Für Jean

Gott führt den Spieler, der den Bauern.

Doch welcher Gott hinter Gott beginnt das Spiel

mit Staub und Zeit und Traum und Tränen?

Jorge Luis Borges

1

Früher hätte man mir eine goldene Uhr geschenkt. Ich habe nie verstanden, warum. Sollte es dem, der in den Ruhestand geschickt wurde, vor Augen führen, daß seine Zeit abgelaufen war? Statt einer Uhr bekam ich eine Videoaufzeichnung von der Abschiedsfeier. Mein Leben hier ist beendet, mein Tagwerk ist vollbracht.

Nächste Woche werde ich Ganae verlassen und mich in ein Exerzitienhaus auf Kuba begeben. Ich habe nie auf Kuba gelebt. Kanada, wo ich geboren und aufgewachsen bin, ist nur noch Erinnerung. Man könnte fragen, warum ich meine Tage nicht hier beschließen darf. Ich bin einer der letzten weißen Priester auf dieser Insel und der letzte ausländische Direktor des Collège St. Jean. Auf der Abschiedsfeier am Dienstagabend wurde das nicht erwähnt. Aber gestern, als ich allein im Aufenthaltsraum unseres Wohnheims saß und mir das Band ansah, das sie für mich gedreht hatten, sah ich mich so, wie sie mich jetzt sehen müssen. Die Feier fand in der Aula des Gymnasiums statt. Priester, Nonnen, Schüler und Honoratioren, alles Mulatten und Schwarze. An der Wand hinter den Mikrofonen und dem Podium hing ein großes Foto unseres neuen Papstes, ein Halbblut auch er. Und dann, auf dem Weg zum Podium, ein Gespenst aus der Vergangenheit, dieser gebeugte Weiße in einer abgetragenen Soutane, so fehl am Platz wie der Mohr auf einem Bild vom französischen Hof aus dem sechzehnten Jahrhundert. Ich bin ein Mahnmal aus einer Vergangenheit, die sie am liebsten alle vergessen möchten. Sie sind froh, mich scheiden zu sehen.

Doch auf dem Videoband, da weinen sie und umarmen mich. Manche bekennen, mich zu lieben. Einer meiner ehemaligen Schüler, jetzt Außenminister, lobte mich in seiner Ansprache für mein Bemühen, Schüler aus den Slums und den Provinzen an den Segnungen höherer Bildung teilhaben zu lassen. Es gab Applaus für diese Worte, aber wie viele im Publikum haben in diesem Augenblick wohl an Jeannot gedacht? Jeannot, der bedeutendste Meilenstein in meinem Leben, wurde auf dieser Abschiedsfeier mit keiner Silbe erwähnt. Auf dem Bildschirm sieht man mich, umgeben von lächelnden Gesichtern, einen großen Kuchen anschneiden. Das Videoband bescheinigt mir, wie die goldene Uhr früherer Zeiten, daß ich die längste Zeit meines Erwachsenendaseins unter diesen Menschen gelebt und gearbeitet habe. Es ist ein Memento.

Doch was für ein Memento? Ich gehöre dem Albaneserorden an, einem in Frankreich gegründeten katholischen Lehrorden. Anders als ein in den Ruhestand gehender Laie habe ich keine Familie, keine Kinder oder Enkel, keine Bindung an das normale Leben. Mein Bruder und meine Schwester sind Fremde, die ich viele Jahre nicht gesehen habe. Wenn ein Ordensmann in den Ruhestand tritt, ist es, als würde er von einer tödlichen Krankheit niedergestreckt. Sein Erdenwerk ist getan. Nun soll er sich auf den Tod vorbereiten. In einem anderen Zeitalter waren das Jahre der Beschaulichkeit, des Wartens auf die Vereinigung mit Gott und denen, die voraufgegangen sind. Aber für mich ist der Tod ein Geheimnis, die Antwort auf die eine Frage, die mein Leben verzehrt hat.

Bei der Feier am Dienstag sang unser Knabenchor die Schulhymne. Der Text ist von Père Ricard, einem französischen Priester, der vor meiner Zeit hier Direktor war. Die Hymne ist eine Bitte an Gott, unsere Schule zu segnen und Ganae und seinem Volk durch Bildung zu Wohlstand und Glück zu verhelfen. Père Pinget macht sich über dieses Lied lustig, indem er meint, Gott spreche offensichtlich kein Französisch.

Französisch befindet sich jetzt natürlich auf dem Abstieg. Als ich hierherkam, war es gerade umgekehrt. Da war Kreolisch die Sprache der Armen, und wer Französisch sprach, zeigte damit, daß er zur Eliteschicht der Mulatten gehörte oder zumindest gern zu ihr gehören wollte. Jetzt ist Kreolisch Amtssprache. Aber ob Gott Kreolisch spricht?

An das alles denke ich nun, denn ich blicke auf die leeren Blätter im Buch meines Lebens. Meine Jahre in diesem Land haben kaum etwas bewirkt. Das meiste, was ich unternahm, ist mir mißlungen. Aber ich bin ein Mann mit einem Geheimnis, einer nie erzählten Geschichte. Selbst jetzt, da ich sie niederschreibe, frage ich mich: Ist es der rechte Augenblick, die Wahrheit zu berichten?

Wo soll ich anfangen? Beginne ich mit der Beklemmung, die mich gestern abend überkam, als ich in meinem Zimmer das Foto meiner Eltern von der Wand nahm, und noch ein zweites Foto, das mich mit meinem Examensjahrgang an der Universität Montreal zeigt, vor langer Zeit? Ich habe die Bilder in die Reisetruhe mit meinen Siebensachen gelegt, denselben flachen Blechkoffer, den man einst in dieses Zimmer trug, als ich vor dreißig Jahren zum erstenmal nach Ganae kam. Wenn sie diese Truhe nächste Woche hinuntertragen, wird nichts mehr darauf hinweisen, daß ich je hier gelebt habe. Ich glaube, das ist es – dieses Wissen, daß man die Wahrheit über jene Ereignisse vielleicht nie kennen wird –, was mich bewegt, diesen Bericht zu hinterlassen.

