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Inhaltsübersicht

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-24403-2

ISBN E-Book 978-3-688-11439-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-11439-9

Danksagung

«Diamonds are a girl’s best friend»? Hier irrt Marilyn Monroe – gute Freundinnen sind der wahre Schatz im Leben. Meine Schätze heißen Mary Davin-Power, Sharon Plunkett, Anne Rooney, Sheila Desamais und Jeannette McAteer. Tausend Küsschen für eure moralische und logistische Unterstützung und ein besonderer Dank auch an Philip Nolan, der zwar ein Mann ist, aber trotzdem funkelt! Außerdem danke ich meiner Mutter Lil Greenhalgh, die zu jeder Tages- und Nachtzeit für mich da war, Eithne, die bergeweise Geschirr eingepackt hat, und all den lieben Freunden und Freundinnen, die in Wort und Tat dazu beigetragen haben, dass dieses Buch geschrieben werden konnte. Ihr seid einfach wundervoll, und ich liebe euch über alles.

Januar

Lola.

Lola Cola.

Lo-la Co-la!

Ta-ta-ta!

Lauren Kilroy musterte stirnrunzelnd ihren Ferragamo-Schuh. Nein, das war noch nichts. Neuer Versuch.

Lo … la … Co … la … Alo … ha … Sich wiegende Tänzerinnen, Palmen und hawaiianische Musik.

Wie abgedroschen, wie langweilig.

Sie war einfach noch nicht voll auf der Höhe, genau deshalb saß sie jetzt hier. Normalerweise brachten Lauren keine zehn Pferde ins Wartezimmer eines Arztes. Schon gar nicht in eines, das so altmodisch und schäbig war wie das von Dr. Mallon, hier in diesem heruntergekommenen Vorort. Draußen auf der Straße zerstach vermutlich gerade irgendein arbeitsloser Bengel die Reifen ihres BMW. Nicht mal ein vernünftiges Klatschmagazin gab es, um sich mit Neuigkeiten über die Beckhams abzulenken. Dr. Mallons Patienten bevorzugten biedere Hausfrauenblättchen, National Geographics und zerfledderte Postillen über Pferderennsport. Ein Pferderennen war für Lauren etwas, das auf der Leopardstown-Rennbahn in Dublin im Hintergrund lief, während sie im VIP-Zelt die Kunden ihrer Werbeagentur empfing und bewirtete. Um die Pferde selbst machte sie einen großen Bogen, aus Furcht um ihre Designerkostüme. Wer konnte denn schon garantieren, dass so ein Biest einem nicht den Ärmel abbeißen würde?

Nach Champagner und Kundenempfang war ihr heute überhaupt nicht zumute. Mittags hatte sie anlässlich einer neuen Kampagne bei Guilbaud’s ein Essen für vierundsechzig Teilnehmer ausrichten müssen. Dabei wäre sie am liebsten nach Hause gefahren, um unter ihre teure Bettwäsche zu schlüpfen und sich gründlich auszuschlafen. Am liebsten wochen-, monate-, jahrelang.

Sie unterdrückte ein Gähnen und versuchte, sich von neuem auf die Lola-Kampagne zu konzentrieren. Doch wie sollte man in dieser furchtbaren Umgebung einen klaren Gedanken fassen, eingekeilt zwischen zwei schrecklichen kleinen Jungs? Der eine schniefte und kratzte ständig an sich herum, während der andere laufend an seiner sichtlich genervten, ungepflegten Mutter herumzupfte. Nach einem Blick auf ihre Uhr musste Lauren den spontanen Reflex unterdrücken, aufzustehen, in Dr. Mallons Sprechzimmer zu stürmen und zu fragen, ob er sich gefälligst ein bisschen beeilen könne. Es war zwanzig vor sieben, und um 19:50 Uhr war sie mit Jordan im Foyer des Gate Theatre verabredet. Auf Tschechows «Möwe», von ihr aus auch auf seine Drossel oder Elster, hatte sie zwar nicht die geringste Lust, aber bei Premieren musste man sich sehen lassen, ob es einem nun passte oder –

«Mrs. O’Shaughnessy?»

Dr. Mallon steckte den Kopf durch die Tür, die Frau stand auf und bugsierte ihre nervtötenden Kinder ins Sprechzimmer. Gut. Blieben nur noch sie und ein mäusegesichtiger Mann, der ihr vorhin die Tür zur Praxis aufgehalten hatte. Da Lauren als Erste das Wartezimmer betreten hatte, war sie also vor ihm an der Reihe.

Auf dem Kaminsims tickte eine Uhr, die zwölf Minuten nachging, was Lauren zu der ungeduldigen Überlegung veranlasste, warum Dr. Mallon – oder seine beleibte, kurzatmige Ehefrau – dieses angestaubte viktorianische Haus nicht endlich einmal renovieren ließ. Seit sie vor dreißig Jahren als Kind zum ersten Mal hier gewesen war, waren offenbar nicht einmal die Zeitschriften ausgewechselt worden. Der Teppich jedenfalls war noch der alte, ebenso die gestreifte Seidentapete und die Kiste mit dem Kinderspielzeug. Mit den altmodischen Holzpuzzles und den angegilbten Puppen, das wusste sogar Lauren, würde man bei den Kindern von heute jedoch nur wenig Begeisterung hervorrufen.

Ansonsten wusste sie herzlich wenig über Kinder, nur, dass sie keine wollte und ohnehin keine Zeit dafür gehabt hätte. Nicht mal, wenn Jordan – na ja. Jordan führte sein Leben, sie führte ihres, und das passte ihnen beiden ganz gut in den Kram. Er wäre entsetzt, wenn er sie jetzt hier sähe, und würde entgeistert fragen, warum sie nicht zu einem «richtigen» Arzt am noblen Fitzwilliam Square gegangen sei. Zu einem Arzt im Armani-Anzug, mit großformatiger moderner Kunst im Empfangsbereich und einem Jaguar vor der Haustür. Dr. Mallon trug Strickjacke und Cordhosen und hatte nicht einmal eine Sprechstundenhilfe.

Aber Dr. Mallon hatte ihrer Schwester das Leben gerettet. Caoimhe wäre längst tot, wenn er damals, als sie fünf Wochen alt war, nicht gleich erkannt hätte, dass sich bei ihr eine Hirnhautentzündung anbahnte. Heute ist sie siebenundzwanzig, und in Laurens Familie war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass alle zu Dr. Mallon gingen. Wobei, allzu lange dürfte er wohl nicht mehr praktizieren, dachte Lauren. Er ist bestimmt weit über sechzig. Wenn er erst im Ruhestand ist, können wir uns endlich alle neue, moderne Ärzte suchen, mit Plasmabildschirmen im Wartezimmer, auf denen Trickfilme laufen. Mutter natürlich nicht. Die wird es fertigbringen, wieder so einen Methusalem ausfindig zu machen, der nahtlos an Dr. Mallons Wirken anknüpft. Papa geht ohnehin nie zum Arzt. Aber Caoimhe und ich sind dann endlich aus dieser lebenslangen Loyalität entlassen. Dr. Mallon mag ein guter Arzt sein, und er wird schon kurieren, was auch immer mit mir nicht stimmen mag, aber seine besten Zeiten hat er hinter sich.

