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Inhaltsübersicht

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-26644-7

ISBN E-Book 978-3-688-11441-2

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-11441-2

Danksagung

Ganz besonderer Dank an Mary Davin-Power, mit der aus ungetrübtem Spaß in der Sonne nie ein Duell in der Sonne wurde! Mille mercis an Rita Degrave für all den Barry’s Tee und Gin Tonic, an Sheila Desamais für die erholsamen freien Tage, an Sharon Plunkett für die liebenswerte Stimme der Vernunft und an Philip Nolan, der mich nicht umgebracht hat, als er dazu Gelegenheit hatte.

 

Vous êtes formidables mes braves et je vous embrasse très fort.

Kapitel eins

Wir kennen sie alle, die Tage im Leben, die wir am liebsten ungeschehen machen würden. Tage, die schicksalhaft alles verändern, so radikal, dass wir um den Bestand all dessen fürchten, was uns lieb und teuer ist und uns zu dem macht, was wir sind.

Für Shona Fitzpatrick war dieser Tag Freitag, der 16. November 2001. Nach einer ausgedehnten Mittagspause kam ihr Chef ins Fremdenverkehrsbüro zurück, blieb eine halbe Stunde unsichtbar und schlenderte dann zu ihr hinüber, um sie gut gelaunt zu ein paar Überstunden aufzufordern.

Am Montag sollte ihr Leben in Trümmern liegen, wie ein Haufen Bauklötze, den ein Kind achtlos umgestoßen hat. Aber das wusste sie noch nicht. Allerdings hätte sie in jedem Fall so gehandelt, wie sie es dann tat.

Beflissen, schließlich besaß Terry O’Hagan einige Macht, nickte sie ihm am Schreibtisch sitzend zu, während er seine Hand väterlich auf ihrer Schulter ruhen ließ – oder vielmehr seine Pranke? Terry O’Hagan war ein Brocken von Kerl, baumlang, bärtig und grobknochig, mit blondem Zottelhaar und eigenartig spitzen Zähnen; wenn sie an ihn dachte, sah sie immer einen vergilbten alten Eisbären mit Brille vor sich.

«Gern», sagte sie, «worum geht’s denn?»

«Hotelsubventionen», sagte er, «die Besprechung am Montag dreht sich um Kriterien zur Klassifizierung, da wird natürlich auch das Budget zur Sprache kommen. Sie haben doch heute Abend noch nichts vor oder so?»

Selbstverständlich nicht, unterstellte sein Tonfall, eine sechsunddreißigjährige Arbeitsbiene wie du dürfte doch nichts Wichtigeres im Kopf haben als ihre Karriere. Und du willst doch befördert werden, oder etwa nicht? Machen wir uns nichts vor, Shona, du hast es auf meinen Posten abgesehen, das ist mir klar. Tja dann, bemüh dich drum. Aber richtig. Ich sitze am längeren Hebel, schließlich bin ich es, der dich dafür vorschlägt. Oder auch nicht.

«Eigentlich», sagte sie lächelnd, ohne sich von ihm aus der Ruhe bringen zu lassen, «bin ich heute mit Brendan zum Abendessen verabredet. Aber ich rufe ihn an und sage ihm, dass Sie mich noch brauchen, bis – tja? – sagen wir acht?»

«Sagen wir neun», konterte er, ganz wie erwartet. Deshalb hatte sie auch nicht selbst neun gesagt, denn in dem Fall wäre zehn draus geworden. «Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?»

Mir? Aber nein, warum sollte mir das was ausmachen? Wieder eine Verabredung verschoben, wieder ein Abend im Eimer, unser Tisch futsch, Brendan, der mir wieder Vorhaltungen macht – warum sollte mir das was ausmachen?

Ich hasse dich, Terry O’Hagan. Jeder in diesem Büro verabscheut dich aus tiefster Seele, und ich persönlich würde dich am liebsten mit einer prähistorischen Keule besinnungslos prügeln, du schwankender, sexistischer alter Dinosaurier.

«Ach, für Sie tue ich doch alles, Terry. Ich weiß, der Subventions-Bericht ist nicht auf dem neuesten Stand.»

Worauf er sie kurz, aber streng fixierte, denn die Andeutung war klar: Sie haben den Bericht verschlampt, nicht wahr? Mit Unschuldsmiene lächelte sie ihn erneut an. Er hatte es gern, wenn die weiblichen Angestellten ihn anlächelten, je frivoler, desto besser. Seine Ehe, das wussten alle im Büro, war ein Scherbenhaufen.