Aber wie soll ich ihn abfassen? Wenn man jung ist, glaubt man, daß man im Alter imstande sein wird, zurückzublicken und sich sein Leben in Erinnerung zu rufen. Aber so, wie man die Einzelheiten einer Geschichte schon wenige Monate, nachdem man sie gehört hat, wieder vergißt, so hängen auch die eigenen Jahre herum wie alte Klamotten, vergessen im Kleiderschrank des Gedächtnisses. Habe ich das je getragen? Wer war ich da?

Eine Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Ich kann Ihnen erzählen, daß ich Paul Michel heiße und vor fünfundsechzig Jahren in dem Städtchen Ville de la Baie im nördlichen Quebec geboren bin. Mein Vater war dort Arzt, und als er starb, übernahm mein jüngerer Bruder Henri die Praxis. Warum bin ich nicht Arzt geworden? Ich erinnere mich nicht, als Kind besonders fromm gewesen zu sein. Albanesische Patres haben mich an ihrer Schule in Montreal erzogen, und als ich eine gewisse philologische Begabung erkennen ließ, bot der Orden mir die Möglichkeit, an der McGill-Universität zu studieren, und schickte mich später für ein Jahr zum Studium der Romanistik nach Paris an die Sorbonne. Jetzt im Rückblick kann ich nicht sagen, ob ich je eine wahre Berufung zum Priesteramt hatte. Was mich anzog, war die Missionsarbeit, der Bildung der Armen in fernen Ländern wollte ich mein Leben widmen. Also wurde ich Albaneserpater, wie andere aus meiner Generation zum Friedenskorps gingen.

Priestertum bedeutet Zölibat, und das stürzte mich in schlimme Nöte. Immer wieder fühlte ich das hoffnungslose Verlangen nach einem Mädchen, das ich auf der Straße sah, gefolgt von Depressionen, die meine Gebete nicht zu heilen vermochten. In Paris verliebte ich mich. Sie war eine Mitstudentin an der Sorbonne, und für sie war es eine harmlose Geschichte. Ich war nur ein Freund. Eine Zeitlang spielte ich mit dem Gedanken, das Priestertum aufzugeben und mich ihr zu erklären … aber ich tat nichts dergleichen. Erst als ich nach Ganae versetzt wurde, legte sich meine Sehnsucht nach ihr. Hier würde ich, fern jener Welt, die ich kannte, als ein Diener Gottes leben und sein Werk vollbringen.

Ich wurde bald enttäuscht. Ich war gekommen, um die Armen zu lehren. Ganae liegt in der Karibik, ist aber so arm, wie sonst nur noch ein afrikanisches Land arm sein kann. Achtzig Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten. Die wenigen staatlichen Schulen sind erbärmlich schlecht. Die staatliche Universität ist eine drittklassige Fachschule, die viertklassige Ärzte und Ingenieure produziert. Das Collège St. Jean, unser Gymnasium in Port Riche, ist die einzige echte höhere Bildungsanstalt. Sie wurde gegründet, um junge Leute heranzuziehen, die nach ihrem Schulabschluß auch ins Ausland gehen könnten und an den dortigen Universitäten zugelassen würden. Aus diesem Grund war sie von Anfang an eine Schule für die Söhne der Mulatten, einer Eliteschicht, die auf großen Anwesen hinter hohen Mauern und streng gesicherten Toren lebte, bedient von schwarzem Personal; einer Elite, die französische Lebensart nachäffte, Champagner und haute cuisine genoß und sich über die neueste haute couture und die jüngsten Pariser Skandale ausließ. Als ich am St. Jean anfing, hatten wir keine zwanzig schwarze Schüler in unseren Klassen.

Warum das so war? Père Bourque, unser Direktor, erklärte es so: »Die Mulatten sind und waren immer die Herren Ganaes. Sie beherrschen das Parlament, sie haben Geschäftsverbindungen nach Amerika und Frankreich. Indem wir ihre Kinder erziehen, haben wir die Chance, Einfluß auf das Geschehen zu nehmen. Dies ist eine schwarze Republik, aber auf den Grad der Schwärze kommt es an. Die Hellhäutigen sind tonangebend. Wenn ein noir erfolgreich ist, versucht er in die Klasse der mulâtres einzuheiraten. Außerdem ist unser Erzbischof ein Konservativer. Er möchte den Status quo bewahren.«

Was hätte ich getan, wenn nicht doch eine gewisse Hoffnung auf Wandel bestanden hätte? Wäre ich zum illusionslosen Pragmatiker geworden wie Père Bourque? Zum Glück wurde ich nicht auf die Probe gestellt. Einige Monate nach meiner Ankunft kandidierte in einem dieser politischen Umschwünge, die in Ganae nicht ungewöhnlich sind, ein schwarzer Landzahnarzt namens Jean-Marie Doumergue bei der Präsidentenwahl und versprach, die Folter abzuschaffen, die Demokratie voranzubringen und die Macht der Polizei zu beschneiden. Das Militär sah in Doumergue eine Marionette, mit deren Hilfe es die schwarzen Massen in Schach halten konnte. Doumergue wurde gewählt, aber er ging sofort daran, den Mulatten ihre Privilegien streitig zu machen.

Warum bleiben uns bestimmte Tage, bestimmte Begegnungen im Gedächtnis? Ich erinnere mich noch genau an meine Beklommenheit an jenem Morgen, als ich, umdrängt von acht schwarzen Jungen, vor dem Zimmer unseres Direktors stand. Der Erzbischof war gerade da. Der Direktor öffnete die Tür und bedeutete mir, mit den Jungen hereinzukommen. Ich verneigte mich ehrerbietig vor Erzbischof Le Moyne, einem kalten Bretonen, den ich nicht kannte. Er und der Direktor setzten ihre Unterhaltung fort, als wären die Jungen gar nicht vorhanden.

