Elena Ferrante

Lästige Liebe

Roman

Aus dem Italienischen von Karin Krieger

Suhrkamp

für meine Mutter

I

Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai, an meinem Geburtstag, im Meer vor einem Ort namens Spaccavento, wenige Kilometer von Minturno entfernt. In dieser Gegend hatten wir Ende der fünfziger Jahre, als mein Vater noch bei uns lebte, sommers ein Zimmer in einem Bauernhaus gemietet und schliefen den Juli über zu fünft auf nur wenigen, sehr heißen Quadratmetern. Jeden Morgen tranken wir Mädchen ein rohes Ei, nahmen auf sandigen Wegen eine Abkürzung durch hohes Schilf zum Meer und gingen schwimmen. In der Nacht als meine Mutter starb, klopfte es bei der Besitzerin des Hauses, die Rosa hieß und inzwischen über siebzig war, an die Tür, doch aus Angst vor Dieben und Mördern öffnete sie nicht.

Meine Mutter hatte zwei Tage zuvor, am 21. Mai, den Zug nach Rom genommen, war dort aber nicht angekommen. In letzter Zeit hatte sie mich mindestens einmal im Monat für jeweils ein paar Tage besucht. Ich hatte sie nicht gern in der Wohnung. Sie stand, wie sie es gewohnt war, im Morgengrauen auf und putzte Küche und Wohnzimmer von oben bis unten. Ich versuchte, wieder einzuschlafen, doch ohne Erfolg. Steif lag ich unter der Bettdecke und hatte das Gefühl, sie verwandelte meinen Körper mit ihrer Geschäftigkeit in den eines kleinen, runzligen Mädchens. Sobald sie mit dem Kaffee kam, rollte ich mich auf die Seite, um zu verhindern, dass sie mich berührte, wenn sie sich auf die Bettkante setzte. Ihre Geselligkeit ging mir auf die Nerven. Sie ging einkaufen und plauderte zwanglos mit den Händlern, mit denen ich in zehn Jahren höchstens ein paar Worte gewechselt hatte, schlenderte mit ihren Gelegenheitsbekanntschaften durch die Stadt, freundete sich mit meinen Freunden an und erzählte ihnen Geschichten aus ihrem Leben, immer dieselben. Ihr gegenüber konnte ich nur zurückhaltend und unsicher sein.

Beim ersten Anflug von Ungeduld meinerseits fuhr sie nach Neapel zurück. Sie packte ihre Sachen, gab der Wohnung einen letzten Schliff und versprach, bald wiederzukommen. Ich ging durch die Zimmer und ordnete alles, was sie nach ihrem Geschmack umgeräumt hatte, wieder nach meinem Geschmack. Ich stellte den Salzstreuer in das Fach, in dem ich ihn seit Jahren aufbewahrte, gab dem Waschmittel den Platz zurück, den ich seit jeher für den besten hielt, zerstörte ihre Ordnung in meinen Schubfächern, überließ mein Arbeitszimmer wieder dem Chaos. Auch der Geruch ihrer Anwesenheit ‒ ein Duft, der Unruhe in die Wohnung gebracht hatte ‒ verflog nach kurzer Zeit wie der Geruch eines Platzregens im Sommer.

Es geschah häufig, dass sie den Zug verpasste. Für gewöhnlich kam sie dann mit dem nächsten oder sogar erst am folgenden Tag, aber ich gewöhnte mich nie daran und machte mir trotzdem Sorgen. Ängstlich rief ich sie an. Wenn ich endlich ihre Stimme hörte, machte ich ihr Vorwürfe: Warum war sie nicht abgereist, warum hatte sie mir nicht Bescheid gesagt? Sie rechtfertigte sich halbherzig und fragte amüsiert, was ihr nach meiner Vorstellung in ihrem Alter denn wohl passieren könne. »Alles mögliche«, antwortete ich. Schon immer hatte ich mir Hinterhalte ausgemalt, die eigens dazu ausgeheckt waren, sie vom Erdboden verschwinden zu lassen. Als kleines Mädchen hatte ich am Küchenfenster auf sie gewartet, wenn sie nicht da war. Ich sehnte mich danach, dass sie am Ende der Straße auftauchte wie eine Gestalt in einer Kristallkugel. Ich behauchte die Scheibe, um die Straße ohne sie nicht sehen zu müssen. Wenn sie sich verspätete, wurde meine Angst so unbezähmbar, dass ich am ganzen Körper zu zittern begann. Dann flüchtete ich mich in einen Verschlag ohne Fenster und ohne elektrisches Licht, direkt neben dem Schlafzimmer meiner Eltern. Ich schloss die Tür, saß im Dunkeln und weinte still vor mich hin. Diese Abstellkammer war ein gutes Gegenmittel. Das Entsetzen, das sie in mir auslöste, hielt meine Sorgen um das Schicksal meiner Mutter im Zaum. In der undurchdringlichen, vom DDT stickigen Finsternis bedrängten mich bunte Figuren, die sekundenlang vor meinen Augen tanzten und mir den Atem nahmen. »Wenn du nach Hause kommst, bringe ich dich um«, dachte ich, als hätte sie mich dort eingesperrt. Aber sobald ich im Flur ihre Stimme hörte, schlüpfte ich eilig heraus, um dann teilnahmslos um sie herumzustreichen. Dieser Verschlag fiel mir wieder ein, als ich bemerkte, dass sie zwar wie geplant abgefahren, aber nicht angekommen war.

