Für Jean
»Was soll das heißen, Sie haben kein Zimmer für sie?« sagte Bernard. »Haben Sie denn meinen Brief nicht bekommen?«
Der stellvertretende Geschäftsführer trat an einen Schrank, nahm einen Aktenordner heraus und blätterte darin, bis er den Brief fand. Eileen merkte ihm an, daß er vor Bernard auf der Hut war.
»Haben Sie’s?« fragte Bernard. »Dann sehen Sie ja, daß ich um ein Einzelzimmer für Miss Hughes mit Blick auf den Garden Court gebeten habe, wenn möglich in der Nähe unserer Suite.«
Der stellvertretende Geschäftsführer überflog den Brief. »Ja, ganz recht. In der Tat. Es tut mir schrecklich leid, aber wir sind so daran gewöhnt, für Sie und Mrs. McAuley die übliche Suite zu reservieren, daß wir diese zusätzliche Bitte übersehen haben. Das Ganze ist einzig und allein unsere Schuld.«
»Eben«, sagte Bernard und wartete.
Aber der stellvertretende Geschäftsführer war offenbar in Verlegenheit. »Wir sind leider völlig ausgebucht. Ich werde sofort bei anderen Häusern nachfragen. Einfach wird es allerdings nicht. London ist diese Woche voller Besucher.«
»Wir wollen aber nicht, daß sie in einem anderen Hotel wohnt«, sagte Bernard mit sehr scharfer Stimme.
»Wenn ich dann vielleicht einen Vorschlag machen dürfte?« erbot sich der stellvertretende Geschäftsführer. »Wir könnten im Wohnzimmer Ihrer Suite ein Klappbett aufstellen. Dort könnte die junge Dame schlafen. Tagsüber würden wir das Bett wegräumen, so daß Sie das Zimmer wie gewohnt nutzen könnten.«
Das ginge ohne weiteres, dachte Eileen, sah jedoch, daß Bernard Mona anblickte, als warte er auf deren Entscheidung. Und als Mona stumm blieb, wandte sich Bernard wieder an den stellvertretenden Geschäftsführer. »Es tut mir leid, aber ich denke nicht, daß das geht.«
»In diesem Fall hätte ich noch einen anderen Vorschlag zu machen«, sagte der stellvertretende Geschäftsführer. »Wir haben ein paar Zimmer in der obersten Etage, ehemalige Dienstmädchenzimmer aus der Zeit, als manche unserer Gäste noch mit ihrer eigenen Zofe reisten. Sie sind allerdings nicht sehr komfortabel.«
»Dienstmädchenzimmer.« Bernard verzog das Gesicht.
»Nun ja, es war nur so ein Gedanke. Da wir nichts anderes haben.«
»Das geht bestimmt«, sagte Eileen.
»Dann sieh es dir doch mal an«, meinte Mona. »Bernard, du begleitest sie.« Sie wandte sich an den stellvertretenden Geschäftsführer. »Ich denke, ich möchte jetzt erst einmal in unsere Suite.«
»Aber gewiß, Mrs. McAuley.« Der stellvertretende Geschäftsführer winkte einem Pagen. »Hier entlang, bitte.« Und dann stiegen sie alle zusammen in den Fahrstuhl: Mona, Bernard, Eileen, der stellvertretende Geschäftsführer und der Page. Der stellvertretende Geschäftsführer war jung, sah gut aus und hatte ein sehr nettes Lächeln. Er lächelte Eileen entschuldigend an, als der Fahrstuhl im WÄSCHEKÖRBE und einer zweiten mit dem Schild ZUTRITT NUR FÜR PERSONAL. In der Mitte des Korridors schloß er eine Tür auf, die in ein winziges Zimmer mit niedriger Decke, einem schmalen Einzelbett und einer alten Garderobe führte. Es gab ein Dachfenster und ein kleines Waschbecken. Eileen ging hinein. Das Ganze ließ sich nicht gerade sehr verheißungsvoll an.
siebten Stock hielt, um Mona und den Pagen herauszulassen, und er dabei leicht gegen sie stieß. »Verzeihung«, sagte er, und sie meinte, das mache doch nichts. In der obersten Etage angekommen, führte er die beiden mit einem »Hier entlang, bitte« in einen Flur hinein, vorbei an einer Tür mit der Aufschrift»Du meine Güte«, sagte Bernards Stimme hinter ihr.
»Aber nein, es ist wunderbar«, erklärte sie rasch.
»Meinst du wirklich?«
»Aber ja, das geht bestens.«
»Soll ich dann Ihr Gepäck heraufbringen lassen?« fragte der stellvertretende Geschäftsführer.
»Ja, bitte«, sagte sie und lächelte, während er ihr den Zimmerschlüssel aushändigte.
»Entschuldigen Sie das Versehen«, sagte er zu Bernard. »Es tut mir sehr leid.« Und zu ihr: »Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt bei uns, Miss Hughes.«
Sie sagte, das werde sie ganz bestimmt. Als der stellvertretende Geschäftsführer hinausging, setzte sich Bernard auf das schmale Bett und wippte auf und nieder. »Steinhart.«
»Ich schlafe gern hart«, sagte sie. Sie wünschte, er würde nicht so auf dem Bett herumwippen, in dem sie schlafen sollte.
»Ein Dienstmädchenzimmer. Dabei wollten wir dich
wie eine Königin behandeln«, meinte er in seinem üblichen scherzhaften Ton. »Mal im Ernst, das Bett hier ist hart wie ein Brett. Probier’s mal aus. Na los, probier’s.«»A propos Königin …« sagte sie. Sie wollte sich nicht neben ihn aufs Bett setzen. »Stimmt es wirklich, daß wir hier gleich neben dem Buckingham Palace sind?«
Er stand auf, trat an das schmutzige Dachfenster, sah hinaus und sagte: »Komm mal her.«
Sie sah nichts als Schieferdächer, grauen Himmel, Regen, Regen.
