Text © Jan Corvin Schneyder, 2018

Cover & Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns

Vorablektorat: Sven Lensdorf

Lektorat/Korrektorat: Sandra Florean

Satz/Layout: Phantasmal Image

Coverfoto: © depositphoto

Innengrafiken: © depositphoto

eBook: Grittany Design

ISBN: 978-3-96111-825-0

© GedankenReich Verlag, 2018
Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Ich hatte mich in die Unyonsdatenbank eingeklinkt, Abteilung historische Bibliothek.

»Atlantis, sagenhafter Inselkontinent auf der Erde, erwähnt in Schriften Platons, angeblich durch Naturkatastrophe zerstört, geophysikalischen Untersuchungen zufolge nicht haltbar, Hintergrund des Berichtes ungeklärt.« Ungeklärt? Das war interessant.

Ich suchte weiter. Der Calculator hatte jedoch nicht allzu viel zu bieten. Irgendwelche Filme, Pseudo-Wissenschaft, Romane, Märchen, Abenteuer-Archäologie - keine Antworten. Also fragte ich nach dieser Organisation, von der Flink gesprochen hatte.

»Atlantikanische Bewegung: Eine radikale theologisch-philosophische Organisation, gegründet zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bezog die Atlantissage auf christliche Heilsgeschichte, um extraterrestrisches Leben nachzuweisen, Gewaltexzesse und so genannte Schwarze Messen führten zum Verbot der Organisation. Erlebte eine Renaissance im frühen 24. Jahrhundert, bald darauf erneut verboten.« Das war eine ganze Zeit lang her. Verboten musste nicht bedeuten, dass es nicht noch immer Sympathisanten oder bekennende Anhänger gab - vielleicht sogar an Bord dieses Schiffes.

Während ich mich nicht zum ersten Mal in die Heilsgeschichte einlas, kam Flink zu mir und sah mir über die Schulter. »Wussten Sie, was die Atlantikaner waren, oder kannten Sie nur das Logo?«, fragte ich nach einer Weile.

Er kratzte sich am Kinn und zögerte. »Wissen Sie, auf meiner Schule gab es eine Sektion dieser Bewegung.«

»Aber die Atlantikanische Bewegung ist doch schon ewig verboten.«

»Meinen Sie ernsthaft, das störte irgendjemanden?«

»Nicht die Anhänger, aber als offizielle Schülerverbindung?«

»So offiziell war es nun auch wieder nicht.« Garrett setzte sich und strich sich durch das Haar. »Na, auf jeden Fall hielten die bei uns komische Messen ab und redeten unaufhörlich vom Ende der Welt oder von der allmächtigen Rasse, der wir bald begegnen würden. Lauter philosophisches Zeug. Die waren nicht besonders gefährlich, aber niemand wollte wirklich etwas mit ihnen zu tun haben.« Er sah zur Seite und versank offenbar in Erinnerungen.

Ich ließ ihm diesen kurzen Moment, doch dann beendete ich ihn. »Sie aber schon, Flink, nicht wahr? Sie waren fasziniert davon, etwas Verbotenes zu tun.«

»Das ist eine völlig haltlose Anschuldigung!«, sagte er etwas zu laut.

Ich ließ mich nicht beirren. »Wenn nichts dran wäre, hätten Sie sich nicht so aufgeregt, Garrett. Was immer Sie in Ihrer Jugend getan haben: Es kommt nicht in Ihre Akte. Ist mir völlig egal. Illegalität ist Definitionssache.«

In sein aufgebrachtes Gesicht kehrte ein dünnes Lächeln zurück. »Ich weiß nicht warum, Patronus, aber ich vertraue Ihnen.« Einen Moment zögerte er noch, dann erzählte er leise: »Also gut, ich fühlte mich angezogen von diesen Außenseitern. Es war spannend, ein Abenteuer vielleicht, aber eins sage ich Ihnen gleich: Ich weiß trotzdem nicht viel über Atlantis. Ich hab die Aufnahmeprüfung damals versaut.« Er lachte. Es war kein aufrichtiges Lachen.

»Sieht aus, als wären Sie froh, es nicht geschafft zu haben«, sagte ich.

»Es war keine echte Prüfung - es war nur … Ich hatte noch keine Erfahrungen mit Frauen und … habe es innerhalb einer Frist von neunzehn Stunden auch nicht fertig gebracht, das zu ändern.«

Ich sah ihn ungläubig an. »Wie bitte?«

Er nickte nur. Ich brauchte einen Moment, um diesen Unfug zu verarbeiten. »Wieso neunzehn Stunden?«

»Ich glaube, sie sagten, der Atlantikanische Kalender bestehe aus neunzehn Zeitabschnitten. Warum Sex? Keine Ahnung. Wahrscheinlich das dominierende Thema in einer Gruppe von Nerds.«

Ich zuckte die Achseln. Kam mir reichlich bizarr vor. »Themawechsel. Ich habe eine Aufgabe für Sie. Wir haben doch eine echte Bibliothek an Bord - mit einigen echten Büchern«, sagte ich.

»Ach ja?« Das schien ihn zu überraschen. Sein Tonfall deutete auf Unglauben hin.

»Ja. In der Regel nur für Führungsoffiziere«, erklärte ich. »Ich verschaffe Ihnen Zugang, und Sie suchen etwas über Atlantis. Alles, was Sie finden können. Lassen Sie sich ruhig ein paar Stunden Zeit, den ersten brauchbaren Bericht aber bitte heute noch.«

»Alright, Patronus. Ich find schon raus, wie man in Papier recherchiert«, sagte er locker und machte sich auf.

Er ersparte mir stundenlanges, wahrscheinlich vergebliches Blättern in angestaubten Folianten. Hoffentlich kam er klar. Anscheinend ging seine Bibliographie-Erfahrung gegen Null.

Der Calculator tickerte. »Heilsgeschichte, aus der christlichen Theologie der Erde, Geschichte der Taten Gottes zum Heil der Menschen, schließen Schöpfung, Bundesschlüsse des Alten Bundes und Christus ein, unter stetem Einwirken des Heiligen Geistes bis zum endgültigen Gottesreich fortgesetzt.«

Ich kombinierte meine bisherigen Erkenntnisse. Die Heilsgeschichte ist, im theologischen Sinne, die Weltgeschichte, die nach dem Jüngsten Gericht, dem Ende der Welt, im ewigen Reich Gottes fortgesetzt wird. Die Atlantikaner haben diese Heilsgeschichte irgendwie mit der Legende von Atlantis gekreuzt, um außerirdisches Leben nachzuweisen. Im 24. Jahrhundert, bei ihrer Renaissance, war das aber bereits völlig unnötig. Da war außerirdisches Leben längst bekannt. Nun ja, sie verbanden also zum Beispiel den endzeitlichen Weltuntergang mit einer außerirdischen Rasse. Der Untergang konnte etwas Positives sein - er mochte das ewige Reich bringen. Hm, Atlantis war also die Erfindung eines griechischen Philosophen, der vor tausenden Jahren gelebt hatte. Die Wissenschaft sagte, Atlantis kann es nicht gegeben haben. Die Atlantikaner glaubten das Gegenteil. Aber wie konnte etwas Versunkenes und Vergessenes etwas Ewiges bewirken? Das ergab für mich alles keinen Sinn, und erst recht nicht, solange ich die Atlantis-Sage nicht im Original kannte.