So fühle ich mich momentan aber auch. Ich will nicht ins Theater. Wenn Jordan die Eintrittskarten nicht schon besorgt hätte, würde ich ihn anrufen und ihm sagen –

«Lauren?»

Erschrocken riss sie den Kopf hoch, der zu ihrer Bestürzung nach vorne gesackt war. Sie war im Begriff gewesen, einzudösen. Beschämt stand sie auf, strich sich den Rock glatt und folgte Dr. Mallon ins Sprechzimmer. Sie hatte es eilig. Im Übrigen wäre es ihr, obwohl sie das nie offen zur Sprache gebracht hätte, wesentlich lieber gewesen, wenn Dr. Mallon sie «Miss Kilroy» genannt hätte, zumindest im Beisein anderer, wie es sich bei einer Frau von zweiunddreißig Jahren gehörte, die dazu noch überaus erfolgreich in der Werbung tätig war.

Dr. Mallons Sprechzimmer war ebenso altmodisch und vom Zahn der Zeit benagt wie das Wartezimmer. Neben einem alten Ledersofa und einem Orientteppich mit Fransen befand sich darin ein massiver Eichenschrank mit Messinggriffen, der vor braunen Pappordnern förmlich überquoll. Das Computerzeitalter war an dem alten Hausarzt offenbar spurlos vorübergegangen. Lauren musste einen unwilligen Seufzer unterdrücken.

«Bitte, nimm Platz.»

Der Arzt deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, wobei seine Armbanduhr, ein klassisches Modell mit römischen Ziffern, ihm das hagere Handgelenk hinabrutschte. Sein noch immer volles Haar war mittlerweile schlohweiß. Wenn er lächelte, zog sich ein dichtes Gespinst von Falten über sein Gesicht, und seine einst kobaltblauen Augen schienen eigenartig verblasst. Keine Frage, er war alt geworden. Nachdem er umständlich und recht schwerfällig hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte, warf er einen Blick auf die handschriftliche Akte, die aufgeschlagen vor ihm lag. Er setzte an, etwas zu sagen, schien dann aber seine Meinung zu ändern und lächelte Lauren an.

«Also», sagte er mit freundlicher Stimme, «wie geht es dir?»

«Keine Ahnung», antwortete sie. «Genau das möchte ich ja von Ihnen wissen.»

Er nickte, rührte jedoch die Akte vor sich nicht an. Sie enthielt vermutlich die Ergebnisse der Blutuntersuchung, deretwegen er sie zehn Tage zuvor herbestellt hatte. Die Blutuntersuchung, die eine Erklärung dafür liefern würde, warum sie sich mit zweiunddreißig eher fühlte wie achtundneunzig. Vermutlich Stress, hatte er gesagt, nicht selten bei Menschen, die vierzehn Stunden am Tag arbeiteten und dann loshetzten, um Squash zu spielen oder Flüge nach New York zu erwischen. Auch Blutarmut kam in Betracht. Die ließe sich mit Eisen beheben sowie mit «vernünftigen Mahlzeiten», bestehend aus Kohl und Leber; aber nicht aus der Mikrowelle oder hastig in irgendeinem Restaurant heruntergeschlungen, sondern schonend und natürlich zubereitet. Dr. Mallon war ein großer Verfechter des Natürlichen. Lauren wäre lieber verhungert, als auch nur einen Bissen Kohl oder Leber zu sich zu nehmen. Sie sah den Arzt nun direkt an.

«Sind meine Ergebnisse da?»

Eine ganz simple Frage, bei der sie jedoch ein leises Unbehagen beschlich. Herrje, wenn ihr nun tatsächlich etwas fehlte! Doch Dr. Mallon hatte letzte Woche, nachdem er sie untersucht hatte, nicht übermäßig beunruhigt gewirkt. Er hatte ihr lediglich einen langatmigen und ziemlich nervtötenden Vortrag über ihre «Generation» gehalten, die einen zu hektischen Lebenswandel führte, sich unvernünftig ernährte und deren weibliche Vertreter allesamt ein «neurotisches» Verhältnis zu ihrem Gewicht hatten. Dabei hatte Lauren noch nie eine Diät gemacht, zumindest nicht bewusst, da sie ohnehin selten dazu kam, überhaupt eine Mahlzeit zu beenden. Und bei 1,70 m Körpergröße waren ihre zweiundfünfzig Kilo – so hatte sie es einer Zeitschriftentabelle entnommen – völlig im Rahmen des Üblichen.

Dr. Mallon seufzte leise und lächelte wieder. Sein Lächeln schürte ihren Verdacht, er würde ihr nun gleich die Hand tätscheln und den guten Rat geben, sich etwas mehr Schlaf zu gönnen. Mit Vergnügen, wenn das irgendwie ginge!

«Ja, sie liegen mir jetzt vor. Aber erst würde mich interessieren, wie läuft es so bei der Arbeit?»

«Hektisch», erwiderte sie ziemlich kurz angebunden. «Aber das habe ich Ihnen ja schon letzte Woche erzählt, so ist es da immer … ich arbeite gerade an einer neuen Kampagne für einen kalorienarmen Soft-Drink, die können Sie ab April im Fernsehen bewundern, falls ich bis dahin den verflixten Jingle hinbekommen haben sollte.»

Und endlich hier rauskann, um es ins Theater zu schaffen, dachte sie. Eher unwahrscheinlich, wenn er jetzt über meine Arbeit sprechen will. Ich komme zu spät, Jordan wird sauer sein, wir können erst nach dem ersten Akt hinein – Herrgott, Dr. Mallon, kommen Sie bitte zur Sache, verschreiben Sie mir irgendwas und lassen Sie mich gehen!

«Im April», wiederholte er aufreizend bedächtig. «Hm. Verstehe. Und deine Eltern? Die kleine Caoimhe? Alle wohlauf?»

Also wirklich! «Ja, danke, es geht allen sehr gut.»

Er musterte sie milde, aber auch ein wenig fragend, als wolle er noch etwas aus ihr herauskitzeln. Doch was ihre Eltern betraf, hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Jeden zweiten Sonntag traf sie sich mit ihnen in einem Hotel in Howth zum Mittagessen. Ein grässliches Hotel, aber sie hatte zähneknirschend klein beigeben müssen, nachdem die beiden in einem ungleich nobleren, kostspieligeren Restaurant in der Dubliner Innenstadt kaum etwas von den edlen, raffinierten Gerichten angerührt hatten. Das Brathähnchen mit Kartoffeln in Howth aßen sie wenigstens, was den Vorteil hatte, dass sie meistens mit Kauen beschäftigt waren und weniger Zeit für die Konversation blieb.

Seit drei Jahren lud sie die Eltern gewissenhaft nach Howth ein – außer, sie war auf Reisen oder musste am Wochenende arbeiten –, und sie wollte nicht darüber nachdenken, geschweige denn reden; zu stumpfsinnig, zu monoton, zu öde war dieses immer gleiche Ritual. Ihre Eltern, Eoin und Betty, liebten feste Rituale. Also lächelte sie Dr. Mallon nur an, und er nickte wieder langsam.

«Schön. Und dein – äh – Freund? Wie heißt er noch, Joe?»

Lauren zuckte zusammen. Joe? Dr. Mallon brachte es fertig, ihren Liebsten nach einem ordinären Proleten klingen zu lassen.

«Jordan. Jordan White. Auch er erfreut sich bester Gesundheit, danke.»