»Siehst du die Mauer dort? Die mit den Eisenspitzen oben drauf?«
Sie bejahte.
»Das ist die Mauer von Buckingham Palace. Wir gehen später mal hin. Das Programm sieht so aus: Wir ruhen uns ein Stündchen aus, machen uns frisch und so weiter. Mona hat gern ein wenig Ruhe nach einem Flug. Dann kannst du zum Kaffee in unsere Suite kommen, und für danach habe ich ein Auto bestellt, das uns zu einer Stadtrundfahrt abholt. Na, was meinst du dazu?«
»Wunderbar.«
»Wegen des Zimmers könnte ich mich allerdings schwarz ärgern. Daß diese Blödmänner meinen Brief nicht lesen. Ich hätte vorsichtshalber anrufen sollen.«
»Ach was, es ist ganz prima, wirklich.«
»Na schön. Dann bis nachher.«
Er ging hinaus, und sie hörte ihn auf dem Flur mit jemandem reden; dann klopfte es an der Tür. Es war ein Page, der ihren Koffer brachte. Als sie ihr Portemonnaie holte, um ihm ein Trinkgeld zu geben, sagte der Page, das habe der Gentleman schon erledigt. Eigentlich, dachte sie, müßte ich auspacken, aber sie trat statt dessen ans Fenster
und sah auf die Mauer hinaus, die laut Bernard der Buckingham Palace war. Er und Mona ruhten jetzt wohl in ihrer Suite aus. Sie würde eine geschlagene Stunde lang in diesem Kämmerchen sitzen und auf die beiden warten müssen. Auf einmal hatte sie Lust, rauszugehen und einen raschen Blick auf den Palast zu werfen. Es kam ihr wie eine Unehrlichkeit vor; es war, als ginge man während der Arbeitszeit kurz vom Geschäft weg, aber egal: sie schloß die Zimmertür ab und fuhr zur Eingangshalle hinunter. Als sie im Erdgeschoß aus dem Fahrstuhl stieg, kam sie direkt neben einem Empfang heraus, hinter dem zwei junge Hausdiener standen, Jungen in ihrem Alter, die Livreen mit Silberknöpfen trugen. Sie stellte sich an den Empfangsschalter. Die beiden waren mit irgend etwas beschäftigt und bemerkten sie eine ganze Weile nicht. Als sie schließlich aufblickten, lächelte Eileen sie an. Der eine war klein, der andere hochgewachsen und gutaussehend. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte der Kleine.»Ja, äh, ob Sie mir wohl den kürzesten Weg zum Buckingham Palace sagen könnten?«
»Buckingham Palace«, wiederholte der Hochgewachsene. Er deutete auf einen großen Stadtplan, der unter der Glasplatte des Schalters lag. »Er ist gleich hier um die Ecke, sehen Sie? Wir sind hier. Die erste links, dann wieder links, und Sie stehen direkt davor.«
»Die erste links und dann wieder links?«
»Ganz recht. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Der Hochgewachsene kam hinter der Theke hervor, ging mit ihr vor den Eingang und wies ihr von der Treppe aus die Richtung. »Halten Sie sich einfach immer links.«
»Danke. Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen. Ich bin nämlich zum erstenmal in London«, sagte sie und
bremste sich dann. Vielleicht hatte sie wie üblich zuviel gesagt. Was kümmert es ihn, ob ich zum erstenmal hier bin? Aber er erwiderte ihr Lächeln.»Also dann, viel Spaß«, sagte er.
Als sie die Treppe hinunterging, fühlte sie sich mit einemmal glücklich. Vielleicht waren die jungen Männer in England anders. Vielleicht lag es zu Hause nicht an ihr, sondern an den Jungen: sie entzogen sich ihr, wenn sie versuchte, nett zu sein, oder sie wurden selber zu nett und versuchten, ihre Brüste zu betatschen. Vielleicht waren die jungen Männer hier netter. Oder weniger anspruchsvoll. Als sie nun losging, kamen ihr von einem Gebäude, das wie ein großer Bahnhof aussah, scharenweise Menschen entgegen, Frauen mit Kopftüchern, Männer mit Hüten, die zusammengeklappte Regenschirme und Aktentaschen in den Händen hielten. Engländer. Sie schaute sie an und überlegte dabei, ob sie wirklich anders waren als die Männer zu Hause, traf aber nur auf die gewohnten Blicke, Augen, die von ihren Beinen nach oben zu ihrem Gesicht wanderten und sie taxierten. Sie ging weiter Richtung Buckingham Palace, vorbei an einem schwarzgolden gestrichenen Tor mit einem Schild, auf dem Royal Mews stand, und etwas weiter an einem zweiten mit der Aufschrift Queen’s Gallery. Wie der junge Hausdiener ihr gesagt hatte, hielt sie sich links, bis sie schließlich vor einem riesigen Gebäude aus weißem Stein stand: wie die Belfast City Hall, bloß viel größer; davor lag ein mit rotem Stein gepflasterter Hof mit hohem Gitterzaun, einer Rotunde und einer Promenade, die zu einer breiten Allee führte, von der auf beiden Seiten kleinere Alleen abgingen. In Wachhäuschen stocksteife Soldaten mit hohen Pelzmützen und roten Waffenröcken, und an jedem Tor die