Nach dem Ende meiner Schicht stieg Geyla zu mir in den Quicklevator. Sie sah aus, wie ich mich fühlte, und das war nicht besonders vital.

»Theater? Nibboranisches Essen?«, schlug sie vor.

»Bin noch nicht fertig für heute. Ich muss noch in die Bibliothek. Später einen Drink?«, redete ich mich heraus.

Sie seufzte und zwang sich zu einem Lächeln. »Du mit deinen Drinks! Später schlafe ich. Dann eben morgen. Nimm den Drink mit jemand anderem.« Ein kurzer Kuss. »Und verschwinde nicht mitten in der Nacht aus meinem Bett. Und wenn doch, dann komm nicht wieder.«

Das mit der Beziehung lief nicht mehr so optimal, seitdem die angebliche Pubertät vorüber war. Wahrscheinlich redete ich mir das wieder nur ein. Ausreden für sein eigenes Verhalten sucht man ja stets sehr leidenschaftlich. »Ich habe nicht mit ihr …«, begann ich.

Tyka Geyla lächelte und nickte. »Das weiß ich. Dann wäre ich ernstlich verstimmt. Nach dem Geschlechtsakt mit einer anderen leg dich nicht neben mich, Stan Pendra. Aber du hast dort starken Alkohol konsumiert. Dann lass deinen Dunst auch bei ihr.« Sie lachte. Das fand ich merkwürdig. An der Stelle hätte sie sauer sein müssen. Sie stieg aus und winkte mir zum Abschied.

Ich wäre zu der Erkenntnis gekommen, dass sie etwas Besseres als mich verdient hatte, wenn es sie denn mehr gestört hätte. Mit wem traf sie sich noch? Nicht dass ich noch eifersüchtig würde, wo sie so tolerant war. Das wäre ja wirklich lächerlich von mir.

Als ich die Bibliothek betrat, bekam ich einen mittelschweren Schock. Die Unordnung dort war beispiellos und deutete auf stundenlanges, planloses Wühlen hin. Garrett schleppte gerade drei mächtige Werke von einem Regal zum anderen.

»Was ist bitte die Idee dahinter?«, fragte ich genervt und sah mir das Chaos genauer an.

Flink hatte ein gutes Dutzend Notizblöcke auf dem Boden verteilt, wo sich aufgeschlagene Bücher mit Bücherstapeln abwechselten. Auf dem Tisch schien er immer zwei bis drei Exemplare zu lagern, die er noch genauer in Augenschein nehmen wollte. Wenigstens arbeitete er engagiert. Planlos, aber engagiert.

»Ich suche, Patronus, aber mir scheint, ich habe den Überblick zeitweilig verloren«, sagte er mit einem Anflug von guter Laune.

»Soso, zeitweilig?«

Da Flink nicht über den Stapel in seinen Armen hinwegsehen konnte, sah er auch nicht den Stapel vor ihm auf dem Boden, den er in Pyramidenform aufgeschichtet hatte. Bevor ich ihn warnen konnte, stolperte er. Die dicken Folianten flogen durch die Luft und zertrümmerten die Glasscheibe einer Büchervitrine. Flink fing seinen Sturz mit den freigewordenen Händen ab, trat aber, noch bevor er mit Hilfe der Schwerkraft den Boden erreicht hatte, den Tisch um, der mitsamt der auf ihm abgelegten Bücher auf meinen rechten Fuß niedersauste. Ich hüpfte fluchend auf der Stelle und hielt mir den Fuß. Es sah sicher aus wie in einem sehr schlechten, sehr alten Film.

»Idiot! Idiot! Ich hab noch nie gesehen, dass eine einzelne Person innerhalb von zwei Sekunden so ein Chaos anrichtet!«, brüllte ich. Als der Schmerz nachließ, sah ich Flink auf dem Boden liegen. Er lachte. Es war herrlich grotesk. Ich lachte mit. Als wir ausgelacht hatten, wurde ich wieder sachlich: »Sie räumen dieses Chaos selbstverständlich auf, Stalev! Und die Scheibe wird auch ersetzt, klar?«

»Klar!«

Ich half ihm auf. »Was haben Sie denn bisher rausgefunden?«

Er atmete durch und machte ein ansatzweise schlaues Gesicht. Es stand ihm. »Also, es sind hunderte Bücher über das Thema Atlantis erschienen, hauptsächlich im 20. Jahrhundert. Und dann gibt es Sagen, die von Meerjungfrauen berichten, die in einer Stadt auf dem Meeresgrund leben sollen - damit ist wahrscheinlich das versunkene Atlantis gemeint. Und ich muss mal diesen Arielle-Film ansehen.«

»Moment, Flink! Das hab ich auch schon gelesen. Atlantis war eine Insel, und diese Insel soll komplett im Meer verschwunden sein. Untergegangen, oder?«

»Vermutlich.«

»Wieso vermutlich?«

Er schwieg, und in mir stieg schon wieder leichter Ärger hoch.

»Haben Sie jetzt die Atlantissage gefunden, oder nicht?«

»Nein, die habe ich nicht gefunden, Patronus.«

Und dafür verwüstete dieser Wahnsinnige die Bibliothek! Flink begann mit dem Aufräumen, indem er erste Bücher in das Regal ohne Glastür räumte. Er rückte es gerade, und als er so hinter das Regal fasste, hielt er plötzlich inne. »Patronus!«

»Was ist?«

»Da ist ein Buch hinter das Regal gerutscht. Ich komme nicht dran. Könnten Sie mir vielleicht helfen, den Schrank abzurücken?«

Auch das noch. Körperliche Arbeit!

Jeder packte das Regal an einer Seite und ruckte daran, bis es sich nach vorn bewegte. Ich weiß nicht, wer schuld war, aber irgendein Ruck war anscheinend zu heftig. Das Möbelstück, das aus schwerem Eichenholz bestand, um der Offizierslounge ein gewisses antikes Flair zu geben, bekam so viel Übergewicht, dass wir seinen einsetzenden Fall nicht mehr stoppen konnten. Mit einem rustikalen Krachen entlud sich das Regal, Bücher fielen zu Boden, Holz knarzte. Unsere Flüche möchte ich nicht im Detail wiedergeben. Der Schrank war zu allem Überfluss auf den umgekippten Tisch geprallt, der wiederum eine Glaskonstruktion war. Tja, gewesen war. Gegenüber stand ein weiterer Schrank. Beschwörend starrte ich ihn an, um sicherzustellen, dass wenigstens er an seinem Platz blieb. Ich sank auf den Fußboden und blickte ins Leere. So etwas hatte ich auch noch nicht erlebt. Die unabsichtliche, komplette Demolierung eines Raumes. Flink setzte sich neben mich.

