Meg Corbyn betrat den Waschraum des Verbindungsbüros für Menschliche Angelegenheiten und breitete die Dinge vor sich aus, die sie die Werkzeuge der Prophezeiung nannte: Desinfektionsmittel, Bandagen und das silberne Klapp-Rasiermesser, dessen Griff auf einer Seite hübsche Blätter und Blumen zierten. Auf der anderen Seite war in schmucklosen Buchstaben die Bestimmungsnummer cs759 eingraviert. Vierundzwanzig Jahre lang war diese Nummer der einzige Name gewesen, den sie gehabt hatte.
Jetzt hatte sie einen richtigen Namen und, statt der sterilen Zelle, ein echtes Apartment. In der Anlage, in der man sie aufgezogen, trainiert und … und benutzt hatte, hatte sie eine einzige Freundin gehabt: Jean, das Mädchen, das niemandem erlauben wollte zu vergessen, dass sie einmal ein Zuhause und eine Familie außerhalb der Anlage gehabt hatten – das Mädchen, das Meg schließlich zur Fluch verholfen hatte.
Jetzt hatte Meg viele Freunde und es machte keinen Unterschied, dass die meisten davon keine Menschen waren. Die Terra Indigene hatten ihr die Chance gegeben, sich ein Leben aufzubauen, und halfen ihr mit der Sucht umzugehen, die sie irgendwann umbringen würde.
Simon Wolfgard, der Anführer des Lakeside Courtyard, bestand darauf, dass er jemanden wie sie gesehen hatte, der lange genug überleben würde, um eine alte Frau zu werden. Sie wollte glauben, dass das möglich war. Und sie hoffte, dass dieses morgendliche Experiment ihr einen Hinweis darauf geben konnte, wie es möglich war.
Nachdem sie noch einmal sichergestellt hatte, dass sie alles Nötige beisammen hatte, setzte Meg sich auf den geschlossenen Toilettensitz und wartete auf Merri Lee. Sie war einer ihrer menschlichen Freunde und lernte gerade, als Megs Zuhörer zu arbeiten und ihre Worte zu deuten.
Die Cassandra Sangue sahen Prophezeiungen, wenn ihre Haut aufgeschnitten wurde. Sie waren darauf trainiert, die Visionen und Bilder zu beschreiben – doch sie waren niemals dazu ausgebildet worden, zu interpretieren, was sie sahen. Das wäre nutzlos gewesen. In dem Moment, wenn das Mädchen zu sprechen begann, durchdrang sie eine Euphorie, die ihren Geist verschleierte und sie vor dem beschützte, was die Bilder ihr zeigten. Tatsächlich war der einzige Weg, auf dem eine Blutprophetin die Erinnerung an das behalten konnte, was sie sah, den Mund zu halten. Sprach sie die Worte nicht laut aus, blieben sie in ihr bestehen.
Es brauchte schon eine ganz besondere Art von Willenskraft – oder Verzweiflung – um die Pein zu ertragen, die ein Mädchen erfüllte, das nicht sprach, nachdem ihre Haut aufgeschnitten worden war. Die Erleichterung, die die Euphorie dann brachte, glich einem Orgasmus und war der Hauptgrund dafür, dass die Cassandra Sangue eine Sucht nach dem Schneiden entwickelten.
Es war nicht einfach, sich einzugestehen, dass sie dieser Sucht niemals ganz entkommen würde, nachdem sie über Jahre hinweg regelmäßig für den Profit anderer geschnitten worden war. Die Prophezeiungen in ihr würden sich einen Weg bahnen, ob sie wollte oder nicht. Meg musste sich schneiden.
Deswegen war ihre heutige Verabredung mit dem Rasiermesser auch so wichtig. Sie spürte nicht das unangenehme Prickeln und Stechen, das sie davor warnte, dass etwas geschehen würde. Nichts drängte sie und das machte diesen Morgen perfekt dafür herauszufinden, was passierte, wenn sie einen kontrollierten Schnitt setzte.
Die Hintertür des Büros öffnete sich. Einen Moment später stand Merri Lee in der Tür des Waschraums, Stift und Block in der Hand.
Sie waren beide zart gebaute Frauen, ungefähr gleich alt, und hatten helle Haut. Was sie unterschied, war, dass Merri Lee dunkle Augen und dunkles Haar hatte, das ihr in einem Stufenschnitt bis über die Schultern fiel, während Meg klare graue Augen hatte und ihr kurzes schwarzes Haar noch immer in einem merkwürdigen orange-rot gefärbt war, nachdem sie versucht hatte, sich auf der Flucht vor dem Mann, den man als den Controller kannte, zu verkleiden.
