Über das schönste
Gefühl der Welt –
für Anfänger, Fortgeschrittene
und Meister
Der Einfachheit wegen werden nur bei beabsichtigter besonderer Betonung gendergerechte Formulierungen verwendet. Zitate wurden der neuen Rechtschreibung angepasst.
www.kremayr-scheriau.at
eISBN 978-3-7015-0609-5
Copyright © 2018 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG; Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer
Unter Verwendung einer Grafik von LaFifa/shutterstock
Typografische Gestaltung und Satz: Hermann Zanier
Einleitung
Lieben für Anfänger
Lieben für Fortgeschrittene
Lieben für Meister*innen
Das Buch im Buch:
Vertiefende Anmerkungen und Ausführungen
Hier finden sich in der Reihenfolge der Seitenzahlen zusätzliche Informationen, Hinweise und Quellenangaben.
Bibliographie
Personenangaben
Zitatquellen
Den Kern des von uns Liebe Geheißenen bildet natürlich, was man gemeinhin Liebe nennt und was die Dichter besingen, die Geschlechtsliebe mit dem Ziel der geschlechtlichen Vereinigung. Aber wir trennen davon nicht ab, was auch sonst an dem Namen
Liebe Anteil hat,
einerseits die Selbstliebe, anderseits die Eltern- und Kindesliebe, die Freundschaft und die allgemeine Menschenliebe, auch nicht die Hingebung an konkrete Gegenstände und an
abstrakte Ideen.
Lieben ist eine Seinsweise – die Verwirklichung einer bestimmten Art von Energie. Statt Energie könnten wir auch Lebenskraft sagen, und Kraft kann man bekanntlich dosieren 140 (wenn man es »kann«): Sie kann erdrücken oder aufbauen, zerstören oder kreieren – und jedes hat seine Zeit, seinen Beginn und sein Vergehen und trägt dennoch immer auch die Möglichkeit der Wandlung in sich.
Alles, was wir können, haben wir »gelernt«. Alles, was wir »können« wollen, müssen wir erlernen.
Dies ist daher ein Buch übers Lernen – übers Liebenlernen. Liebenlernen bedeutet auch, einzuüben, mit dieser besonderen – eigenen wie auch fremden – Energie »steuernd« umzugehen.
Wir alle haben Begrifflichkeiten und Erfahrungen mit dem, was wir Liebe nennen – und oft scheitern Beziehungen an diesen widersprüchlichen Lernmodellen der Beteiligten. Zur Liebe gehören aber nicht nur erlernte Gewohnheiten – »Liebhabereien« und »Vorlieben« –, sondern auch »Liebenswürdigkeit«. Die fehlt jedoch oft – nicht allein deshalb, weil auf ihre Sinnhaftigkeit vergessen oder verzichtet wurde, sondern weil es von klein auf an passenden Vorbildern 141 gemangelt hat. In den audiovisuellen Medien wird ja eher ein Konträrprogramm vorgeführt. Vor allem wird »Kinozeit« vermittelt, und die unterscheidet sich von der Realzeit durch beschleunigten Zeitablauf – die Zusehenden sollen sich ja nicht langweilen, auf einen anderen Fernsehkanal ausweichen und damit die Einschaltquote mindern.
Lange Weile ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Fadesse, ganz im Gegenteil, sie ist Voraussetzung, etwas, vor allem aber jemanden lustvoll zu erkunden und damit selbst reicher zu werden – an Erfahrung, daher an Wissen, Empfindungen, Gefühlen und auch an Inspiration.
Daher will dieses Buch auch Lernlust vermitteln, Aha-Erlebnisse in der Rückschau auf die eigene Entwicklung und Freude am Gegenwärtigen wie auch in der Vorschau auf Künftiges – und dazu gehört, die »schöpferische Expansion« zu spüren, wenn das Herz weit und manch ruhender Körperteil »lebendig« wird, wenn man auch geistig-seelisch wächst und wissender und hoffentlich liebevoller und liebenswerter wird.
Lernen soll in diesem Sinn als ein Erleben verstanden werden, in dem Informationen und Fähigkeiten neuronal – d.h. im zerebralen Nervengeflecht 142 – verankert werden. Je öfter oder je intensiver dies geschieht, desto dauerhafter sind diese Inhalte im Gedächtnisspeicher 143 vorhanden und können »bei Bedarf« abgerufen werden – vorausgesetzt, man hat dafür auch eine »Bedienungsanleitung« 143 verinnerlicht. Manchmal tauchen aber auch längst vergessene – mehr oder weniger »verlernte« – Kenntnisse oder Verhaltensweisen auf, und gelegentlich geschieht dies so unerwartet, überraschend, überflutend, dass man sich diesen Gefühlen oder auch Gedanken gegenüber hilflos ausgeliefert sieht. Das kann auch Liebesgefühle betreffen.
Gefühle kann man körperlich empfinden und seelisch aushalten oder abwehren – man kann sie aber auch bloß »denken« 143. Dann spürt man das vermeintliche Gefühl aber nicht »am rechten Platz« – dort, wo es eigentlich hingehört –, etwa in der Kehle (Angst, Scham), im Herzen (Liebe, Trauer), im Bauch (Kränkung, Wut) oder noch tiefer, im Unterleib (Begehren, Hingabebereitschaft), sondern im Kopf. Dann hat man vermutlich irgendwann einmal eine »Sperre« errichtet (bekommen): Man hat sich »zusammengenommen« und man ist »kontrolliert«.