»Wir haben es mit einer neuen Situation zu tun«, sagte Père Bourque. »Wir haben jetzt einen Präsidenten, der ständig betont, daß er das Mandat habe, die Bildungschancen der noirs zu verbessern, einen Präsidenten, der über Schulen wie die unsere Klage führt. Es gibt sonst keine Schulen wie die unsere. Er meint also unsere Schule. Wenn Euer Gnaden gestatten, möchte ich deshalb vorschlagen, daß wir unverzüglich die Zahl unserer Stipendiaten erhöhen. Ich denke an eine nennenswerte Zahl von Stipendiaten. Vierzig vielleicht. Und es sollten lauter noirs sein.«

Aber der Erzbischof war anderer Meinung. »Ich fürchte, die Elite wird es nicht dulden, daß ihre Kinder zusammen mit Slumkindern aufwachsen. Einige Schwarze mehr, gut. Die Elite möchte nicht als engstirnig gelten, schon gar nicht, solange ein schwarzer Präsident an der Macht ist. Aber vierzig schwarze Schüler – wo wollen Sie die herholen?«

Der Direktor wandte sich an mich. »Père Michel hat da schon vorgearbeitet. Paul?«

Ich hatte einen dicken Packen Prüfungsergebnisse in der Hand. Wie immer damals, war ich nervös und überängstlich. »Euer Gnaden«, begann ich, »ich habe die ländlichen Bezirke bereist, und glauben Sie mir, es war nicht schwierig, schwarze Kinder von überdurchschnittlicher Intelligenz zu finden. Hier sind acht von ihnen. Dieser kleine Kerl hier erscheint mir zum Beispiel hochbegabt. Dabei ist er ein Waise und stammt von den Ärmsten der Armen – aus dem Dorf Toumalie, falls Ihnen der Name etwas sagt, Euer Gnaden.«

Während ich redete, behielt ich die Jungen im Auge. Die anderen sieben standen ergeben da wie Tiere, über deren Verkauf verhandelt wurde. Aber der eine, von dem ich gerade gesprochen hatte – Jeannot hieß er –, sah uns an, als hätte er, nicht wir, über seine Zukunft zu bestimmen. Und dann sagte dieser Junge plötzlich: »Ich möchte Priester werden, Euer Gnaden. Aus Toumalie ist noch nie einer Priester geworden.«

Hinterher beim Mittagessen fragte der Erzbischof: »Sie haben doch gewiß nicht vor, diese kleinen noirs zu Priestern zu machen? Ihr Gymnasium ist kein Priesterseminar.«

Unser Direktor lachte. »Der Kleine aus Toumalie? Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat. Wahrscheinlich, damit wir ihn nehmen. Wissen Sie es, Paul?«

Ich denke, Père Bourque wollte mich nur in das Gespräch mit einbeziehen. Während des ganzen Essens hatte ich kein Wort herausgebracht. Aber da ich unbedingt wollte, daß die Jungen in die Schule aufgenommen wurden, wich ich der Frage aus.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich kenne den Jungen ja kaum.«

Das war die Wahrheit und doch wieder nicht die Wahrheit. Ich hatte mich inzwischen schon sehr mit Jeannot befaßt, obwohl ich ihn erst vor zwei Wochen kennengelernt hatte, als ich die wenigen ländlichen Schulen im Norden der Insel abklapperte. Ein Lehrer in dem Dörfchen Toumalie hatte mich in seine blechgedeckte Schule geführt und mir aufgeregt von einem dreizehnjährigen Jungen erzählt, einem Waisen, den er als »ein Gefäß« bezeichnete, »das alles zu fassen und aufzubewahren vermag«. Ich prüfte den Jungen und staunte. Tags darauf ritt ich auf einem Maultier über eine Straße, die noch nie von einem Auto befahren worden war, bergauf zu einer Lehmhütte inmitten einer Landschaft, die durch dreihundert Jahre unverständigen Raubbaus völlig verödet war. Dort saß auf einer wackligen Veranda eine Frau, deren Gesicht und Körper die deutlichen Spuren des Hungers trugen, mit einem Kind an der Brust. Sie war Witwe und sorgte außer für ihre vier eigenen Kinder auch noch für die beiden verwaisten Söhne ihres Bruders, eines Lagerarbeiters, der vor drei Jahren gestorben war. Einer dieser Waisen war der bewußte Junge, Jean-Paul Cantave, genannt Jeannot. Als ich ihr mein Vorhaben erklärte, gab sie ihn mir so ohne weiteres mit, als schenkte sie mir einen Welpen aus einem zu großen Wurf.

Eine Stunde später ritt ich wieder bergab, hinter mir den Jungen, der die Ärmchen um meine Taille geschlungen hielt, während das Maultier vorsichtig den unebenen Weg hinunterzockelte. Der Junge war klein und schmächtig. Seine Kleidung bestand aus einem schmutzigen Drillichhemd, einer geflickten Hose und Holzpantinen. Man stelle sich das vor: Keine Papiere, keine Unterschrift, keine Dokumente irgendwelcher Art! Was sollte ich mit ihm anfangen, wenn der Erzbischof ihm die Aufnahme in die Schule verweigerte? Man hatte ihn mir einfach geschenkt. Ob die Leute daheim in Kanada auch nur entfernt ahnten, wie das Leben hier aussah? Das ahnte niemand auf der ganzen Welt. So war Ganae.