»Und du bist dir wirklich sicher?«, fragte Merri Lee. »Vielleicht sollten wir doch warten, bis Simon und Henry von Great Island zurück sind.«
Meg schüttelte den Kopf. »Wir sollten es genau jetzt machen, bevor das Büro öffnet und ich zusätzlichen … Einflüssen ausgesetzt bin. Das könnte verändern, was ich sehe. Vlad arbeitet heute bei Howling Good Reads. Wir können ihm von der Prophezeiung erzählen – und er ist auch nah genug, falls wir Hilfe brauchen.
»Na gut«, sagte Merri Lee und zog sich aus der kleinen Essecke neben dem Waschraum einen Stuhl herüber. Sie ließ sich darauf fallen. »Was soll ich dich fragen?«
Meg hatte darüber nachgedacht. Wenn Klienten in die Anlage des Controllers gekommen waren, dann hatten sie ganz spezifische Fragen gehabt. Sie wusste nicht so genau, wonach sie eigentlich suchte, aber sie brauchte irgendeine Art von Grenze. »Ich denke, du solltest mich fragen, worauf die Bewohner des Lakeside Courtyard in den nächsten dreizehn Tagen besonders achten sollten.«
»Das ist aber sehr schwammig formuliert«, sagte Merri Lee. »Und … warum dreizehn Tage?«
»Wenn ich nach etwas Bestimmten im Courtyard frage, könnte etwas anderes übersehen werden – und das könnte dann genau das sein, was für die Anderen wichtig gewesen wäre«, antwortete Meg. »Zwei Wochen sind ein guter Zeitraum. Und wegen der dreizehn Tage – ich habe gelesen, dass dreizehn eine magische Zahl ist, und es klingt irgendwie besser. Denkst du nicht, es passt besser zu einer Prophezeiung als ›zwei Wochen‹?«
»Aber wenn es nicht funktioniert und wir nichts Brauchbares erfahren, dann hast du den Schnitt völlig umsonst gesetzt.«
»Nicht umsonst«, sagte Meg. Die Euphorie war Grund genug, sich zu schneiden, aber das war nichts, was sie ihrer Freundin verraten würde, und so schob sie eine andere Wahrheit vor.
»Wenn ich die Zeit zwischen den Schnitten ausdehnen kann, weil ein einzelner mir die Warnungen für zwei Wochen gibt und das schreckliche Prickeln abstellt, das mich zum nächsten Schnitt treibt, werde ich länger leben. Und ich will leben – besonders jetzt, wo ich tatsächlich ein Leben habe.«
Einen Herzschlag lang herrschte Stille, dann nickte Merri Lee. »Bist du bereit?«
»Ja.« Sie öffnete das silberne Rasiermesser und legte es sich flach auf die Haut. Es war etwa einen Zentimeter breit, was den perfekten Abstand zwischen zwei Schnitten darstellte. So blieben die Prophezeiungen getrennt, ohne wertvolle Haut zu verschwenden. Sie richtete die Klinge an der letzten Narbe auf ihrem linken Unterarm aus. Dann drehte sie ihre Hand und schnitt gerade tief genug, um das Blut zum Fließen zu bringen und – ebenso wichtig – um eine Narbe zu hinterlassen.
Allumfassende Schmerzen durchdrangen sie als Vorbote der Prophezeiung. Sie hörte jemanden weinen – jemanden, den sonst niemand hören konnte. Meg biss die Zähne zusammen, legte das Rasiermesser zur Seite und ließ ihren blutenden Arm im Waschbecken ruhen. Dann nickte sie Merri Lee ruckartig zu.
»Worauf sollen die Bewohner des Lakeside Courtyard in den nächsten dreizehn Tagen besonders achten?«, fragte Merri Lee. »Sprich, Prophetin, und ich werde zuhören.«
Sie sprach und schilderte alles, was sie sah. Die Bilder verblassten im Klang ihrer Worte und Wellen der Euphorie riefen ein wundervolles Kitzeln in ihren Brüsten und eine rhythmisches Pulsieren zwischen ihren Beinen hervor, die den Schmerz wegspülten.
Sie wusste nicht, wie lange sie sich auf der Lust treiben ließ, die von der Euphorie hervorgerufen wurde. Manchmal schien sie sofort zu verschwinden, wenn das letzte Bild vor Megs innerem Auge verschwamm, während sie manchmal noch für eine ganze Weile danach einen Schleier der Ekstase über alles legte. Als sie wieder klar denken konnte und sich ihrer Umgebung bewusst wurde, erkannte Meg, dass genug Zeit vergangen war, um Merri Lee die Gelegenheit zu geben, ihren Schnitt zu verbinden, die Klinge zu reinigen und das Waschbecken auszuspülen.
