und für ihren Kampf um die kulturelle Hegemonie zu nutzen«.
Martin Sellner, der identitäre Vordenker aus Österreich, verschweigt in Identitär! diese Adaptionen nicht. Im Rückgriff auf den linken Theoretiker Guy Debord (1931–1994) aus Frankreich erklärt er, dass in der »Gesellschaft des Spektakels« das real Erlebte immer mehr durch die mediale Spiegelung ersetzt werde: ein Bild – eine Wirklichkeit, ein Spektakel – eine Reaktion. »Dieser Effekt funktioniert nicht nur für Greenpeace, sondern auch für patriotische Aktivisten«, schreibt Sellner und kommt auf Berlin zu sprechen: »Die spektakuläre Aktion am Brandenburger Tor hätte kaum an Schlagkraft gewonnen, wenn die Leute dort stundenlang ausgeharrt hätten.« In diesem Zusammenhang nimmt er bewusst Bezug auf die »geistige Kraft der Neuen Rechten«, Götz Kubitschek und das von ihm maßgeblich mitgegründete und vorangetriebene Institut für Staatspolitik (IfS). Ohne das Werk zu erwähnen, zitiert Sellner aus Kubitscheks Provokation: »Denn daran muß sich der Provokateur messen lassen: Was nicht in den Medien war, ist aus der Welt, hat nicht stattgefunden, nicht verfangen. Für die stille Bildungsarbeit mögen andere Gesetze gelten: Provokationen leben von der Wahrnehmung, denn ihr Ziel ist, eine Reaktion (und sei es nur die Verblüffung) hervorzurufen.« In Provokation. Vier Texte führt Kubitschek 2007 aus: »Wahrgenommen wird das Unerwartete, wahrgenommen wird der gezielte Regelverstoß, wahrgenommen, zwingend wahrgenommen wird die bewußte oder unbewußte Verletzung des Regelwerks der Harmlosigkeit, das die derzeitige deutsche, nur scheinbar nach allen Seiten offene Herrschaftsstruktur absichert und bewehrt.«
Die Provokation durch Aktionen suchte Kubtischek selbst mit der Konservativ-Subversiven Aktion (KSA). Mit der Namenswahl lehnte sich die KSA an die Gruppe Subversive Aktion an, die in den 1960er Jahren aus der Kommune I hervorgegangen war. Das kurzlebige Projekt, mitgetragen von Felix Menzel, Gründer der Blauen Narzisse, und Martin Lichtmesz, Publizist der Neuen Rechten, versuchte 2008 und 2009 mit Störaktionen Resonanz und Debatten zu erzielen. Eine Aktion war: Bei der Premiere der Vorstellung des autobiografischen Buches Die Box von Günter Grass am 30. August 2008 im Hamburger Thalia Theater entrollten sie vor der Bühne ein Transparent: »www.ungebeten.de grüßt die moralische Instanz Günther (sic!) Grass, Vatti ist immer dabei«. Kaum stand Grass am Pult, forderte Kubitschek lautstark ein Ende der »Nebelkerzenprosa« – denn so bezeichnete die KSA Grass’ Literatur, nachdem er 2006 zugegeben hatte, als 17-Jähriger bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Dem Literaturnobelpreisträger wurde aus diesem Milieu vorgehalten, ein selbstbewusstes Nationalverständnis moralisch zerstört zu haben. Bei der Aktion erklärte Kubitschek: »Grass lehrt, dass man mit Gedächtnislücken und ›Orgien der Vagheit‹ zur moralischen Instanz und zum Richter über die eigene Generation und ein ganzes Land werden kann. Wir, die Kinder und Enkel, nehmen diese Lehre nicht mehr an: Grass hat als lebender Zeigefinger ausgedient.« Ein nachhaltiges Medienecho – jenseits der eigenen rechten Presse und Portale – blieb aus. Kein Vergleich zu dem PR-Erfolg der IB am Brandenburger Tor.