Vielfach werden die Orte dieser »Absperrungen« sogar durch Kleidung verstärkt: Dann schnürt einem der Kragen die Luft ab, damit nur ja kein verräterischer Laut hervordringt – bis einmal doch »der Kragen platzt«. Oder der eng geschnallte Gürtel (von Korsagen ganz zu schweigen) verhindert, dass zu viel Lust bewirkende Energie den Unterleib durchflutet (und folglich im vernünftig denkenden Hirn fehlt), und das betrifft nicht nur die Liebeslust, sondern auch deren Ersatz: die Lust am Essen und Saufen. Wenn also Dichter schildern, wie »der Gürtel gelöst wird«, so ist damit auch die einengende Barriere zwischen »Oben« (Eltern, Gesellschaft, Sitte und Moral) und »Unten« (den Tiefen der Leidenschaft oder auch nur Egozentrik) angesprochen. Mit der sollten primär unerwünschte Liebschaften und ihre Folgen verhindert werden.
Lass’ es leben,
Gott hat’s mir gegeben,
mein Haar!
Sexuelle Befreiungsbewegungen präsentierten daher immer auch offene Hemdkrägen und Flatterhemden und jüngst den tiefgerutschten Hosenbund samt Nabelfreiheit. Und ungezügeltes Haupthaar 144. Krawatten, Büstenhalter und Korsette (und Kopfbedeckungen!) galten in solchen Epochen plötzlich nicht mehr als Symbole zivilisierter Zurückhaltung, sondern wurden auch als gezielte Zurichtung zu gehorsamen Untertanen enttarnt. Das betraf auch die jegliche Bewegung einschränkenden, früher üblichen Wickelpolster für Säuglinge.
Lieben bedeutet immer »aufzumachen«. »Der Liebe sich zu öffnen, heißt offen zum Tode zu sein«, heißt es bei Ulla Berkéwicz. Ich präzisiere: Offen dem »kleinen Tod« in der orgastischen Selbstentgrenzung gegenüber – wie auch dem unvermeidlichen Tod der Liebesbeziehung, der irgendwann eintritt, biologisch oder psychologisch, sozial oder auch in der spirituellen Transformation (nämlich im Übergang zum zeitlosen »ewigen Leben«).
Wenn man hemmende Selbststeuerung bewusst, zielorientiert und auf den kurzen Augenblick einer Verlockung (z. B. Süßigkeiten) angelegt ausführt, beschädigt sie die Fühlfähigkeit kaum; wird diese Verhaltensweise aber chronisch und damit zur Charaktereigenschaft, leidet nicht nur das Mitgefühl, sondern auch die Selbstwahrnehmung. Alexithymie, die Unfähigkeit, Gefühle bei sich wie bei anderen wahrzunehmen, ist laut der Weltgesundheitsorganisation WHO 144 im Zunehmen und eine der Ursachen von steigender Gewalttätigkeit, Ausbeutung, Missachtung und psychischer Verwahrlosung. Das hat mit den permanenten Geschwindigkeitserhöhungen im Beruf, aber auch im Privatleben zu tun, denn in der gegenwärtigen Warenwelt braucht man immer mehr Zeit zum Kaufen – zum Konsumieren kommt man ja oft gar nicht mehr und zum Genießen noch weniger. (Die angeblich im Internet-Shopping eingesparte Zeit verliert man in Wirklichkeit durch das übergroße Angebot und die verlängerte Qual der Wahl, aber zur Abhilfe kann man ja einen Einkaufsberater – Partnerschaftsvermittlungen mitgemeint – buchen!)
Fühlen braucht Zeit. Man muss dazu alle Wahrnehmung erweitern, verfeinern und vertiefen, und das geht nicht schnell – außer man gehört zu den hypersensiblen 145 Menschen, die aber unter dieser steten Reizüberflutung echt leiden und bedauerlicherweise oft als Hypochonder verspottet werden. Man sollte dieses hochsensible Wahrnehmen auch wieder einbremsen können, um in einer wenig rücksichtsvollen Alltagswelt selbstschützend zu bestehen. Aber wie alles, was wir »können«, muss beides, die Sensibilität und ihre Zurücknahme, erlernt und eingeübt werden: Wir brauchen dazu Wahrnehmungsnervenzellen, um bei uns wie auch bei anderen das Wahre wie auch das Vorgetäuschte zu erkennen, und wir brauchen Handlungsnervenzellen, um passende Verhaltensalternativen wählen zu können (Sprechen, Schweigen und Nichtstun mitgemeint).
Sigmund Freud soll den gesunden Menschen als »arbeits- und liebesfähig« definiert haben. In der gegenwärtigen »flüchtigen« Gesellschaft mit ihrer Forderung nach dem »flexiblen« Menschen läuft die Liebesfähigkeit Gefahr, unbedacht der Arbeitsfähigkeit geopfert zu werden. Wer nicht unbeschadet dem steigenden Tempo-Druck gewachsen – »resilient« 145 – ist, gilt als nicht belastbar und bietet damit als sogenannter »Minderleister« das ideale Mobbing-Opfer. Das führt wiederum dazu, dass man aus Selbstschutz zu-macht, damit erst recht an Liebenswürdigkeit verliert, meist (zumindest insgeheim) noch mehr abgelehnt wird (auch von sich selbst) und damit in einen Teufelskreis schwindender Liebe im Außen wie im Innen gerät.
Genau deswegen erscheint es mir wichtig, einige Aspekte dessen, was oberflächlich unter dem Wort Liebe 146 vermittelt wird, einer näheren Durchleuchtung zu unterziehen. Vieles davon zeigt sich als Bewahrung kindlicher Liebeserlebnisse – und das ist ja auch etwas durchaus Wertvolles! Manches hat sich als pubertäres Protzverhalten auf Dauer verfestigt, einiges kann als Nachahmung filmischer Vorbilder enttarnt werden, und etliches ist ein ehrliches Suchen nach einem passenden Stil für neue Situationen. Denn so wie wir mit erlangter Volljährigkeit noch lange nicht am Ende unserer Entwicklungsmöglichkeiten sind, sind wir es auch nicht in Bezug auf unsere Liebesfähigkeit.