Die anderen Kinder, die ich ausgesucht hatte, waren keine Waisen und konnten die zwei Wochen, bis wir sie dem Erzbischof vorstellen würden, zu Hause bleiben. Aber Jeannot nahm ich gleich mit in die Schule und brachte ihn in einem Schlafsaal mit zehn anderen Internatsschülern unter, allesamt Mulatten. Nach der ersten Nacht kam er zu mir. »Die lachen mich aus, weil sie zum Schlafen etwas anzuziehen haben. Ich nicht.«

Er sprach nicht zu mir wie ein Dreizehnjähriger zu einer Respektsperson. Vielmehr verkehrten wir von Anfang an wie Freunde. Ich zog sofort los und kaufte ihm einen Schlafanzug und Unterwäsche. Und obwohl er noch gar nicht in die Schule aufgenommen war, besorgte ich ihm auch gleich eine Schuluniform. An den folgenden Tagen lernte er so zu essen wie die Söhne der Reichen, sich in ein Taschentuch zu schneuzen, täglich zu duschen und vor allem Französisch als seine erste Sprache zu benutzen. Bis dahin war das die Sprache gewesen, die er in der Schule lernte, aber nachdem er jetzt unter lauter Jungen war, die besser Französisch als Kreolisch sprachen, beherrschte er es erstaunlich schnell fließend. Und als zwei Wochen später die anderen schwarzen Stipendiaten kamen, gehörte Jeannot schon gar nicht mehr zu ihrer Welt. Der Dorflehrer in Toumalie hatte recht gehabt. Er war ein Gefäß, das alles zu fassen und aufzubewahren vermochte.

Er war mir geschenkt worden. Fast täglich kam er sofort nach dem Unterricht die sechs Straßen weit vom Gymnasium zum Wohnheim, wo die Lehrer wohnten, auch ich. Hyppolite ließ ihn ein, und dann setzte er sich im Gang auf einen Stuhl und las und lernte, aber eigentlich wartete er nur darauf, daß ich mit ihm spazierenging. Wie ein Hund, genau. Ich habe das oft gedacht. Dabei kann ich nicht einmal behaupten, daß er mich unbedingt liebte. Er beobachtete mich, studierte mich, versuchte herauszufinden, was in meinem Kopf vorging. Im selben Moment, in dem er in meine Obhut gekommen war, machte er sich von seinem bisherigen Leben völlig frei. Als ich ihn einmal fragte, ob er schon an seinen Bruder und die Vettern geschrieben habe, antwortete er: »Wozu schreiben, Mon Père? Sie werden mich vergessen. Das ist doch alles vorbei, nicht wahr? Ich lebe jetzt in der Stadt. Ich hätte die Stadt nie gesehen, wenn Sie mich nicht aus Toumalie geholt hätten. Sie werden es nicht bereuen. Ich will Ihnen Ehre machen. Ich bin Ihr Junge.«

Das stimmte allerdings. Die anderen Lehrer nannten ihn »Pauls Jungen«, wenn sie ihn auf den Korridoren des Wohnheims auf mich warten sahen. Und als Weihnachten nahte und das Gymnasium für die Ferien zumachte, was sollten wir da mit Jeannot anfangen? Ich sprach mit Père Bourque. »Soll er solange im Wohnheim bleiben«, sagte dieser. »Er kann bei Hyppolite im Souterrain schlafen. Warum ihn zurückschicken zu Leuten, die ihn weggegeben haben?«

Da ich selbst neu in Ganae war, entdeckten Jeannot und ich in diesen Ferien gemeinsam die Stadt. Wir fuhren mit dem Bus in die Hügel von Bellevue, um uns die prachtvollen Villen der Elite anzusehen. Wir bummelten über die verlassenen Prachtstraßen auf dem Gelände der Zweihundertjahrausstellung und spähten in die leeren Ausstellungsräume, die in den Fünfzigern erbaut worden waren, als die Regierung den törichten Versuch unternommen hatte, die expansionistischen Gepflogenheiten anderer, reicherer Länder nachzuäffen. Wir besuchten das staatliche Kasino am Meer und sahen den eleganten Schweizer Croupiers in ihren weißen Smokings zu, wie sie für die amerikanischen Touristen von den Kreuzfahrtschiffen, die damals noch Port Riche anliefen, das Rouletterad drehten und Bakkaratkarten austeilten. Gemeinsam stromerten wir auf den belebten Märkten umher und spazierten über die Place de la République, um durch die vergoldeten Gitter einen Blick auf den weiß schimmernden Präsidentenpalast zu werfen. Am Weihnachtsmorgen besuchten wir die Messe in der Kathedrale Notre-Dame de Secours und hörten den Chor eine lateinische Messe singen, eine Sprache, die Jeannot gerade zu lernen begonnen hatte. Und einen Tag nach Weihnachten nahm ich ihn dann mit nach La Rotonde.

La Rotonde ist eine Stadt in der Stadt, das aufgedunsene schwarze Herz von Port Riche. Es schmiegt sich an die Hafenanlagen, fern der Souvenirläden, der Märkte und der Parlamentsgebäude um den Präsidentenpalast. Es ist eine große, faulige Wabe aus engen, schmutzigen Gassen, stinkenden Gossen, Hütten aus Sperrholz und Pappkarton, gedeckt mit rostendem Blech; es ist ein Viertel ohne Strom und fließendes Wasser, wo nackte Kinder in schlammigen Pfützen baden, die der Regen der letzten Nacht hinterlassen hat. Hinter den verdreckten Hütten bieten sich junge Mädchen, manche nicht älter als zwölf Jahre, jedem vorbeikommenden Mann für fünfzig Centos an, wenn er feilscht auch für weniger. Hier ist alles käuflich. Abgelegte Kleidung, von amerikanischen Wohlfahrtsverbänden dem ganaesischen Roten Kreuz gespendet, landet in den Straßenbuden von La Rotonde. Sogar menschliches Elend wird hier vermarktet. Wenn man tief genug hineingeht in diesen Irrgarten enger Gassen, kommt man plötzlich auf die Place Napoléon, einen sonnenbeschienenen Platz, wo Krüppel und Zwergwüchsige, Menschen mit schwärenbedeckten Körpern, verwachsene Kinder und Frauen mit unterernährten Babys an der Brust sich allmorgendlich einfinden, um sich zu Paaren einteilen zu lassen: ein verkrüppelter Mann mit einem verwachsenen Kind, eine furunkulöse Frau mit einem Hungerbaby, ein Zwergwüchsiger mit einem blinden Mädchen. Man wird handelseinig, stellt lebende Bilder aus menschlichem Elend zusammen. Gegen Mittag verlassen diese Menschen La Rotonde im langen Zug und gehen auf die Märkte, vor die Andenkenläden und zum Hafen, wo sie den ganzen Nachmittag in der sengenden Sonne sitzen und darauf warten, daß der eine oder andere Tourist von den Kreuzfahrtschiffen ihnen eine Münze in die ausgestreckte Hand wirft.