Die Berliner Aktion diente der IB zugleich zur Selbststilisierung, zur Erschaffung eines eigenen Mythos von »Opferbereitschaft und Mut«. In seinem Buch Kontrakultur stellt Mario Alexander Müller diese Intention geradezu heraus. Ausführlich lässt der IB-Kader einen Aktivisten der Besetzung in dem 2017 beim Antaios Verlag erschienenen Buch zu Wort kommen: »Mit jeder der 45 Leitersprossen wird der Abstand zum drögen, bürgerlichen Leben größer, das uns Eltern, Lehrer, Ausbilder und Professoren jahrelang als sinnvoll und erstrebenswert angepriesen haben.« Dem soll jetzt mit »Mut und Aufopferung« begegnet werden. Der antibürgerliche Gestus und der heroische Pathos gehören zum Sound der Neuen Rechten. »Von Lichtmesz konnten wir lernen«, schreibt Sellner, »dass jede Bewegung einen Mythos und eine Vision braucht. ›Mystik d’abord‹ heißt das bei ihm.« Und vor einer »neuen Bewegung« brauche es »einen neuen Typus« des »rechten Aktivisten«, der Mythos und Vision »authentisch verkörpern und mit einer gewissen revolutionären Anmaßung in den Streit mit dem Bestehenden treten« könne – ein revolutionärer Typus des Spartaners.
Das Symbol der Spartaner prangte in Deutschland am 10. Oktober 2012 erstmals in den sozialen Netzwerken. Der schwarze Winkel auf gelbem Grund fiel auf, auch die knappe Parole: »Nicht links, nicht rechts – identitär«. Die IBD präsentierte sich mit einem offiziellen Profil bei Facebook. Schnell wuchs die Gruppe um Christian Wagner aus dem niedersächsischen Weyhe an. Der Kick-off im Internet kam von der Géneration Identitaire (GI) in Frankreich. Über das Internet verbreitete sich in diesen Tagen ein Video der GI viral. Eine Aktion beschleunigte aber die Aufmerksamkeit noch.
In Poitiers besetzten am 20. Oktober des Jahres an die 60 Anhänger der GI das Dach einer im Bau befindlichen Moschee. Am Dachfirst befestigten sie Transparente mit dem Lambda-Symbol und der Zahl 732. Datum und Ort waren bewusst gewählt worden. Im Jahr 732 stoppte eine Armee unter dem Kommando des fränkischen Feldherren Karl Martell zwischen Poitiers und Tours die aus Spanien vordringenden Mauren, angeführt von Abd ar-Rahman. Diese »heldenhafte Schlacht«, erklärten die Identitären, habe ihr Land »vor der muselmanischen Invasion gerettet«. Für die Identitären begann an diesem historischen Datum die »Reconquista«, der Abwehrkampf des Okzident gegen den Orient. Die militärische Bedeutung der Schlacht dürften sie etwas überhöhen. Denn die »Rückeroberung« des Südens Frankreichs und der Iberischen Halbinsel endete bekanntlich am 2. Januar 1492 mit der Eroberung Granadas durch die katholischen Könige Ferdinand und Isabella. Sechs Stunden dauerte die Besetzung der Moschee, ein Symbol – der elfte Buchstabe des griechischen Alphabets – war gefunden, die Corporate Identity geschaffen. Die GI verbreitete sogleich Aufnahmen von der Aktion, und die französischen Medien berichteten umgehend. Bilder der Kampagne liefen über die Computer- und Fernsehschirme. Einer der sie auch sah war Martin Sellner in Wien – und er war elektrisiert. »Das ist genau das, worauf wir gewartet haben! Das ist der Startschuss für eine neue Bewegung«, schreibt er gleich zu Beginn seines Buches Identitär! und schwärmt von den Bildern der Besetzung: »Am Bildschirm meines Laptops erscheint ein Bild, das bald zur Ikone des patriotischen Protests werden sollte.« Eiligst lief er ins Café Eiles zu einer kleinen Gruppe von Studenten, die sich dort »regelmäßig zu einem Lesekreis« trafen. Ein halbes Jahr zuvor hatten sie Wiens Identitäre Richtung (W.I.R.) gegründet, das »erste nominell identitäre Projekt im deutschen Sprachraum«, wie er stolz verkündet. Die Besetzung habe sie an dem Tag aus »allzu intellektuellen Gedankenspielen« gerissen. »Jetzt sollte es losgehen. Wir mussten auf den Zug der Franzosen aufspringen!«
In Deutschland waren suchende Gleichgesinnte ebenfalls elektrisiert. Wenige Tage vor der Besetzung hatten die französischen Identitären die »Déclaration de guerre« online gestellt. In schnell geschnittenen kurzen Statements der Kriegserklärung legen verschiedene Personen in dem schwarz-weiß gehaltenen Clip dar, dass die 68er »die Traditionen, Werte, Familie und Erziehung« zersetzt hätten, die Zuwanderung das Sozialsystem instabil werden ließ und »Mehmet« niemals ihr »Bruder« werde. (Siehe das nachfolgende Kapitel zu Frankreich). Die Kampfansage kam an.