Unser Liebesleben führt uns zumeist durch etliche Irrungen und Wirrungen, weil wir unbewusst die Bezugspersonen unserer frühesten Kindheit oder die medialen Vorbilder aus Film und Werbung nachahmen. Erst wenn es uns gelingt, diese Faktoren bewusst zu erkennen und darauf zu verzichten (und auch aufhören, den versäumten Gelegenheiten nachzutrauern), dann können wir danach trachten, dauerhaft im Zustand des Liebens zu verharren.
Denn dann währt die Liebe ewiglich.
Du bist mein Problem
denn bei dir ist alles anders
Dein Bild fügt sich in keinen Rahmen ein
und nun stehe ich da
Mit dem Reichtum an Erfahrung
um ratlos wie mit 17 zu sein.
Schon bei kleinsten Kindern kann man beobachten, wie sie Vorbilder nachahmen. So zeigte sich, dass Babys, die erst wenige Tage alt waren, ihre Bewegungen mit dem Sprachrhythmus von Erwachsenen koordinieren konnten, und zwar auch dann, wenn es sich um eine andere Sprache als die ihrer vertrauten Bezugspersonen handelte und sogar dann, wenn ihnen nur ein Tonband vorgespielt wurde. Viele wissen auch, dass man einem Baby gegenüber nur den Mund aufzumachen braucht (ein alter Trick beim Füttern!) oder die Zunge herauszustrecken, und der Winzling macht es einem nach. Der Würzburger Gestalttherapeut Frank Staemmler nennt diese »körperbezogene Imitation und Synchronisierung« daher auch die aus entwicklungspsychologischer Sicht »basale und primäre Form der Einfühlung«. Ebenso kann man bei Erwachsenen beobachten, wie diejenigen, die sich aufeinander »eingestellt« haben, über kurz oder lang die gleiche Körperhaltung einnehmen – und manche gut geschulten Verkäufer tun dies mit voller Absicht, um sich bei ihren Kunden beliebt zu machen – und da steckt bereits das Wort Liebe drin!
Aber nicht erst nach der Geburt 147 »lernen« Neugeborene im Austausch mit Menschen, die sich ihnen liebevoll zuwenden, die Fähigkeit, liebevolle Gefühle zu produzieren. Bereits im Mutterleib bilden sich die neuronalen Verschaltungen, die das Verhalten im späteren Leben wesentlich prägen – außer sie werden bewusst »verlernt« und durch andere ersetzt. »Wir brauchen Erinnerungsfähigkeit […] nicht auf das Gehirn beschränken«, weiß der Körperpsychotherapeut David Boadella. »Organismen ohne Hirngewebe oder Nervensysteme haben Erfahrungen. Sie sind empfindungsfähig, reagieren auf ihre Umgebung und handeln danach. Es scheint, dass sogar einzelne Zellen ein bestimmtes System primitiver Erinnerungsfähigkeit an vergangene organische Zustände besitzen.«
Ob sich jemand später geliebt, angenommen und selbstsicher fühlt oder unerwünscht, abgelehnt und in seiner Sicherheit gefährdet, kann als Erfahrung oft bis in die Zeit der Schwangerschaft zurückverfolgt werden. Dabei sind es nicht nur mütterliche Stresshormonausschüttungen, die direkt auf das Ungeborene übergehen – wenn beispielsweise die Schwangere in ihrer Selbstachtung oder Selbstsicherheit bedroht wird, und wenn es nur »böse Worte« des Partners, der Eltern oder unwirscher Nachbarn sind, die wie ein Stich ins Herz erlebt werden (was das blitzartige Zusammenziehen der Herzkranzgefäße im Schock auf diese Attacke andeutet).
Die französische Kinderpsychoanalytikerin Caroline Eliacheff 147 hat aufgezeigt, wie auch unbedachte abwertende Worte, die in unmittelbarer Nähe eines Neugeborenen ausgesprochen wurden, Auslöser für Krankheitssymptome sein können – denn auch wenn das Baby den Sprachinhalt noch nicht semantisch entschlüsseln kann, spürt es die Negativenergie und versteht den verletzenden Sinn und reagiert darauf. Dann verändern sich der Gesichtsausdruck, die Atmung, oft auch die Körperhaltung. Um das zu registrieren, braucht es wiederum eine »qualifizierte«, sprich achtsame Wahrnehmung, und auch diese muss erst »erlernt« – vorgemacht und abgeschaut – werden. Dann gilt es aber, so einer Negativäußerung eine positive entgegenzusetzen – entweder gleich, aber man kann »Giftworte« auch noch mit Zeitverzögerung entschärfen.
Sehr schön symbolisiert ist dieses Geschehen im Märchen vom »Dornröschen«, wenn die verärgerte dreizehnte Fee, die nicht zur Feier der Geburt der Königstochter eingeladen worden ist (weil es nur zwölf Gedecke für die Festtafel gibt), die kleine Prinzessin verflucht, sie solle sich in ihrem 15. Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen, und die zwölfte, die ja ihren Segenswunsch noch nicht ausgesprochen hat, sofort auf »nicht tot«, sondern nur »hundert Jahre Schlaf« korrigiert. Ähnliches berichtet Eliacheff, wenn sie die gedankenlose Kritik der Nahestehenden mit den fehlenden wohlwollenden Sichtweisen ergänzt und umformuliert und damit die eine oder andere Gesundheitsstörung zum Verschwinden bringen kann.
Alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir »wahr«: Wir »bilden« uns unser »Bild« der Welt, und wir »bilden uns etwas ein«. 148 Tatsächlich. Nur vergessen wir zumeist, dass »die Landkarte nicht die Landschaft ist«, sondern nur ein Symbol dafür – wie etwa auch ein Relief oder ein Modell aus Pappmaché oder Plastilin etc. Denn ebenso symbolisieren wir auch »die Dinge« in Sprache und damit in Worten, aber diese »sind« nicht, was sie bezeichnen, sondern eben nur Lautbildungen, damit wir uns verständigen können. Allerdings passt oft die Bezeichnung überhaupt nicht 148 zu dem Gefühlten – man hat bloß nicht nachgeprüft, sondern das »erstbeste« Wort ausgesprochen, das sich rapid aufdrängte.
Mitte der 1990er Jahre entdeckten italienische Gehirnforscher 149 »das Geheimnis der Spiegelneurone«, dass nämlich »prämotorische« – also dem Beginn einer Handlung unmittelbar vorgelagerte – Nervenzellen nicht nur aktiv werden, wenn man selbst eine Handlung startet, sondern auch dann, wenn man solch ein Tun bei anderen beobachtet. Sie nannten diese Neurone Spiegelnervenzellen, weil sie wie ein Spiegel das Beobachtete reflektieren. Das erklärt auch, weswegen viele Menschen ärgerlich reagieren, wenn sie beobachten, wie andere Zärtlichkeiten austauschen: In ihrem Inneren entsteht genau solch ein Impuls – vielleicht auch geschlechtliche Erregung –, aber das durch die jeweilige Erziehung antrainierte Verhaltensprogramm verbietet, dass dieser Impuls dorthin »aufsteigt«, wo er hinwill – ins Herz oder in die gierig oder sehnsüchtig umschlingungsbereiten Arme.
Sobald kleine Kinder ihre Körpermuskulatur soweit einsetzen können, um sich auf andere zu- und auch hinaufbewegen zu können, werden sie versuchen, ihre Bedürfnisse nach Körperkontakt 149, nach Anschmiegen und Gehaltenwerden auszuleben – doch werden sie dann oft wortlos, mit einer widerwilligen Grimasse oder sogar mit Geschimpfe oder Drohungen abgewehrt. Auf diese Weise »erlernen« sie das Bewusstsein, nicht liebenswert (genug) zu sein (im Vergleich mit anderen, denn Vergleiche sind unvermeidlich, solange man sich noch nicht bewusst entschieden hat, mit voller Absicht darauf zu verzichten; gerade kleine Kinder beobachten aber noch mit dem Herzen und nicht unter Einsatz von Verstandeskräften – denn auch das muss man ja erst lernen).
Wir alle lernen lieben, indem wir geliebt werden. Oft ist es ein Großelternteil, der genug Zeit und Muße besitzt (und auch unerschütterte Beziehungsstabilität, weil er oder sie sich beispielsweise als »Single« vielerlei Beziehungsstress erspart und daher seinem »Fleisch und Blut in zweiter Generation« mehr Liebe »zuspiegeln« kann als die durch Erwerbspflichten und Paardynamik gestressten Eltern). Möglicherweise erklären sich damit auch optische und gestische Ähnlichkeiten – wer unbewusst das Mienenspiel anderer übernimmt, gleicht sich an 150.
Außerdem regenerieren sich viele Menschen im Kontakt mit kleinsten Kindern (deswegen sah ja der österreichische Medizinnobelpreisträger Konrad Lorenz in dem von ihm »Kindchenschema« 150 genannten Aussehen von Jungtieren, aber auch Menschenkindern, den psychologischen Auslöser für den »Brutpflegetrieb«): Sie partizipieren 150 an deren meist noch nicht belasteten »reinen« Ausstrahlung. Allerdings kann auch hier eine Fehlreaktion »erlernt« worden sein, nämlich wenn die Herzlichkeitsreaktion, die dieser Anblick auslöst, bei manchen Männern zu sexuellen Phantasien oder Erregungswellen führt und sie glauben, diese sofort in konkreten sexuellen Handlungen abreagieren zu müssen.
Lieben geschieht langsam und dauerhaft. Schnell »abgehandelt« – da steckt das Wort »handeln« drin –, ist es vielleicht Begehren bzw. Gier oder Angst, etwas zu versäumen oder auch etwas zu verlieren (z. B. die Erektion), aber Liebe ist es nicht; es ist vielleicht ein erster Start – und der erweist sich später oft als Fehlstart. Deswegen ist es so wichtig, dass die Bezugspersonen der frühesten Kindheit sich dem Nachwuchs mit Gelassenheit und Geduld 151 widmen und nicht unter Zeitdruck nur oberflächliche Pflichten abarbeiten – sie prägen ja das Zeitempfinden für Zuwendung.
Sich einem anderen liebend zuzuwenden, sollte in der sanft-geschmeidigen Bewegungsform geschehen, wie sie beispielsweise im Tai-Chi praktiziert wird, sonst wird eine andere nonverbale Botschaft vermittelt wie etwa: »Was treibst du denn da?« oder »Gleich hab’ ich dich!« Dann kann sich freundlich gedachte Aufmerksamkeit zum möglicherweise schockierenden Überfall steigern – je nachdem wie sensibel die derart über-rasch-te Person ist.