»Wenigstens habe ich das Buch. Wissen Sie, wie es heißt? Die Antike Sagenwelt

Ich lachte schicksalsergeben. »Was für ein Klischee! Das hinter dem Regal steckende Buch ist das gesuchte. Das glaubt einem keiner. Und welches Buch muss man nach vorn kippen, um die Geheimtür zur Superheldenhöhle zu öffnen? Na, schlagen Sie es schon auf!«

Wir fanden tatsächlich einen kurzen Eintrag über Atlantis: »Die Grundlage der Atlantissage ist in der etwa zwanzig Druckseiten fassenden Erzählung enthalten, die der Athener Platon um 360 v.Chr. verfasste. Der Bericht erscheint im Timaios und im Kritias. Laut Platon war diese Geschichte zuerst dem athenischen Gesetzgeber Solon (um 640-560 v.Chr.) von Priestern der ägyptischen Stadt Sais mitgeteilt worden, die enge religiöse und kulturelle Bindungen mit Athen hatte. Über die Generationen hinweg gelangte dieses Wissen nach Athen, obwohl alle Nachrichten ursprünglich aus den Archiven der ägyptischen Priester stammten. Im 3. Kapitel des Timaios heißt es: `Die Historie berichtet von einer gewaltigen Heeresmacht, die vom atlantischen Meer gegen ganz Europa und ganz Asien vorstieß. Vor dem Eingang des Meeres (die Meerenge von Gibraltar) war eine Insel, größer als Asien und Libyen zusammengenommen. Auf dieser Insel Atlantis nun bestand eine große und wundervolle Macht von Königen, welcher die ganze Insel, viele andere Inseln und Teile des Festlandes bis Italien und Ägypten gehorchten. Später aber traten furchtbare Erdbeben und gewaltige Meeresfluten auf. An einem einzigen schlimmen Tag und in einer einzigen schlimmen Nacht versank die Insel Atlantis in den Tiefen des Meeres´.«

Flink klappte das Buch zu.

»Soso«, murmelte ich und kombinierte.

»Patronus, ich finde das alles auch hochinteressant, aber darf ich fragen, warum wir jetzt Atlantis erforschen?«, fragte Flink.

»Wissen Sie, Flink, erstens trägt es zur Allgemeinbildung bei, was nie schaden kann, und zweitens will ich wissen, was unsere Superpiloten auf ihre Jets sprühen. Ich weiß nicht warum, aber ich suche eine tiefere Bedeutung in diesen Symbolen. Ich will diese Leute verstehen. Vielleicht gibt es da eine Verbindung zu…«

»Patronus, meinen Sie nicht, Sie steigern sich da in etwas rein? Diese Piloten haben vielleicht einfach so irgendwelche militaristischen oder sonst wie verbotene Symbole gemalt, weil das verwegen und wild aussieht.«

Weil sie es schön fanden? Sollte das alles sein? Aber so dringend war dieser Verdacht nicht, es war nur ein Gefühl, das mir sagte: Es wird Zeit zu wissen, was Atlantis ist. Ich hatte diesem Gefühl gern nachgegeben. »Kommen Sie, lassen Sie uns aufräumen«, schlug ich vor.

In diesem Moment trat Stalord Dakker ein, vermutlich mit dem Vorsatz, sich eine Abendlektüre zu besorgen. Er starrte uns entgeistert an wie ein Vater, der seine Söhne im Schlamm spielend vorfindet. Wir saßen neben einem auf dem Boden liegenden Regal, inmitten von Büchern und Glasscherben. Dieser Tag war umgekippt und ausgelaufen. Es reichte langsam.

»Crewies, sehe ich das richtig, dass Sie vorsätzlich meine Bibliothek verwüstet haben?«, fragte Dakker relativ gefasst.

»Vorsätzlich auf keinen Fall, Stalord«, antwortete ich. »Den Rest kann ich wohl schlecht bestreiten.«

Der Stalord wusste, dass ich für den Schaden aufkommen würde, deshalb ersparte er sich weiteren Tadel. Er ging nur kopfschüttelnd umher, während Flink und ich betreten da standen.

»Können Sie mir ein Buch empfehlen, Monsignore Pendra?«, fragte er schließlich.

»Wie wäre es mit etwas Platon, Patronus?«

»Platon war ein Perfektionist. Wenn ich das hier sehe, fällt mir nur das Chaos ein.«

»Goethe vielleicht? Große, aufgewühlte Gefühle?«

»Schon eher.«

Ich reichte ihm etwas Passendes, und er verabschiedete sich.

Dann begannen wir aufzuräumen. Das löste ich nicht autoritär. Flink damit jetzt allein zu lassen, wäre unkollegial gewesen einem Kameraden gegenüber.

Eigentlich war ja nur dieses vermaledeite Atlantis schuld!

Mir fiel die Decke auf den Kopf. Ich war an diesem Abend allein in meinem Quartier. Geyla war irgendwo mit irgendetwas anderem beschäftigt, aber ich hatte keine Ahnung womit und warum. Es war mir auch denkbar egal. Sie war nicht da - das reichte meinem Gehirn als Information. Ich ging nicht zu Noona. Ich hätte es tun können, aber ich verbot es mir. Meine Hobbys griffen alle nicht. Eigentlich hatte ich gar keine Hobbys mehr. Arbeit, Frauen und Alkohol bestimmten mein Leben. Gelangweilt war ich in diesem Moment aber auch nicht. Eine gewisse Anspannung ließ mich nicht zur Ruhe kommen, dennoch war ich nicht so verkrampft, dass mir bewusste Entspannung gut getan hätte. Das Gedankentheater führte ein Stück auf über Atlantis, Tyka, Briger, Noona, wieder Atlantis, Flink, Prismonium, wieder Briger, wieder Tyka Geyla, wieder Noona Striker, Tod, Vernichtung und über diesen Planet dort draußen. Ich wünschte mir klare Verhältnisse, wollte wissen, woran ich war. Radikale Harmoniebedürftigkeit stürzte jedoch immer ins Gegenteil, in ein inneres Chaos. Das kannte ich schon von mir. Ich starrte an die Wand.

»Calculator, mehr Licht!«, befahl ich, aber auch durch das Verschwinden der schummrigen Atmosphäre konnte ich meine Stimmung nicht aufhellen.