«Schön, dann machen Sie erst mal Ihre anstehende Arbeit zu Ende, wir sehen uns dann später.»

Er nahm sein Tweedsakko vom Haken und warf es sich über die Schulter, und sie warf einen Blick auf ihre Uhr: halb fünf. Terry O’Hagan ging jeden Freitag um halb fünf in den Pub, wo er sich sechs oder sieben Pint Bier hinter die Binde kippte, um dann gegen sieben ins Büro zurückzukommen und seine Aktentasche zu holen, die ihm garantiert gestohlen würde, wenn er sie mit in den lärmigen, überfüllten Pub nähme. Wie er jetzt noch Bier trinken konnte, nach einem Mittagessen, zu dem bestimmt Rotwein und wahrscheinlich auch Brandy gehört hatten, war ihr unbegreiflich, aber das war schließlich nicht ihr Problem.

Ihre Hauptsorge bestand momentan darin, diese Beurteilung abzuschließen und sicherzustellen, dass Mrs. O’Briens Frühstückspension draußen in Connemara in den Führer Reizende Landhäuser für nächstes Jahr aufgenommen würde.

Die arme, tapfere alte Emily O’Brien! Seit über dreißig Jahren führte sie eine Pension in ihrem georgianischen Herrenhaus und machte sogar unbeirrt weiter, nachdem ihr Ehemann, als er Efeu kappen wollte, das die Regenrinnen überwuchert hatte, von der Leiter gefallen war. Er stürzte hinab und, in ihren Worten, «ging einfach hops». Sieben Monate war es nun her, dass Séan hopsgegangen war, und Shona war entschlossen, Emilys weitläufigem altem Herrenhaus bis Januar den begehrten Eintrag in der neuen Auflage von Reizende Landhäuser zu verschaffen. Vor allem amerikanische Touristen vertrauten dieser Broschüre wie einer Bibel und zitierten andächtig «offene Kamine», «hausgemachter Porridge» oder «Rosengärten». Emilys Haus konnte mit all dem aufwarten, viel wichtiger aber war Emily selbst, ein sechzigjähriger Ausbund an echtem Galway-Charme.

Besser aber erst Brendan anrufen. Shona griff nach ihrem Handy, strich sich das Haar hinters Ohr und wählte seine Nummer. Es läutete zweimal. «Bren? Hi, ich bin’s, Shona –»

«Lass mich raten.» Sogar jetzt, wo sein australischer Akzent nicht ganz so munter klang wie sonst – Warum bloß? –, verfehlte er nicht die gewohnte Wirkung auf sie, prickelnd, sinnlich. Sie konnte förmlich sehen, wie er sich das rotbraune Haar zurückstrich und einen Blick auf die Uhr warf. «Hat der alte Lustmolch dir mal wieder Überstunden aufgebrummt? Ruf das Restaurant an, sieh zu, ob sie unsere Tischreservierung –?»

Sie stieß die Luft aus. «Ach, Bren, es tut mir Leid. Wirklich.»

«Ja. Ich weiß. Es tut dir immer Leid.» Seine Stimme klang ungewohnt tonlos.

«Ist doch nur eine Stunde … Ich komme direkt vom Büro aus und bin um Viertel nach neun da.»

«Klar. Oder halb zehn. Spätestens um zehn.» Schwang da etwa ein bitterer Unterton mit?

«Nein! Wenn ich Viertel nach neun sage, bleibt es dabei! Bitte, red mir kein schlechtes Gewissen ein. Ich muss nett zu Terry sein, bis ich in die Hotelsparte befördert werde, du weißt doch, Pensionen betreue ich jetzt schon seit neun Jahren, und langsam habe ich mich an warmem irischem Frühstück echt sattgegessen.»

Erleichtert hörte sie, wie er unwillkürlich lachen musste. «Na … okay. Ich werde sehen, ob sie uns den Tisch länger reservieren. Aber im Ernst, Shona, langsam habe ich die Nase voll davon. Wirklich. Und wenn du deine verflixte Beförderung dann bekommst, stehen Abendessen an, stimmt’s? Kneipenbummel mit Abordnungen aus Italien, Bankette auf Bunratty Castle mit Herrn Wichtig aus Hamburg, Champagner mit François aus Frankreich, dieses und jenes, nur um ihre Touristen in deine Hotels zu bekommen … wann kriege ich dich dann mal zu sehen? Hm?»

Gute Frage, Bren. Gute Frage, und ich kann sie dir wirklich nicht übel nehmen.