Das Blut der Cassandra Sangue war gefährlich, sowohl für Menschen als auch für Andere. Man hatte es genutzt, um Zum Wolf Geworden und Feelgood herzustellen, zwei Drogen, die in den letzten Monaten in ganz Thaisia für eine Menge Ärger gesorgt hatten. Deswegen hatten sie bei ihrer Planung für diesen Schnitt beschlossen, dass alles Blut weggewaschen und die Bandagen später im Versorgungskomplex des Courtyard verbrannt werden sollten.
»Hat es funktioniert?«, fragte Meg. »Habe ich etwas geweissagt? Habe ich etwas Nützliches gesehen?«
Ihre Stimme war rau und ihr Hals tat weh. Sie wollte Merri Lee um ein Glas Wasser bitten, vielleicht um einen Saft, doch sie hatte nicht die Kraft, um mehr zu sagen.
»Vertraust du mir, Meg?«
Das klang mehr als verdächtig, besonders weil die Antwort auf ihre Frage »Ja. Ich vertraue dir« lautete.
Merri Lee nickte, als würde sie für sich selbst etwas bestätigen. »Ja, es hat funktioniert. Besser als wir erwartet hatten, aber ich brauche etwas Zeit, um die Bilder zu sortieren.«
Keine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit.
Meg sah ihre Freundin durchdringend an. »Du willst mir nicht sagen, was ich gesehen habe.«
»Nein, will ich nicht. Wirklich nicht.«
»Aber –«
»Meg.« Merri Lee schloss für einen Moment die Augen. »Niemand im Courtyard ist in unmittelbarer Gefahr, aber du hast ein paar Sachen gesagt, die … na ja, die verstörend waren. Sachen, bei denen ich mir nicht sicher bin, was sie zu bedeuten haben. Ich möchte die Bilder vorab mischen. So wie letztes Mal, als wir sie auf Karteikarten gezeichnet und die Reihenfolge geändert haben, bis sie uns eine Geschichte erzählt haben. Dann gehe ich rüber zu Howling Good Reads und rede mit Vlad.«
»Habe ich gesehen, dass Sam irgendetwas zustößt? Oder Simon? Oder … irgendjemandem hier?«
In seiner menschlichen Form sah Sam Wolfgard aus, als wäre er acht oder neun Jahre alt, und er war immer noch ein Welpe. Simon war ihr Freund. Alleine der Gedanke, dass einem von ihnen etwas Schlimmes passieren könnte, zog ihr die Brust zusammen.
Merri Lee schüttelte den Kopf. »Du hast nichts gesagt, von dem ich darauf schließen konnte, dass irgendjemand hier in Gefahr ist.« Sie legte ihre Hand auf Megs. »Wir lernen beide gerade erst, was wir hier tun, und ich hätte einfach gerne eine zweite Meinung, bevor du und ich über das reden, was du gesehen hast. Okay?«
Keine unmittelbare Gefahr. Kein Risiko für ihre Freunde. »Okay.«
»Es ist beinahe neun Uhr. Du solltest noch etwas essen, bevor du das Büro öffnest.«
Meg folgte Merri Lee aus dem Waschraum und ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Sie brauchte wirklich etwas zu essen und ein klein wenig Ruhe. Musste sich etwas überlegen, das sie dem wachhabenden Wolf erzählen konnte. Selbst wenn sie ihm aus dem Weg ging, würde er Blut und Desinfektionsmittel riechen können. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie John überzeugen konnte, keinen Alarm zu schlagen, und wenn heute Skippy an der Reihe war, Wache zu halten, würde ein Teller mit Keksen reichen, um ihn abzulenken. Wenn aber Blair, der führende Vollstrecker des Courtyard, mit Skippy auftauchte, wie er es so oft tat …
Vielleicht hatte Merri Lee recht und es war besser, mit Vlad zu reden, bevor jemand wegen des Schnittes herumjaulte und alle angerannt kamen und Antworten verlangten.