Ich dachte über alles nach, was wir über diesen Planeten wussten, aber es war so wenig. Warum saß ich hier herum? Warum war ich nicht dort unten, um herauszufinden, ob er eine Gefahr für uns darstellte? Gut, nachdem er die Anomalie verlassen hatte, war sie nicht größer geworden - vielmehr eingegangen wie eine verdorrende Blume -, aber das hing auch mit quantenphysikalischen Gegebenheiten zusammen, die ich als Stalev aus dem Kommandobereich nicht sachlich nachvollziehen konnte, weil ich es nicht musste und weil mir die spezielle Ausbildung in diesem Fachgebiet fehlte.

Wir konnten uns nicht ewig Zeit nehmen, unserer Forscher- und Entdeckerrolle gerecht zu werden, denn während wir das taten, starben andernorts Menschen. Im Krieg bleibt wenig Zeit für anderes.

Mein Chronometer schlug um auf 3.30 Uhr, eine tote Zeit, in der niemals Operationen durchgeführt wurden. Ich saß inmitten einer unheimlichen Stille, inmitten von unnatürlich hellem Lichtschein, inmitten meiner eigenen Lethargie. Meine Türklingel chirpte.

Ich blieb einen Moment lang wie erstarrt sitzen, dann ging ich zur Tür und öffnete. Ich hatte Schwierigkeiten, Flink unter einem merkwürdigen Kunststoffanzug zu erkennen. Er trug eine Atemmaske.

»Ich höre, Garrett.«

Seine Stimme wurde so gedämpft, dass ich kein einziges Wort seiner Antwort verstand. Er nahm die Maske ab. »Es geht los, Patronus«, sagte er leise.

»Aufgeregt, Garrett?«

Er schüttelte den Kopf. Eine Lüge. Ich sah, dass er aufgeregt war.

Also ging es endlich los. Wir gingen runter auf die Kugel. Ich hatte es erwartet.

»Es kneift etwas im Schritt«, sagte Flink und zog eine Grimasse. In der Tat sah dieser Kunststoffanzug eng aus, vor allem unten herum.

Wir fuhren mit dem Lift Richtung Inter-Trafficer-Decks.

»Stadux Woyer meinte, er hätte nur Offiziere ins Mission Squad berufen, die zuverlässig sind. Ich schätze, ich habe es Ihnen zu verdanken, dass Woyer mir vertraut?«, fragte Flink.

Ich nickte. »Schon möglich, dass ich mal was Positives über Sie zu vermelden hatte.«

Wir betraten die Inter-Trafficer-Rampe. Was mir zuerst auffiel, war ein weiblicher Po. Es war ein erstklassiger Po. Tyka Geyla richtete sich auf und sah sich nach uns um. Schön, mit ihr zusammenzuarbeiten. Die Arbeit würde mir leichter fallen als diese merkwürdige Art von Beziehung, die sie völlig normal fand. One-Two und Woyer komplettierten das kleine Einsatzkommando. One-Two hatte sich wie Garrett in eine Tauchuniform gezwängt. Wozu eine Taucheruniform an Bord eines Inter-Trafficers gut sein sollte, blieb offen. Planten die ernsthaft einen Ausstieg unter Wasser?

»Sie wissen alle von nichts. Sie befolgen nur Befehle«, stellte Woyer klar. Wir nickten und kletterten in das Inter-Trafficer, das für fünf Personen reichlich klein war. Mit Geyla und Flink quetschte ich mich auf die Rückbank des eigentlich für zwei Personen ausgelegten Kurzstreckenraumschiffs. Es war das kleinste Inter-Trafficer, das wir an Bord hatten. Bald würde nur noch diese fliegende Blechbüchse zwischen uns und der Unendlichkeit des Alls stehen. Das war immer wieder ein merkwürdiges Gefühl. Ein schneidiger Gigant wie die Psygon verlieh mehr trügerische Sicherheit.

Das Licht war gedimmt, die Unterhaltungslautstärke kaum mehr als ein Flüstern. Aus dem Fenster des Inter-Trafficers hinaus sah ich einige der Geschwaderjäger im Dunkeln an der Wand der Halle stehen. Die Symbole waren kaum auszumachen, aber ich erkannte die Welle, das Zeichen der Atlantikaner. Es hämmerte sich in mein Bewusstsein, ich schloss die Augen und imaginierte Phantasiebilder von einer versunkenen Welt. Die Nachtzeit, die ewige Nacht des Raums, die Kälte des Weltraums und irgendwo weit unter uns Wasser, viel Wasser.

Ein leichtes Rumpeln. Das Trafficer hatte abgehoben und schwebte geräuschlos auf das sich langsam öffnende Schott zu. Geyla drückte sich an mich und ich spürte, wie warm sie war, wie weich und verletzlich. Zumindest dachte ich diesen Kram. Was Männer so denken. Wahrscheinlich war es einfach nur eng und warm, nichts weiter. Schweigend wie ein Dieb in der Nacht verließ die Shannon, so der Name des Mini-Trafficers, sein Mutterschiff.

Unter uns nichts, über uns nichts.

Leere, Kälte, zartes Surren und Schnappen vorn an den Kontrollen, wo man Woyer und One-Two konzentriert im Schein der roten Notfallbeleuchtung sitzen sah.

Niemand hatte uns bemerkt, nur der Stalord wusste, dass wir das Schiff verlassen hatten. Ich stellte mir vor, Briger würde es jetzt sofort herausfinden, die Macht an sich reißen und seine Staffel rausschicken, um uns abzuschießen. Oder er würde uns auf dem Planeten zurücklassen. Was wäre, wenn dort unten wirklich das Prismonium wartete? Einige Einheiten könnten hinter einer von Camouflage-Écus versteckten Basis auf uns warten.

Aber so sehr konnten sich unsere Tendrae nicht geirrt haben. Eigentlich. Das Ding kam aus einer Parallelwelt, und dort konnte doch noch nicht einmal das Prismonium gewesen sein. Stalord Dakker hatte immer noch Verbündete an Bord seines Schiffes. Ich dachte an Yell und Woodman. Vanessa würde kämpfen, das wusste ich. Schade, dass sie nicht im Missionsteam war.

»Was ist mit den Offizieren, die Nachtdienst auf der B-i-C haben? Die müssten uns jetzt orten können, wenn sie nicht schlafen«, gab Flink zu bedenken.

»Mit Leuten besetzt, denen wir vertrauen«, antwortete Woyer gelassen.

»Wer?«, fragte Geyla.

»Der Stalord selbst, Dewie Woodman, Steuermann Yell und Dewie Phyngadipolis.«

Geyla sah mich fragend an. »Wer ist Phyngadipolis nochmal?«

»Rumin!«

»Ach ja.«

»Trauen Sie ihm, Patronus?«, fragte Flink skeptisch.