Viele Menschen werden schon von klein auf wegen ihrer gesunden Sensibilität verspottet. Dabei ist gerade sie ein wesentlicher Überlebensfaktor. Denken wir nur, wie bereits Säuglinge Unmutsäußerungen (Schreien und Um-sich-Schlagen) von sich geben, wenn jemand Unvertrauter in ihr »Revier« eindringt 151. Kinder verlieren die Wahrnehmungsfähigkeit und werden leichter Opfer von Täuschung, Betrug und anderen Gewaltformen, wenn sie manipuliert werden, Grenzüberschreitungen hinzunehmen. Zu solchen Manipulationen zählen Geschimpfe (»Das ist doch die Oma! Wie kannst du nur so schlimm sein!«), Strafandrohungen (»Na warte – wenn du so garstig bist, hab’ ich dich gar nicht mehr lieb!«) oder Wegsperren. Verbannung 151, d. h. Ausschluss und Verweigerung der sozialen Gemeinschaft, ist die ärgste Strafe, die es gibt. Diejenigen, deren Sicherheitsgrenzen von fürsorglichen Erwachsenen respektiert oder gar verteidigt wurden, lernen damit sowohl Grenzen wahrzunehmen wie auch zu verteidigen.
Wird also ein Kind (oder eine Partnerperson) mit Appellen wie »Wenn du mich liebhast, dann tust du …« – im Klartext: »… was ich will« – angesprochen, so geht es dabei nicht um Liebe, sondern um Gehorsam und Unterwerfung. Nebstbei wird das Kind verunsichert und für die spätere Untertanenmentalität diszipliniert. Wenn auf diese Weise »gut erzogene« Kinder als Erwachsene vielfältige Gewalt erleben, reagiert ihr Umfeld mit Verwunderung und Zweifel, wieso sich die- oder derjenige nicht gewehrt hat, und bestreitet, dass sie, seltener er, sich gar nicht wehren konnte (weil sie nicht wissen, dass das nicht kann, wer – noch – keine Handlungsnervenzellen für Selbstverteidigung besitzt).
Das Wort Wahrnehmung beinhaltet Wahrheit, und Selbstwahrnehmung beinhaltet die eigene innere Wahrheit und damit auch die permanente Gefahr, diese um der sozialen Gemeinschaft willen zu verstecken, zu verleugnen oder umzugestalten. Wer kennt sie nicht, die »Schere im Kopf«, die oft Zug um Zug mit dem wahrhaftigen Impuls auffordert, sozial unerwünschte Gedanken oder Gefühle wegzuschnippeln? Mitgegeben haben sie die Bezugspersonen der frühesten Kindheit: manchmal unbedacht, weil sie selbst so erzogen wurden (»Das gehört sich nicht!« und »Wenn dich nur niemand hört!«), manchmal aus egozentrischen Zielen, etwa damit ihr Image keinen Schaden erleidet (denn »Kindermund tut Wahrheit kund«), und manchmal aus berechtigter Sorge vor verfolgenden oder strafenden Machthabern. Außerdem ist es leichter – und noch dazu viel schneller – zu verbieten als zu erklären.
Der Verzicht auf Schnelligkeit ist unabdingbarer Bestandteil jeder Form des Liebens! Gefühle, Empfindungen, Handlungsimpulse müssen keineswegs sofort durch Aktionen beseitigt werden – ganz im Gegenteil! Man kann sie auch »nur« zulassen, aushalten und genießen. Dazu braucht man den »langen Atem«, wie ihn viele ohne Absicht »so nebenbei« in Atemmeditationen erlernen. So schreibt auch der Freiburger Neuroimmunologieprofessor Joachim Bauer in seinem Buch über die Spiegelneurone, »dass jede ausgeführte willentliche Tat mit einer Aktivierung der Handlungsneurone beginnt, die den Plan bzw. das Konzept für die Ausführung der jeweils beabsichtigten Handlung im Programm haben. Erst kurz danach, etwa ein bis zwei Zehntel einer Sekunde später, kommt es zur Aktivierung der die entsprechenden Muskeln kontrollierenden Bewegungsneurone.« Und er betont: »Doch nicht jede Aktivität einer Handlungsnervenzelle führt zur Realisierung einer Tat. Das Handlungsneuron kann feuern, ohne die Handlung auszuführen, es also beim Handlungsgedanken, bei der Vorstellung einer Aktion bewenden lassen. Dies ist das Mindeste, was die Beobachtung oder das Miterleben der Handlungen anderer Personen in jedem Fall auslöst.«
Menschen, die bewusst eine Pause einlegen, bevor sie Impulse in die Tat umsetzen, wird ein »langer Atem« zugesprochen. Die vielen Menschen, die schon von klein auf zur Geschwindigkeit angehalten wurden, verfügen deswegen nicht über diesen langen Atem, weil sie ihn – meist mangels Vorbildern – noch – nicht erlernt haben. Wir lernen ja alle an Vorbildern und üben das abgeschaute Verhalten durch Imitation ein, und das umso mehr, je mehr wir Erfolg damit verzeichnen können. Wenn also in der Fernsehwerbung immer häufiger hörbar in Deutschland produzierte Spots nicht nur Worte wie z. B. »lecker« verbreiten, wird damit auch ein schnellerer und gefühlloserer Sprechrhythmus zur »Übernahme« mitgeliefert. Das mag zwar den Eindruck größerer Effizienz vermitteln, weil »Nachdenkzeit« eingespart wird, energetisch wird Nachahmungsdruck ausgeübt. Das ist grundsätzlich nichts Falsches – man muss nur wissen, dass Tempo nur in bestimmten Situationen angemessen ist (beispielsweise bei Gefahr im Verzug), aber nicht dort, wo wir lieben wollen.
Wir lernen an Vorbildern. Aber welche Vorbilder bieten sich fürs Lieben an? Eltern turteln meist nicht vor ihren Kindern, ganz im Gegenteil: Viele haben selbst keine passenden Modelle erlebt, wie man liebevoll miteinander umgehen kann, ohne die Inzestschranke zu verletzen, manche schämen sich oft auch zärtlicher Gefühle (weil man dabei meist nicht besonders intelligent aussieht und weil sie dafür verspottet wurden, nicht nur von Geschwistern oder Klassenkameraden, sondern oft auch von den Eltern, besonders wenn diese mit dem »Objekt der Begierde« nicht einverstanden waren) oder fürchten Eifersuchtsanfälle von anderen Familienangehörigen und halten sich deshalb zurück.