»Merri?«, sagte Meg, als ihre Freundin die Hintertür des Büros öffnete. »Habe ich sonst nichts von den Anderen gesehen?«
Merri Lee schüttelte den Kopf und verzog dann das Gesicht. »Na ja, du hast grabende Pfoten gesehen.«
»Graben?« Jetzt verzog Meg das Gesicht. »Warum sollte das wichtig genug sein, um in einer Vision aufzutauchen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht sagt es Vlad oder einem der Wölfe etwas.« Merri Lee zögerte. »Bist du in Ordnung? Ist dir schwindlig, oder so?«
»Nein. Mir geht es gut.«
»Vergiss nicht, etwas zu essen.«
»Versprochen.«
Sobald Merri Lee die Hintertür geschlossen hatte, sah Meg in den kleinen Kühlschrank unter der Theke. In der Anlage hatten die Wandelnden Namen, die sich um die Mädchen kümmerten, ihnen nie die Wahl gelassen, was sie nach einem Schnitt zu essen bekamen. Sie wurden gut genährt, aber durften niemals selbst bestimmen. In keiner Hinsicht.
Weil sie sich nicht entscheiden konnte, wärmte Meg ein kleines Stück Quiche und ein halbes Rindfleisch-Sandwich in der Mikrowelle auf. Sie goss sich ein Glas Orangensaft ein, dann trug sie ihre Mahlzeit in den Empfangsraum.
Sie konnte sich eine der CDs anmachen, die sie sich von Music and Movies ausgeliehen hatte, und sich die Musik anhören, während sie aß. Oder sie konnte eines der vielen Magazine lesen, die sie sammelte, um sich Inspiration zu neuen Bildern für ihre Prophezeiungen zu holen.
Aber eigentlich wollte sie gerade weder neue Töne noch neue Bilder. Sie wollte wissen, was sie gesehen hatte. Sie wollte dabei helfen, herauszufinden, was die Bilder bedeuteten.
Und obwohl ihre beste Freundin sich Mühe gegeben hatte, sie zu beruhigen, wollte Meg doch wissen, was sie gesehen hatte und worüber Merri Lee nicht sprechen mochte.
Vladimir Sanguinati, Mit-Manager von Howling Good Reads, ließ sich hinter dem Schreibtisch im Büro der Buchhandlung nieder. Er schaltete den Computer an, ignorierte den wachsenden Stapel Papierkram und schrieb eine kurze E-Mail an Stavros Sanguinati, der in Toland lebte, der großen Stadt an der Ostküste, in der alle großen Verlage saßen.
Die Verlage der Menschen. Seit den Unruhen im Mittleren Westen vor einigen Wochen, hatten sich die Lieferungen fast aller Rohstoffe extrem verlangsamt, ganz egal, ob sie aus den betroffenen Gebieten kamen oder nicht. Es konnte also tatsächlich sein, dass die menschlichen Verleger die bestellten Titel wirklich nicht vorrätig hatten. Vielleicht warteten sie nur auf eine neue Lieferung Papier, um die bestellten Bücher und Neuerscheinungen zu drucken. Oder aber sie waren dumm genug, nur die Bücher nicht auf Lager zu haben, die von Terra Indigene bestellt worden waren.
Stavros würde es herausfinden. Genau wie Großvater Erebus genoss er die alten Filme etwas zu sehr und spielte oft eine Karikatur seiner eigenen Art – den Hinterwäldler-Vampir, der Bluejeans und ein kariertes Hemd trug, dessen Füße in schweren Arbeitsstiefeln steckten und der mit übertrieben düsterer Stimme Dinge wie »Wir wollen ein Sixpack Blut« sagte. Wenn er aber in offiziellem Auftrag des Toland Courtyard unterwegs war, folgte Stavros der Tradition der Sanguinati und trug schwarz. Es war nichts Hinterwäldlerisches an ihm, wenn er in einer Limousine vorfuhr und einen Anzug aus feinstem Stoff trug.
Stavros wurde als der Problemlöser des Toland Court bezeichnet und dabei grinsten die Leute. Da Vlad wusste, wie der andere Vampir mit Problemen umging, taten Menschen, die einen offiziellen Besuch von ihm erhielten, Vlad beinahe leid. Stavros würde dafür sorgen, dass die Unternehmen Läden wie Howling Good Reads an erste Stelle setzten, wenn sie ihre Bestellungen abarbeiteten, und Vlad würde die Anfragen der Terra-Indigene-Siedlungen erfüllen können, die ihre Waren über den Lakeside Courtyard bezogen. Die von den Menschen hergestellten Güter waren der einzige Grund, warum die Terra Indigene des Kontinents Thaisia die anhaltende Existenz der einfallenden Affen überhaupt duldeten. Wenn diese Güter nicht mehr geliefert wurden, waren die Menschen nur noch als eines gut: Fleisch.