Ich zuckte die Achseln. »Ich wüsste nicht, warum ich ihm nicht vertrauen sollte, aber ich habe ihn nicht empfohlen.«

Unser Sinkflug verlief ohne Zwischenfälle. Ich hatte nicht geschlafen diese Nacht, weshalb mein Kopf nun etwas zurücksank. Ich spürte, wie kalt die Hülle des Inter-Trafficers war. Unser Atem kondensierte an den Fenstern, rann in dünnen Wassertröpfchen bis hinunter auf den Teppichboden, wo sich dunkle Nässeflecken bildeten. Ich legte meine Hand auf Geylas Oberschenkel und strich darüber, um sie zu beruhigen, doch eigentlich beruhigte es eher mich.

»Atmosphäreneintritt«, vermeldete One-Two knapp.

Das bedeutete mitunter starkes Gewackel und Hitze. Ich lehnte weiter an der Wand und ignorierte das anfänglich leichte Vibrieren und Rütteln. Die Wand wurde wärmer und wärmer, schließlich wurde sie heiß. Dann zu heiß.

»Au! Shit!«, fauchte ich.

Flink schaute leicht überrascht. Die Raumtemperatur war von sechs auf siebenunddreißig Grad Celsius gestiegen - und stieg noch weiter. Dieses kleine Inter-Trafficer hatte eine arg bescheidene Isolierung. Natürlich hatte es Ecús, sonst wären wir verglüht, aber es kam doch genug durch, um uns beinahe zu garen.

Die Atmosphärenwinde wirbelten in orangenen, gasförmigen Fluten wie ein Feuersturm um uns herum. Es begann nun heftiger zu wackeln, begleitet von dumpfem Grollen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich glauben können, die Shannon flöge gleich auseinander.

Durch alles Rot und Orange hindurch sah ich, wie eine erfrischende Erlösung, ein tiefes Blau schimmern.

»Oh, wow«, staunte Flink.

»Sagen Sie bloß nicht, Sie sind noch nie mit einem Schiff gelandet, Stalev?«, fragte ich.

»Schon, aber … es war nie so schön.«

Ich verstand seine Begeisterung.

Plötzlich sackten wir durch ein Luftloch nach unten, der Schweiß stand uns auf der Stirn, es war siebenundvierzig Grad Celsius heiß, und mein Magen fühlte sich flau an. Kollektivem Stöhnen folgte unerwartete Ruhe. Das Schiff schwebte ruhig durch die Luft der Atmosphäre des Planeten, und es wurde wieder kühler um uns herum. Die Schleier aus Feuer hatten sich gelüftet.

Flink ließ den Sitz los, Geyla mich, ich sie. Wir waren auf der Nachtseite des Planeten, der von der hiesigen Sonne momentan nicht angestrahlt wurde. Die Lebewesen des Planeten konnten dankbar sein, dass er in der Umgebung eines Sonnensystems in dieses Universum eingedrungen war. Wahrscheinlich kein Zufall. Was war schon Zufall?

Noch viele Kilometer unter uns schimmerte das tiefblaue Meer.

Ich ging nach vorn zu One-Two. »Was sagen die Tendrae?«

Stadux Woyer sah auch hin. »Wie ist das möglich?«, fragte er.

Jetzt sah ich es auch. Unter der Wasseroberfläche gab es unglaublich viel Energie, eine Energiequelle, die unsere Anzeigen überforderte. Sie erwärmte den Boden und die Luft, ließ den Planeten strahlen.

»Wie machen die das?« Geylas Mund stand offen.

»Wer immer hier lebt - er ist nicht von einer Sonne abhängig«, formulierte One-Two die erstaunliche Erkenntnis. »Der Planet versorgt sich selbst.«

Diese Entdeckung stillte meinen Wissensdurst noch nicht. »Und wer bewohnt ihn?«

One-Two stellte die Tendrae um, schüttelte dann ansatzweise den Kopf. »Ich erhalte keine näheren Bioanzeigen. Die Tendrae werden abgelenkt. Irgendetwas unter der Wasseroberfläche filtert sie bis zur Nutzlosigkeit.«

Geyla nestelte an der Tasche mit den Notrationen, die unter den Pilotensitzen verstaut war.

»Was machst du denn da?«, fragte ich leise und beugte mich zu ihr hinunter.

»Ich hab Durst, ist das verboten?!« Sie trank ein Päckchen Wasser leer und wischte sich den Mund ab.

Flink schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mal, Dewie, finden Sie das normal, jetzt schon an die Notrationen zu gehen? Wer weiß, ob wir …«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Monsignore Garrett.« Woyer schmunzelte. »Das Wasser unter uns ist Süßwasser.«

Jetzt sah ich es auch auf dem Display. Es war kein einmaliges Phänomen, aber ein seltenes. Ein ganzer Planet voller Süßwasser. Wir überflogen langsam das endlose Meer und warteten auf den Sonnenaufgang - nicht weil wir ihn aus technischen Gründen benötigt hätten, sondern weil wir neugierig darauf waren. Wir machten uns ein genaueres Bild von dem Planeten, indem wir ihn rings herum mit allen Arten von Tendrae abtasteten. Der Überflug dauerte einige Stunden.

»Wieviel trockenes Land gibt es hier, One-Two?«, fragte ich schließlich, denn außer ein, zwei spärlich bewaldeten Inseln von etwa der Größe Madagaskars hatte ich auf den Anzeigen nichts entdecken können. Allerdings hatte ich mich zwischenzeitlich auch zwei Stunden aufs Ohr gehauen, um nicht irgendwann zu einem ungünstigeren Zeitpunkt umzukippen.

»Circa zwölf Millionen Quadratkilometer verteilt auf etwa zwanzig Inseln. Die Gesamtoberfläche beträgt sechshundertundvierzig Millionen Quadratkilometer.«

Ich staunte. »Das ist, als gäbe es auf der Erde nur Europa und die Antarktis.«

Geyla war ebenfalls gerade erst wach geworden und sah etwas zerknittert aus. Ich schenkte ihr ein Lächeln, das sie müde erwiderte. Für mich sah sie auch so wunderschön aus.

»Auf diesen Inseln, gibt es da Leben?«, fragte sie nach vorn.

»Tierisches und pflanzliches Leben in geringer Populationsdichte. Anscheinend keine höhere Intelligenz vorhanden.«

Flink schlief noch.

Dann tanzte ein erster goldener Strahl über das schimmernde Blau unter uns, und gleißendes Licht kroch den Horizont hinauf, anfangs noch gebändigt und gefangen in den Wellen der süßen See.

Die Shannon ging tiefer und wurde langsamer.

»Ein neuer Tag«, seufzte Geyla.

Woyer nickte. »Ja, Lady Tyka. Und ein böses Erwachen für Superskypresidentmajorstaduxmegacommander Briger.«

Wir schwiegen.