Am Abend erhielt ich den ersten Anruf. In einem ruhigen Ton sagte meine Mutter, sie könne mir nichts erzählen, ein Mann sei bei ihr, der sie daran hindere. Dann lachte sie los und legte auf. Zunächst überwog mein Erstaunen. Ich hielt das Ganze für einen Scherz und fand mich damit ab, auf einen zweiten Anruf warten zu müssen. Ich ließ die Stunden mit Mutmaßungen verstreichen, saß vergebens am Telefon. Erst nach Mitternacht wandte ich mich an einen befreundeten Polizisten, der sehr nett war. Er riet mir, ruhig zu bleiben, er werde sich der Sache annehmen. Doch die Nacht verging, ohne dass man etwas von meiner Mutter hörte. Sicher war nur, dass sie abgereist war. Die Witwe De Riso, eine alleinstehende Frau ihres Alters, mit der sie seit fünfzehn Jahren abwechselnd Phasen guter Nachbarschaft und Phasen der Feindschaft durchlebte, hatte mir am Telefon gesagt, dass sie sie zum Bahnhof gebracht habe. Während meine Mutter angestanden habe, um sich eine Fahrkarte zu besorgen, habe sie ihr eine Flasche Mineralwasser und eine Zeitschrift gekauft. Der Zug sei voll gewesen, doch meine Mutter habe trotzdem in einem Abteil voller Soldaten auf Urlaub einen Platz am Fenster gefunden. Sie hätten sich beim Abschied gegenseitig ermahnt, auf sich aufzupassen. Was sie getragen habe? Das Übliche, Sachen, die sie seit Jahren besaß: ein blaues Kostüm, eine schwarze Lederhandtasche, alte Schuhe mit halbhohem Absatz, dazu einen abgewetzten, kleinen Koffer.

Morgens um sieben rief meine Mutter erneut an. Obwohl ich sie mit Fragen bestürmte (»Wo bist du? Von wo aus rufst du an? Wer ist bei dir?«), überschüttete sie mich nur lautstark mit unflätigen Ausdrücken im Dialekt, die sie genüsslich artikulierte. Dann legte sie auf. Diese Obszönitäten lösten einen wüsten Rückfall in alte Gewohnheiten bei mir aus. Ich rief erneut meinen Freund an, den ich mit einer wirren Mischung aus Italienisch und dialektalen Wendungen verblüffte. Er erkundigte sich, ob meine Mutter in letzter Zeit besonders niedergeschlagen gewesen sei. Das wusste ich nicht. Ich räumte ein, dass sie anders geworden sei, sorglos und gelassen vergnügt. Sie lache grundlos und rede zu viel, aber alte Menschen seien ja oft so. Mein Freund sah das genauso. Mit Beginn der heißen Jahreszeit täten alte Leute ständig merkwürdige Dinge, kein Grund zur Besorgnis. Doch ich machte mir weiterhin Sorgen, lief kreuz und quer durch die Stadt und suchte Amalia an Orten, von denen ich wusste, dass sie gern dort hinging.