«Freut mich zu hören. Hilf mir auf die Sprünge, was macht er noch gleich beruflich?»

Sie lassen nach, Doktor, aber gewaltig, dachte sie. Das haben Sie mich vor Ewigkeiten schon mal gefragt, und ich habe es Ihnen gesagt, vor fünf Jahren, als Sie mir die Pille verschrieben haben. Wenigstens schwanger kann ich nicht sein, ein Trost … aber auch nicht krank, sonst würden Sie nicht so herumschwafeln, sondern mich auf der Stelle ins Krankenhaus schicken.

Halb erleichtert, halb unwillig beantwortete sie seine Frage. «Jordan ist Richter. Richter für Strafrecht.»

«Ah, ja. Richtig. Wusste ich doch, dass es etwas war, das ihn zeitlich stark in Anspruch nimmt.»

Lauren warf Dr. Mallon einen scharfen Blick zu. Was wollen Sie damit sagen, alter Mann? Dass Sie wissen, dass Jordan verheiratet und zweifacher Vater ist und deswegen wenig Zeit hat?

Nun, selbst wenn dem so ist, geht Sie das gar nichts an. Außerdem habe ich selbst viel zu tun. Und überhaupt, bei Frauen in meinem Alter spricht man gewöhnlich vom «Partner», wenn es um Männer geht, nicht vom «Freund».

Entnervt warf sie zum zweiten Mal einen Blick auf die Uhr.

«Dr. Mallon, tut mir sehr leid, aber ich habe es heute Abend wirklich wahnsinnig eilig. Könnten wir nicht vielleicht einfach – verstehen Sie –?»

Ein wenig schuldbewusst, schließlich meinte er es ja nur gut, ließ sie ihre ausgestreckten Zeigefinger rasch umeinanderkreisen, als Aufforderung, nun endlich zur Sache zu kommen. Tatsächlich nahm er seine Brille vom Tisch, setzte sie auf und griff nach ihrer Akte.

«Ja, Lauren, selbstverständlich. Entschuldige, falls ich dich aufhalte, aber ich kenne deine Eltern jetzt schon so lange, und Caoimhe liegt mir, wie du weißt, seit eh und je ganz besonders am Herzen.»

Ja, Caoimhe hatte ihm viel zu verdanken, und es war verständlich, dass er sich stets nach ihr erkundigte. Aber vielleicht könnten wir Jordan jetzt mal außen vor lassen und weitermachen?

Dr. Mallon überflog stirnrunzelnd die Akte, legte sie wieder hin – Herrgott! –, faltete die Hände, dachte kurz nach und ergriff dann endlich das Wort.

«Ehe wir über die Ergebnisse deiner Blutuntersuchung sprechen, Lauren, darf ich dich etwas Persönliches fragen?»

«Nun, äh – wieso nicht, wenn es von Belang ist.»

Das müsste doch als Fingerzeig genügen, dachte sie. Aber er schien sich nicht hetzen lassen zu wollen. Jordan würde toben, wenn sie zu spät kam.

Dr. Mallon räusperte sich. «Dein – äh – na ja – Freund da. Wie lange bist du jetzt mit ihm zusammen?»

«Fünf Jahre. Steht in Ihren Unterlagen. Wegen meiner Empfängnisverhütung, meine ich.»

«Ja, stimmt … Du hast recht. Ungewöhnlich, dass eine junge Frau heutzutage so lange mit demselben Partner zusammen ist! Und, äh, du bist ihm auch treu geblieben, ja?»

Lauren runzelte die Stirn. Was sollte das denn heißen? «Ja, natürlich. Jordan und ich –»

«Lass mich raten! Ihr wollt heiraten?»

Dr. Mallon sah sie nun fast eifrig an, und Lauren wich zurück. «Nein. Auf keinen Fall. Wir sind auch so sehr glücklich miteinander.»

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des alten Arztes. Er beugte sich vor und sah sie eindringlich an.

«Wirklich? Bist du dir da sicher, Lauren?»

Ja, hundert Prozent sicher. Langsam wurde sie wütend. «Ja, ganz sicher! Warum wollen Sie das wissen?»

«Weil … weil es mich freuen würde, wenn sich dieser Mann nach fünf Jahren fest an dich binden würde. Wenn er dazu in der Lage wäre. Aber ich habe den Eindruck, dass er das nicht kann. Habe ich da recht, Lauren? Korrigiere mich bitte, falls ich mich irre.»

Ein wenig aus dem Tritt gebracht durch die eigenartige Wendung, die das Gespräch nahm, sah Lauren den Arzt verwirrt an. Ruhig fragte er erneut: «Irre ich mich oder nicht?»

Im Stillen verwünschte sie Dr. Mallons offenbar hellseherische Fähigkeiten. «Nein. Sie irren sich nicht. Das – das ist bloß kein Problem für uns, so sieht es aus.»

Dr. Mallon setzte seine Brille ab und rieb sich kurz mit beiden Händen über die Wurzel seiner höckrigen Nase.

«Dann wird es bald ein Problem werden, Lauren. So leid es mir tut, dir das mitteilen zu müssen, aber du hast Hepatitis.»

Hep – atitis? Wie bitte? Sie hatte mal etwas darüber in der Zeitung gelesen, konnte sich aber an nichts Genaues erinnern. Sie fühlte sich wie betäubt. Spürte, wie ihr auf einmal eiskalt wurde.

Trotz allem, was Dr. Mallon für Caoimhe getan hatte, kamen ihr nun Zweifel an dem alten Arzt. Wie kam er darauf, dass sie tatsächlich an einer richtigen Krankheit leiden könnte? Ihr fehlte nichts weiter, sie musste sich nur mal gründlich ausschlafen und vielleicht ein paar Vitamine einnehmen, dann würde es ihr bald wieder gutgehen. Reglos saß sie da und starrte ihn an. Ihr Trotz regte sich.

«Dr. Mallon, ich glaube, da liegt ein Irrtum vor. Ich bin nur ein bisschen übermüdet, mehr nicht.»

«Ja. Ich weiß. Heutzutage klagen viele Menschen über chronische Müdigkeit. Das ist sehr verbreitet. Nur gibt es in deinem Fall einen Grund dafür. Diesen Laborergebnissen zufolge hast du Hepatitis.»

Einen Moment lang lehnte sich Lauren verwirrt zurück, ehe es ihr langsam zu dämmern begann und sie hysterisch auflachte.

«Ach! Jetzt verstehe ich! Einer der Jungs im Büro hatte letzten Sommer Hepatitis, nachdem er im Urlaub in Rio irgendwas Falsches getrunken hatte! Ich wusste gar nicht, dass das ansteckend ist, und außerdem geht es ihm schon viel besser –»

Lauren begriff endlich, warum Dr. Mallon sie nach ihrer Beziehung gefragt hatte, und war unendlich erleichtert. Er hatte nur wissen wollen, ob sie noch mit einem anderen Mann außer Jordan geschlafen hatte, mit anderen Worten, er dachte, sie wäre mit ihrem Kollegen Paul im Bett gewesen.

Aber er kannte Paul ja gar nicht und konnte auch nichts von seiner Hepatitis wissen – welche war es noch genau? Anscheinend gab es unterschiedliche Typen von Hepatitis, und Paul hatte nur eine leichte gehabt. Jedenfalls hatten sie keinen engeren körperlichen Kontakt gehabt, geschweige denn Sex. Kurz gesagt, Dr. Mallon litt unter Hirngespinsten.