eigentlichen Wachen, Polizisten in Zweier- und Dreiergruppen. Ein Windstoß fegte plötzlich über den Palasthof, und sie drehte den Kopf davor weg. Ich bin hier. Und weil ich das gesehen habe, sehe ich vielleicht auch all die anderen Städte, New York und Paris, und vielleicht lebe ich sogar irgendwann in einer davon und habe einen Job, der mir soviel einbringt, daß ich Mama einen Haufen Geld schicken kann.Sie schaute zu den großen Fenstern über dem Palasthof auf. Da drin ist die Queen, sitzt vielleicht gerade bei ihren Corgis oder macht sich für irgendeine große Festivität fertig. Sie dachte an das Gesicht der Queen, ein mißbilligendes Gesicht, ein Gesicht, das sie einschüchterte. Unter den Fenstern der Queen trat ein Wachsoldat mit hoher Pelzmütze aus seinem Häuschen, nahm mit knallenden Absätzen Haltung an, schulterte sein Gewehr und marschierte in steifbeinig verzögertem Schritt an der Palastmauer entlang. Gegen den Zaun gedrängt, stellten die Touristen ihre Fotoapparate scharf und warfen sich füreinander in Pose, um ihre Anwesenheit bei dem Ereignis zu dokumentieren. Eileen wandte sich ab und entfernte sich ein paar Schritte von den Leuten. Dabei stellte sie sich wie so oft vor, sie wäre jemand anders. Augenblicklich wurde sie eine Londonerin mit einem guten Bürojob oder auch eine Krankenschwester, die zum Buckingham Palace gekommen war, weil sie sich hier, der günstigen Lage wegen, mit ihrem Freund verabredet hatte. Sie blieb stehen und blickte zu den grandiosen Konturen des Victoria Memorial auf, sah den Autos und Taxis zu, die darum herumsausten und in die königlichen Alleen abbogen. Sie war groß und dünn und trug ihr dunkles, schulterlanges Haar glatt. Ihre Haut war marmorweiß, ihre Augen waren von
klarem Hellblau. Manche Männer mochten sie schön finden, aber bis jetzt ahnte sie davon noch nichts. Männer, Jungen, hatten sie schon immer nervös gemacht. Sie wollte nett sein, wollte von ihnen gemocht werden, aber sie sagte offenbar immer zuwenig oder lächelte zuviel. Und manchmal fiel ihr überhaupt nichts ein, was sie zu ihnen sagen könnte. Sie wohnte bei ihrer Mutter. Abgesehen von der Fahrt nach Dublin mit den McAuleys zu Beginn des Jahres war es heute das erste Mal, daß sie allein verreist war. Das heißt nicht wirklich allein, sie war ja schließlich mit den McAuleys zusammen. Trotzdem, nun war sie hier in London, auf ihrer ersten Reise übers Meer. Und ohne die McAuleys hätte sie sich das nie leisten können.Während sie so zu der Plastik des Victoria Memorial aufschaute, schlug hinter ihr, irgendwo in der City, eine Turmuhr. Sie versuchte mitzuzählen: sie hatte keine Armbanduhr. Schlug es die halbe Stunde, und es war halb zehn? Oder später? Und wenn Bernard McAuley sich mittlerweile ausgeruht hatte und beschloß, auf ihr Zimmer zu gehen und nachzuschauen, ob sie fertig war? Sie machte sich auf den Rückweg, eilte am Palastzaun und an den Soldaten in ihren Wachhäuschen vorbei, vorbei an der Queen’s Gallery und den Royal Mews. Was würden die McAuleys sagen, wenn sie feststellten, daß sie das Hotel verlassen hatte, ohne ihnen Bescheid zu geben? Sie waren offenbar ohnehin schon schlecht gelaunt, sie hatten auf dem Weg zum Belfaster Flughafen und während des Fluges nach London kaum ein Wort miteinander gesprochen. Es wäre schrecklich, sie gleich zu Beginn des Urlaubes, den sie ihr bezahlten, zu verärgern. Wie dumm von ihr, sich einfach so davonzumachen und womöglich dabei erwischt zu werden.
Aber als sie ins Hotel zurückkam, war nichts von ihnen zu sehen, jedenfalls nicht in der Eingangshalle. Während sie auf den Fahrstuhl wartete, fing sie den Blick der beiden jungen Hausdiener auf und lächelte sie an. »Vielen Dank«, rief sie ihnen zu. »Es war ganz leicht zu finden.«
»Haben Sie zufällig auch Prinz Charles gesehen?«
»Aber nein.« Sie lachte, um ihnen zu zeigen, daß sie den Scherz verstanden hatte, und um nett zu sein, aber der Hochgewachsene hatte den Telefonhörer abgenommen, und der Kleine war dabei, einem Gast eine Auskunft zu geben. Wahrscheinlich scherzten sie mit jedem so; wahrscheinlich wollten sie auf diese Art ihre Trinkgelder aufbessern. Der Fahrstuhl kam. Beim Einsteigen sah sie sich rasch nach den beiden um, bereit zu einem Winken oder Lächeln, falls sie hersahen. Aber sie waren beschäftigt.