«Heute Abend! Später! Versprochen!» Dabei legte sie ein mädchenhaftes Lachen in ihre Stimme. Mädchenhaft und, wie sie hoffte, verlockend. Brendan war ein lieber Kerl, und sie wollte ihn immer weniger missen … außerdem hielt die Sache mit ihm nun schon länger als mit allen anderen davor. Fast ein Jahr inzwischen. Langsam hatte sie das Gefühl, aus ihnen könnte wirklich etwas werden, sie kam sich vor wie ein Angler am Flussufer, der einen golden schimmernden Lachs im Auge hat. Nur ein wenig Geduld noch, dann könnte sie ihn an Land ziehen, gar keine Frage.

«Na schön. Bis später dann – Viertel nach neun, keine Minute später.»

«Jawohl, Sir.» Dankbar für seine Nachsicht – das war schon das dritte Mal in fünf Wochen – beendete sie das Telefonat und kehrte zu ihrem Papierkram zurück. Jetzt könnte sie nicht mehr nach Hause fahren und das rote Kleid anziehen, das er so besonders gern mochte, aber das würde ihm schon nichts ausmachen. Gott segne Brendan Wright; zur Hölle, zum Teufel mit Terry O’Hagan.

 

Alle waren längst nach Hause gegangen, es war stockfinster und Shona saß allein im Büro, als Terry um kurz nach sieben aus dem Pub zurückkam. Sie hörte seine schlurfenden Schritte in der Eingangshalle, aber täuschen ließ sie sich nicht; er war nicht umsonst Leiter der Hotelabteilung, seine gemütliche Art konnte jederzeit in klirrende Schärfe Umschlagen. Ihre Freundin Crys hatte es mehr als einmal gesagt, er war ein Kerl, vor dem man auf der Hut sein musste, mochte er auch ein väterlicher Typ über fünfzig sein.

Himmel! Gelegentlich rätselte Shona schon, wie sie es schaffte, in dieser Branche ständig zu lächeln. Lächeln ohne Pause, sogar an verregneten Winterabenden wie diesem, sogar nach einem schlauchenden Elf-Stunden-Tag mit lauter Anrufen von Kimberley aus Kansas, die gern gewusst hätte, ob in Mrs. Murphys Pension tatsächlich James Joyce einmal abgestiegen war – oh, wow! –, mit Dokumenten aus Dublin, in denen schon wieder Budgetkürzungen angekündigt wurden, mit Anfragen von Journalisten, ob an dem Gerücht über Lebensmittelvergiftung etwas dran sei … aber so war das nun mal im Fremdenverkehrsgewerbe. Auch wenn ihr alles zu viel wurde, liebte sie es: Wie hätte sie auch anders können, bei so vielen kuriosen, wundervollen Menschen, die sich in der Branche tummelten?

Aber harte Arbeit war es allemal. Obwohl sie nur für das Wohlergehen, die Werbung und die Betreuung von zweihundert Pensionen in einem kleinen westlichen Teil des kleinen westlichen Irland zuständig war, fühlte Shona sich bisweilen für das ganze Land, den ganzen Planeten, die ganze Galaxie verantwortlich. «Hallo, Sie dürften wohl die Außerirdischen sein, willkommen am Shannon Airport, dort steht Ihr Bus, unterwegs machen wir Halt bei Durty Nelly’s auf einen Irish Coffee … hier sind Ihre Pressemappen … oh, Jims Gepäck ist verschwunden, oje, lassen Sie mich rasch überlegen, wie ich das regeln kann …» Und lächeln, lächeln, lächeln. Und jetzt auch noch den alten Lustmolch anlächeln, weil sie das Hotelmarketing übernehmen und die arme alte Emily O’Brien für mehr Geld, höheren Status und mehr Extras im Stich lassen wollte?

Aber ich bin sechsunddreißig, ermahnte sie sich sofort. Ich kann die alten Schätzchen in ihren Landhäuschen nicht für immer betütteln. Wenn ich nicht befördert werde, und zwar bald, ende ich noch selbst als altes Schätzchen, schüttele meine Kissen auf und lasse mich auf den Hintern plumpsen, der sich nie richtig in Gang gesetzt hat. In den höchsten Gang: Shona Fitzpatrick, Leiterin Abteilung Hotels, sehen Sie, es steht auf meiner Geschäftskarte, hier haben Sie eine! So gern ich meine reizenden Damen habe, Fremdenverkehr ist wie Showgeschäft, früher oder später will man ganz groß rauskommen. Mir jedenfalls geht es so. Einen Dienstwagen und ein Spesenkonto, ein Eigenheim mit großem Grundstück, drei Auslandsreisen im Jahr, bei denen jemand anderes mich anlächeln muss. Okay, Terry, alles klar? Ich will meine Beförderung, und zwar dringend, deshalb werde ich süß und nett zu dir sein, so liebend gern ich dir auch mit einer Axt den Schädel spalten würde.