Er betrachtete sie schweigend, wollte offenbar warten, bis der Schock ein wenig nachgelassen hatte. Aber über den war sie längst hinweg. Die Diagnose war falsch.

Seufzend stand er auf und schob die Hände in die Taschen seiner rehbraunen Strickjacke. «Lauren, ich weiß, dass du darauf heute nicht gefasst warst. Aber es ist meine traurige Pflicht, dir zu sagen, dass du Hepatitis C hast, eine sehr ernste Form dieser Krankheit. Sie greift die Leber an, und ich werde dich an einen Hepatologen überweisen müssen. An einen Spezialisten.»

Nun sprang sie ihrerseits auf und fuhr den Arzt mit schriller Stimme an. «Aber das kann nicht sein! Sie müssen sich irren! Wie hätte ich denn Hepatitis bekommen sollen? Ich war in keinem Land, wo man sich so was holt, ich war mit keinem Mann im Bett außer Jordan –»

«Nein. Ich kenne dich lange genug, um dir in diesem Punkt zu glauben. Aber – Lauren, ich vermute stark, Jordan hat mit jemand anderem außer dir geschlafen.»

Ihr wurde schwindelig, der Raum um sie herum geriet ins Kippen.

«J – Jordan? Aber er –»

«Er ist verheiratet. Bitte sei ehrlich zu mir, Lauren. Es stimmt, er ist verheiratet, oder?»

Eine Sekunde lang verschlug es ihr die Sprache. «J – ja, das ist er, aber er schläft nicht mehr mit seiner Frau! Sie führen getrennte Leben, seit Jahren schon, bleiben nur zusammen wegen –»

«Ich weiß. Wegen der Kinder. Weißt du zufällig, wann das jüngste geboren wurde?»

«Vor sieben Jahren, zwei Jahre bevor ich ihn kennenlernte!» Dagegen, dass sie inzwischen regelrecht schrie, konnte sie nichts tun.

«Und seither hatten sie kein weiteres Kind?»

«Nein!»

«Weißt du das mit Sicherheit?»

«Natürlich!»

Dr. Mallon seufzte. «Dann hat seine Frau womöglich aus einem anderen Grund eine Bluttransfusion erhalten. Tut mir leid, dir das so unverblümt sagen zu müssen, aber er ist die einzige in Frage kommende Infektionsquelle, die ich seit Erhalt dieser Ergebnisse habe ausmachen können. Du hast nie eine Transfusion erhalten, und ich denke, es hätte in der Zeitung gestanden, falls Richter White aus irgendeinem Grund eine Blutspende benötigt hätte.»

«Dr. Mallon, Sie wissen nicht alles über jeden Menschen in meinem Leben.»

«Nein. Aber ich habe ein sorgsames Auge auf meine Patienten, in mehr als einer Hinsicht. Auf dich habe ich ein Auge, seit du auf der Welt bist, auch wenn du das nicht immer gemerkt hast. Du kannst manchmal ein wenig – schwierig sein.»

Verzweifelt um Fassung ringend, ließ sie sich wieder auf den Stuhl sinken. «Dr. Mallon, ich – ich weiß nicht genau, was hier vorgeht. Mir ist es einfach schleierhaft, wie ich mich mit Hepatitis angesteckt haben soll. Aber wenn Sie sicher über den Befund sind, möchte ich gern, dass Sie mir bitte alles haarklein erklären. Welche Art genau ist es, was muss ich tun, um gesund zu werden?»

Auch er nahm wieder Platz und schlug einen betont milden Tonfall an, als hätte er es mit einem verängstigten, unvernünftigen Kind zu tun. «Es handelt sich um Hepatitis C, die, wie schon gesagt, die Leber angreift. Wir werden weitere Tests durchführen müssen, um zu bestimmen, wie schlimm deine schon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Falls der Schaden noch begrenzt ist, stehen deine Chancen gar nicht mal schlecht. Womöglich könntest du sogar noch einige Monate arbeiten, in Teilzeit –»

Teilzeit? Einige Monate? Lauren suchte Halt an der Schreibtischkante, ließ den Kopf sinken. Ihr war schwindelig, Übelkeit stieg in ihr auf.

«Möchtest du ein Glas Wasser? Soll ich das Fenster öffnen?» Besorgt streckte der Arzt ihr die Hand entgegen, sie wich jedoch zurück.

«Nein, ich –» Sie bekam keine Luft mehr, hatte das Gefühl, jemand drückte ihr die Kehle zu. Nach einer Weile flüsterte sie: «Soll das heißen, diese – diese Krankheit – kann – letzten Endes – tödlich sein?»

Dr. Mallon schien ein solches Gespräch nicht zum ersten Mal zu führen, denn er blieb sehr ruhig. Kurz wandte er den Blick ab, fixierte sie dann aber wieder mit ernster Miene.

«Lauren, das Leben selbst endet letztlich tödlich. Die Frage ist nur, wann dieses Ende eintritt. Manche Menschen fahren Ferraris, andere Fiat Puntos –»

«Und was», keuchte sie, «fahre ich?»

«Du», entgegnete er sachlich, «fährst leider einen Ferrari. Mit hundertsechzig Sachen in der Stunde. Gegen Hepatitis C lässt sich sehr wenig ausrichten.»

«Aber – aber es muss doch Medikamente geben – eine Operation – irgendetwas –»

«Nun ja, Interferon ist ein Medikament, das mitunter hilft, bis zu einem gewissen Grad. Allerdings hat es erhebliche Nebenwirkungen. Als OP käme allein eine Lebertransplantation in Frage, falls eine Spenderleber zur Verfügung stünde. Allerdings würdest du als minder dringlicher Fall eingestuft, weil zu befürchten steht, dass die neue Leber erneut infiziert wird.»

Er fügte noch irgendetwas Mitfühlendes oder Besänftigendes hinzu, aber Lauren war längst nicht mehr aufnahmefähig. Nein! Nein, nein, nein!

Das konnte nicht sein. Völlig ausgeschlossen. So etwas passierte immer nur anderen Leuten. Nicht ihr, einer jungen Frau, die alles hatte, einen Lebensstandard, um den man sie beneidete, einen Mann, der sie über alles liebte und ihr zu Weihnachten Rubinarmbänder schenkte. Die ständig nach New York, Singapur, Paris reiste, eine edel eingerichtete Wohnung, Gucci-Uhren und einen BMW neuester Bauart besaß. Verstand Dr. Mallon denn nicht, dass Elliott Johnson erst vor drei Monaten als Partner aus der Axis-Werbeagentur ausgeschieden war und Lauren Kilroy persönlich für seine Nachfolge benannt hatte? Dass sie, Lauren, jetzt 120000 Euro im Jahr verdiente und in leitender Funktion für die Lola-Kampagne verantwortlich war?

Ihr Trotz regte sich erneut, und sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

«Na schön. Dann sagen Sie mir, wie heißt der Kerl, dieser Spezialist, und wo finde ich ihn? Was unternimmt er, um die Sache zu beheben, und was kostet der Spaß? Keine Sorge, ich bin privat versichert bis zum Gehtnichtmehr, die Kosten spielen also keine Rolle.»

Dr. Mallon musterte sie versonnen, fast mitleidig.