Mona McAuley lag auf dem Bett, als sie ihren Mann aus dem Badezimmer kommen hörte. Sofort schloß sie die Augen und stellte sich schlafend. Seit zwei Tagen hatte sie kein freundliches Wort zu ihm gesagt – kein Wunder, so wie er versucht hatte, sie für dumm zu verkaufen, erst im letzten Moment hatte er Eileen aus dem Hut zaubern wollen, nachdem er die Tickets gekauft, für London alles organisiert und das Mädchen schon seinen Koffer gepackt hatte. Und beinahe wäre es ihm auch gelungen, wenn sie nicht Freitag ins Geschäft gegangen wäre, wo Eileen sie aus heiterem Himmel fragte, was sie für den Flug anziehen sollte. Er war endgültig übergeschnappt, gar keine Frage. Wenn sie daran dachte, wie sehr sie ihm in letzter Zeit entgegengekommen war, packte sie die kalte Wut. Das war der Dank, und zwar ausgerechnet in dem Urlaub, der eigentlich für sie sein sollte. Sie hörte ihn durchs
Schlafzimmer gehen und in das Wohnzimmer der Suite schlüpfen, hörte ihn leise die Tür schließen, um sie nicht zu stören, und dann flüsternd mit dem Zimmerservice telefonieren, um Kaffee, Croissants und Rosen kommen zu lassen, die er eigens schon vorher bestellt hatte. Sie kannte ihn und seine kleinen Überraschungen.Sie blieb noch ein paar Minuten liegen, bis sie den Zimmerkellner mit dem Kaffee kommen hörte; dann stand sie auf. Wenn sie eines von Bernard gelernt hatte, dann war es Pünktlichkeit. Sie hatte vor ihrer Heirat als Apothekerin bei Crowley’s in Lismore gearbeitet, und das letzte, was sie gewollt hatte, war weiter zu arbeiten. Aber sechs Monate später war sie mit einer Haushälterin, einem Dienstmädchen und ohne jede Beschäftigung in ihrem prächtigen neuen Haus herumgehockt und hatte sich zu Tode gelangweilt. Da hatte Bernard plötzlich versprochen, ihr in dem Kaufhaus in der Royal Street die Kniffe beizubringen. Ich brauche jemand, der mich dort tageweise vertreten kann, hatte er gesagt. Sie hatte geglaubt, er scherze: sie sollte das Kaufhaus McAuleys leiten? Aber er hatte gesagt, du hast nur zweierlei zu tun. Sei immer pünktlich, und wenn du etwas versprichst, dann halte es auch. Und er hatte sich von seinen anderen Geschäften freigemacht, war jeden Morgen mit ihr hingegangen und hatte ihr gezeigt, wie man Ware kauft, mit Vertretern verhandelt, die Abteilungsleiter im Auge behält und für besondere Gelegenheiten wie Weihnachten und das neue Schuljahr bestellt. Er ließ sie eigenverantwortlich Entscheidungen treffen, Entscheidungen, bei denen es um Tausende von Pfund ging. Natürlich hatte sie sich damals gefragt, ob das damit zusammenhing, daß er in anderer Hinsicht plötzlich nicht mehr so aufmerksam war. Ungefähr um diese
Zeit ging ihr auf, daß er vermutlich auf der Couch in seinem Arbeitszimmer masturbierte. Er hatte pornographische Bücher da oben und Bilder von Frauen, und außerdem fand sie Spuren davon. Vielleicht ließ er sie das Kaufhaus einfach nur leiten, damit sie Ruhe gab. Trotzdem, er hatte ihr eine Menge über das Geschäft beigebracht. Wenn du etwas versprichst, dann halte es auch. Und genau das hatte er diese Woche nicht getan.Sie schminkte sich, schlüpfte in Tweedrock, Bluse und Blazer und schlang zur Abrundung einen Hermès-Schal um den Griff ihrer Handtasche. Als der kleine Wecker auf dem Nachttisch genau elf Uhr anzeigte, öffnete sie die Schlafzimmertür und ging ins Wohnzimmer. Sie sah, daß er statt der Jeans, die er im Flugzeug angehabt hatte, nun einen grauen Nadelstreifenanzug trug. Er ließ alle seine Anzüge bei einem teuren Londoner Schneider nähen. Er machte sich deswegen über sich selbst lustig, riß Witze darüber, daß sich ein kleiner Ire aus Lismore wie ein englischer Großkotz aufdonnerte. Sie wußte, daß er solche Bemerkungen auch deshalb machte, um anderen damit zuvorzukommen, aber ihr war ebenfalls klar, daß der Fall nicht ganz so einfach lag. Er hatte gern alles perfekt. Er hatte schon immer Geld gehabt und verstand es, sich das Leben damit angenehm zu gestalten. Aber das war nicht alles. Sie würde ihn nie verstehen, aber wer konnte das schon? Seine Selbstbespöttelung hatte noch eine andere Seite. Sie sollte ihn nicht nur vor Lächerlichkeit bewahren. Es war, dachte sie manchmal, als empfinde er sich in seinem eigenen Leben als Hochstapler.
»Hast du Eileen rufen lassen?« fragte sie und fügte hinzu: »Die Frage erübrigt sich wohl.«
»Ja, ich habe gerade nach ihr geschickt.« Er versuchte
immer noch, den Diplomaten zu spielen. »Ach, übrigens«, meinte er, »hier ist unser Programm.« Er streckte ihr eine Fotokopie hin, als wäre sie ein Hund, der ihn beißen könnte. »Wirf doch mal einen Blick drauf und sag mir, ob es so recht ist.«Sie hielt sich das Blatt dicht vor die Augen. Es ärgerte sie immer wieder, daß sie keine Kontaktlinsen vertrug. Er hatte für alles Zeit und Ort aufgeführt: Restaurants, Museen, Theater. »Hast du überall reserviert?«
»Ja, aber du kannst ja das eine oder andere auslassen, wenn du keine Lust hast. Ich kann immer sagen, daß du deine Schulfreundin besuchst.«
»Für jede Vorstellung drei Karten«, sagte Mona. »Was für eine entsetzliche Verschwendung.«
»Zu manchen wirst du ja wohl mitkommen.«
»Nein, das habe ich dir doch gesagt.«
Er setzte zum Sprechen an, aber sie kam ihm zuvor. »Es ist jemand an der Tür.«
Er drehte sich um. Man hörte ein zweites zaghaftes Klopfen.
»Wer das wohl ist?« fragte sie.