Das Inter-Trafficer glitt hinab und wasserte sanft auf der Meeresoberfläche. Weit vor uns schien eine kleine Insel zu sein, aber die Umrisse verschwanden im mittlerweile hellblauen und wolkenlosen Himmel.

»Die Meerestiefe schwankt auf dieser Seite des Planeten zwischen einem und viertausendfünfhundert Metern. Die Wassertemperatur beträgt zehn Grad Celsius, direkt unter uns befindet sich ein zweihundertfünfundvierzig Meter tiefer Graben«, meldete One-Two.

»Und wir tauchen mit der Shannon?«, fragte ich, denn diesen Teil der Mission hatte ich nicht vorhergesehen - trotz One-Twos und Flinks Taucherdress.

Woyer nickte und strich sich durch den Kinnbart. »Die Mission lautet ‘Herkunft und mögliche Gefahren des Planeten erkunden‘, und genau das werden wir tun. Der Sauerstoffvorrat der Shannon reicht bei fünf Personen für etwa zwölf Stunden, dann müssen wir auftauchen oder die Luft anhalten.«

One-Two zupfte an Mac Woyers Ärmel. »Ich finde es sehr höflich von Ihnen, Stadux, mich als Person nicht auszuklammern, aber ich brauche keinen Sauerstoff.«

»Er wird trotzdem nur zwölf Stunden halten.«

»Wenn Sie mich in die Rechnung gar nicht mit einbezogen haben, warum nannten Sie dennoch fünf Personen, Patronus?«

Woyer schüttelte den Kopf. »Mein Sprachzentrum hat wohl versagt, One-Two. Dann eben vier Personen und eine nervtötende Maschine. Besser?« Woyer stand unter Druck, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ. Er wusste nur zu gut, was auf der Psygon los wäre, wenn Briger die Abwesenheit einiger Führungsoffiziere auffiel. Das dürfte schon bald der Fall sein. Auch ich konnte mir das bildlich vorstellen, aber wenigstens trug ich keine Kommandoverantwortung. Alles hing an Woyer.

»Bei Ihnen ist also die Sicherung durchgebrannt, Patronus«, analysierte One-Two trocken, und irgendwie war er in seinem Gummianzug mit dieser robotischen Unschuldsmiene einfach zu drollig. Geyla und ich lachten, Woyer nicht.

Dann wurden die Frontscheiben der Shannon von frischem, kristallenem Wasser umspült. Der Himmel schmolz dahin, bis wir schließlich komplett unter Wasser waren. Es gluckste an der Hülle und wurde kühler, das Licht im Inter-Trafficer funktionierte noch normal, doch um uns herum herrschte eine gespenstische Ruhe und Leere, getaucht in fahles türkisfarbenes Licht und durchzogen von goldenem Schimmern. Das Tageslicht brach durch die Wellen bis zu uns durch und wurde von den Scheiben reflektiert. Inmitten einer Flüssigkeit zu sein, war ich nicht mehr gewohnt. Der Weltraum ist ein trockenes, hartes Pflaster, nicht sanft und kühl.

Das Inter-Trafficer glitt deutlich schwerfälliger durch das Wasser als durch die Luft, war aber immer noch relativ wendig und schnell.

One-Two fuhr zwei große Suchscheinwerfer aus, die uns nach vorn eine gewisse Weitsicht ermöglichten. Ich wollte mein Erleben dieser Situation nicht durch Worte behindern und verhielt mich ruhig. Ich drückte die Nase an ein Seitenfenster und starrte nach unten. Da war es sehr dunkel. Dunkelblau bis schwarz und wenig einladend. Der Grund lag etwa zweihundert Meter unter uns.

»Patronus, soll ich Garrett nicht wecken?«, fragte ich und schielte zu dem immer noch schlummernden Jungoffizier.

»Lassen Sie ihn. Im Moment brauchen wir ihn ja nicht und solange er schläft, kann er kein Unheil anrichten«, antwortete Woyer augenzwinkernd.

»Wieso sind hier keine Fische?«, wollte Geyla wissen, während das Inter-Trafficer tiefer hinab tauchte.

One-Two´s Finger huschten über die Kontrollen. »Es werden auch unter Wasser Tierpopulationen angezeigt, von extrem größerer Dichte als an Land. Standortbestimmungen lassen sich allerdings weiterhin nicht durchführen.«

Wir hatten bislang absolut nichts Lebendiges gesehen.

»Das Störsignal?«, fragte Woyer.

One-Two nickte. »Es ist irgendwo unter uns.«

Ich las auf dem Display, dessen Anzeigen ständig wechselten, unsere Tiefe ab. Neunzig Meter. »Wollen Sie bis runter auf den Grund?«

Woyer nickte. »Wenn möglich, ja. Sehen Sie diese Anzeigen hier? Je tiefer wir sind, desto höher ist die Energiedichte.«

»Vielleicht ist es Magie«, flüsterte Geyla deutlich hörbar und starrte aus dem Fenster.

»Gibt es etwas Vergleichbares in der Nibboranischen Religion, Dewie?«, fragte Woyer.

Geylas Blick blieb in die Fluten gerichtet. »Im 7. Buch des Propheten Ta Kyaris steigt er in die Fluten der Unterwelt hinab. In ihnen lodert ein unvergängliches Feuer aus Wellen, eine blaue Flamme, die niemand löschen konnte, nicht einmal die Kraft aller Propheten. Bewacht wurde sie von den Soryos, mächtigen monströsen Wächtern, die schon beim Überschreiten der ersten Pforte zu ihrem Reich die Gedanken aller Besucher kannten. Ta Kyaris umging sie jedoch, indem er seinen Geist in sich gefangen hielt und so hinter ihnen eine Pforte in der ewigen Flamme schuf, durch die seither die Seelen der Nibböä in den himmlischen Hort zurückgelangen können, sollten sie sich einmal in die Unterwelt verirrt haben.«

»Was ist die Moral dieser Erzählung?«, fragte ich.

»Na, was schon? Wer sich selbst unter Kontrolle hat, kommt besser ans Ziel, da er seinen Feinden keine Angriffsfläche bietet. Und dass auch irregeleitete Seelen dank der Heldentaten eines Propheten begnadigt werden und in den himmlischen Hort gelangen können«, erklärte Geyla und wandte kurz ihren Blick von dunkelblauen Strömen und Bläschen ab, um mir in die Augen zu sehen.

Gemeinsam blickten wir wieder hinaus. Ich konnte keine klaren Konturen erkennen, keine Formen, Muster oder andere Farben als Blautöne. Es wurde immer kälter, obwohl wir der Energiequelle näher kamen. Die Energie musste durch irgendeine Technik gleichmäßig über der gesamten Planetenkugel und im gesamten Meer verteilt werden, so dass sich die Temperaturbedingungen überall so gestalteten, als gäbe es eine Sonne. Und in der Tiefsee war es nun einmal kalt, Sonne hin oder her.