«Lauren. Ich glaube, du hast mir nicht richtig zugehört.»

 

Saiv Lovett hatte alle Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Ihre beiden sonst so lammfrommen Hunde zerrten heftig an ihren Leinen, hetzten ihr Frauchen energisch über den frostigen Boden und bellten beim Anblick ihres Hauses laut im Chor. Erst Elmer, der Labrador, der ein tiefes, grollendes Blaffen von sich gab, dann Duster, der Bobtail. Sein Bellen, das enorme Ähnlichkeit mit einem Kanonenfeuer hatte, konnte jeden, der ihn nicht kannte, halb zu Tode erschrecken.

«Beruhigt euch, Jungs! Was ist denn los mit euch?»

Doch die Aufregung der Tiere war nicht zu bremsen, ihr Gebell hallte durchs abendliche Dunkel, und Saiv überlief ein Schauer, während die beiden sie so ungestüm den Feldweg entlangzerrten. Jemand musste im Haus sein. Entweder jemand, den sie kannten, oder – ein Einbrecher? Ihr Haus war alt, mit klapprigen Schiebefenstern, die sich kinderleicht aufbrechen ließen. Und sie war noch immer nicht dazu gekommen, die Alarmanlage einbauen zu lassen, zu der ihre Freunde ihr rieten. Sie hasste Alarmanlagen. Ständig gingen die Dinger versehentlich los und versetzten damit alle Welt sinnlos in Aufruhr.

Als sie das schwere, rostige Gartentor aufstieß, hätte sie zu gern irgendetwas bei sich gehabt, um sich zu verteidigen, denn das laute Gebell ihrer Hunde täuschte darüber hinweg, wie gutartig die beiden im Grunde waren. Einem Einbrecher hätten sie nie etwas zuleide getan. Ob da wirklich jemand war? Sie konnte nichts erkennen, obwohl der Mond sehr hell am Himmel stand. Die Hundeleinen hatten sich um ihre Beine verheddert, und als sie sich daraus zu befreien versuchte, knallte das Tor schwer gegen ihre Hand. Sie schrie auf vor Schmerz, Elmer nutzte die Gelegenheit, um sich loszureißen, und schoss nach vorn.

Ein gellender Schrei ertönte, gefolgt von einem dumpfen Aufprall.

Saiv lief los und nahm sich im Stillen vor, neben der Alarmanlage auch noch ein Handy anzuschaffen. Im Dunkeln schien es, als wollte Elmer gerade jemanden verschlingen, der schreiend und zappelnd unter ihm im Dreck lag und um sein Leben fürchtete. Elmer war zwar groß und furchteinflößend, doch alles in allem, überlegte Saiv, wäre ein kräftiger Polizist jetzt doch nützlicher. Sie verfluchte erneut ihre Vorurteile gegen Mobiltelefone und musterte ängstlich das Knäuel, das sich vor ihr auf dem Boden wild hin und her wälzte. Wo genau ihr Hund endete und wo der vermeintliche Einbrecher anfing, konnte sie nicht erkennen.

«Elmer! Bei Fuß! Auf der Stelle!»

Widerstrebend hielt Elmer inne. Saiv bückte sich, stieß den Hund beiseite und nahm die Gestalt am Boden in Augenschein, die zu ihrer Verblüffung einen engen Minirock, seidig glänzende Strümpfe sowie einen dreckigen Stöckelschuh trug, der halb in der Luft baumelte.

«Meine Güte! Lauren!»

Die Antwort war eine Mischung aus Schluchzen und Wutgeheul. Saiv beugte sich vor, griff nach Laurens Hand und zog sie auf die Beine, wobei sie einen heftigen Lachreiz unterdrücken musste. Es war vermutlich ein Designerkostüm, was Lauren da trug, das konnte sie jetzt allerdings nur noch wegwerfen. Sie sah sich suchend um, entdeckte den anderen Schuh im Kies an der Haustreppe, ließ Lauren, unsicher auf einem Bein hüpfend, stehen, holte ihn und reichte ihn ihr mit einem verlegenen Lächeln.

«Hier. Entschuldige. Sie haben dich wohl für einen Einbrecher gehalten.»

Laurens Stimme klang frostig, als sie schließlich antwortete. «Halt mir diese Scheißbiester vom Hals und bring mich rein.»

«Ist ja gut. Beruhige dich. Wenn ich geahnt hätte, dass du kommst – was hast du überhaupt hier verloren, so aus heiterem Himmel? Es ist fast zehn, ich habe dich seit Monaten nicht zu sehen bekommen –?»

Lauren sagte nichts, und Saiv musterte sie verstohlen von der Seite, als sie zusammen die Treppe zur Haustür hochgingen und sie nach ihrem Schlüssel kramte. Im hellen Mondlicht, das durch die kahlen Äste der Buche im Vorgarten fiel, wirkte Laurens Gesicht totenbleich. Die Hunde hatten ihr sichtlich einen Schrecken eingejagt, und Saiv bekam Gewissensbisse. Aus diesem Grund kündigte Lauren ja ihre Besuche immer im Voraus telefonisch an – damit die Hunde vorsorglich weggesperrt wurden und ihrer makellosen Garderobe, ihrer makellosen Erscheinung nichts zustieß. Noch nie in den vierzehn Jahren, die sie sich inzwischen kannten, war sie unangekündigt vorbeigekommen.

 

Im Haus angekommen, fand Lauren dann auch ihre Sprache wieder. «Ich brauche einen Brandy. Und zwar einen großen.» Saiv musste lächeln. Lauren ging davon aus, dass jeder Mensch über eine stets vollständig bestückte Hausbar verfügte, mit Eiskübel, Cocktailshaker, Untersetzern und Rührstäbchen. Brandy zumindest hatte sie da, einen Metaxa, den ihr letzten Sommer jemand aus Griechenland mitgebracht hatte … Saiv holte zwei Gläser aus der Anrichte, wischte sie verstohlen am Ärmel ihres Pullovers ab und schenkte ihnen beiden einen tüchtigen Schluck Metaxa ein.

«Da. Der päppelt dich wieder auf. Dann kannst du mir erklären, was du in einer dunklen Winternacht hier draußen in der Wildnis von Meath verloren hast … wie geht’s dir denn überhaupt?»

Lauren hob das Glas, starrte hinein und schaute dann Saiv an.

«Ich sterbe.»

Saiv grinste. «Na, das hört sich ja ganz nach einem Kater erster Güte an! War wohl ein langes Mittagessen mit einem Gläschen Dom Perignon zu viel?»

«Nein. Im Ernst, ich sterbe wirklich, Saiv. Sterben, wie im Krankenhaus. Beerdigung. Friedhof.»

Ihre Stimme klang tonlos. Saiv ließ sich in einen Sessel am Kamin sinken, schob sich die sandfarbenen Locken aus dem Gesicht und griff nach ihrer Brille, auf die sie bei Spaziergängen verzichtete, um den surrealen Effekt von Kurzsichtigkeit auf Bäume und Felder zu genießen. Jetzt aber wollte sie einen genaueren Blick auf ihre Freundin werfen. Den Verdacht, dass in der Welt der Werber Kokain oder ähnliche Substanzen dazugehörten, hegte sie schon länger, aber – Lauren war doch nicht etwa irgendwie zugedröhnt? Sie sah grauenhaft aus und klang vollkommen verstört.