Sofort ging er öffnen. Sie sah ihm zu, wie er das Mädchen zum Tisch geleitete, von ihrem Anblick wie verwandelt und sichtlich stolz auf die Rosen, die er eigens bestellt hatte. Sie konnte sich vorstellen, wie er im letzten Frühjahr an irgendeinem Wochentag nach Hause gekommen, wie der große Mercedes knirschend die kiesbestreute Auffahrt von Tullymore heraufgekommen war, sie sah ihn vor sich, wie er ausstieg und durch den Wintergarten das Haus betrat, wie er die Gummistiefel auszog, die er immer trug, wenn er auf seine Baustellen ging, und wie er dann Mrs. Kane, der Haushälterin, sagte, sie solle
ihm sein Mittagessen auf einem Tablett anrichten. An irgendeinem Regentag vor Monaten hatte er sein einsames Mittagessen beendet, oben in seinem großen Arbeitszimmer, dessen Wände von Büchern über Geschichte, Kunst und Architektur bedeckt waren, seine Privathöhle, ausgestattet mit einer zigtausend Pfund teuren Hi-Fi-Anlage für die klassische Musik, die er nicht mehr hörte. Sie sah ihn vor sich, wie er den Entschluß faßte und wie er dann in seinem Büro, in seinen Geschäften und auf seinen Baustellen anrief, um Bescheid zu sagen, daß er am Nachmittag nicht wie gewohnt vorbeikommen würde. Eines Tages, vor Monaten, hatte er an dem großen Doppelschreibtisch im Erker seines Arbeitszimmers gesessen und angefangen, das Ganze zu planen: sich entschieden, was er in diesem Urlaub unternehmen wollte, mit London telefoniert, Briefe geschrieben, Prospekte studiert. Alles organisiert, bis hin zu diesen Rosen auf dem Tisch, und zwar heimlich, ohne ihr oder Eileen ein Wort zu sagen. Geplant, Eileen mitzunehmen. Als Überraschung. Er liebte Überraschungen. Auf den Parties, die er zu Hause gab, wartete er jedesmal mit irgendeiner Überraschung auf – einem Sänger oder irgendwelchen Spezialitäten oder kleinen Geschenken für die weiblichen Gäste. Mit etwas Besonderem eben, so daß die Leute in der Stadt sagten: ach, wenn sie mal zu den McAuleys eingeladen werden, nach Tullymore, ein Erlebnis ist das, massenhaft zu essen und zu trinken, und immer irgendein Unterhaltungsprogramm, und eine Tanzkapelle haben sie auch. Geld spielt dort keine Rolle. Sie werden sich prächtig amüsieren. Geld verdiente Bernard jede Menge, aber er machte sich nichts daraus: es war nur ein Mittel zum Zweck, obwohl Gott allein wußte, welche Zwecke Bernard eigentlich verfolgte. Manchmal fragte sich Mona, ob er es eigentlich selbst wußte. Aber ganz gleich, womit er sich beschäftigte, ganz gleich, welches neue Interesse ihn gefangennahm – die Musik, die Produktion von Stücken für die Liskean Players, das Reisen, der Besuch von Gemäldegalerien, das Studium der Geschichte, die Baustellen – bis Eileen auftauchte, hatte nichts ihn sehr lange befriedigt. Und seit Eileen war das alles vergessen. Er hatte nie etwas so sehr gewollt, wie er Eileen wollte. Mittlerweile war er nicht mehr zu bremsen, war nicht mehr mit ihm zu reden.»Kaffee, Mona?« Er hatte ihr eingegossen. Sie nahm ihre Tasse und trat ans Fenster der Suite. Sie hörte den Ton, in dem er mit Eileen sprach. Beiläufig, freundlich, aber nicht übermäßig interessiert: eben so, wie ein verheirateter Mann mit irgendeinem Mädchen spricht, das mit seiner Frau befreundet ist. Eileen ahnte nicht das geringste. Aber Mona kannte diesen Ton: Er redete, als wären er und das Mädchen allein im Zimmer. Mona blickte hinaus auf den kleinen Garten, den das Hotel als Garden Court bezeichnete, eine Reihe nasser Rosensträucher um ein Rechteck feuchten, grünen Rasens, auf dem ein rotgetigerter Kater um einen Spatzen herumschlich. Der Vogel schien den Kater nicht zu sehen, doch als dieser sich noch näher heranschob, flog der Vogel hoch in den grauen Londoner Himmel auf. Sie fragte sich, was Bernard getan haben würde, wenn sie sich geweigert hätte, nach London mitzukommen. Denn natürlich konnte er nicht allein mit dem Mädchen verreisen. Sie erinnerte sich noch: Vor ein paar Monaten, als das erste Mal von einer Londonreise zu zweit die Rede war, hatte er ihr gesagt, sie solle allein fahren. Er hatte keine Lust gehabt. Und sie war allein gefahren, nur daß sie sich in letzter Minute nicht ein Ticket
nach London, sondern nach Brüssel, das sie noch nicht kannte, gekauft hatte. Sie blickte zu dem grauen Himmel auf und erinnerte sich an das Plaza Hotel in Brüssel, an die Schallplatte, die dort spielte, und wie sie hatte lachen müssen, als man ihr den Text übersetzte. Madame est servie. Sie hatte die Platte nach Hause mitgebracht. Ein Souvenir.Bernard sagte gerade irgend etwas über Harrods, und nun rief er ihren Namen. »Mona?« Sie wollten irgend etwas von ihr wissen. Sie kehrte in die Gegenwart zurück, wie man aus einer Narkose erwacht, und wandte sich den beiden zu; ihr vages Lächeln teilte Bernard mit, daß sie weit weg gewesen war. Er verstand dieses Lächeln und wiederholte, was er gesagt hatte.
»Ich habe gerade gesagt, daß wir morgen vormittag alle zusammen zu Harrods gehen könnten, Mona. Ich weiß, du willst dir diese Daunendecken für das große Bett ansehen, und wir sollten Eileen die Kosmetikabteilung zeigen.«
»Harrods. Um welche Zeit denn?«
»Tja, wie wär’s mit zehn? Ist dir das recht? Ich dachte, wir könnten hinterher in diesem Weinlokal in der Sloane Street zu Mittag essen, und nachmittags gehe ich dann mit Eileen in die Tate Gallery.«
Er wartete. Gib ihm Antwort.