Warum war ich mit Jeannot nach La Rotonde gegangen? Selbst in der bitteren ländlichen Armut von Toumalie hatte er dergleichen nie gesehen. Und warum wollte er, daß wir da immer wieder hingingen? Waren diese Ausflüge für das verantwortlich, was dann später aus ihm wurde, als er aus diesem Elendsviertel heraus seinen Weg zum Ruhm antrat?

In den Monaten nach Weihnachten war Jeannot nicht der einzige Stipendiat, der sich im Unterricht hervortat. Die anderen sieben waren ebenfalls überdurchschnittlich begabt, und eine Zeitlang war davon die Rede, die Zahl auf vierzig zu erhöhen, wie wir es zunächst vorgehabt hatten. Doumergue, der neue Präsident, versprach noch immer, den Analphabetismus zu bekämpfen und ordentliche Schulen für die Armen zu bauen. Er war bescheiden und zurückhaltend; sein Regime schien milder Art zu sein. Bei offiziellen Empfängen im Präsidentenpalast trug er einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug und auf dem Kopf einen verbeulten Homburg, den er, sowie er auf dem thronartigen Präsidentensessel Platz nahm, mit abbittender Geste dem ordengeschmückten Adjutanten in die Hand drückte, der gleich hinter ihm stand. Alle seine Reden hielt er demonstrativ auf Kreolisch, was der Elite mißfiel. »Ich bin der Präsident des Volkes«, sagte er. »Ich bin schwarz und anspruchslos. Ich bin die fleischgewordene Sehnsucht des Volkes nach einem besseren Leben.«

Glaubten wir ihm? Ich wollte ihm glauben. Ich hoffte, daß wir am Beginn eines neuen Zeitalters standen. Ich beschwor Père Bourque, noch einmal mit dem Erzbischof über die Aufnahme weiterer noirs zu sprechen. Doch der Erzbischof ließ uns wissen, daß keine neuen Stipendiaten aufzunehmen seien. »Offen gesagt«, erklärte er unserem Direktor, »es hat sich nichts geändert, und es wird sich auch nichts ändern. Doumergue ist eine Marionette. Das Militär hält wie immer alle Fäden in der Hand.«

Der Erzbischof irrte. Ich irrte. Es änderte sich sehr wohl etwas. Aber in Ganae kündigt sich Unheil in Form von Gerüchten an, Getuschel, nächtlichen Besuchen, marodierenden Soldaten auf den Straßen. In der Schule lebten wir in einer Welt für sich, so fern von allem wie die Elite in ihren Villen auf Bellevue. Die Verhaftungen, die Folterungen, das brutale Vorgehen gegen die wenigen, die zu demonstrieren wagten, von alledem wurde in den Zeitungen nichts berichtet. Der Rundfunk, diese in einem Land des Analphabetismus so ungemein wichtige Informationsquelle, hüllte sich in majestätisches Schweigen. Parlamentsdebatten bekamen immer bloß andere Politiker mit, nie das Volk. Kaum ein Jahr nach seiner Wahl war Doumergue zum Diktator geworden. Aber wir wußten nichts davon. Zu meiner großen Überraschung war es Jeannot, der mir als erster die Gerüchte hinterbrachte. Ich fragte, woher er das wisse, und er antwortete: »Von Claude Lamballe.«

Claude Lamballe war einer von Jeannots Klassenkameraden. Sein Vater Simon Lamballe war Oberst in der Armee und Lehrer an der elitären Académie Militaire. Zufällig hatte dieser Simon Lamballe zur gleichen Zeit wie ich an der Sorbonne studiert. Wir hatten uns in Paris nie gesehen, aber als ich ihn in Ganae auf einem Schulempfang kennenlernte, freundeten wir uns aufgrund unserer gemeinsamen Erfahrung miteinander an. Und da an der Schule offenbar niemand die Wahrheit über Doumergue wußte, begab ich mich eines Abends nach Bellevue zu Simons Villa.

»Diese Gerüchte?« meinte Simon. »Die stimmen alle.«

»Aber ist es denn nicht so, daß die Armee seine Wahl unterstützt hat? Ich dachte immer, er wäre euer Schützling.«

»War er auch«, sagte Simon. »Aber die Armee ist jetzt der Dr. Frankenstein.«

»Aber er wirkt doch aufrichtig.«

»War er früher vielleicht auch. Ich kenne ihn nicht persönlich. Aber die Geschichte Ganaes ist wie eine billige Schallplatte. Eine Zeitlang spielt die neue Melodie, dann bleibt die Nadel in einer Rille hängen, der Tonarm entgleist und rutscht von der Platte. Jeder ganaesische Regierungschef tritt sein Amt mit dem Versprechen an, die Verhältnisse zu ändern. Die meisten versuchen es gar nicht erst. Aber die wenigen, die es versuchen – nun, denen geht es wie der Schallplatte. Die Nadel bleibt in einer Rille hängen. Es gibt so viele Rillen – die Elite, das Militär, ausländische Geschäftsinteressen, der Analphabetismus des Volkes … suchen Sie sich etwas aus. Fortschritt und demokratische Ideale haben hier keine Chance. Also wird der Regierungschef zum starken Mann, der seine Ideen mit Gewalt durchzusetzen versucht. Feinde müssen ausgeschaltet, Staatsstreiche vorausgeahnt und im Keim erstickt werden. Der starke Mann wird zum Tyrannen. Doumergue ist nichts weiter als ein Opfer der Geschichte unseres Landes.«

»Kann das Militär ihn nicht stürzen?«

»Lassen Sie sich einen kleinen Rat von mir geben, Hochwürden. Sie sind Priester, Ausländer, ein Weißer. Aber so eine Frage dürfen Sie weder mir noch irgendwem sonst stellen. Wenn von Onkel D. die Rede ist, sind Sie nicht mehr sicher, egal mit wem Sie sprechen.«

Ein paar Wochen nach diesem Gespräch besuchte ich einen ehemaligen Schüler, der im Stadtbezirk Laramie wohnte. Als ich sein Haus verließ und durch eine Seitenstraße zum Boulevard Carnot ging, kamen mir vier hünenhafte noirs entgegen, die blaue Seersucker-Overalls trugen und altmodische Lee-Enfield-Gewehre bei sich hatten. Als wir auf gleicher Höhe waren, verstellte mir einer von ihnen den Weg und hielt mir seine Waffe quer vor die Brust. »Zigarette, Mon Pe

Ich sagte, es tue mir leid, aber ich rauchte nicht.