Ersatzvorbilder bieten Akteure in Film und Fernsehen – und deren Aktivität ist selten alltagstauglich, vor allem aber viel zu beschleunigt, um die Zuseherschaft zu »rühren«. Dass dies doch gelegentlich gelingt, zeugt von hoher Schauspiel- und Regiekunst – vor allem aber auch vom Geschick der Kameraführung.
Es ist ein Unterschied, ob man als Zuschauer aus dritter Position zusieht oder wie ein Beteiligter direkt angesehen wird. Das ist es, was z. B. den Film »Shining« so unerträglich macht: Wenn Jack Nicholson als psychotischer Jack Torrence mit der Hacke in die Tür donnert, hinter die sich Frau und Sohn geflüchtet haben, ist dies aus dem Blickwinkel des Buben aufgenommen, und das Publikum muss sich unfreiwillig mit dem Kind identifizieren und die immense aggressive Energie des Wahnsinns mitfühlen.
Joachim Bauer erinnert daher auch: »Handelt es sich bei einer beobachteten Aktion um ein Geschehen, das dem Beobachter bisher noch nie begegnet ist, zum Beispiel um eine Tat von bisher nicht erlebter Brutalität, dann wird sie als weiteres – potenzielles – Handlungsprogramm in den Bestand der handlungssteuernden Nervenzellen aufgenommen. Ihrer Art nach völlig ungewohnte, neu ins Leben getretene, dem betroffenen Menschen bisher nicht bekannte Handlungssequenzen werden sogar besonders intensiv abgespeichert: Eine Handlung, die wir zum ersten Mal wahrnehmen oder miterleben, sei es etwas Liebevolles oder etwas Fürchterliches, hinterlässt in uns besonders intensive Vorstellungen von ihr.«
Das erklärt, weshalb oft Filmbilder wie »Augenwürmer« (analog den »Ohrwürmern«) nicht aus dem bildhaften Gedächtnis zu vertreiben sind – außer man hat eine dazu passende »Technik« erlernt. Im dritten Band von »Harry Potter« (»Der Gefangene von Askaban«) wird solch ein »Zauberspruch« 152 – eine wirk-liche Autosuggestion – vorgestellt: »Riddiculus!« (das lateinische Vorbildwort lautet ridiculus und bedeutet lachhaft) und fordert auf, das, was Angst auslöst, lächerlich zu machen. (In diesem Zusammenhang sei an die P-Witze erinnert: Sie betreffen Personen, denen gegenüber man sich unterlegen fühlt, wie Pfarrer, Polizisten, Professoren, Psychiater … und, Anfangsbuchstabe hart ausgesprochen, »Plondinen«.)
Wie tief sich in einem Menschen – und besonders in einem logischerweise noch wenig erfahrenen Kind – solch eine Intensivvorstellung einprägt, hängt auch davon ab, ob und wie Nahestehende (nicht nur familiär, sondern auch räumlich gemeint) Beistand leisten. Meist äußern diese nur Durchhalteappelle 153, die im Klartext befehlen: »Sei stark!« und insgeheim heißen: »Belästige uns nicht mit deiner Bedürftigkeit!« Hilfreich ist Anerkennung des augenblicklichen So-Seins (im Verhalten wie im Fühlen, letzteres muss aber überhaupt erst »gekonnt« werden!) und der Frage, was der oder die andere jetzt braucht, um wieder »Fassung« zu gewinnen.
Jeder Mensch braucht wertschätzende Zuwendung. Sich dem anderen aufmerksam und wohlwollend zuzuwenden, ist sozusagen der erste Puzzlestein im Gesamtbild einer liebenden Beziehung und bedeutet: »Ich nehme dich wahr – denn du bist es mir wert, dass ich dich anschaue.«
Schauen kann man auf zweierlei Weise: aufnehmend oder anstrahlend. Das Auge gilt oft als Fenster der Seele und Fenster dienen zum Hinein- wie Hinausblicken (sofern beide nicht durch zu viel Schmutz trüb geworden sind), aber auch, um etwas herein- oder hinauszulassen. Man kann sich darin aber auch spiegeln.
»In der individuellen emotionalen Entwicklung ist das Gesicht der Mutter der Vorläufer des Spiegels« schreibt Donald W. Winnicott. »Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, was sie selbst erblickt.«
Deswegen wäre es wichtig, dass Frauen schon in der Schwangerschaft Modelle der Selbststeuerung kennenlernen, um nicht die eigene, alte oder aktuelle Verzweiflung, Wut oder Trauer auf das noch völlig ungeschützte Kind loszulassen.