»Immer noch keine Fische«, stellte Geyla wiederholt fest.

»Wären dir diese Soryos lieber?«, fragte ich.

»Ich muss Ihnen widersprechen. Sehen Sie!«, machte uns One-Two auf das aufmerksam, das sich nun im Schein unserer Scheinwerfer zeigte.

»Stoppen Sie, One-Two. Dafür nehmen wir uns kurz Zeit«, wies Woyer ihn an.

Millionen kleine, silberne Fische schwammen mitten im freien Wasser in einer Tiefe von etwa hundertfünfzig Metern. Der Schwarm wechselte ständig im Kollektiv die Richtung, immer wieder verschmolzen seine silbernen Flanken zu einem Schwarmkörper.

»Wecken Sie Stalev Garrett. Das kann er sich ruhig mal ansehen. Ordnung im Chaos«, schlug der sichtlich faszinierte Woyer vor.

Auf dem Weg zur kleinen Schlafnische bemerkte ich erstmals, dass die Shannon leicht hin und her schwankte - es war aber kein großes Problem, das Gleichgewicht zu halten. Ich weckte Flink. Er räkelte sich.

»Wieso wackelt es? Sind wir in einem Sturm?« Er gähnte.

»Stadux Woyer meint, du solltest Dir die Fische ansehen.«

Ich beschloss, ab jetzt alle Mitglieder meines Teams zu duzen, vor allem wenn wir halb inoffiziell unterwegs waren.

Flink brabbelte etwas von blöden Fischen. Plötzlich sah er mich mit großen Augen an. »Fische?«

Ich nickte, und er stürzte nach vorn.

»Wir sinken!«, schrie er.

Geyla und Woyer packten ihn an den Schultern und pressten ihn auf einen Sitz. »Wir sinken nicht, wir tauchen. Auf der Suche nach Antworten.«

Flink beruhigte sich. »Wie tief sind wir?«

»Hundertzweiundfünfzig Meter. Sie sollen sich doch die Fische ansehen, Patronus!«, lachte Geyla.

Flink wagte einen Blick nach vorn.

Ich hörte sanftes Plätschern um uns herum, ließ mich auf der Rückbank sinken und betrachtete das bei hundertzwanzig Metern angesprungene rote Notlicht und den herrlichen Kontrast zwischen Rot und Blau. Mit einem Mal wurde direkt vor uns viel Wasser verdrängt. Blasen und Schwalle kündigten eine kraftvolle, schnelle Bewgung an. Die Ruhe und Harmonie des Fischschwarmes endete abrupt, die silberne Wolke stob panisch auseinander.

Eine mächtige, torpedoförmige Silhouette erschien.

Es ging schnell, doch ich realisierte noch, dass etwas großes Lebendiges auf uns zukam. Es kam wie aus dem Nichts, war fünf oder sechs Mal so groß wie die Shannon, braun und umkreiste uns.

Woyer schrie, Geyla schrie, Flink duckte sich, ich bewegte mich nicht.

Das riesige Raubtier glich einer Echse, hatte einen starken Schwanz, geschuppte Haut, Reißzähne und ein breites Froschmaul. Es bewegte sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, packte die Shannon wie einen erbeuteten Fisch und trieb sich mit mächtigen Schwanzschlägen voran.

Wir wurden herumgeschleudert wie Blätter im Sturm.

Ich prallte gegen die Frontscheibe, und nichts trennte mich vom Magen des Monstrums als ein Scheibchen Glas. Ich starrte direkt in den dunklen Rachen. Irgendwie hatte ich noch die Arme vor den Kopf reißen können, sonst wäre durch den Aufprall vielleicht mein Schädel geplatzt. Ich lag auf der Scheibe, One-Two saß auf seinem Platz und versuchte, trotz aller einwirkenden physikalischen Kräfte, weiter die Kontrollen zu bedienen. Woyer, Geyla und Flink hörte ich irgendwo über mir, denn die Frontscheibe diente aktuell als Boden des Trafficers. Das Vieh hatte uns aufrecht im Maul wie eine Rachensperre. Ich spannte meine Muskeln an, konnte mich jedoch nicht von dort weg bewegen. Ich suchte die Frontscheibe nach Rissen ab. Sie hatte keine. Ich hörte ein Rauschen und Zischen, ein Glucksen und Brüllen - alles war jedoch außerhalb der Shannon. Wir hatten noch kein Leck. Erst jetzt fand ich Zeit, Furcht zu empfinden. Ich hatte plötzlich verdammt große Angst!

Ich rutschte wie ein nasser Fisch auf der Scheibe herum, als das Ungeheuer eine Kurve schwamm. Ich schloss die Augen und hörte mich stöhnen.

Geyla schrie und prallte neben mir auf die Scheibe, das Gesicht blutverschmiert. Sie war bewusstlos. Ich streckte eine Hand aus und fühlte ihren Puls. Sie lebte.

One-Twos Stimme erklang. »Aktiviere … Searer …«

Noch bevor er einen Schuss absetzen konnte, spuckte uns das Monstrum aus. Die Shannon schoss taumelnd durch das Wasser wie ein Komet auf Crashkurs. One-Two wurde nach oben gestoßen, das Inter-Trafficer drehte sich, so dass die eigentliche Decke nun der Boden war. Ich rollte von der Scheibe hinunter und zog Geyla mit. Über meinem Kopf lagen die Armaturen, aber ich konnte nicht aufstehen, lechzte nach Kraft.

Jetzt hörte ich Woyer: »Er kommt zurück, Stan, er kommt zurück!«

Ich drehte den Kopf und sah, dass das Biest nur gewendet hatte, um erneut zuzustoßen. Mit kräftigen Schwanzschlägen trieb es seinen muskulösen Körper durch die Fluten. Es zeigte uns die Zähne. Ich zwang meine Beine, mir endlich wieder zu gehorchen, und hievte mich hoch, hielt mich mit einer Hand an den nun von der Decke hängenden Pilotensesseln fest und führte die andere zum Searerkontrollsystem. Das Biest war nur noch wenige Meter entfernt, hatte das Maul weit geöffnet und erwartete ein wehrloses Opfer. Da knickte ich weg und geriet außer Reichweite des Feuerknopfes, doch ich stürzte nicht. Flink stand neben mir und stützte mich. »Feuer, Patronus!«, sagte er, und ich wiederholte es schreiend, sprang hoch und klatschte die Hand auf die Schaltfläche.

Der Searerstrahl brodelte durch das Wasser und erzeugte ein entsetztes Brüllen beim Angreifer. Der aggressive Meeresbewohner drehte ab und jagte in die Weiten der See davon.