Sie schwang mit ihrem Stuhl herum und strahlte ihn an. Seine Fahne drang bis zu ihr hinüber. «Hi. Wie war die Bewirtung, hoffentlich gut?»

So nannten sie seine Abstecher in den Pub immer: «Bewirtung», als hätte er ein paar wichtige «Kunden» oder «Kontakte» eingeladen, die ihm siebzig Trillionen Touristen zuschanzen könnten, wenn er sie nur gründlich genug mit Guinness abfüllte. Er nickte knapp, sagte aber nichts, während er sein Sakko auszog und sich die Krawatte lockerte. Shona beobachtete ihn und erriet schnell den Grund für sein Schweigen: Nach einem halben Dutzend Pints Bier, zusätzlich zu den Getränken beim Mittagessen, war er buchstäblich zu blau zum Reden.

Gut. Zum Arbeiten wäre er da kaum in der Lage, sie könnte sich also vor den Hotelbudgets drücken und Brendan doch noch früher treffen. Immer noch lächelnd, schlug sie einen forschen, eifrigen Tonfall an.

«Also schön, wollen wir dann anfangen? Ich habe die Datei schon aufgerufen.»

Sie deutete auf den Computerbildschirm, und er sah sie stirnrunzelnd an, als versuchte er sich zu erinnern, wer sie war und warum sie beide an einem verregneten Novemberabend um diese Uhrzeit noch hier waren. Und dann, ganz plötzlich, schlurfte er ohne Vorwarnung oder Grund zur Tür zurück, klinkte sie zu und ließ den Riegel am Schloss nach unten schnappen.

Ping! Bei dem leisen Geräusch war sie sofort auf den Beinen, jeder Nerv in ihrem Körper, jede kleine graue Zelle in ihrem Kopf registrierte blitzschnell die Vorahnung, die Intuition, die absolute Gewissheit, dass Terry O’Hagan etwas Widerliches, Gefährliches oder sogar Tödliches im Schilde führte. Träge erhob sich die Stimme ihrer Freundin Crys von dem Sofa, wo sie es damals, sorgsam ihre Nägel lackierend, das erste Mal gesagt hatte: «Bei dem Kerl muss man auf der Hut sein, Shona. Immer schön auf der Hut sein, ich sag’s dir.»

Lieber Gott, nicht jetzt, wo das Gebäude menschenleer und Dave, der Wachmann, nach Hause gegangen war! Sie ballte ihre, wie sie flüchtig merkte, schweißnassen Fäuste und zwang sich, den volltrunkenen, gefährlich streitlustig wirkenden Hünen mit dem regenfeuchten Bart zur Rede zu stellen.

«Terry? Was ist los? Warum verriegeln Sie die Tür?»

«Ehr …», nuschelte er. «Ehr … ehrgeiziges kleines Miststück bist du, was, Shona Fitzpatrick?»

Nur konnte er nicht mehr deutlich sprechen; sie hörte etwas wie «ehrgeisch klains Mischtügg bischu, was, Shona Fischparrick?» Sie gab sich unerschrocken und ließ sich nicht einschüchtern.

«Was soll das heißen?»

Mit zu Schlitzen verengten Augen kam er immer näher auf sie zu, bis er sie gegen ihren Schreibtisch drängte. «Du weiß’ wassich mein, Frollein, du willss mein’ Job, nich wah? Tscha, einss Tages isses vielleich so weit, aber erss mussu dafür bezaahln. Allesch hat sein’ Preis, weissu.»

Drohend stierte er sie an, dann schoss unvermittelt seine Hand vor, packte sie vorne an der Hemdbluse und zerrte sie in seinen alkoholgeschwängerten Dunstkreis, Auge in Auge, direkt an seinen mächtigen, kräftigen Körper.

Sie dachte nicht einmal nach. Dazu war keine Zeit. Stattdessen riss sie den Arm zurück, holte aus und ließ ihn vorschnellen, verpasste ihm einen solchen Schwinger quer übers Gesicht, dass er aufjaulend zurücktaumelte und gegen die Wand krachte. In Zeitlupe glitt er daran hinunter, wie ein dagegen geklatschtes Eis, das zu einer traurigen Pfütze am Boden schmilzt.