Saiv trank einen Schluck Brandy, lehnte sich zurück und musterte sie eingehend.

«Laurie, ich muss dir sagen, und das leider nicht zum ersten Mal, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wovon du da redest. Aber falls das ein Witz sein soll, ist er nicht besonders lustig. Bitte klär mich auf.»

Lauren setzte sich auf die Sofakante, legte eine Hand um ihre Knie in den zerrissenen Strümpfen, hob das Glas an die Lippen und leerte es auf einen Zug.

«Ich habe Hepatitis.»

Saiv riss die Augen auf. «Wie bitte?»

«Hepatitis C. Die tödliche Variante, sagt Dr. Mallon. Ich habe seine Praxis vor etwa zwei Stunden verlassen. Ich wollte Jordan anrufen, aber sein Handy war ausgeschaltet. Er ist im Theater. Erst dachte ich mir, ich fahre in die Stadt und zerre ihn aus der Vorstellung raus. Aber dann habe – habe ich mich entschieden, dass ich lieber dich sehen will. Ich weiß, es ist schon spät und dass du die Hunde um die Zeit immer ausführst, aber ich … ich …»

Saiv sprang vom Sessel hoch, war mit einem Satz bei Lauren und konnte sie gerade noch rechtzeitig in die Arme nehmen, als sie auch schon in Tränen ausbrach. Seit Isaac Hyland ihr damals am Ende ihres ersten Studienjahrs den Laufpass gegeben hatte, hatte Saiv nicht mehr gesehen, dass Lauren Kilroy auch nur eine einzige Träne vergoss.

«Oh, Laurie, o Gott … ich dachte, du machst Witze, bist betrunken oder high oder so was … o Himmel –»

Einzelne Tropfen kullerten Lauren aus den Augen und versickerten im glatten Stoff ihres Rocks. Dann rang sie heftig um Atem, verbarg das Gesicht an Saivs Schulter und schluchzte hemmungslos, während sie ihre rot lackierten Fingernägel in Saivs Rücken grub.

«Ach Saiv … wa-ha … wa-has soll ich … was soll ich nur tun?»

Lauren war so zerbrechlich, dass es Saiv vorkam, als hielte sie ein Gespenst im Arm; das Herz ihrer Freundin aber pochte, als wollte es zerspringen. Auch sie hatte heftiges Herzklopfen und atmete tief durch, um ihre aufkeimende Panik zu dämpfen. Normalerweise war sie der chaotische Typ, schlampig und nachlässig, während Lauren stets beherrscht und wie aus dem Ei gepellt auftrat; hinter ihrer, wie Lauren gern lästerte, «Hippie-Schluffigkeit» verbargen sich jedoch große Reserven an Kraft und innerer Ausgeglichenheit.

Die würde sie in dieser Lage auch brauchen.

Eine ganze Weile hielt sie Lauren schweigend im Arm, strich ihr über das glänzende dunkle Haar, wiegte sie wie eine Mutter, während die Tränen ihre Schulter benetzten. Wie aus weiter Ferne hörte sie das Ticken der Standuhr in der Diele, leise und rhythmisch, bis schließlich der Stundenschlag ertönte. Es war zehn Uhr.

Frag nicht, dachte sie, frag nicht.

Schließlich, viel später, wie es schien, hob Lauren den Kopf. Saiv legte ihr den Zeigefinger unters Kinn und schob es hoch, bis sie einander in die Augen sahen.

«Also gut. Lass dich mal anschauen.»

Lauren hielt brav still, wie ein Kind, während Saiv sie schweigend musterte. Saiv ahnte, was sie am liebsten gehört hätte: «Aber Laurie, du siehst ganz normal aus, dir kann doch eigentlich gar nichts fehlen.»

Saiv hätte ihr gern den Gefallen getan, aber ihr fehlte die fröhliche Unbefangenheit, mit der Laurie selbst oftmals kleine Notlügen erzählte. Genau hierin unterschieden sie sich am meisten: Während Laurie über die Holperstrecken des Lebens einfach hinwegpreschte, hatte Saiv stets das unselige Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu analysieren, bis sie die Wahrheit kannte. Und die Wahrheit lautete momentan, dass ihre Freundin, die sie seit zwei, vielleicht sogar drei Monaten nicht mehr gesehen hatte, abgespannt aussah, elend, einfach fürchterlich.

Oder lag das nur daran, dass nach dem Tränenausbruch ihre Wimperntusche verlaufen und ihr sorgfältiges Make-up ruiniert war? So derangiert hatte sie Lauren noch nie gesehen. Saiv lehnte sich zurück und überlegte kurz.

«Jetzt geh erst mal ins Bad. Wasch dir das Gesicht, kämm dich und bring dein Make-up in Ordnung.»

«Wie bitte?» Lauren blickte auf und funkelte sie streitlustig an; ihre Stimme aber klang matt.

«Na los. Ich habe meine Gründe. Ich will sehen, wie du normalerweise aussiehst.»

Schon das Aufstehen schien ihr schwerzufallen, sie hob ihre Handtasche vom Boden auf und verließ wortlos das Zimmer. Saiv blickte ihr nach und merkte, wie sehr sie zitterte.

Lauren? Kilroy? Hepatitis?

O nein. Nicht Lauren. Nicht die Lauren, die so viel Spaß an Partys hatte, die ungeniert die frechsten Lügen erzählte und ständig Bußgelder wegen zu schnellen Fahrens aufgebrummt bekam, wichtige Verträge schloss und anschließend Champagner trank, hundert Euro für ein Fläschchen Parfüm verjubelte und sich im knappen Bikini an den Stränden von Barbados aalte. Schnapp! Saiv erinnerte sich noch gut an das elastische Flitschen des Bikinis, damals an dem Tag, als Laurie ihn gekauft und strahlend über dem Kopf herumgewirbelt hatte mit den Worten, der wird Jordan gefallen. Nicht diese Lauren.

Auch nicht die Lauren von früher, die sie an einem sonnigen Frühlingstag im Jahr 1986 in der Mensaschlange der Dubliner Uni kennengelernt hatte, in jener kurzen Phase, als Lauren mit einem Studium liebäugelte. In einem Seminar über William Shakespeare verliebte sie sich in Isaac Hyland, bis er ihr schließlich das Herz brach. Danach hatte es eine neue Lauren gegeben, härter, kühler, abgebrühter; die alte Lauren aber hatte an der Kasse hinter ihr gestanden, als der notorisch zerstreuten Saiv Lovett auffiel, dass sie ihr Portemonnaie im Spind vergessen und folglich kein Geld hatte, um ihren vegetarischen Nudelauflauf zu bezahlen. Während sie noch mit hochrotem Kopf herumdruckste, hatte Lauren sich eingeschaltet und ihr einen Fünfer hingehalten.

«Ach, hier, nimm schon, du hältst den ganzen Betrieb auf!»