Eine erste Aktion folgte in Deutschland jenseits des virtuellen Raums im selben Monat. Am 30. Oktober 2012 störten Identitäre die Eröffnung der Interkulturellen Woche in Frankfurt am Main. In der Stadthalle liefen sie kurz mit Guy-Fawkes- und Scream-Masken auf, schalteten Hardbass-Musik ein und trugen Schilder mit ihrem Symbol und der Botschaft: »Multikulti wegbassen«. Bereits diese Aktion offenbarte, dass die IB in Deutschland von Anfang an eng mit der IB in Österreich verwoben ist. Auch W.I.R. hatte in analoger Form einen Tanzflashmob, einen »Hardbass Mass-Attack« bei der Caritas in Wien durchgeführt – dem angeblichen »Mutterschiff der österreichischen Asylindustrie und Einwanderungslobby«.
In Frankfurt am Main richteten die Identitären noch im selben Jahr ein Treffen aus. Am 1. Dezember kamen 50 Aktivisten aus Deutschland, aber auch aus Österreich und Italien zusammen, um sich darüber auszutauschen, wie neben den virtuellen Aktivitäten organisatorische Strukturen aufgebaut und reale Interventionen organisiert werden könnten.
In Deutschland boomte die Idee. Das Bundesinnenministerium erfasste bereits im Oktober 2013 »über 50 lokale bzw. regionale IBD-Untergruppen«. Allerdings fanden nur in wenigen Städten vereinzelte Aktionen statt. Die gesamte Neue Rechte begrüßte die neue Bewegung. Am 1. März 2013 hatte schon die Junge Freiheit der IB einen Schwerpunktbeitrag unter dem Titel »Revolte von rechts?« gewidmet. »Eine neue Generation«, frohlockt der Chefredakteur der Wochenzeitung Dieter Stein: »Dass nun eine neuartige politische Jugendbewegung in Form der ›Identitären‹ von Frankreich über Österreich nach Deutschland schwappt, ist ein Phänomen.« Mit »einer originellen und modernen Ikonographie« und »klarer Abgrenzung« zu »einer verstaubten ›alten Rechten‹« würde mit neuen »Aktionsformen experimentiert, die Öffentlichkeit für Forderungen« schaffen würden. »Es geht um die Herrschaft über den öffentlichen Raum«, fasst Stein zusammen.
Im ganzseitigen Artikel von Henning Hoffgaard, heute Mitarbeiter der Alternative für Deutschland (AfD) im Bundestag, erzählt der Identitäre Nils, dass er, als er die Kriegserklärung sah, wusste: »Da muss ich mitmachen […] Dieses Gefühl. Es sprach mir einfach aus der Seele.« Der damalige Leiter der Berliner Gruppe, Lars, erzählt, dass sie rund 3000 Sympathisanten hätten und dass der »harte Kern« 50 bis 80 Personen umfassen würde. Und er verweist darauf, dass sich die Bewegung vom Internet weg und hin zum realen Leben entwickeln müsse, wenn man eine »Massenbewegung« werden wolle.
Doch die selbsternannte »Bewegung« wächst in der Folgezeit kaum, und die kleinen Gruppen zerstreiten sich untereinander auch noch. Es begann eine kritische Phase, wie Sellner in Identitär! später einräumt. »Unzählige Nachahmer sprossen wie Pilze aus dem Boden, Hunderte zukünftige Karteileichen meldeten sich, und bald hatte jedes Kaff von Buxtehude bis Bayern seine eigene identitäre Bewegung – zumindest auf Facebook«. Er befürchtete damals, dass die junge Bewegung »als weiterer Flicken am ›Narrensaum‹ altrechter Sekten enden« könnte. Ihm war zudem klar, dass die Aufbauarbeit zugleich in Österreich und Deutschland greifen müsste: »Wenn der identitäre Aufbruch im Norden scheitere, würde uns das in Österreich genauso mitreißen«, schreibt er. In Anspielung auf ein Werk eines ihrer geistigen Ahnen aus der Konservativen Revolution, Ernst Jüngers In Stahlgewittern, stilisiert er diese Auseinandersetzung noch: »Es bräuchte ein eigenes Buch, den Kampf um die IB in Stahlgetwittern« zu erzählen. Am Ende gelang es der Gruppe um Sellner, die Hauptfacebookseite »unter Kontrolle zu bringen«. Vieles, was in Deutschland entstand, wäre aus Österreich »ferngesteuert« gewesen, bekennt er. Vieles, was die IB ausmachte und umsetzte, wäre nicht erfolgt, wenn ihnen ein Mann nicht mit seinem Netzwerk geholfen hätte: Götz Kubitschek.