Erleichtert ließ ich mich mit Flink zu Boden fallen und klopfte ihm auf die Schulter. Woyer kam auf allen Vieren hinzu gekrochen, Geyla war noch bewusstlos, One-Two unbeschädigt.

»Keine Fische, hä?«, sagte Woyer.

Ich zuckte mit den Schultern und konnte schon wieder schmunzeln. »Klassisches böses Erwachen, hm, Flink?«

Flink nickte. »Und Briger bleibt gerade das Frühstück im Hals stecken.«

»Ja, wie dem Biest vorhin!«, knurrte ich.

»Eine gewisse Parallele zwischen Biest und Briger, allein sprachlich und optisch, ist nicht von der Hand zu weisen«, sagte Flink weiter.

Mit One-Twos Hilfe gelang es schnell, die Shannon wieder in einen annehmbaren Zustand zu versetzen. Außer ein paar Beulen war nichts zu beanstanden. Selbst die Scheinwerfer waren nur leicht verbogen, funktionierten aber noch einwandfrei. Prellungen und Platzwunden behandelten wir umgehend mit den medizinischen Vorräten. Geyla kam schnell wieder auf die Beine. Mit den revitalisierenden Lasern ließen sich ihre Wunden umgehend schließen. Ich dachte an die Psygon, die weit über uns ihre Bahnen zog - hoffentlich friedlich.

»Wie viel Sauerstoff haben wir noch?«, fragte Woyer.

One-Two checkte die Systeme. »Für circa neun Stunden. Tauchtiefe hundertsiebenundachtzig Meter.«

Das Vieh war also mit uns getaucht.

»Tauchgang fortsetzen! Wir sollten nicht zu lange hier bleiben. Der Stalord braucht uns - und vor allem Ergebnisse«, sagte Woyer.

»Wie verhindern wir weitere Angriffe, wenn die Tendrae keine exakten Angaben hergeben?«, erkundigte sich Flink. Es erfolgte keine Antwort. »Entschuldigung, aber ich habe Sie etwas gefragt.«

Erst jetzt merkte ich, dass er mich meinte. Natürlich siezte er mich noch, schließlich hatte ich ihm kein Du angeboten.

»Woher soll ich denn das wissen?«, antwortete ich genervt. Mir war merkwürdig heiß im Kopf, der restliche Körper fühlte sich dagegen sehr kalt an.

»Wir richten die Tendrae nun auf reptilienartige Lebensformen aus und sollten deren Annäherung rechtzeitig bemerken können. Vorher waren wir von Fischen ausgegangen. Für einen Universalscan fehlt uns die Energie, beziehungsweise wäre er nicht sehr effektiv«, erklärte Woyer.

Flink ignorierte diese Auskunft. In seinen Augen veränderte sich etwas. »Na, los, Pendra, erklären Sie´s mir! Wissen Sie´s nicht? Was ist los mit Ihnen?!«

Wie ich ihn plötzlich hasste! »Halt doch die Schnauze, du Anfänger! Du bist doch eh ein Spitzel von diesem faschistischen Penner Briger! Immer schon hast du meine Autorität missachtet. Meine Frau willst du jetzt auch noch, hä?!« Meine plötzliche Wut verschwand nicht. Welche Frau meinte ich eigentlich?

»Hüten Sie Ihre Zunge, Patronus! Du Möchtegern-Veteran! Lächerlich!« Flink sprang auf und drohte mir, ich tat es ihm gleich, von einem inneren Schmerz erfüllt und von betäubender Hitze und Kälte durchgeschüttelt.

Es tat nicht weh, im Gegenteil: Ich fühlte enorme Energie in mir - und große Wut, Hass, Eifersucht, alles was man sich vorstellen kann. Ein Schwall negativer Gefühle. Dennoch war es Flink, der sich zuerst hysterisch auf mich stürzte. Ich schlug zurück, wir wälzten uns über den Boden, er traf mich, ich traf ihn, und meine Muskeln waren stark wie nie. Ich wusste, dass es nicht richtig war. Ich spürte, dass ich meinen Kameraden ohne Grund schlug, aber ich konnte nicht anders. Ich war verloren.

Flink und ich hätten uns vielleicht gegenseitig getötet, wären One-Two und Woyer nicht dazwischen gegangen. One-Two redete auf mich ein, hielt mich fest, verpasste mir eine Ohrfeige - eine enorme, robotische Ohrfeige - und plötzlich war ich wieder bei klarem Verstand.

»Tiefenrausch«, sagte Woyer und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich ausgelöst durch die Aufregung vorhin.«

Ich sah Flink an, der sich einen Schlag von Woyer eingefangen hatte. Er hatte ein blaues Auge und eine blutige Nase, aber er lächelte. Es wirkte noch etwas schief, aber er war wieder fast der alte Flink, wie ich wieder der alte Stan war. So etwas war mir noch nie passiert. Bevor wir uns weiter damit auseinander setzen konnten, stoppte die Gleitbewegung des Inter-Trafficers.

»Stadux, etwas unüberschaubar Großes und unmessbar Energiereiches liegt vor uns«, meldete One-Two.

»Die Energiequelle?«, fragte Geyla.

Ich sah sie an.

Geylas Gesicht zeichnete sich vor kugelblitzblauem, urwaldhöllengrünem, aufgeschäumtem und bleischwerem Wasserhorizont wie die erste Blüte eines wundervollen, endlosen Sommers ab. Grüne Felder, lebensspendende Erde, Strandparty, Musik, im Inneren des leibhaftigen Glücks. Ihre Lippen glänzten, und ich atmete jeden Atemzug mit ihr mit. Ich fühlte, wie die Luft sanft und kühl über ihre Lippen kroch, sehnte mich danach, den Glanz in ihren Augen festzuhalten, diesen Anblick unsterblich in mich aufzunehmen, ihre Liebe sich spiegeln zu sehen hinter den sprühend jungen Lichtreflexen auf ihrer Netzhaut. Die Welt wurde zart, alles erschien freundlich. Gestochen scharfe Phantasien, leuchtend und farbig und in spritzigster Bewegung, Drehung, Umkreisung, fröhlich und ausgelassen.

Nun bemerkte sie meinen Blick. Mein Mund formte ein Lächeln, das so pur und zeitlos war, wie es nur sein konnte. Sie sah mich an und ihr Blick entwaffnete mich, nahm mir jegliche Resistenz, zeigte mir die intimsten Launen eines anderen Menschen. Die Ehrlichkeit ihrer Erwiderung ließ mich zittern. Ich sah, dass sie mich liebte, und wie unbeschreiblich war die Gnade, die mir dadurch zuteilwurde. Wie sehr drängte mein Körper danach, es ihr zu danken, doch es war nicht möglich. Noch nicht. Gott, war Liebe großartig!