Der dritte Anruf kam abends um zehn. Meine Mutter erzählte eine verworrene Geschichte von einem Mann, der sie verfolge, um sie in einen Teppich gerollt wegzuschaffen. Sie bat mich, ihr schnell zu Hilfe zu kommen. Ich flehte sie an, mir zu sagen, wo sie sei. Da änderte sich ihr Ton, sie antwortete: Lieber nicht. »Schließ dich ein, und mach niemandem auf«, riet sie mir. Dieser Mann wolle auch mir etwas antun. Sie fügte hinzu: »Geh schlafen. Ich nehme jetzt ein Bad.« Dann war nichts mehr zu hören.

Tags darauf entdeckten zwei Jungen wenige Meter vom Ufer entfernt ihren Leichnam im Wasser. Sie trug nur einen BH. Ihren Koffer fand man nicht. Auch ihr blaues Kostüm nicht. Und ebenso wenig ihren Slip, ihre Strümpfe, ihre Schuhe, ihre Handtasche mit den Papieren. Doch an ihrem Ringfinger steckten ihr Verlobungsring und der Ehering. Und sie trug die Ohrringe, die mein Vater ihr ein halbes Jahrhundert zuvor geschenkt hatte.

Ich sah den Leichnam, und angesichts dieses fahlen Körpers war mir, als müsste ich mich an ihm festklammern, um nicht sonst wo zu landen. Er war nicht vergewaltigt worden. Hatte nur ein paar blaue Flecken von den Klippen, gegen die er die ganze Nacht lang von sanften Wellen gespült worden war. Rings um die Augen glaubte ich die Reste eines sehr starken Make-ups zu erkennen. Lange und mit Unbehagen betrachtete ich die olivbraunen, für eine dreiundsechzigjährige Frau ungewöhnlich jugendlichen Beine. Mit demselben Unbehagen stellte ich fest, dass der BH sich sehr von den verschlissenen unterschied, die sie normalerweise trug. Die Körbchen waren aus feinster Spitze und ließen die Brustwarzen durchscheinen. Sie waren durch drei gestickte V miteinander verbunden, dem Markenzeichen der Schwestern Vossi, eines neapolitanischen Geschäfts für teure Dessous. Als man ihn mir zusammen mit den Ohrringen und den Ringen aushändigte, vergrub ich meine Nase in ihm. Er hatte den stechenden Geruch von neuem Stoff.

II

Während der Beisetzung ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass ich endlich nicht mehr gezwungen war, mir Sorgen um sie zu machen. Unmittelbar darauf spürte ich einen feuchtwarmen Schwall zwischen meinen Beinen.

Ich ging an der Spitze des langen Trauerzugs aus Verwandten, Freunden, Bekannten. Zu beiden Seiten drängten sich meine zwei Schwestern an mich. Die eine stützte ich am Arm, weil ich fürchtete, sie könnte ohnmächtig werden. Die andere klammerte sich an mich, als behinderten ihre stark geschwollenen Augen ihre Sicht. Die unwillkürliche Auflösung des Körpers erschreckte mich wie die Androhung einer Strafe. Ich hatte keine Tränen vergießen können. Mir waren keine gekommen, oder vielleicht hatte ich sie unterdrückt. Darüber hinaus hatte ich als Einzige ein paar Worte zur Rechtfertigung meines Vaters gefunden, der keine Blumen geschickt hatte und auch nicht zum Begräbnis gekommen war. Meine Schwestern hatten mir ihre Missbilligung nicht vorenthalten und schienen nun vor aller Augen beweisen zu wollen, dass sie genug Tränen hatten, um auch die zu vergießen, die weder ich noch mein Vater weinten. Ich fühlte mich wie unter Anklage. Als neben dem Trauerzug eine Zeitlang ein Farbiger herlief, der gewisse gerahmte Gemälde über der Schulter trug, von denen das oberste (welches man auf seinem Rücken sah) die plumpe Darstellung einer halbnackten Zigeunerin war, hoffte ich, dass weder sie noch die anderen Verwandten das mitbekamen. Diese Bilder hatte mein Vater gemalt. Vielleicht arbeitete er auch jetzt gerade an einem seiner Machwerke. Er hatte von der abscheulichen Zigeunerin, die seit Jahrzehnten auf den Straßen und Märkten der Provinz verkauft wurde, unzählige Kopien angefertigt, und er tat es noch, wobei er wie immer für ein paar Lire der Nachfrage nach Kitschbildern für spießige Wohnzimmer entsprach. Die Ironie der Linien, durch die Zeiten mit Begegnungen verknüpft werden, mit Trennungen, mit altem Groll, hatte nicht ihn zur Beerdigung meiner Mutter geschickt, sondern seine primitive Malerei, die von uns Töchtern noch mehr gehasst wurde als ihr Urheber.