Auf dem Portal sezession.net formulierte Götz Kubitschek 2013 eine deutliche Kritik an den Identitären. »Scheitert die Identitäre Bewegung in Deutschland?«, fragt er am 27. Februar des Jahres. Die Welle des Anfangs sei nicht bloß »ausgerollt«, sie »flutet« bereits zurück. Offen benennt er aus seiner Sicht zwei Probleme: Die Medien würden in der IB keine interessante virtuelle Protestbewegung sehen, sondern sie in die »rechtsextreme Ecke« abschieben, da sie als neues »Auffangbecken« für den »alten Wein« wahrgenommen werden. Und er hält der damaligen IB-Führung interne Schwächen vor: Sie hätten bisher keine Führungspersönlichkeiten hervorgebracht und keine wirklich »eigenen Ideen« entwickelt. Daher warnt er: »Die Tür schließt sich, wenn sich nicht bald ein Fuß findet, der sich dazwischenstellt. Wer ist das Gesicht zu diesem Fuß? Wo ist dieser Mann, sind diese Männer? Oder sind es Desperados?« Was wäre der Verlust eines Jobs, wenn die Chance bestünde, »etwas Eigenes« aufzubauen. Die Bewegung bräuchte »Leute«, die bereit seien, »Konsequenzen für ein ganzes Leben zu ziehen – und zwar nicht, weil sie außer ihrer Gesinnungstreue nichts anzubieten haben, sondern OBWOHL (Hervorhebung im Original) sie auch eine ganz normale Karriere machen könnten«, schreibt er.
Die barsche Kritik spiegelt offenbar eine enttäuschte Hoffnung wider, war er doch selbst früh bei der Identitären Bewegung involviert. Schon im Oktober 2012 überlegte Kubitschek in einem Strategiepapier, das dem antifaschistischen Gamma-Newsflyer zugespielt wurde, wie die sich gerade entwickelnde IB mitaufgebaut und aktiv unterstützt werden könnte. Denn er fand: »die Aktionen sogenannter ›Identitärer‹ in Frankreich und Österreich« mehr als anregend. Hier spielte er bereits mit dem Gedanken eines Hausprojekts in Berlin mit Café, Buchhandlung, Vortragsraum, Büros und WG-Zimmern für »mietfreies Wohnen für zwei, drei Aktivisten, die das Haus betreuen und bestimmte Arbeiten verrichten«. 2017, fünf Jahre später, eröffnet am 6. Juni in Halle an der Saale ein derartiges Zentrum. Andreas Lichert, Vorsitzender des Vereins für Staatspolitik, der das IfS formal trägt, erwarb das Gebäude 2016 für 330 000 Euro. Lichert, der auch für die hessische AfD aktiv ist, stritt zunächst ab, dass die Identitären Mieter oder Betreiber des Zentrums seien. Im Frühjahr zogen jedoch IB-Kader der Gruppe Kontrakultur um Mario Alexander Müller in das Haus ein.
Bis zur Eröffnung des Zentrums war es der IB auch gelungen, gewünschtes Personal zu finden und die fragile Struktur zu festigen. »Wir sahen IBD-Leiter, Aktivisten und ganze Ortgruppen kommen und gehen«, schreibt Sellner in Identitär!. Nur wenige blieben von Anfang an dabei, viele seien gekommen und wieder gegangen. Die einzige Konstante in Deutschland bildete laut Sellner letztlich Kubitschek, »der selbst alleine schon des Alters und des Werks wegen nie Mitglied oder Aktivist der IB« war, doch »eine Zeit lang« sei er »der Einzige« gewesen, »der innerhalb Deutschlands Kontakte erneuern und neben dem rein Virtuellen eine handfeste Kartei mit Telefonnummern, Klarnamen und Werdegängen stellen konnte«, bekennt Sellner.