»Wir aber«, sagte einer der Männer. »Drum brauchen wir Geld für Zigaretten. Ein bißchen plötzlich.«

Sie sahen nicht aus wie Bettler. Immerhin hatten sie Gewehre. »Wer sind Sie?« fragte ich.

Einer von ihnen wandte sich an die anderen: »Wer wir sind? Wieso weiß er das nicht? Er ist Priester, kein Tourist. Will er sich über uns lustig machen?«

»Machen Sie sich nicht über uns lustig«, sagte einer der anderen.

»Ich hab noch nie in ein weißes Gesicht geschlagen«, meinte ein dritter. »Vielleicht schlage ich heute endlich mal in ein weißes Gesicht.«

»Geld her, aber schnell«, sagte der erste. »Zehn Peson, klar?«

»Ich bin Priester«, sagte ich. »Wollen Sie einen Priester berauben?«

Kaum hatte ich das gesagt, schlug der erste mir die geballte Faust ins Gesicht. Mir lief das Blut aus der Nase. Der zweite holte mit seinem Gewehrkolben aus und schlug ihn mir gegen die Schienbeine. Ich taumelte und fiel auf die Knie. Sie bildeten einen Kreis um mich. »Zehn Peson«, sagte der erste. »Her damit, sonst nehmen wir sie uns.«

Noch im Knien nahm ich, während mir das Blut in den Mund lief, mein Portemonnaie heraus und gab ihm einen Zehn-Peson-Schein. Zuerst dachte ich, sie würden nun auch mein übriges Geld nehmen, aber nein. Der erste nahm den Geldschein, hielt ihn gegen das Licht, steckte ihn ein und nickte den anderen zu. Dann gingen sie weiter, als gäbe es mich gar nicht.

Sobald sie außer Sicht waren, stand ich mit schmerzenden Schienbeinen auf und kramte nach einem Papiertaschentuch, um mein Nasenbluten zu stillen. Von der anderen Seite der engen Straße beobachtete mich ein junges Mädchen aus einem Fenster im ersten Stock, aber als ich zu ihr hinübersah, zog sie rasch den Kopf ein und schloß die Läden. Ich befühlte meine Nase. Sie tat sehr weh. Vielleicht gebrochen. Hinter mir hörte ich das Klappern von Holzschuhen auf dem Kopfsteinpflaster. Eine hochgewachsene Frau vom Land kam die leere Straße herauf, auf dem Kopf ein großes Bündel Wäsche. Als sie mit mir auf gleicher Höhe war, blieb sie stehen und drehte sich zu mir um, den Kopf hoch erhoben, um ihre Last im Gleichgewicht zu halten. »Eh ben, Mon Pe. Schlechte Zeiten kommen. Ist Ihnen auch nichts passiert?«

»Wer waren diese Männer?«

Sie sah mich mit großen Augen an, als könnte sie die Frage nicht fassen. »Wollen Sie mich zum Narren halten?«

»Bestimmt nicht.«

»Das waren die bleus. Sie sind jetzt die Herren. Wußten Sie das nicht?«

»Nein.«

Sie lachte, daß die schwere Last auf ihrem Kopf wackelte. »Wo sind Sie denn gewesen, Mon Pe?«

Meine Nase war nicht gebrochen, aber so dick geschwollen, daß in der Schule bald alle von dem Überfall wußten. Unterdessen mehrten sich die Männer mit den blauen Seersucker-Overalls und den alten Lee-Enfield-Gewehren auf den Straßen von Port Riche, bis sie ein ebenso gewohnter Anblick waren wie Polizei und Militär. Und als Jeannot und ich auf einem unserer Spaziergänge wieder einmal am Präsidentenpalast vorbeikamen, sahen wir hinter dem Gitter nicht nur die aufgeputzten Palastwachen, die zur Armee gehörten, sondern zusätzlich Männer in blauen Overalls, die sich neben den Wachhäuschen in bequemen Sesseln lümmelten, ihre Gewehre bei Fuß. Nachts hörte man Lastwagen durch die Straßen brausen. Gewehrsalven rissen uns aus dem Schlaf. Am dritten Jahrestag seines Amtsantritts gab Doumergue dann bekannt, daß er die Académie Militaire schließen werde. Ich besuchte meinen Freund Simon Lamballe.

»Es ist aus«, sagte er. »Ich bin meinen Posten los. Man hat mich zum Kommando Nord ›befördert‹. Die Akademie gibt es nicht mehr.«

»Aber warum unternimmt das Militär denn nichts?«

»Unternehmen, was? Jetzt zeigt sich, daß Onkel D. seine Geschichtslektion besser gelernt hat als wir andern alle. Er hat die Zauberformel entdeckt. Erzähle den noirs, daß du ihr Präsident und ein Feind der Elite bist. Laß die Reichen in aller Ruhe so weitermachen wie bisher, dann sind sie dankbar, daß sie verschont bleiben, und geben dem Kaiser, was des Kaisers ist. Wir in der Armee hatten geglaubt, er würde Unfrieden stiften wollen, indem er uns mulâtres ein paar noirs vor die Nase setzt. Aber er hat etwas anderes gemacht. Er hat eine eigene Armee aufgestellt. Die bleus.«

»Und was wird die Armee nun tun?«

Lamballe lachte. »Ich könnte Sie dasselbe fragen. Was wird die Kirche tun? Onkel D. wünscht schwarze Bischöfe. Ganaeser. Ihr Ausländer werdet hinausgedrängt.«

Als ich meinen Lehrerkollegen von Lamballes Prophezeiung erzählte, glaubte keiner daran. Die Kirchenoberen in Ganae waren schon immer Franzosen gewesen. Das Volk war fromm und dem Papst treu ergeben. Der Überfall von Doumergues bleus auf mich sei nur eine Ausschreitung gewesen, meinten sie; ein willkürlicher Übergriff gedungener Rabauken.