Hastig schnappte sie Mantel und Aktentasche, riegelte die Tür auf und rannte los. Kurz musste sie der Versuchung widerstehen, ihm noch einen saftigen Tritt in die Rippen zu verpassen.

 

Nach gut einer Meile Fahrt klopfte ihr Puls allmählich langsamer, beruhigte sich ihr rasender Atem. Schließlich war ja nichts passiert, Terry war nicht dazu gekommen, welches Vorhaben auch immer in die Tat umzusetzen. Es war nicht sein erster Annäherungsversuch – auf «Kennenlern»-Reisen ins Ausland war er ihr zweimal durch Hotelflure zu ihrem Zimmer gefolgt, das sie hastig abschließen musste –, und sosehr ihr der Schreck noch in den Gliedern saß, war sie doch körperlich unversehrt.

Mit Grausen schwante ihr, dass den Schaden keineswegs sie erlitten hatte, sondern er. Morgen früh würde er im kalten Licht der Nüchternheit ein paar schöne Beulen an seinem Kingsize-Ego entdecken. Und er war dafür berüchtigt, nachtragend zu sein. Er würde sie für seinen Übergriffsversuch büßen lassen und es so hinstellen, als wäre sie auf ihn losgegangen.

Na ja, sie hatte ihm ja wirklich eine gescheuert. Aber was blieb einem denn übrig, bei einem sturzbetrunkenen, geilen Bock von fast zwei Metern? Sämtliche Frauen im Büro hatten aus Erfahrung gelernt, wie sinnlos es war, vernünftig mit ihm reden zu wollen; man konnte nur zusehen, seine Haut zu retten und schleunigst vor ihm das Weite suchen. Brendan als Einziger war da anderer Ansicht. Als er von der Jagd durch den Hotelflur in Edinburgh erfuhr, musste er davon abgehalten werden, sich Terry vorzuknöpfen, «und zwar so, dass er sich für alle Zeit daran erinnert». Eben aus diesem Grund reifte in Shona der Entschluss, Bren nichts von dem Vorfall heute Abend zu erzählen. Diesmal, ahnte sie, würde er sich nicht umstimmen lassen; gleich Montag früh würde er ins Büro stiefeln, sich Terry schnappen und ihn auf die Bretter schicken. Womit ihre Hoffnungen auf Beförderung endgültig zunichte wären, falls die nicht ohnehin schon gestorben waren.

Und falls ja? Konnte es tatsächlich sein, dass sie durch diesen alten Schluckspecht dazu verdammt war, für den Rest ihres Lebens ihre Pensions-Damen zu bemuttern, nie auch nur einen Millimeter weiter voranzukommen? Bis sie vierzig war, fünfzig, für immer und ewig, Amen? Verflixt nochmal! Zornig und frustriert, dazu noch ein wenig zittrig vor Schreck, bog sie halsbrecherisch in eine Parkbucht vor dem Restaurant ein, in dem sie sich mit Bren treffen sollte, worauf ihr einfiel, dass er noch gar nicht da sein würde. Statt sich zu verspäten, war sie nun eine Stunde zu früh dran. Sie stellte den Motor ab, zog ihr Handy aus der Tasche und rief ihn noch einmal an.

«Bren?» Sie hörte, dass sie immer noch außer Atem war. «Ich – es ist was passiert – nein, es hat sich was geändert – ich konnte doch früher los, ich stehe hier vor Kyver’s, und ich – ich kann’s gar nicht erwarten, dich zu sehen …»

Das war die reine Wahrheit. Ohne ihm den Grund zu nennen, wollte sie ihn jetzt und hier bei sich haben, damit er sie fest in die Arme nahm, alles mit seiner fröhlichen, tröstlichen Art wieder gutmachte, ihr grinsend mit dem Zeigefinger gegen die Nase stupste und ihr sagte, was für eine «Klassebraut» sie war.

Doch als sie nach kurzer Stille seine Stimme hörte, klang sie kein bisschen fröhlich. Sondern gereizt und genervt. «Du bist bei Kyver’s? Jetzt? Aber du hast Viertel nach neun gesagt, deshalb bin ich auf einen Sprung bei Dad vorbeigegangen, wir trinken gerade Kaffee und quatschen – Mensch, Shona, ich bin eben erst hergekommen, ich kann jetzt nicht einfach so abhauen!»