Ich hatte alles satt. Seit ich in der Stadt war, hatte ich keinen Moment Ruhe gehabt. Tagelang war ich mit Onkel Filippo, dem Bruder meiner Mutter, durch das Chaos der Behörden gezogen, zu kleinen Vermittlern, die die bürokratischen Prozeduren beschleunigen konnten, oder wir hatten nach langem Schlangestehen an den Schaltern persönlich die Bereitschaft der Beamten getestet, im Tausch gegen fürstliche Zuwendungen unüberwindliche Hindernisse zu beseitigen. Manchmal hatte mein Onkel etwas erreichen können, indem er den leeren Ärmel seiner Jacke zur Schau gestellt hatte. In fortgeschrittenem Alter, mit sechsundfünfzig Jahren, hatte er bei der Arbeit an der Drehbank in einer Werkstatt am Stadtrand seinen rechten Arm verloren und nutzte seine Invalidität seither, um Vergünstigungen zu erlangen oder um denen, die sie ihm verweigerten, das gleiche Unglück zu wünschen, das ihn getroffen hatte. Doch die besten Ergebnisse hatten wir erzielt, als wir viel, offiziell gar nicht erforderliches Geld gezahlt hatten. So hatten wir uns schnell die nötigen Papiere verschafft, die Genehmigungen von wer weiß wie vielen realen oder erfundenen Behörden, dazu ein erstklassiges Begräbnis und, was am schwierigsten war, einen Platz auf dem Friedhof.

Unterdessen war der von der Autopsie zerschnittene tote Körper meiner Mutter Amalia immer schwerer für mich geworden, da ich ihn mit Vor- und Zunamen, Geburts- und Sterbedatum zu teils unfreundlichen, teils schmierigen Verwaltungsbeamten mitgeschleppt hatte. Ich hatte das dringende Bedürfnis, ihn loszuwerden, und wollte trotzdem, noch nicht erschöpft genug, den Sarg tragen. Man gestattete es mir nur sehr widerwillig: Frauen tragen keine Särge. Es war auch eine denkbar schlechte Idee. Denn die anderen Sargträger (ein Cousin und meine beiden Schwäger) waren größer als ich, und die ganze Zeit über fürchtete ich, das Holz könnte sich zusammen mit dem Körper, den es enthielt, in die Stelle zwischen meinem Schlüsselbein und meinem Hals bohren. Als der Sarg in den Wagen gestellt wurde und der sich in Bewegung setzte, genügten wenige Schritte und eine sträfliche Erleichterung, und schon entlud sich meine Anspannung in jenem verborgenen Schwall aus meinem Bauch.