Nachdem Vlad seine E-Mail abgeschickt hatte, hörte er jemanden die Treppe heraufkommen. Zögernde Schritte, aber kein Schleichen. Es konnte jemand aus dem Menschenrudel sein, der den Computer der Geschäftsvereinigung nutzen wollte, deren Räume die andere Hälfte im HGR-Obergeschoss füllten. Sie hatten Anweisung bekommen, vorher um Erlaubnis zu fragen, und die neueren Angestellten mussten sich noch immer daran gewöhnen, so nah mit den Anderen – und vor allem für die Anderen – zu arbeiten. Das konnte das Zögern erklären.
Als Merri Lee im Türrahmen stehen blieb und er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, war ihm klar, dass sie gezögert hatte, weil sie wusste, dass ihm nicht gefallen würde, was sie ihm zu sagen hatte. Er schloss das E-Mail-Programm und wartete darauf, dass sie mit der Sprache herausrückte.
Als Howling Good Reads noch für Menschen geöffnet gewesen war, hatte er gehört, wie Menschenweibchen ihn als »Eye Candy« bezeichnet hatten, womit sie meinten, dass sein dunkles Haar und die ebenso dunklen Augen, seine olivfarbene Haut und sein hübsches Gesicht ihm auf Beutefang gute Dienste leisteten. Für ihn war das Nähren oft genug gleichzeitig auch Vorspiel.
Aber Merri Lee hatte nie sexuelles Interesse an ihm gezeigt, was nur bewies, dass sie intelligenter als das durchschnittliche Menschenweibchen war. Außerdem ging sie mit einem Polizisten aus und so war es unwahrscheinlich, dass sie gekommen war, um sich ihm an den Hals zu werfen.
Das wiederum bedeutete, dass ihm der Grund für ihre Anwesenheit wirklich nicht gefallen würde.
»Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann, Ms. Lee?«, fragte er schließlich, als sie weder sprach noch eintrat.
Sie eilte zum Besucherstuhl und setzte sich.
Sie zittert, dachte er und sein Körper spannte sich an. »Was ist los?«
»Nichts«, antwortete sie. »Im Moment. Du musst dem wachhabenden Wolf sagen, dass er sich nicht aufregen und keine Unruhe verursachen soll.«
Ihm schoss durch den Kopf, dass er gar nicht wusste, wer heute für den Wachdienst eingeteilt war. Wenn Meg im Menschlichen Verbindungsbüro arbeitete, war es normalerweise Nathan Wolfgard, einer der besten Vollstrecker des Courtyard. Aber Nathan war noch für ein paar Wochen in den Addirondaks und rannte mit den Wölfen, die in der bergigen Region lebten. Er hatte seine Pflichten wie seine menschliche Haut abgestreift. Die Sanguinati fühlten sich in den menschlichen Städten sehr viel wohler, da der Rauch, ihre zweite Gestalt, sie zu den perfekten Raubtieren für städtische Gebiete machte. Aber für Gestaltwandler wie Wölfe, Bären und die verschiedenen Katzenartigen, war das Leben in einem Courtyard eine ständige Belastung.
In einem Courtyard zu arbeiten, war ein Opfer, das manche Terra Indigene für das Wohl ihrer Art bringen mussten. Sie konnten die zweibeinigen Räuber, die aus anderen Teilen der Welt nach Thaisia gekommen waren, nicht einfach unbeaufsichtigt lassen. Sie ermöglichten es den Menschen auf diesem Kontinent überhaupt, existieren zu können. Vlad wunderte sich, ob es überhaupt Menschen gab, die das begriffen – oder die wussten, was mit Orten passierte, die man den Menschen geliehen hatte und in deren Nähe ein »zivilisierter« Ort wie ein Courtyard von der Karte verschwand.
Aber diese Gedanken waren jetzt nicht wichtig. Nicht, während das Weibchen ihn von der anderen Seite des Schreibtisches aus anstarrte.
»Was wird den Wolf aufregen?«, fragte er mit dem unguten Gefühl, dass er die Antwort bereits kannte.
»Meg hat einen Schnitt gesetzt.«
Vlads Hände ballten sich zu Fäusten, doch er blieb sitzen.
»Wir hatten es für diesen Morgen geplant«, sagte Merri Lee schnell, als wollte sie es hinter sich bringen. »Eine Art Experiment.«
Lass sie reden. »Hat irgendetwas Meg verstört?«
»Nein. Weißt du, das war überhaupt der Grund, warum sie es getan hat. Sie wollte einen kontrollierten Schnitt setzen, ohne dass etwas sie dazu treibt.«
Tausend Schnitte. Anscheinend war das ein Limit, das eine Cassandra Sangue nicht überschreiten konnte, bevor sie den Schnitt tat, der sie entweder umbrachte oder ihr den Verstand raubte.