»Na schön«, sagte sie. »Harrods und Mittagessen. Aber für danach habe ich schon etwas vor.«
»Na gut.« Er wandte sich an Eileen. »Mona hat eine Freundin hier, ein Mädchen, mit dem sie zur Schule gegangen ist. Das Problem ist, ich verstehe mich nicht mit ihr, stimmt’s, Mona?«
»Sie ist meine Freundin«, sagte Mona und ließ es dabei bewenden.
»Wer ist es denn, kenne ich sie vielleicht?« fragte Eileen, das Dummchen.
»Nein, das glaube ich nicht. Ich kenne sie vom Queen’s her.«
»Richtig, es war nicht die Schule, sondern das Queen’s«, meinte Bernard. »Jedenfalls geht Mona sie alleine besuchen.«
»Ach, irgendwie wird das schon klappen«, sagte Mona. »Du zeigst Eileen die Sehenswürdigkeiten, das macht dir doch Spaß, oder, Leuten die Sehenswürdigkeiten zeigen? Ich kenne sie leider schon alle. Aber wir kriegen das schon hin.«
»Aber klar doch«, sagte er.
Um Viertel vor elf fuhr Bateman mit dem Jaguar Sovereign wieder zum Hotel. Es hatte derselbe Türsteher Dienst, der ihm vorhin geholfen hatte, das Gepäck auszuladen; er kam wie Bateman aus der Gegend von Newcastle. Bateman winkte ihm zu und hielt vor dem Taxistand. »Ich hole nur wieder diesen Mann ab, in Ordnung?« fragte er den Türsteher, der ihm zunickte. Bateman stieg aus und begrüßte einen Bekannten, einen Fahrer, der für die Davis Group arbeitete, dann stellte er sich vor die Eingangstreppe und wartete. Nach einer Weile gesellte sich der Türsteher zu ihm. »Dann haben sie dich also für den ganzen Tag, wie?«
»Sie haben den Wagen bis Mitternacht gemietet. Meine Ablösung kommt um sechs.«
»Ich kenne den Mann«, sagte der Türsteher. »Mr. McAuley. Ire. Kommt ein paarmal im Jahr. Mit seiner Frau.« Er lachte unvermittelt. »Der ist in Ordnung«, sagte er. »Der sorgt für dich.« Und entfernte sich, um einem
ankommenden Gast die Taxitür aufzuhalten. Bateman sah auf seine Uhr. Es war Punkt halb zwölf. In diesem Moment sah er sie aus dem Eingangsportal schräg über sich kommen: der Kerl in einem schicken Nadelstreifenanzug, dann die Kleine, eigentlich noch ein Kind, und die Frau, eine sagenhafte Blondine; sagenhafte Beine hatte die. Er ging ihnen entgegen. »Morgen, Sir, Morgen, Madam.« Die Kleine lächelte ihn an.Es gab eine kurze Diskussion darüber, wer wo sitzen sollte. »Vielleicht sollte Eileen vorn sitzen, dort hat sie eine bessere Sicht.« »Nein, Bernard, laß sie hinten sitzen, mit dir zusammen. Dann kannst du sie auf die Sehenswürdigkeiten hinweisen.« Und so kam es, daß die sagenhafte Blondine vorn neben Bateman einstieg, und schon rödelten sie den Birdcage Walk entlang an der Kaserne der Horse Guards vorbei, und der Mann erklärte Bateman wie so ein bescheuerter Fremdenführer den Weg. Bateman tat so, als checke er die linke Fahrspur, und besah sich dabei die Beine neben ihm.
»Fahrer«, sagte der Mann von hinten, »wenn Sie jetzt zur Mall hinunterfahren, kommen wir, glaube ich, gerade rechtzeitig zur Wachablösung um zwölf. Können Sie irgendwo in Palastnähe parken?«
»Ich könnte Sie vor dem Palast absetzen, Sir, und Sie dann zu jeder gewünschten Zeit wieder abholen. Aber eine Parkmöglichkeit gibt es dort nicht.«
»Na gut. Ach übrigens, wie sagten Sie doch gleich, war Ihr Name?«
»Bateman, Sir.«
»Also gut, Bateman, dann machen wir es so. Einverstanden, Mona?«
Neben Bateman seufzte die Frau ganz leise, so leise, daß
es ihr Mann wohl nicht hörte. »Moment«, sagte sie. »Vielleicht habe ich eine bessere Idee. Ich setze dich und Eileen am Palast ab und lasse mich eben rasch zur Conduit Street fahren. Ich könnte dort bei Dior Wimperntusche kaufen. Ich hätte sie schrecklich gern für heute abend.«»Aber ist denn dazu Zeit? Was meinen Sie, Bateman?«
Bateman fand, daß der Mann sich unnötig Sorgen machte. »Ich denke, das wäre zu schaffen, Sir.«
»Ich habe die Wachablösung schon so oft gesehen«, sagte die Frau, zu niemand Bestimmten.