Im Rittergut in Schnellroda, dort, wo das IfS seine Zentrale und die Familie Kubitschek ihren Wohnsitz hat, fand auch eines der ersten Treffen der Bewegung statt. Interne Unterlagen belegen, dass die IB nie als eine offene Gruppierung gedacht war, in der Jugendliche zwar unter einem Label und mit einem Rahmeninhalt, aber doch ansonsten eigenständig autark handeln sollten. Ein Identitärer Infobrief – Internes Mitteilungsblatt der Identitären Bewegung vom März 2013 enthält genaue Richtlinien, wer »Leiter einer regionalen Gruppe« sein dürfte und wer »Aktivist«. Sellner wird da später deutlich: »Es muss eine Spitze geben, die sagt, was geht und was nicht. Sie muss den inhaltlichen und ästhetischen Rahmen für alle Aktionen und Äußerungen festlegen.« Diese Führung würde sodann eine »antike Ehrlichkeit« im Umgang fordern. »Aktionsideen übernehmen wir gerne von linken Bewegungen. Ihre kindliche Utopie einer endlosen Debatte und totalitären, Gleichheit hingegen nicht«, schreibt er in Identitär!.
Seit Mai 2014 ist die IB beim Amtsgericht Paderborn als Identitäre Bewegung Deutschland e. V. mit der Register-Nr. VR 3135 eingetragen. Im April des Jahres übernahm Nils Altmieks den Vereinsvorsitz. Stellvertreter wurde Sebastian Zeilinger. Als Ziel gibt der Verein an, »die Identität des deutschen Volkes als eine eigenständige unter den Identitäten der anderen Völker der Welt zu erhalten und zu fördern. Er widersetzt sich insbesondere der fortschreitenden Globalisierung und der Verdrängung der deutschen Identität aus immer mehr Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens«. Ihre Ziele wollen die Mitglieder »durch Einflussnahme auf die politische Willensbildung des deutschen Volkes erreichen«.
Auf ihrer Webseite führt die IB im Juni 2018 Daniel Fiß aus Rostock als neuen Verantwortlichen an. Über die Seite kann in jedem Bundesland eine E-Mail-Adresse der IB direkt angeschrieben werden. Über die Webseite ist es auch möglich, Fördermitglied zu werden. Der Antrag auf Fördermitgliedschaft lässt wählen zwischen einem Überweisungsbeitrag von monatlich 5 Euro, 10 Euro oder einer selbstbenannten Summe. Über die Webseite können zudem Spenden via PayPal gezahlt oder das »Pils Identitär« bezogen werden. Daniel Sebbin aus Mecklenburg-Vorpommern sei Mitbegründer dieser eigenen Biermarke, heißt es dort.
Der ehemalige Vorsitzende Altmieks aus einem Dorf bei Erlangen war schon bei der 2009 verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) aktiv. Als Vorsitzender der IB 2014 erklärte er dem rechtsextremen Magazin Zuerst, dass die Identitären eine »wirkliche Bewegung« werden wollten und dass »der Einsatz für Deutschland und Europa nicht ohne eine gewisse Opferbereitschaft möglich« sei. 2013 schon hatte der IB-Kader aus Österreich und Autor von Die identitäre Generation, Markus Willinger, dem Magazin aus der Verlagsgruppe Lesen und Schenken von Dietmar Munier ein Interview gegeben, in dem er deutlich machte, dass die unverhandelbare Überzeugung der Gruppierung der »Kampf gegen den Liberalismus« sei. (Bei einer Sonnenwendfeier von Munier war im Jahr 2012 übrigens auch der 2017 verstorbene Holocaustleugner Ernst Zündel zu Gast.) Aus der rechtsextremen Szene kommt auch der IB-Chef Daniel Fiß. Der Student der Politikwissenschaft war führender Schulungsbeauftragter in der NPDMitgliederorganisation Junge Nationaldemokarten (JN). Von deren »altrechtem Denken« will er sich inzwischen aber abgewandt haben.