Die warme Flüssigkeit, die ich verlor, ohne dass ich es wollte, kam mir vor wie ein Zeichen, das Fremde in meinem Körper vereinbart hatten. Der Trauerzug bewegte sich in Richtung Piazza Carlo III. Die gelbliche Fassade des Reclusorio schien dem Druck des auf ihm lastenden Incis-Viertels nur mit Mühe standzuhalten. Die Straßen, wie ich sie in Erinnerung hatte, wirkten so unbeständig wie ein Sprudelwasser, das überschäumt, wenn es geschüttelt wird. Die Stadt schien unter einem grauen, staubigen Licht in der Hitze zu zerfließen, und ich dachte an die Geschichten aus meiner Kindheit und Jugend zurück, so dass meine Gedanken zur Via Veterinaria und weiter bis zum Botanischen Garten abschweiften und zu den stets nassen, mit verrottetem Gemüse bedeckten Steinen des Marktes von Sant'Antonio Abate. Mir war, als nähme meine Mutter auch die Orte mit sich fort, auch die Straßennamen. Ich betrachtete mein Spiegelbild und das meiner Schwestern im Autofenster, zwischen den Blumenkränzen, wie ein bei schwachem Licht aufgenommenes Foto, ungeeignet für künftige Erinnerungen. Ich rammte meine Absätze in das Pflaster der Piazza, spürte deutlich den bereits fauligen Geruch der Blumen auf dem Wagen. Auf einmal fürchtete ich, das Blut könnte bis zu meinen Knöcheln hinunterlaufen, und wollte mich meinen Schwestern entziehen. Das war unmöglich. Ich musste warten, bis der Trauerzug von der Piazza abbog, die Via Don Bosco hinaufkletterte und sich schließlich in einem Stau aus Autos und vielen Menschen auflöste. Onkel, Großonkel, Schwäger und Cousins begannen uns nacheinander zu umarmen, Leute, die ich kaum kannte, von den Jahren verändert, und die ich nur in meiner Kindheit oder vielleicht noch nie gesehen hatte. Die Wenigen, an die ich mich deutlich erinnerte, hatten sich nicht blicken lassen. Oder vielleicht waren sie da, und ich erkannte sie nicht, weil mir aus meiner Kindheit nur Einzelheiten im Gedächtnis geblieben waren: ein schielendes Auge, ein hinkendes Bein, die orientalische Hautfarbe. Dafür zogen mich Leute beiseite, von denen ich nicht einmal den Namen wusste, und erzählten mir von altem Unrecht, das mein Vater ihnen angetan hatte. Mir unbekannte, aber sehr herzliche junge Männer, die sich gut auf einen Smalltalk verstanden, erkundigten sich, wie es mir gehe, wie ich mich fühlte, was ich arbeitete. Ich antwortete: gut, es gehe mir gut, ich sei Comiczeichnerin, und wie gehe es ihnen? Viele runzlige Frauen, ganz in Schwarz, bis auf die Blässe ihrer Gesichter, hoben Amalias außerordentliche Schönheit und Güte hervor. Einige von ihnen umarmten mich so fest und waren so voller Tränen, dass ich zwischen dem Gefühl, zu ersticken, und einem unerträglichen Gefühl der Nässe hin und her schwankte, das sich von ihrem Schweiß und ihren Tränen bis in meinen Unterleib zog. Zum ersten Mal freute ich mich über das dunkle Kleid, das ich angezogen hatte. Ich wollte mich schon entfernen, als Onkel Filippo wieder einmal durchdrehte. Offenbar hatte in seinem Kopf eines Siebzigjährigen, der häufig Vergangenheit und Gegenwart durcheinanderbrachte, irgendeine Kleinigkeit sein ohnehin nicht sehr stabiles Gleichgewicht zerstört. Zum allgemeinen Erstaunen fluchte er lauthals im Dialekt los und fuchtelte wie wahnsinnig mit seinem einzigen Arm.

»Da, habt ihr Caserta gesehen?«, fragte er mich und meine Schwestern japsend. Er wiederholte diesen nicht unbekannten Namen mehrmals, ein bedrohlicher Klang aus Kindertagen, der mir Unbehagen verursachte. Dann fügte er mit hochrotem Kopf hinzu: »So was von schamlos! Auf Amalias Beerdigung! Wäre dein Vater hier, er würde ihn umbringen!«

Ich wollte nichts von Caserta hören, spürte eine geballte Last kindlichen Bangens. Ich tat so, als ob nichts wäre, und versuchte, ihn zu besänftigen, aber er hörte mir gar nicht zu. Stattdessen drückte er mich wie zum Trost für die Konfrontation mit diesem Namen ungestüm mit seinem einzigen Arm an sich. Ich machte mich unsanft los, versprach meinen Schwestern, rechtzeitig zur Bestattung auf dem Friedhof zu sein, und kehrte zur Piazza zurück. Schnell suchte ich nach einer Kaffeebar. Fragte nach den Toiletten, ging nach hinten in ein stinkendes Kabuff mit einer dreckigen Kloschüssel und einem vergilbten Waschbecken.

Die Blutung war sehr stark. Mir war schlecht und etwas schwindlig. Im Dämmerlicht sah ich meine Mutter mit gespreizten Beinen, die eine Sicherheitsnadel aufhakte, blutige Mullbinden von ihrer Scham riss, als wären sie festgeklebt, sich ohne Erstaunen zu mir umwandte und ruhig sagte: »Geh raus, was machst du denn hier?« Ich brach in Tränen aus, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Ich weinte und schlug mit der Hand in fast regelmäßigen Abständen auf das Waschbecken, wie um den Tränen einen Rhythmus vorzugeben. Als mir das bewusst wurde, hörte ich auf, säuberte mich, so gut es ging, mit Papiertüchern und ging hinaus, um eine Apotheke zu suchen.

Da sah ich ihn zum ersten Mal. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er mich, als ich mit ihm zusammenstieß, nur wenige Sekunden, die Zeit, um den Stoff seines Hemdes an meinem Gesicht zu spüren, die blaue Kappe des Stiftes zu bemerken, der aus seiner Jacketttasche ragte, und zugleich den unsicheren Ton seiner Stimme wahrzunehmen, den angenehmen Geruch, die nackte Haut seines Halses, sein dichtes, weißes Haar in perfekter Ordnung.