Aber es zählten nicht nur die Schnitte mit dem Rasiermesser. Jede Verletzung, die ihre Haut durchbrach, brachte sie dem Ende näher. Die meisten dieser Mädchen erlebten nicht einmal ihren fünfunddreißigsten Geburtstag und hier hatten wir Meg, die sich schnitt, obwohl es nicht nötig war.
Die Sucht ist ihr eigener Grund. Es machte Sinn, dass Meg einen Zeitpunkt gewählt hatte, zu dem Simon Wolfgard und Henry Beargard nicht am Courtyard waren. Aber es erklärte nicht, warum Merri Lee jetzt zu ihm kam.
Er musste ruhig klingen. Vernünftig. Merri Lee war ein Mitglied von Megs menschlichem Rudel und die beiden hatten in der Vergangenheit gezeigt, dass sie zusammenarbeiten und die Vorhersagen interpretieren konnten. »War das Experiment erfolgreich?«
Merri Lee nickte. »Es unterschied sich sehr vom letzten Mal, als ich ihr geholfen habe. Nach dem anfänglichen … Unbehagen … begann Meg zu sprechen. Viele Bilder. Ich denke, sie hat auch Dinge gehört, aber die Geräusche zu Teilen der Bilder gemacht. Ich habe alles aufgeschrieben.« Sie reichte ihm ein Blatt Papier.
Vlad studierte die lange Liste aufmerksam. »Was hat das zu bedeuten?« Er zeigte auf ein eingeklammertes P hinter manchen Wörtern.
»Das sind Pausen«, sagte Merri Lee. »Das war auch anders als beim letzten Mal. Meg hat Pausen gemacht wie ein Aufatmen in der Musik, deswegen dachte ich, dass die unterteilten Wortgruppen vielleicht je ein Bild ergeben könnten.« Sie reichte ihm einige Karteikarten, die er nach kurzem Zögern betrachtete.
»Was für eine Frage habt ihr gestellt?«
»Wir wollten wissen, worauf die Bewohner des Courtyard in den nächsten dreizehn Tagen achten sollten.«
»Bewohner? Nicht nur die Terra Indigene?«
Sie zögerte. »Nein. Wir haben ausdrücklich Bewohner gesagt, nicht nur die Anderen. Was Meg gesehen hat, trifft für alle zu, die im Courtyard leben.«
Also alle, einschließlich Meg und Merri Lee.
Vlad sah sich die ›Geschichten‹ auf den Karteikarten an und musste ein Schaudern unterdrücken.
Hilfe gesucht: WLU
Feuerschneise, neuer Weg (Brand/Inferno?). Pfad Kompass / Kompass Pfad?
Schwangeres Mädchen auf einem Feldweg. Silbernes Rasiermesser. Blut. »Tu es nicht! Es ist noch nicht zu spät!«
Weinendes Mädchen. Silbernes Rasiermesser. Zerschmettertes Reh am Highway (überfahren).
Braunbär isst Juwelen.
Gemüsegarten. Pfoten graben, Hände pflanzen.
Käufer-gesucht-Schilder.
Einige dieser ›Geschichten‹ ergaben für ihn keinen Sinn. Aber wenn er die anderen richtig interpretierte, würden die Terra Indigene schnell und als Einheit handeln müssen.
Vlad sah Merri Lee aufmerksam an.
»Welche davon verstehen Sie?« Er legte die Karteikarten an den Rand des Schreibtischs, wo die Frau sie erreichen konnte.
Sie zögerte, dann deutete sie auf »Hilfe gesucht: WLU.«
»Über der Tür des Verbindungsbüros stehen die Buchstaben MGU, für ›Menschliche Gesetze Ungültig‹. WLU steht für ›Wolfliebhaber unerwünscht‹.« Sie schluckte schwer und mied seinen Blick. »In der letzten Woche sind mehrere Stellenanzeigen in der Lakeside News aufgetaucht, die diese Buchstaben am Ende trugen, und ich habe sie auch schon in den Fenstern einiger Läden gesehen.«
»Ich verstehe.« Und wie er verstand. Brandmarke jeden, der den Frieden zwischen den Menschen und den Terra Indigene wahren will, als Wolfsliebhaber – besonders wenn derjenige in irgendeiner Weise direkt mit den Anderen zu tun hat – und zwinge diese Leute, sich zwischen einem Job und der Möglichkeit, ihre Familie zu ernähren, entscheiden zu müssen, oder zwinge den Widerstand, sich gegen einige Idioten zu wehren. Idioten, die einen Kampf provozierten, der mit vielen, vielen toten Menschen oder Vertriebenen enden würde.