Dankbar hatte Saiv das Geld angenommen, froh, der Peinlichkeit entronnen zu sein, wie sie nur eine kurzsichtige, schusselige Neunzehnjährige empfinden konnte. Es schien nur folgerichtig, sich anschließend mit ihren Tabletts an denselben Tisch zu setzen und sich ein bisschen zu unterhalten. Saiv erzählte, dass sie Geschichte, Italienisch und Philosophie studierte, das Fach, in dem sie später ihren Doktor machen sollte. Sie nahm ihr Studium überaus ernst. Lauren gestand dagegen lachend, dass das Studium ihr gar nicht so wichtig sei; Englisch studierte sie nur, weil Isaac das auch studierte, Französisch, weil sie eines Tages die Boutiquen von Paris leer zu kaufen gedachte (ein Ziel, das sie mittlerweile eindrucksvoll verwirklicht hatte), und Philosophie, weil «das doch jeder im ersten Jahr macht, oder? Ödes Geschwafel, aber in der Prüfung kann man nicht durchfallen, weil es keine richtigen oder falschen Antworten gibt. Nächstes Jahr höre ich damit auf.»

«Oh, tu das nicht», hatte Saiv mit ernster Miene erwidert. «Philosophie ist doch absolut faszinierend. Weil man dank ihr die Welt mit völlig neuen Augen sehen kann.»

Lauren hatte sie mit schräggelegtem Kopf beäugt, als sei sie bereits so verschroben, wie es ihr heute viele nachsagten. «Trenn dich von dieser scheußlichen Brille», hatte sie erwidert, «dann könnte die Welt dich mit völlig neuen Augen ansehen.» Laurens herzliches Gelächter war so ansteckend, dass Saiv ihr diese Bemerkung nicht krummnahm. Obendrein hatte Lauren nur abgewunken, als sie ihr später die fünf Pfund zurückgeben wollte. Am Ende des Semesters waren sie unzertrennlich und auf dem Campus nur als «das seltsame Paar» bekannt.

In der Zwischenzeit war es Lauren außerdem gelungen, Isaac Hyland auf sich aufmerksam zu machen, indem sie zahllosen Rugby-Matches beigewohnt und lauter als alle anderen gejubelt hatte. Auf ihn hatte sie es vom ersten Tag an abgesehen, und ihr Selbstbewusstsein war katapultartig in die Höhe geschossen, als sie sich den attraktiven, stets fröhlichen Stürmer endlich geangelt hatte. Lauren – heute die elegante und gewandte Geschäftsfrau – war damals nicht mehr als ein hübscher, leicht zu verunsichernder Teenager gewesen, der es sich dann jedoch nicht nehmen ließ, mit seiner Eroberung auch sogleich ins Bett zu springen. Saiv dagegen hing damals noch hoffnungslos romantischen Vorstellungen von Liebe hinterher, die viel mit der Lektüre von Dantes Lyrik zu tun hatten.

«Aber», hatte Saiv entgeistert gestammelt, «du willst doch wohl nicht mit ihm schlafen?»

«Ich werde», so Lauren damals, «ihn vögeln, bis ihm Hören und Sehen vergeht. In jeder nur denkbaren Stellung, bis er nicht mehr kann.» Saiv war sprachlos, doch Lauren hatte ihren Worten Taten folgen lassen. Vier Monate später servierte Isaac sie nach einer stürmischen Beziehung Knall auf Fall ab, kalt lächelnd, als stoße er sie von einer Klippe. Seither hatte Saiv mitunter den Eindruck, als habe Lauren diesen Sturz zwar körperlich, längst aber nicht seelisch überstanden.

Verständlicherweise hatte sie danach ein ganzes Jahr lang von Männern die Nase voll. Später gab sie dann einem Freund nach dem anderen den Laufpass, bevor ihr das umgekehrt passieren konnte. Bis sie neun Jahre später schließlich dem Widerling Jordan White begegnete. Jordan White, der heute Abend im Theater gesessen hatte, während Lauren bei Dr. Mallon war. Saiv hätte schreien mögen.

Wie würde er wohl jetzt auf dieses Drama reagieren? Hepatitis … übertrieb Lauren möglicherweise die Situation, um Aufmerksamkeit zu erregen? War sie einfach nur deprimiert und suchte Zuwendung? Andererseits hätte Lauren nie zugegeben, deprimiert zu sein. Vielmehr gab sie sich in solchen Fällen erst recht glänzend gelaunt. Saiv vermutete stark, dass Jordan sehr wohl erkannte, wie liebebedürftig Lauren hinter ihrer strahlenden Fassade war, und das schamlos ausnutzte.

Gott, dachte sie, ich hasse den Kerl. Nur gut, dass wir uns nie über den Weg laufen. Aber er hasst mich auch, weil er weiß, dass ich ihn durchschaue. Ist ja auch nicht schwer, jeder Dummkopf kann sehen, was er für ein Mensch ist. Einfach jeder, bis auf Lauren Kilroy, die … Falls sie wirklich krank ist, wird sie ihn brauchen. Dringend brauchen, auf eine Weise, die er sich nie hätte träumen lassen, anders als jetzt, wo er sie nur benutzt.

Falls er sie im Stich lässt, bringe ich ihn um. Oder noch besser, ich mache ihm das Leben zur Hölle.

Aber sie kann nicht krank sein, kann nicht «sterben»! Bestimmt hat sie die Hepatitis-Typen verwechselt … wenn sie gleich zurück ist, werden wir das in aller Ruhe klären. Sie ist erst zweiunddreißig, die jüngste Partnerin in der Axis-Werbeagentur und so stolz auf ihre Beförderung – wer hätte das gedacht? Eben bist du noch eine arme Studentin, die sich im Philosophie-Seminar langweilt und einen Werbeslogan ausknobelt, um ein Auto bei einem Preisausschreiben zu gewinnen. Kurz darauf wirst du von der Agentur, die das Preisausschreiben ausgerichtet hat, angestellt, hast ein festes Einkommen und einen Firmenwagen noch dazu, und mit dem Studium ist es vorbei. Deine Eltern, die sich krummgelegt haben, um dir das Jahr an der Uni zu finanzieren, sind am Boden zerstört – aber das kümmert dich nicht. Du führst ein Leben wie auf der Überholspur und verdienst genauso viel wie dein Vater. Du wirst immer professioneller und glaubst langsam wirklich, eine Limonade oder eine neue Sorte Strumpfhosen könnte das Leben anderer Menschen verändern. Schlimmer noch, du schaffst es, sie derart zu manipulieren, dass auch sie das glauben.

Und dennoch lässt du, warum auch immer, den Kontakt zu deiner alten Freundin nicht abreißen, die inzwischen allein mit ihren Hunden in einem windschiefen Häuschen auf dem platten Land lebt, fernab der «Zivilisation», und ein Buch schreibt, das ungefähr fünf Käufer finden wird. Auch ich halte mit dir Kontakt, weil du mich aufheiterst und auf andere Gedanken bringst, und weil ich dir bis heute einen Fünfer schulde, den du nicht annehmen willst. Doch was du an mir findest, Laurie, ist mir bis heute ein Rätsel; wir sind so verschieden wie Tag und Nacht.

Jedenfalls freut es mich, dass du heute Abend zu mir gekommen bist statt zu Jordan White. Bin schon gespannt, wieso du dich so entschieden hast.

 

Saiv erschrak insgeheim, als Lauren ins Zimmer zurückkam. Sie war so maskenhaft geschminkt, dass sie einer japanischen Geisha ähnelte. Ihre unnatürliche Blässe wurde durch den Puder, den sie aufgetragen hatte, noch betont, ihr hageres Gesicht wirkte noch knochiger. Trotz allem brachte sie ein schiefes Lächeln zustande.