Der austro-amerikanische Psychoanalytiker Heinz Kohut erinnert: »Die wichtigsten Interaktionen zwischen Mutter und Kind liegen gewöhnlich im visuellen Bereich: Das Kind bietet seinen Körper der Mutter dar, und sie reagiert darauf mit dem Aufglänzen des Auges.« Umgekehrt schildert er beispielhaft die Entstehung der oft lebenslangen »Sehnsuchtsspannung« am Beispiel einer Klientin und ihrer Erfahrung aus der Kinderzeit: »Sie lief damals heim so schnell sie konnte und freute sich darauf, der Mutter von ihren Erfolgen in der Schule zu erzählen. Sie erinnerte sich dann, wie die Mutter die Tür öffnete, aber das Gesicht der Mutter leuchtete nicht auf, sondern blieb ausdruckslos; und wie die Mutter, wenn die Patientin über Schule und Spiel und über ihre Leistungen und Erfolge berichtete, scheinbar zuhörte und teilnahm, aber unmerklich wurde der Gesprächsgegenstand gewechselt, und die Mutter begann von sich selbst zu sprechen, von ihrem Kopfweh und ihrer Müdigkeit und von anderen Sorgen über ihr eigenes körperliches Befinden. Von ihren eigenen Reaktionen konnte die Patientin nur erinnern, dass sie sich plötzlich energielos und leer fühlte …« Die Bedürftigkeit dieser offensichtlich depressiven Mutter erscheint hier so groß, dass sie ihrer Aufgabe, ihr Kind emotional zu nähren, nicht nachkommen kann, sondern umgekehrt ihre Tochter in die Situation einer Quasi-Therapeutin drängt. Der Psychoanalytiker Mathias Hirsch zitiert in diesen Fällen das Wort vom »Terrorismus des Leidens« und zählt diese Form der emotionalen Ausbeutung von Kindern zu Missbrauch in der Familie. Man kann dieses »Spiel« 153 aber auch anders interpretieren – beispielsweise als Ausdruck der Bedürftigkeit des Erwachsenen, der nicht ahnt, dass er oder sie dem Kind Energie entzieht – weil das Kind dabei »angelernt« wird, für den leidenden Elternteil eine Quasi-Therapeuten-Rolle zu übernehmen, eine totale Überforderung!
Oder der Erwachsene ist so übervoll von seinen eigenen Erlebnissen, dass er jede Gelegenheit wahrnimmt, sich aus-zu-drücken, und gar nicht merkt, wie er dem anderen die soziale Bestätigung verweigert.
So habe ich mich erst kürzlich bei einer beruflichen Kooperationspartnerin über das Befinden ihrer erkrankten Tochter erkundigt und damit bloß ein Stichwort geliefert, dass die Frau ihre eigenen Krankengeschichten zu referieren begann. Mich hat das an meinen Vater erinnert: Wann immer ich etwas von meinen schulischen Herausforderungen erzählen wollte, unterbrach er – Mittelschuldirektor – mich mit den Worten: »Ja – da hab’ ich auch einen in der x.ten Klasse, der hat auch …«, und dann monologisierte er über diesen Schüler. Möglicherweise liegt darin die Wurzel meiner Gewohnheit, Konkurrenzen dadurch zu vermeiden, dass ich mich zurückziehe und einfach was Neues erfinde.
Wenn Winnicott betont, das Kind lerne am Blick der Mutter (»Wenn ich sehe und gesehen werde, so bin ich«), so rate ich dringend, die Bedeutung des Wortes »wenn« auch durch das Wort »wie« zu ergänzen.
Der zärtliche Glanz im Auge der Mutter spendet Liebes-Energie. Die Stolzes-Energie im Blick des Vaters kommt erst später und wird meist an besondere Leistungen geknüpft – wie es der traditionellen Erziehung zur Männlichkeit entspricht (und Leistungsdruck wird gegenwärtig auch immer mehr Frauen vermittelt – die Wirtschaft will ja expandieren und denkt dabei gewohnheitsmäßig nur quantitativ und selten qualitativ). »Bedingte« Liebe – gekennzeichnet durch Fluchreden 154 wie »Wenn du mich lieben würdest, dann würdest du …« bis zu »So habe ich dich lieb …« oder eben »… gar nicht lieb …« – ist aber keine Liebe, sondern das Anbot eines Tauschgeschäfts. Und oft sind solche Tauschgeschäfte nicht freiwillig, sondern blanke Erpressung.
Der Glanz im Auge der Mutter erfordert ein Gefühl zumindest von Staunen über das Winzige, das frau selbst geschaffen und geschafft hat: Da wird sie erlebbar, die bereits zitierte »schöpferische Expansion«, aber diese braucht immer auch Raum (und Zeit) zur Entfaltung. Wenn man sich in Angst oder Not kleinmachen muss, um sich zu schützen, verliert man diesen »Freiraum« zum persönlichen Wachstum.
Für das Kleinstkind sind diese Augenblicke des Geliebtwerdens – Augen-Blicke! – unverzichtbar, um wenigstens einen Ansatz von Liebe in seinem zukünftigen Entwicklungspotenzial zu beherbergen.
Das ist die Tragik von Menschen, die in Angstzeiten – Verfolgungszeiten, Kriegszeiten, Fluchtzeiten – hineingeboren wurden, dass sie Nähe oft nur körperlich als Suche nach Wärme und in Verbindung mit Angst und Verzweiflung vermittelt bekommen. Ähnlich tragisch ist es, wenn sie schwer depressive Mütter hatten.
So erzählte mir eine Klientin, sie habe ihre Mutter immer nur erschöpft auf dem Sofa liegend erlebt, mit dem Gesicht zur Wand, und sie habe nicht geantwortet, nur geseufzt und gestöhnt. An ärztliche Hilfe dachte niemand, und psychologisch-psychotherapeutische gab es damals noch nicht. Eine andere Klientin, die nach der Entbindung in einen schweren Baby-Blues gefallen war, hörte von ihrer Schwiegermutter, die im selben Haus wohnte und nicht berufstätig war, nur böse Kritik: Sie versorge das Neugeborene nicht perfekt (und ebenso den Ehemann). Dabei hätte sie dringend eine einfühlsame Unterstützung benötigt. Die Kritik verstummte nicht einmal, als die junge Frau wegen akuter Suizidgefahr stationär aufgenommen (und im Spital kunstgerecht behandelt) wurde.