»Wissen Sie, wo hier eine Apotheke ist?«, fragte ich, doch ohne ihn anzuschauen, ganz beansprucht von meinem Sprung zur Seite, der die Berührung außer Kraft setzen sollte.

»Auf dem Corso Garibaldi«, antwortete er, während ich einen winzigen Abstand zwischen dem kompakten Fleck seines knochigen Körpers und mir herstellte. Nun stand er mit seinem weißen Hemd und dem dunklen Jackett wie angeklebt an der Fassade des Albergo dei Poveri. Er war blass, sorgfältig rasiert, und es lag kein Erstaunen in seinem Blick, der mir nicht gefiel. Ich bedankte mich fast lautlos und stürzte in die Richtung davon, die er mir gewiesen hatte.

Er verfolgte mich mit seiner zunächst höflichen Stimme, die in ein bedrängendes, zunehmend unflätiges Zischen umschlug. Ein Schwall von Obszönitäten im Dialekt holte mich ein, ein morbider Klangfluss, der mich, meine Schwestern und meine Mutter mit einer Mixtur aus Samen, Speichel, Kot und Urin in allen möglichen Körperöffnungen in Verbindung brachte.

Ich fuhr herum, umso überraschter, als es für diese Beschimpfungen keinen Anlass gegeben hatte. Aber der Mann war nicht mehr da. Vielleicht war er über die Straße gegangen und zwischen den Autos verschwunden, vielleicht war er in Richtung Sant'Antonio Abate um die Ecke gebogen. Ich wartete, bis sich mein Herzschlag beruhigte und meine unangenehmen Mordgelüste sich legten. Ich ging in die Apotheke, kaufte ein Päckchen Tampons und kehrte in die Kaffeebar zurück.

III

Ich kam mit dem Taxi zum Friedhof, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Sarg in einer Wanne aus grauem Stein verschwand, die mit Erde aufgefüllt wurde. Meine Schwestern reisten mit ihren Männern und ihren Kindern sofort nach dem Begräbnis im Auto ab. Sie konnten es kaum erwarten, nach Hause zu fahren und zu vergessen. Wir umarmten uns mit dem Versprechen eines baldigen Wiedersehens, wussten aber, dass es nicht dazu kommen würde. Wir würden uns bestenfalls ein paar Mal anrufen, um jeweils den Grad der wachsenden Entfremdung zwischen uns zu messen. Wir wohnten seit Jahren in verschiedenen Städten, jede von uns mit ihrem eigenen Leben und mit einer gemeinsamen Vergangenheit, die uns nicht gefiel. Bei unseren seltenen Begegnungen verschwiegen wir uns lieber alles, was wir uns zu sagen hatten.

Wieder allein, nahm ich an, dass Onkel Filippo mir anbieten würde, zu ihm nach Hause zu kommen, wo ich in den letzten Tagen gewohnt hatte. Doch das tat er nicht. Am Morgen hatte ich ihm gesagt, dass ich in die Wohnung meiner Mutter gehen müsse, um einige wenige Erinnerungsstücke mitzunehmen, den Mietvertrag zu kündigen und Licht, Gas und Telefon abzumelden, und so hatte er wahrscheinlich gedacht, dass es nicht nötig sei, mich zu sich einzuladen. Er ging weg, ohne sich von mir zu verabschieden, gebeugt und schlurfend, von der Arteriosklerose und von einem angestauten, alten Groll zerfressen, der in Form von wunderlichen Beschimpfungen unvermutet aus ihm herausbrach.

So blieb ich verlassen auf der Straße zurück. Die vielen Verwandten hatten sich in die Randgebiete zurückgezogen, aus denen sie gekommen waren. Meine Mutter war von ungehobelten Totengräbern unter einem nach Wachs und fauligen Blumen stinkenden Erdhaufen verscharrt worden. Ich hatte Rückenschmerzen und Bauchkrämpfe. Schweren Herzens raffte ich mich auf: Ich strich an der heißen Mauer des Botanischen Gartens entlang bis zur Piazza Cavour, in einer von Autoabgasen schweren Luft und im Rauschen dialektaler Laute, die ich nur ungern entschlüsselte.