Die Nähe und Verstrickung einzelner IB-Aktivisten in die rechtsextreme Szene führten zur »Beobachtung« durch einige Landesämter für Verfassungsschutz. Am 12. August 2016 erklärt das Bundesamt für Verfassungsschutz, die IB zu überwachen. Elf Landesbehörden taten dies zu jener Zeit bereits. »Wir sehen bei der ›Identitären Bewegung‹ Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung«, erklärte Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und sagte weiter: »So werden Zuwanderer islamischen Glaubens oder aus dem Nahen Osten in extremistischer Weise diffamiert.« Bundesweit will die IB zwischen 400 und 500 Aktivisten vereinen, die in 15 Regionalverbänden organisiert sind. Die IB hat nicht das Ziel, eine Massenorganisation zu werden, sondern versteht sich eher als einflussstarke Elite.
Die »metapolitische Avantgarde«, wie Sellner sie in der Jungen Freiheit vom 30. September 2016 bezeichnet, lässt offensichtlich nicht jeden Interessierten mitmachen. Unterlagen der IB Schwaben und Materialen von der Identitären Sommerakademie – 2015 belegen die straffe Organisation. In den Aktivistenfragebögen der IB sind vor Aufnahme in eine regionale Gruppe unter anderem diese Fragen zu beantworten: »Wo siehst Du Deine persönlichen Stärken? Wie stehen Deine Freunde und Familie zu Deiner Einstellung? Wie ist Deine Position zu anderen Organisationen wie z. B.: III. Weg, NPD, Die Rechte, AfD? Wo siehst Du Dich in 2 Jahren innerhalb der Bewegung?« Wer einmal akzeptiert ist, unterliegt aber weiterhin einer Kontrolle. Möchte ein Aktivist etwa ein Banner anfertigen, so soll er – nach den vorliegenden Unterlagen – zunächst den »Leiter der Gruppe« fragen, um nicht die »Corporate Identity der Bewegung« zu unterlaufen. Style und Habitus müssen bei Aktionen und Flugblättern stets abgestimmt werden.
Dazu gibt es Argumentations- und Auftrittshinweise: Der Einzelne sollte eigene Stärken und Schwächen bei Reden ausloten, Gruppen sollten die Rollenverteilung in ihren Aktionen präzise absprechen und kritisch auswerten. Der Veranstaltungsorganisation liegen strenge Regeln zugrunde: Bei der Anmietung von Räumen müsse man »vage« bei den Absichten bleiben. Für Stammtische solle ein aktuelles Thema vorbereitet und von einem offiziellen Nebenthema zur Absicherung flankiert werden. Der Umgang mit der Polizei wird ebenfalls vorgegeben: Gegenüber den Beamten seien keinerlei Aussagen zu machen, sollte es zu Vernehmungen kommen, müssten die Rollenverteilungen der Beamten beachtet werden, und nach Durchsuchungen sei zu prüfen, ob Abhöranlagen installiert worden seien. »Vergiss nie: Wenn Du in U-Haft bist (…), bist Du kein Krimineller, sondern ein Aktivist und Du kämpfst weiter«, heißt es in den IB-Materialien. Und: »Die erste Regel für alle Identitären ist Loyalität. Niemandem wird vergeben, wenn er einen aus unseren Reihen verrät. Wir sind ein Klan und halten zusammen.«
In den Schulungsmaterialen der Sommer-Akademie 2015 erklärt der »Klan« seine Strategie: »Die IB ist eine metapolitische Kraft, die versucht, Ideen, Parolen und Bilder in das metapolitische Feld zu führen.« Wie es gelingen kann, in der Gesellschaft Einfluss zu erlangen, wird auch beschrieben: Beim »Debattieren« mit Personen, die einem »feindselig« entgegentreten, sollte man »neutral« oder interessiert reagieren. »Wenn du debattierst und Dritte zuhören, ist es sehr wichtig, dass du gewinnst«, ermahnt die IB ihre Aktivisten und gibt konkrete Tipps, wie man eine Auseinandersetzung gewinnen könne. (Siehe dazu auch das Kapitel Simone Rafael über Identitäre im Internet.)
Angestrebt wird eine »Kulturrevolution von rechts«. Mit Bezug auf den italienischen marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci (1891–1937) wird dargelegt, dass die metapolitische Auseinandersetzung auf dem »ideellen Umfeld mit Bildern, Parolen, Idee und ›Erzählungen‹« geführt würde, um die »Wahrnehmung der