Er dachte an die Menschen, die im Courtyard arbeiteten, und an die zwei grundlegenden Dinge, die jeder brauchte – Essen und Unterkunft. »Werden diese Buchstaben nur für Stellenausschreibungen genutzt oder auch für Wohnungen?«, knurrte er.
Merri Lee antwortete nicht und das war Antwort genug.
»Was noch?«, fragte Vlad.
»Das … Es ist nicht wirklich meine Angelegenheit.«
Er lehnte sich vor. Sie zuckte zurück.
»Sagen Sie es trotzdem«, schlug er vor.
»Ruth Stuart und Karl Kowalski. Jeder wurde dazu angehalten, diesen Sommer einen Garten anzulegen und Gemüse zu pflanzen, um zusätzliche Lebensmittel zu haben und nicht nur auf das Angebot auf dem Mark angewiesen zu sein. Na ja, Ruth und Karl haben Materialien gekauft und ein Hochbeet für ihr Mietshaus gebaut. Es war abgesprochen, dass sie eine Hälfte des Beets nutzen und die anderen Bewohner, einschließlich des Vermieters, sich die andere Seite teilen. Aber kaum war die Arbeit erledigt, schickte ihnen der Vermieter die Kündigung, weil sie unannehmbare Mieter seien. Er will sie bis Ende des Maius aus der Wohnung haben und hat bereits annehmbare Leute gefunden, die am ersten Juin einziehen. Das gibt Ruth und Karl gerade mal drei Wochen, um ein neues Zuhause zu finden und umzuziehen. Sie haben den Vertrag für ein Jahr unterschrieben und hatten kaum Zeit, sich einzurichten. Der … Mann sagt, er wird ihnen die Materialien, die sie gekauft haben, nicht erstatten, und auch nicht die Kaution oder die Miete für den letzten Monat, die sie gezahlt haben, als sie eingezogen sind. Wenn sie annehmbar waren, bevor sie so viel Arbeit in ihr neues Zuhause gesteckt haben, warum sind sie es dann jetzt nicht mehr? Und wenn dieser Kerl damit durchkommt, was hält dann den nächsten Vermieter davon ab, denselben Mist durchzuziehen?«
Und was würde diesen Vermieter davon abhalten, denselben Trick beim nächsten Mieter abzuziehen? Es klang auf den ersten Blick nach einem Menschen-gegen-Menschen-Problem. Schließlich betrogen sich Menschen gegenseitig am laufenden Band.
Aber Karl Kowalski war einer der Polizisten, die direkt mit den Führern des Courtyard zusammenarbeiteten, um dafür zu sorgen, dass nicht jeder Zusammenstoß zwischen Menschen und Anderen in einem ausgewachsenen Kampf endete. Wenn Kowalski dafür als Wolfliebhaber ausgestoßen und aus seinem Zuhause gejagt wurde, mussten die Anderen ihre Aufmerksamkeit auf die Dinge richten, die oberflächlich nach reinen Menschenangelegenheiten aussahen.
Aber wenn Ruthie keine annehmbare Mieterin mehr war, weil sie jetzt für den Lakeside Courtyard arbeitete, dann war zumindest der Ärger mit diesem speziellen Vermieter keine rein menschliche Angelegenheit mehr, oder?
Das würde er mit Großvater Erebus besprechen müssen.
Wenigstens hatte Merri Lee in der Verteidigung ihrer Freunde ihr altes Feuer wiedergefunden und verhielt sich nicht mehr wie ein verschrecktes Häschen. Sie erzählte ihm von Ruthie und Kowalski, aber sie berichtete auch von den Problemen, die sich vor ihr und Michael Debany auftaten. Debany war ein weiterer Polizist, der mit den Anderen zu tun hatte, und Merri Lee arbeitete für den Courtyard. Im Moment lebte sie in einer der Einzimmerwohnungen über der Näherei, aber früher oder später würden sie und Debany als Paar zusammenziehen wollen und sich denselben Anfeindungen ausgesetzt sehen.
»Noch etwas?«, fragte er. Sie hatte ihm schon einiges zum Nachdenken gegeben, aber er spürte, dass sie noch nicht ganz fertig war.
Merri Lee deutete auf die Warnung, dass es noch nicht zu spät für etwas sei.
»Ich glaube, das war kein Teil der Vision. Ich glaube, Meg wollte es dem Mädchen zurufen, das sie gesehen hat.« Sie atmete schwer aus. »Diese beiden Geschichten mit den Mädchen beinhalten ein silbernes Rasiermesser. Die Blutprophetinnen sind in Gefahr, oder?«
Gefahr könnte ein zu schwaches Wort für das sein, was mit diesen Mädchen drohte.