Das war die Sprache meiner Mutter, die ich vergeblich hatte vergessen wollen, zusammen mit vielem anderen, was typisch für sie war. Wenn wir uns bei mir zu Hause getroffen hatten oder ich zu höchstens halbtägigen Stippvisiten nach Neapel gekommen war, hatte sie krampfhaft versucht, Italienisch zu sprechen, und ich verfiel missmutig, nur um ihr zu helfen, in den Dialekt. Nicht in einen fröhlichen oder nostalgischen Dialekt, nein, in einen unnatürlichen, linkischen, so stockend gesprochen wie eine schlecht beherrschte Fremdsprache. In meinen mühsam artikulierten Lauten klangen die brutalen Auseinandersetzungen zwischen Amalia und meinem Vater wider, zwischen meinem Vater und ihren Verwandten, zwischen ihr und den Verwandten meines Vaters. Ich verlor die Geduld. Schnell kehrte ich zu meinem Italienisch zurück, und sie richtete sich wieder in ihrem Dialekt ein. Nun, da sie tot war und ich ihn mitsamt den Erinnerungen, die er transportierte, ein für alle Mal hätte wegwischen können, machte es mir Angst, wenn er mir zu Ohren kam. Ich benutzte ihn, um mir eine Pizza fritta mit Ricotta zu kaufen. Nachdem ich tagelang fast nichts zu mir genommen hatte, aß ich jetzt mit Appetit, im Gehen, während ich durch heruntergekommene Grünanlagen mit kümmerlichen Oleanderbüschen schlenderte und mein Blick durch die Grüppchen der vielen alten Menschen stöberte. Das anstrengende Hin und Her von Leuten und Autos direkt neben den Grünflächen veranlasste mich, zu meiner Mutter hinaufzugehen.

Amalias Wohnung lag im dritten Stock eines alten, eingerüsteten Gebäudes. Es war einer der Palazzi in der Altstadt, die nachts halbverwaist und tagsüber mit Beschäftigten bevölkert sind, welche Führerscheine verlängern, Geburtsurkunden oder Meldebescheinigungen beschaffen, am Computer Reservierungen oder Tickets für Flugzeug, Bahn und Schiff heraussuchen, Versicherungspolicen gegen Diebstahl, Feuer, Krankheit und Tod ausfertigen und unübersichtliche Steuererklärungen verfassen. Mietwohnungen gab es nur wenige, aber als mein Vater uns vor über zwanzig Jahren alle vier aus dem Haus geworfen hatte ‒ damals, als Amalia ihm gesagt hatte, sie wolle sich von ihm trennen, und wir Töchter sie nachdrücklich darin bestärkt hatten ‒, fanden wir hier eine kleine Wohnung zur Miete. Der Palazzo hatte mir nie gefallen. Er schüchterte mich genauso ein wie ein Gefängnis, wie ein Gerichtsgebäude oder wie ein Krankenhaus. Meine Mutter dagegen war zufrieden, sie fand ihn imposant. Dabei war er hässlich und dreckig bis hin zum großen Portal, dessen Schloss jedes Mal aufgebrochen wurde, sobald der Verwalter es hatte reparieren lassen. Die Türflügel mit den großen Messingknäufen, die man seit Anfang des Jahrhunderts nicht mehr geputzt hatte, waren eingestaubt und von den Abgasen geschwärzt. In dem langen, höhlenartigen Durchgang zum Innenhof hielt sich tagsüber immer jemand auf: Schüler, Passanten, die auf den drei Meter weiter haltenden Bus warteten, Verkäufer von Feuerzeugen, Papiertaschentüchern, gerösteten Maiskolben oder Kastanien, Touristen, die Zuflucht vor Hitze oder Regen suchten, oder allerlei finstere Gestalten in ständiger Betrachtung der Schaukästen an den Wänden zu beiden Seiten. Letztere täuschten für gewöhnlich vor, auf irgendetwas zu warten, während sie die kunstvollen Bilder eines betagten Fotografen anstarrten, der sein Studio im Palazzo hatte: Paare in Hochzeitsgarderobe, lächelnde, strahlende Mädchen, junge, frech dreinblickende Männer in Uniform. Vor Jahren war für einige Tage auch ein Passfoto von Amalia ausgestellt worden. Ich war es, die den Fotografen aufgefordert hatte, es zu entfernen, bevor mein Vater daran vorbeikommen und wütend die Scheibe einschlagen würde.