»Also gut. Aber bleib bitte nicht so lange weg. Denk daran, wir haben für ein Uhr einen Tisch reserviert.«
»Keine Sorge, ich bin rechtzeitig da.«
Und so fuhr Bateman die Mall entlang und ließ ihn und die Kleine vor dem Buckingham Palace raus. Die üblichen Touristenhorden drängten sich am Zaun und hockten auf den Statuen am Victoria Memorial; sie erinnerten ihn an Tauben. Er deutete auf eine Stelle in der Nähe des Birdcage Walk und vereinbarte mit dem Mann, sie dort wieder abzuholen. Und als er, die Frau neben sich, die Mall zurückfuhr, sagte sie auf einmal: »Bateman, wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?«
»Arthur, Madam.«
»Wissen Sie was, Arthur, ich glaube, ich habe doch keine Zeit, zur Conduit Street zu fahren.« Sie lachte. »Ich hatte bloß keine Lust, diesen Soldaten bei ihrem Herumgestampfe zuzusehen. Sie sind Engländer, und ich weiß, daß die Engländer sehr stolz auf diese ganzen Zeremonien sind. Oder nicht?«
»Manche schon, ja, Madam. Ich allerdings nicht besonders.«
»Gut. Ich wollte Sie nicht kränken. Suchen Sie uns doch
einfach eine ruhige Straße, wo wir parken und warten können.«»Sehr wohl, Madam. Möchten Sie sich die Beine vertreten? Ich könnte weiter vorn halten, Sie absetzen und in, sagen wir, einer Viertelstunde wiederkommen.«
»Nein. Gibt’s denn hier in der Nähe keine ruhige Straße? Überlegen Sie doch mal.«
Und so fuhr er weiter und bog in die Carlton House Terrace ein. Dort war es ruhig, es gab einen kleinen Privatpark und kaum Verkehr. Große Häuser, Hauspersonal. Er parkte hinter einem Mercedes. Dessen Fahrer rauchte eine Zigarette und hatte dabei ein Auge auf zwei kleine Araberkinder, die herumtollten und gegen die Gitterstäbe des Parkzauns schlugen. Bateman hörte, wie der Fahrer mit ihnen schimpfte, und ihm wurde klar, daß der andere das Kindermädchen spielen mußte. Mein Gott, was man als Fahrer heutzutage alles mitmachte.
»So recht, Madam?«
Mona McAuley ließ den Blick über die stillen, eleganten Häuserreihen schweifen, über den kleinen Privatpark, den Fahrer des anderen Autos, der mit den Kindern schimpfte. Es war kein Fußgänger zu sehen. Sie blickte sich nach hinten um. Die Straße war leer. Sie sah den jungen Fahrer an. »Wir haben das Auto nur für heute, richtig?«
»Ja, Madam.«
Sie drehte sich ihm zu, winkelte dabei ein Bein an. Dann sah sie ihm ins Gesicht, ohne Eile, musterte seine dunkle Uniformjacke, das saubere weiße Hemd, die schwarze Krawatte, die engen schwarzen Hosen. »Es macht Ihnen doch nichts aus, hier zu warten, oder?«
»Überhaupt nicht, Madam.«
»Arthur.«
»Ja, Madam?«
»Nichts. Ich habe bloß Ihren Namen gesagt. Bloß um den Klang zu hören. Gefällt Ihnen Ihr Name?«
Bateman sah sie an. Wollte sie ihn vergackeiern? »Hab nie viel drüber nachgedacht, Madam.«
Sie lächelte. Sie lehnte den Kopf an die lederne Kopfstütze und lächelte ihn an. »Mir gefällt er«, sagte sie. »Es ist ein hübscher Name. Arthur. Er paßt zu Ihnen. Haben Sie gewußt, daß er zu Ihnen paßt?«
Er fühlte, wie er errötete. »Nein«, sagte er. Er sagte nicht »Madam«.
Beim Lunch in Overton’s Restaurant mußte Eileen als erste hineingehen, sie ließen ihr aus Höflichkeit den Vortritt. Hätten sie bloß gewußt, wie zuwider ihr das war, denn der Oberkellner kam direkt auf sie zugeschossen, die wäßrigen Augen voll Argwohn, als wäre sie allein und hätte kein Recht, hierher zu kommen. Und so drehte sie sich in ihrer Verlegenheit hilfesuchend zu den McAuleys um. Sofort trat Bernard vor, sagte etwas, der Oberkellner winkte sie weiter, und sie befand sich erneut an der Spitze einer Dreierprozession, die dem breiten Rücken des Kellners folgte, vorbei an einer Vitrine mit Meeresfrüchten und durch eine Art Vorzimmer, wo Männer beim Sherry saßen, in den eigentlichen Speiseraum mit seinen samtbezogenen Bänken und den mit weißem Leinen und Blumen geschmückten Tischen. Als sie sich setzten, sagte Bernard etwas von Champagner, den er vorbestellt habe, und der Oberkellner wies selbstgefällig darauf hin, daß die Flasche bereits in einem Eiskübel am Tisch stehe. Dann gab er ein Zeichen, und ein arabisch aussehender Kellner eilte herbei
und goß den Champagner in schmale, hohe Gläser, bei denen Eileen sofort das Gefühl hatte, sie könnte sie umstoßen und kaputtmachen. Es entspann sich ein Gespräch über schottischen Räucherlachs und verschiedene Zubereitungsarten für Seezunge zwischen den McAuleys und dem Oberkellner, der ihnen sodann zu weiterer Konsultation große Speisekarten überreichte und sich, gefolgt von seinem arabischen Untergebenen, entfernte. »Arabische Kellner im Overton«, sagte Bernard verstimmt. »Es hat sich einiges geändert.«»Unter anderem auch die Kundschaft«, meinte Mona und ließ ihren Blick über eine Gruppe Japaner in schwarzen Anzügen schweifen. Die McAuleys nahmen sich die Speisekarte vor und begannen darüber zu reden, was gut sein könnte. Eileen griff behutsam nach ihrem Glas und nippte an dem Champagner. Sie hatte erst einmal welchen getrunken, und zwar auf der Party zu Monas dreißigstem Geburtstag an Weihnachten vor einem Jahr. Er schmeckte herb. Sie stellte ganz behutsam das Glas ab und nahm dann die Speisekarte zur Hand. Benimm dich, mein Fräulein, hörte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. Glotz nicht über deine Teetasse wie eine Kuh über die Gartenmauer. Messer und Gabeln liegen so, wie du sie benutzen sollst. Nimm sie von außen nach innen weg. Wenn du etwas nicht weißt, dann mach’s wie deine Gastgeberin.