«Also, bei dir ist wirklich alles noch beim Alten! Wieso steht in deinem Bad nur Kram mit Aufschriften wie ‹Natur›, ‹schonend› oder ‹Öko›? Wo ist das Issey-Miyake-Parfüm abgeblieben, das ich dir geschenkt habe?»

Ein verlegenes Grinsen huschte über ihr Gesicht, und Saiv wedelte unbestimmt mit der Hand. Sie benutzte nie Parfüm, und so hatte das Geschenk eine andere Abnehmerin gefunden. Vermutlich war es ihrem Geschenk für Lauren, einem wundervollen Buch namens Corellis Mandoline, nicht anders ergangen. Lesestoff, der anspruchsvoller als ein Designer-Etikett war, mied Laurie für gewöhnlich.

Weshalb also beschenkten sie sich alljährlich zum Geburtstag mit Dingen, die sie am liebsten selbst behalten hätten? Waren das subtile Versuche, der anderen den eigenen Geschmack aufzuzwingen? Zu ihrem nächsten Geburtstag, dachte Saiv schuldbewusst, schenke ich ihr etwas, das sie sich wirklich – nächsten Geburtstag?

Sie stand auf, legte frisches Holz ins Feuer, goss neuen Brandy ein und reichte Lauren ihr Glas. «So. Du siehst immer noch fürchterlich aus, also trink das und erzähl mir, was in Gottes Namen los ist.»

Lauren schwenkte kurz ihr Glas, nahm dann eine alte Decke vom Sofa und legte sie sich über die Beine. Saiv wunderte sich. Konnte sie bloß den Anblick ihrer Laufmaschen nicht mehr ertragen, oder fror sie etwa, trotz des prasselnden Kaminfeuers?

«Ich weiß nicht, ob ich überhaupt Brandy trinken darf.»

«Wie bitte? Seit wann das denn?»

«Seit Dr. Mallon mir heute Abend eröffnet hat, dass meine Leber hinüber ist.»

Saiv hielt krampfhaft ihr Glas umklammert, dennoch versuchte sie, mit möglichst ruhiger und gelassener Stimme zu antworten.

«Lauren. Hör zu. Ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor. Klar, du trinkst gerne mal einen, aber von Alkohol bekommt man keine Hepatitis, sondern Leberzirrhose.»

«Ja. Tja. Genau das ist nämlich die Preisfrage, Saiv. Woher, oder besser gesagt von wem, habe ich Hepatitis bekommen?»

«Welcher Typ genau? A, B oder C?» Saiv entsann sich mit Schaudern eines Skandals, der vor noch nicht allzu langer Zeit Schlagzeilen gemacht hatte. Verseuchtes Blut war in Umlauf geraten, im wahrsten Sinne des Wortes, und hatte Menschen mit Hepatitis C infiziert. Eine gewisse Bridget McColgan war daran sogar gestorben, ihr Fall wurde bis heute vor Gericht verhandelt. Doch Lauren hatte ihres Wissens keine Bluttransfusion erhalten.

«Hepatitis C. Die Form, die einen umbringt.»

Dann hatte sie sich vorhin also nicht verhört. Diese magere, müde, aber ansonsten gesunde junge Frau war heute Abend tatsächlich beim Arzt gewesen und hatte dort ihr Todesurteil vernommen.

«Aber – das ist unmöglich. Ausgeschlossen. Was meint Dr. Mallon denn, wo du dich angesteckt haben sollst?»

Lauren stellte unvermittelt ihr Glas ab, lehnte sich zurück und sah hoch zur Decke. «Er meint offenbar, ich könnte mich bei Jordan angesteckt haben.»

Jordan? Das war doch lächerlich, Wahnsinn. Vor kaum einer Woche hatte Saiv ein Foto des kerngesunden Richters Jordan White in der Irish Times gesehen. Es ging um einen Vergewaltigungsprozess, bei dem er dem Opfer unterstellt hatte, den Täter förmlich zu dieser Untat provoziert zu haben. Saiv hielt ihn für einen Reaktionär, der sich aber leider bester Gesundheit zu erfreuen schien.

«Lauren … ich muss schon sagen, das kommt mir alles sehr rätselhaft vor.»

Lauren musste kurz lachen. Saiv und ihr Hang zu Untertreibungen! Wirklich in Wallung geriet sie eigentlich nur, wenn Tiere misshandelt wurden.

«Kann man wohl sagen. Sobald ich Jordan sehe, nehme ich ihn dazu ins Kreuzverhör. Unter Eid.»

Plötzlich ging Saiv ein Licht auf. Deswegen also war Lauren nicht direkt zu Jordan gefahren? Weil er möglicherweise ihr Mörder war?

Was aber immer noch nicht erklärte …«Laurie, wie ist Jordan denn an Hepatitis C gekommen? Hatte er einen Unfall, brauchte er eine Bluttransfusion?»

«Nein.» Lauren stieß bedächtig die Luft aus. «Er hat weder einen Unfall gehabt noch eine Transfusion erhalten. Dr. Mallon vermutet, er könnte sich bei seiner Frau angesteckt haben. Oder bei einer anderen.»

Saiv fiel aus allen Wolken. Sie mochte ja unbedarft sein, was Männer betraf, und herzlich wenig für Jordan übrig haben, aber so etwas Niederträchtiges hätte sie ihm nie – lieber Gott. Nach fünf Jahren mit Lauren? Fünf Jahren vermeintlich unsterblicher, großer Liebe, der nur seine Pflicht als Vater unschuldiger Kinder im Wege stand?

Eigentlich war Saiv überzeugte Pazifistin. Doch in diesem Moment wollte sie nur eines: sich auf böseste Art und Weise an Jordan rächen, sollte sich Laurens Vermutung als wahr erweisen.

«Aber er – sie – seine Frau – wie ist das möglich?» In Saivs Kopf überschlug sich alles, sie mochte sich kaum vorstellen, wie Lauren zumute war.

«Dr. Mallon tippt auf ein Baby. Dass sie womöglich ein Kind bekommen und dabei eine Bluttransfusion erhalten hat.»

«Aber du hast doch gesagt – immer gesagt –»

«Ja. Ich habe nur Jordans Aussage wiederholt. Dass er mit niemandem außer mir ins Bett ging. Das hat er mir vor fünf Jahren hoch und heilig versichert, und seither hatte ich keinen Grund, daran zu zweifeln.»

«Oh, Lauren. Das kann nicht sein. Es muss eine andere Erklärung geben.»

«Ja. Drogen. Infizierte Spritzen. Aber mit so was habe ich nichts zu tun. Jordan erst recht nicht, als Richter! Bleibt also nur seine Frau, die vielleicht heroinabhängig ist, oder er hat noch eine andere Geliebte. Oder Dr. Mallon hat recht mit dem Baby.»

Lauren stieß einen Seufzer aus, der aus den tiefsten Abgründen ihrer Seele zu kommen schien. Saiv konnte ihren Schock gut nachfühlen, mit so einer Hiobsbotschaft konnte man nicht so ohne weiteres fertig werden. Beim Anblick ihrer Freundin, die schlaff inmitten der Sofakissen ruhte, fiel Saiv verspätet die entscheidende Frage ein: Falls Laurie wirklich todkrank war, wie lange hatte sie noch zu leben?

Himmel. Das kann ich sie unmöglich fragen. Aber ich muss es wissen.