Ein paar Wochen später saßen wir gerade beim Abendessen im Refektorium des Wohnheims, als zwei Männer in weißen Anzügen und mit Panamahüten durch die Eingangshalle hereinspazierten und an unseren Tisch traten. Unser Direktor stand auf, verärgert über die Störung.

»Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«

Die Männer beachteten die Frage nicht. Einer besah sich das Essen auf unseren Tellern: Bohnen und Reis. Er griff in die Schüssel und rührte mit den Fingern darin herum. »Wie, kein Fleisch?« fragte er. »Warum essen Sie wie die Bauern, Mes Pères

»Weil wir arm sind«, antwortete der Direktor. »Also, wer sind Sie, und was wünschen Sie?«

»Antiterrorabteilung. Sind Sie Père Bourque?«

»Ja.«

»Wir möchten Sie sprechen. Haben Sie ein Büro?«

Als der Direktor mit ihnen gegangen war, sagte Père Noël Destouts, ein Ganaeser, zu mir: »Ich glaube nicht, daß die von der Polizei sind. Sie benehmen sich wie bleus.«

Der Direktor kam nicht mehr zum Essen zurück. Nach dem Mahl gingen wir wie üblich in den Aufenthaltsraum, wo Hyppolite den Kaffee servierte. Als ich mir eine Tasse vom Tablett nahm, sah ich den Direktor mit den beiden Männern die Treppe herunterkommen. Er geleitete sie zur Tür und ließ sie hinaus. Dann kam er in den Aufenthaltsraum. »Paul? Können Sie einmal kurz mitkommen?«

Die anderen sahen überrascht zu mir. Ich ging mit Père Bourque nach oben, aber er sprach erst, nachdem wir allein in seinem Arbeitszimmer waren und er die Tür geschlossen hatte. Dann ging er an seinen Schreibtisch und nahm ein bedrucktes Blatt Papier in die Hand. »Das hier ist ein Flugblatt, das diese Männer mir heute abend gebracht haben. Sie behaupten, davon seien vorvorgestern abend mehrere in Bellevue und Beaulieu verteilt worden. Von jungen Burschen, die nach Ansicht der Polizei von unserer Schule sein könnten.«

Ich las das Flugblatt. An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr, aber sinngemäß stand darauf, Ganae sei eine Diktatur, und die einzige Möglichkeit, das Volk zu befreien, sei eine Revolution, angeführt von jungen Leuten, die bereit seien, für die Armen ihr Leben zu geben. Das konnte eine verdrehte Fassung von etwas sein, was ich einige Wochen zuvor im Unterricht von mir gegeben hatte. Da hatte ich zu meinen Schülern gesagt, in Ganae werde sich erst etwas ändern, wenn gebildete junge Menschen bereit seien, um der Armen willen ihr bequemes Leben und ihre gesicherte Zukunft aufzugeben.

»Nun, Paul?« fragte Père Bourque. »Können Sie mir dazu etwas sagen?«

»Nein … aber …«

»Aber?«

»Vielleicht«, sagte ich, nach Worten suchend, »könnte das mit einer Bemerkung zusammenhängen, die ich einmal im Unterricht gemacht habe.«

»Deswegen frage ich ja. Ich wollte schon länger einmal mit Ihnen sprechen. Ich weiß, wie Sie zu diesem Land stehen. Aber politische Stellungnahmen vor den Schülern sind höchst unangebracht. Sie sind Priester, kein Politiker. Wir müssen uns sehr vorsehen. Wir sind Weiße in einem schwarzen Land, Ausländer – vergessen Sie das nie. Aber nun, was wissen Sie über diese Flugblätter?«

»Nichts, Hochwürden. Wieso sagt die Polizei, die jungen Burschen könnten von unserer Schule sein?«

»Offenbar wurden fünfzehn arme Seelen verhaftet, die so ein Flugblatt genommen hatten. Man hat diese Leute nach Fort Noël gebracht, und Sie können sich denken, was man dort mit ihnen angestellt hat. Sie haben der Polizei erzählt, die Jungen seien gut gekleidet gewesen, sechs mulâtres und ein noir. Alle gekleidet wie Kinder der Elite.«

Ein Schwarzer. Ich fühlte mein Herz klopfen.

»Jedenfalls«, sagte Père Bourque, »sollten Sie versuchen, Näheres in Erfahrung zu bringen. Und bis dahin sollten wir vor dem übrigen Lehrpersonal nicht darüber sprechen.«

Ich fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Immerzu mußte ich an diesen Polizisten im weißen Anzug denken, wie er mit den Fingern in der Schüssel mit unserem Essen gerührt hatte. Ich dachte an die Verhafteten, die jetzt in Fort Noël saßen, einem Foltergefängnis, wo Oppositionelle zum Schweigen gebracht wurden und verschwanden. Als ich endlich doch einschlief, standen Männer in weißen Anzügen vor mir und brüllten: »Sie sind Weiße in einem schwarzen Land. Ausländer – vergessen Sie das nie.« Ich erwachte von den Geräuschen des Tagesanbruchs in Port Riche. Hähne krähten. Händler aus den umliegenden Dörfern schoben ihre klappernden Karren mit Lebensmitteln über das holprige Kopfsteinpflaster unter meinem Fenster. Eine Kirchenglocke läutete. Ich stand auf und zog mich an. Zeit für die Messe.