»Danke, Ms. Lee«, sagte Vlad, anstatt auf ihre Frage zu antworten. »Sie und Meg haben mir viel zum Nachdenken gegeben. Aber es ist Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Sie versenden heute die Bestellungen aus dem Buchladen, nicht wahr?«
»Zumindest die Bestellungen, die ich versenden kann.« Merri Lee stand auf, bewegte sich aber nicht auf die Tür zu. »Ruth wollte dir nichts von dem Gemüsebeet oder den … anderen Sachen erzählen.«
»Dann bin ich besonders froh, dass Sie es getan haben.«
Vlad lauschte Merri Lees Schritten, bis sie im Erdgeschoss angekommen war, dann stieß er sich vom Tisch ab und ging zu den Fenstern, die über die Crowfield Avenue hinaussahen.
Verdammte Affen. Plapperten im Radio und in der Zeitung über die erste und letzte Bewegung der Menschen. Humans First and Last. Dabei waren sie Neulinge in der Welt! Die Terra Indigene waren in der einen oder anderen Form schon auf der Welt gewandelt, bevor es Dinosaurier gegeben hatte, aber die Menschen dachten trotzdem, sie hätten das Recht, irgendetwas zu kontrollieren. Und dann die Ansprachen der Mitglieder der HFL-Bewegung, die dieses Denken auch noch unterstützten.
War den Menschen nicht klar, dass die Terra Indigene solche Worte schon zuvor gehört hatten?
Begriffen sie nicht, dass sie mit solchen Worten nur davor warnten, dass sich ein Kampf um den Lebensraum anbahnte?
Und hatten sie sich nie gefragt, was mit all den Städten und Zivilisationen der Menschen geschehen war, die in der Vergangenheit solche Forderungen gestellt hatten?
Aber gut, dachte Vlad. Macht ihr nur. Ihr Affen habt doch keine Ahnung, was da draußen im Wilden Land lauert. Aber ihr werdet es herausfinden. Wenn ihr einen Kampf mit den Anderen in Thaisia herausfordert, werdet ihr es herausfinden.
Während er abwesend den Verkehr betrachtete, der sich die Crowfield Avenue entlang zog, sah er ein Auto, das auf der anderen Seite der Straße an den Rand fuhr und dort anhielt. Zwei Männer stiegen aus, holten ein Käufer-gesucht-Schild aus dem Kofferraum und brachten es im Vorgarten eines der großen steinernen Wohnhäuser gegenüber des Courtyards an. Dann gingen sie zu einem anderen Haus und wiederholten das Ganze.
Vlad schaute über seine Schulter zu den Karteikarten auf dem Schreibtisch. Er studierte die Schilder erneut.
Ich muss das mit Simon besprechen, dachte er, während er sich wieder an den Schreibtisch setzte und eine kurze Mail an alle Sanguinati in Thaisia schickte. Was Meg gesehen hat, ist schon in vollem Gange, und das bedeutet die Blutprophetinnen, das Süße Blut, ist bereits in Gefahr.
Er schloss sein E-Mail-Programm und verließ Howling Good Reads, ohne sich auch nur damit aufzuhalten, Merri Lee zu sagen, dass er ging. Er wechselte zu seiner Rauchgestalt und eilte zu den Kammern, um Großvater Erebus zu berichten.
AN: Alle Sanguinati in Thaisia
BETREFF: WLU
Lest die Stellenanzeigen in menschlichen Zeitungen. Haltet nach den Buchstaben WLU Ausschau. Sie stehen für ›Wolfliebhaber unerwünscht‹ und sind ein Schlag gegen die Menschen, die keine Feinde der Terra Indigene sind. Erstellt eine Liste der Unternehmen, die diese Anzeigen aufgegeben haben. Sucht auch in den Anzeigen für Wohnungen oder Häuser nach diesem Kürzel. Sammelt Informationen, aber handelt noch nicht. Unsere wahre Beute sind die zweibeinigen Raubtiere des Rudels, das sich Humans First and Last nennt. Sie verstecken sich zwischen den anderen Menschen und WLA ist ein Zeichen ihrer Anwesenheit in eurem Territorium.
Unter den Sanguinati werden diese Menschen als Giftzungen bezeichnet werden, da sie andere Menschen mit ihren Worten vergiften.
Bleibt wachsam und erstattet Bericht. Lasst die Giftzungen ans Licht kommen. Dann sind sie einfacher zu töten.
– Vladimir Sanguinati im Auftrag von Erebus Sanguinati