»Was hättest du gern?« fragte Bernard Eileen.
»Och, entscheidet ihr das. Ihr wißt das am besten.«
»Mona«, sagte er, »was meinst du?«
Mona sagte, Eileen hätte vielleicht gern Schildkrötensuppe, aber Bernard meinte, nein, sie solle doch lieber Austern als Vorspeise nehmen. Ob sie Austern möge? Sie
wisse nicht recht. Sie hätte einfach gern das gleiche wie er und Mona. »Nein, nein, was hättest du gern?« fragte Bernard erneut, und um Zeit zu gewinnen, griff sie nach dem hohen Glas, trank nervös den Rest des Champagners und starrte dabei auf die Speisekarte. Der arabische Kellner tauchte hinter ihr auf und goß ihr nach, obwohl sie nein sagte. Das gefiel Bernard. Er sagte, arabische Kellner seien offenbar mehr auf Zack als englische, aber Frankreich sei das einzige Land, wo die Kellner ihren Job wirklich verstünden. Dann meinte er: »Also, Eileen, wofür hast du dich entschieden?«»Ich weiß nicht. Was nimmst du denn, Mona?«
»Tja«, sagte Mona, »ich denke, als Vorspeise Räucherlachs und dann gegrillte Seezunge.«
»Das nehme ich auch«, sagte Eileen.
»Wirklich?« fragte Bernard nach. »Es gibt doch noch jede Menge anderer Gerichte.«
Er hatte leicht reden, dabei wußte Eileen bei manchen Speisen gar nicht, worum es sich handelte, obwohl sie in der Schule in Französisch so gut gewesen war. Und außerdem standen auf ihrer Karte keine Preise.
»Nein«, sagte sie. »Räucherlachs und dann gegrillte Seezunge. Das hört sich gut an.«
»Na schön, wie du meinst«, willigte Bernard endlich ein. Er rief den Kellner. Eileen nippte am Champagner, erleichtert darüber, daß das Aussuchen vorbei war. Die McAuleys begannen sich in Erinnerungen an eine Scholle zu ergehen, die sie einmal an der Westküste Irlands gegessen hatten. Wenn sie derartige Unterhaltungen führten, wurden von Eileen lediglich aufmerksames Zuhören und ein paar höflich interessierte Laute erwartet. Die McAuleys waren viel herumgekommen, und sie redeten gern
darüber. Ihre Hochzeitsreise vor vier Jahren hatte sie nach Griechenland und Italien geführt, sie waren seither mehrmals in Frankreich und einmal in Spanien gewesen, und sie kamen ungefähr zweimal im Jahr nach London. Lismore ist ein Kaff, pflegte Bernard mit hoher, hämischer Stimme zu sagen. Ein vergammeltes, winziges Kaff, und kein anständiger Mensch sollte darin leben müssen. Und dann machte er sein spöttisches Gesicht und sagte: »Aber wehe, du zitierst mich zu Hause, dann hetze ich dir meinen Anwalt auf den Hals.« Eileen hatte ihn gefragt, ob er schon immer dieser Meinung gewesen sei, und wenn ja, ob er dann je daran gedacht habe, woanders hinzuziehen. Und er hatte gesagt: »Ja, weißt du denn nicht, daß ich vom Geld korrumpiert worden bin? Ganz früh schon. Ob du’s glaubst oder nicht, vorher war ich ein herzensreiner Jüngling, ein Mensch mit Idealen. Als ich am Queen’s für den Bachelor studiert habe, wollte ich plötzlich alles hinschmeißen, fortgehen und mein Leben Gott weihen. Jawohl, das Priesteramt. Aber kaum habe ich zu Hause von meiner Berufung gesprochen, da kam mein lieber alter Herr wie der Versucher persönlich in einer Rauchwolke aus dem Boden geschossen, kaufte mir ein nagelneues Auto und schmiß mich mit Geldscheinen zu, die ich am Wochenende in Dublin verbraten konnte. Das war der Sündenfall. Jawohl, im zarten Alter von neunzehn wurde ich zum gefallenen Engel. Ich begann Mammon zu frönen. Und da stehe ich nun. Ein gefallener Engel und ein Versager.«Aber er war natürlich kein Versager, das wußte jeder. Sein großer, schlammbespritzter Mercedes war jeden Morgen, sommers wie winters, auf der Straße, fuhr zuerst nach Lismore, dann hinüber nach Crosstown und wieder
zurück nach Lough Kean, wo er Baustellen hatte, und manchmal, am Nachmittag, noch die fünfundsechzig Kilometer bis Belfast und meistens vor Ladenschluß zurück zu dem Kaufhaus in der Royal Street. Und als Eileen ihrer Mutter davon erzählte, daß Bernard gesagt hatte, er sei ein gefallener Engel, da hatte sie gesagt, das sei Unsinn, Bernard habe es nach dem Studium gar nicht erwarten können, das Geschäft seines Vaters zu übernehmen, denn der Vater, ein Witwer, habe zu dieser Zeit schon schwer getrunken und alles vor die Hunde gehen lassen, während er sich oben in Belfast mit irgendeinem Frauenzimmer herumtrieb. Und Bernard habe wie ein Pferd geschuftet, das Geschäft in der Royal Street umorganisiert und erweitert, die familieneigenen Pubs auf Vordermann gebracht, ein Geschäft in Crosstown und ein weiteres in Liskean gekauft, und mit dreißig, bei seiner Heirat mit Mona, sei er dann der bedeutendste katholische Geschäftsmann im Bezirk gewesen. Versager, moryah!, hatte Eileens Mutter gesagt, die aus Donegal stammte, gälisch sprach und Männer bewunderte, die im Gegensatz zu Eileens Vater geschäftlich erfolgreich waren.