Nach den Erfahrungen der Kinderpsychoanalytikerin Caroline Eliacheff sind es aber genau diese Fluchreden, die nicht nur der Mutter Schaden zufügen, sondern auch deren Kind. Deswegen ist es wichtig, dass irgendwer selbst dem kleinsten Kind erklärende Worte zuspricht, dass die üble Rede nicht wahr ist, sondern eine »Fehleinschätzung« 155, ein Irrtum, ein Missverständnis. Es geht in solch einem Fall nicht darum, ob oder dass das Kind den sprachlichen Inhalt »versteht«, im Sinne von »entschlüsseln kann«, sondern dass sein aufkeimendes Liebespotenzial nicht durch abwertende Worte zerstört, hingegen durch liebevolle Worte geschützt wird. Die Herausforderung besteht darin, die emotional heilsamen Worte zu finden. Für erfolgreiche Psychotherapeuten ist das Teil ihrer Sprachkunst, für alle anderen eine Übung in Einfühlsamkeit. Deswegen sind auch alle, die für sich in Anspruch nehmen, liebevolle Menschen zu sein, gefordert, im Sinne von Erster Hilfe 155 zumindest ein bisschen mitzuhelfen, dass solche Augenblicke der Schutzbereitschaft möglich werden.
Phasenweise Lernen
Nicht nur die Bedeutung und die Häufigkeit
der sexuellen Betätigung im Leben insgesamt,
auch die Fähigkeit und die Bereitschaft zu lieben,
sind bei einem sechsjährigen Kind schon weitgehend festgelegt.
So wie sich das Neugeborene »schubweise« körperlich entwickelt, durchläuft es auch seinen seelischen Wachstumsprozess: Gestern noch krabbelnd, steht es plötzlich von einem Tag auf den andern auf. Es ist das Verdienst von Sigmund Freud und Erik H. Erikson, aufgezeigt zu haben, dass und wie diese psychische Ent-Wicklung geschieht – nämlich in aufeinanderfolgenden Phasen, in denen unterschiedliche »Lernaufgaben« bewältigt werden. (Das soll nachfolgend aufgezeigt werden.) In jedem dieser Zeitabschnitte werden bestimmte Fähigkeiten eingeübt, und die können auch die späteren Formen von Liebes- und Beziehungsfähigkeit charakterisieren. Manche sprechen deshalb auch von oral, anal, phallisch oder ödipal »betonten« Menschen, wenn die eine oder andere Verhaltensweise an ein Kind im jeweiligen Alter erinnert.
— In der sogenannten oralen (von Lateinisch os, oris, der Mund) Phase findet die Wahrnehmung der Welt über Lippen, Zunge und Mund statt, deshalb schnappt der aufnahmebereite Säugling nach allem – und wenn es sich nicht als wohlschmeckend und sättigend erweist, spuckt er es schnell wieder aus. Und genau darum geht es auch in diesen ersten Lebensmonaten: vertrauen zu lernen, dass man bekommt, was man braucht, weil achtsame Bezugspersonen verstehen, dass das im Mutterleib über Nabelschnur und Fruchtwasser »automatisch« ernährte Ungeborene nunmehr dieser Sicherheit ermangelt. Es braucht daher beruhigende Worte, um gefühlsmäßig zu erfahren, dass jemand Fürsorge spendet, »that somebody cares«. Das englische Wort care entspricht der lateinischen caritas, und diese ist eine der vielen Formen echter Liebe. Nächstenliebe. Wer lernt, Schritt für Schritt eine kleine Zeitspanne länger zu warten, läuft weniger Gefahr, zum Sklaven seiner Gier (und damit prädestiniert für Suchterkrankungen) zu werden. Er lernt außerdem, nicht in Passivität zu resignieren und ist weniger gefährdet, einer depressiven Störung anheimzufallen. Warten ist der Schlüssel, um aktiv problemlösendes Verhalten zu erlernen. Dazu zählt vor allem, seine Befindlichkeit in Worten mitteilen zu können – und das lernt man im Dialog mit jemandem, der oder die liebevoll danach fragt, was das Kind braucht.
Der österreichisch-ungarische Psychoanalytiker René Spitz beobachtete in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, dass bei Kindern, die in Waisenhäusern lebten, trotz bester Ernährung und Hygiene wesentlich häufiger körperliche und emotionale Störungen auftraten als bei Kindern, die von ihren Müttern oder anderen privaten Bezugspersonen versorgt wurden. Manche der Heimzöglinge schwächelten trotz korrekter Pflege dahin, manche starben an psychisch bedingter »Auszehrung« (Marasmus), also an Formen von Energiemangel. Spitz, der dieses Phänomen anaklitische Depression nannte, führte dies auf mangelnde »Stimulierung« zurück: zu wenig Anlächeln, Ansprache, Berührung, Körperkontakt. Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, wählte für das zugrundeliegende Bedürfnis das Wort stroke (im Deutschen mit »Streicheleinheit« übersetzt, bedeutet es im Englischen aber auch Streich, wie in Backenstreich, und auch Schlaganfall). Auch als Erwachsene, betonte Berne, sehnen wir uns nach Körperkontakt, aber wir lernen, uns an dessen Stelle mit anderen Formen von »Anerkennung« – wie einem vorwurfsvollen Blick oder einer Beleidigung – zufriedenzugeben, denn all dies beweise, dass man zur Kenntnis genommen werde. Der Volksmund spricht bei solchen, oft vergeblichen Bemühungen um Aufmerksamkeit vom »Rütteln am Watschenbaum«, die Transaktionsanalytiker Ian Stewart und Vann Joines hingegen formulieren: »Jede Art von Stroke ist besser als überhaupt kein Stroke.«
Im Idealfall hat man in dieser Entwicklungsphase warten gelernt und ebenso genießen, was ja auch damit zu tun hat, Zeit »dehnen« zu können – und auch, auf die anderen, die Adressat*innen der eigenen Wünsche und Notwendigkeiten, zu achten, um die passende Zeit abzuschätzen.