Um sechs Uhr war ich in der Schulkapelle, wo meine Gemeinde aus sieben Nonnen eines nahen Klosters bestand. Ich beeilte mich mit der Messe, und um Viertel vor sieben stand ich wartend im Vorraum. Jeannot würde mit den anderen Internatsschülern in die Sieben-Uhr-Messe kommen, die Père Destouts las.

Um fünf nach sieben sah ich Jeannot mit ein paar anderen Nachzüglern angerannt kommen. Ich trat aus dem Schatten hinter dem Weihwasserbecken hervor und bedeutete ihm, mir zu folgen. Hinter der Kapelle befindet sich ein Friedhof. Auf ihm liegen die Priester unseres Ordens begraben, die in Ganae gestorben sind. Es ist ein kleiner, stiller Ort, beschattet von Jacaranda-Bäumen. Wir hörten in der Kapelle Füßescharren, dann Stille, als die Messe begann.

»Gestern abend war die Polizei hier«, sagte ich. »Kannst du dir denken, warum?«

»Wegen der Flugblätter, Mon Père?«

Ich entsinne mich, daß ich Zorn und Angst zugleich empfand. »Ja«, sagte ich. »Demnach war das also dein Werk. Was soll dieser Unfug?«

»Unfug, Mon Père? Sie haben selbst gesagt, daß es an unserer Generation ist, etwas zu tun.«

»Und was habt ihr getan? Was werdet ihr tun? Eine Handvoll Schuljungen ohne Pläne, ohne eine Ahnung vom Lauf der Welt. Bisher habt ihr nur erreicht, daß Unschuldige verhaftet und nach Fort Noël gebracht wurden. Und weißt du auch, was man mit diesen Leuten dort gemacht hat? Weißt du das?«

Ich war laut geworden. Ich sah ihn zucken, als glaubte er, ich würde ihn als nächstes schlagen. »Entschuldige«, sagte ich. »Verzeih mir, ich sollte mich nicht gehenlassen. Wie viele von euch stecken da drin? Und was habt ihr sonst noch getan?«

»Das war erst ein Anfang, Mon Père. Es war meine Idee. Wir haben versucht, die Flugblätter an junge Leute zu verteilen, junge Leute mit Schulbildung. Wenn wir es schaffen, daß sie sich gegen ihre Eltern wenden, ist das ein Anfang. Darum sind wir nach Bellevue und Beaulieu gegangen.«

»Wie viele seid ihr?«

»Vorerst an die zehn. Aber ihre Namen mag ich nicht sagen.«

»Ich frage dich nicht nach ihren Namen. Hast du das Flugblatt verfaßt?«

»Ja.«

Die unbarmherzige Tropensonne hatte hier draußen auf dem Friedhof schon ihren täglichen Überfall begonnen. Wir standen im heißen Hauch des Morgenwindes. Über uns erzitterten die zarten violetten Jacaranda-Blüten, bevor sie herunterfielen. Ich konnte auf den verwitterten Grabsteinen die Namen unserer Patres lesen, Franzosen und Kanadier, die jetzt vergessen waren, ihre Mühsal vorüber, ihre Leiber zu namenlosen Knochen verwest in der erbarmungslosen Erde dieses verlorenen, einsamen Landes. Welchen Sinn hatte ihr Leben in Wahrheit gehabt, so fern von Frankreich oder Quebec? Welchen Sinn würde mein Leben gehabt haben, wenn ich diese Insel einmal so verließ, wie ich sie vorgefunden hatte, immer noch als einen der trostlosesten, hoffnungslosesten Orte auf dieser Erde? Aber noch während ich diese Gedanken schuldbewußt in meinem Herzen bewegte, wurden sie verdrängt von einem anderen, stärkeren Gefühl, einem Gefühl der Angst, Angst eines kinderlosen Vaters angesichts eines hochbegabten schwarzen Jungen, der für mich ein Sohn war. Wie ein Vater dachte ich nicht an Prinzipien oder gerechte Anliegen. Ich dachte an ihn, und wie ich ihn vor Männern in weißen Anzügen und Panamahüten schützen könnte.

»Hör mir einmal zu, Jeannot«, sagte ich. »Wenn einer der anderen Jungen, die diese Flugblätter verteilt haben, von der Polizei erwischt wird, sind sofort seine Eltern da. Ihre Eltern gehören zur Elite, und deren Söhne werden nicht gefoltert und verschwinden nicht auf Nimmerwiedersehen in Gefängnissen. Aber wenn du von Doumergues Polizei gefaßt wirst, ist es aus mit dir. Und wofür? Was kannst du, ein Schuljunge, schon tun, um hier etwas zu verändern? Nichts. Aber wenn du hier deine Ausbildung abschließt und danach ins Ausland gehst, dann kannst du eines Tages vielleicht wiederkommen und wirst die Macht haben, hier etwas zu bewegen. Willst du eigentlich immer noch Priester werden?«

Hinter uns in der Kapelle hörten wir Füßescharren, als die Gemeinde niederkniete.

»Warum fragen Sie, Mon Père

»Wenn du das nämlich noch willst, kann ich es so einzurichten versuchen, daß du zum Studium nach Kanada oder Frankreich geschickt wirst. Hier können wir dir nur ganz bestimmte Dinge beibringen. Für einen Kopf wie den deinen ist das nicht genug.«

»Und wenn nicht?«

»Bitte«, sagte ich, »versteh mich nicht falsch. Ich verlange nicht von dir, daß du Priester wirst. Wenn du es wirst, verzichtest du auf ein normales Leben. Und glaub mir, ich will dir helfen, so gut ich nur kann, egal wie du dich entscheidest.«

Er schwieg.

»Du mußt es nicht jetzt entscheiden«, sagte ich.

»Ich habe mich aber entschieden. Ich will so werden wie Sie. Priester und Lehrer. Einer, der sein Leben für andere opfert.«