Oh. Nein. Natürlich nicht. Sie atmete tief durch und versuchte, sich in ihn hineinzuversetzen. Sein Vater war Witwer und liebte seinen Sohn, den einzigen, der nicht in Australien war, über alles, und er hatte jedes Recht dazu, Brens Besuch ungestört zu genießen. Und für Bren galt umgekehrt dasselbe. Sie durfte nicht von ihm erwarten, seine Pläne stündlich auf Zuruf umzuwerfen, um ihren launischen Bedürfnissen gerecht zu werden.

«Oh. Entschuldige. Das wusste ich nicht. Macht nichts. Ich gehe rein und warte in der Bar auf dich, lese ein bisschen Zeitung. Lass dir Zeit und grüß deinen Dad schön von mir.»

«Klar.» Er klang ruhiger, aber sie spürte, dass ihr ein taktischer Fehler unterlaufen war. Jetzt würde er den Besuch bei seinem armen Vater abkürzen, sich früher als geplant von ihm verabschieden und außer Atem und gereizt hier auftauchen. Hätte sie ihn doch bloß nicht angerufen.

«Bis später dann.»

Nach dem Telefonat saß sie da wie betäubt. Der Abend nahm eine schlechte Wendung, das spürte sie; rein gar nichts, Tonfall, Stimmung, ließ auf ein unbeschwertes Rendezvous mit ihrem wunderbaren, reizenden Liebsten hoffen.

 

Shona hatte den Nachrichtenteil komplett durch und war beim Feuilleton, als sie mitbekam, wie Brendans Auto draußen vor dem Restaurant parkte. Lächelnd sah sie auf die Uhr: Viertel nach neun. Weder zu spät, um ihr einen Denkzettel zu verpassen, noch ihr zuliebe zu früh, ganz im Einklang also mit seinem unnachahmlichen Rugbyspieler-Naturell: fair. «Immer fair bleiben, Kumpel», das war sein Motto, und auch deshalb fühlte sie sich zu ihm hingezogen. In einer viel zu oft unfairen Welt war er zuverlässig wie ein Fels, einer von vielen Gründen, aus denen sie langsam, aber sicher dabei war, sich in ihn ernsthaft zu verlieben. Verknallt hatte sie sich gleich bei ihrer allerersten Begegnung, letztes Ostern, am porzellangedeckten Teetisch bei Emily O’Brien ausgerechnet, als sein Eintreten dafür sorgte, dass ihre Tasse auf dem Unterteller hörbar ins Klirren geriet. Emily hatte ihn mit strahlendem Lächeln vorgestellt.

«Mein Berater für künstliche Besamung», hatte sie vergnügt kundgetan, und Shona hatte die grienende kleine Dame von sechzig ungläubig angestarrt. «Ihr was?!?»

Doch wie sich herausstellte, war Brendan genau dies. Nach einer Ausbildung in Australien zu einer Art Fachmann für die Kreuzung von Rindviehrassen (auf die technischen Details konnte sie gut verzichten) war er vor fünf Jahren mit seinem verwitweten Vater nach Irland übergesiedelt, «ins Land unserer Vorfahren», wie er grinsend erklärte, und arbeitete jetzt für das Landwirtschaftsministerium. An jenem Tag hatte er dem preisgekrönten Bullen eine Visite abgestattet, mit dem Emily ihr Einkommen aufstockte, und war danach zu einer Tasse Tee gebeten worden, zusammen mit Shona, die nervös ihr Clipboard an sich drückte (sie war auf jährlicher Inspektionsreise durch die Pensionen). Nach einer Dreiviertelstunde bei Tee und Mr. Kiplings «außerordentlich gutem Gebäck» hatte er sie, gut hörbar für die entzückte Emily, um eine Verabredung gebeten. Hin und wieder überlegte Shona später, ob Emily die Sache am Ende eingefädelt hatte, aber dankbar war sie ihr in jedem Fall. Nach acht Monaten mit Bren erschien es ihr manchmal immer noch unglaublich, in ihrem Alter einen heiratsfähigen Mann gefunden zu haben – nicht nur heiratsfähig, sondern lustig, redegewandt, interessant und rundum schnuckelig noch dazu. Obwohl sie noch nicht zusammenlebten, denn in dieser Hinsicht war Brendan seltsam altmodisch, hatte sie immer mehr das Gefühl, dass ihre Beziehung allmählich in eine entscheidende Phase trat. Eine Entwicklung, die ihr zunehmend schlaflose Nächte bereitete.

Bin ich, grübelte sie jetzt, als sie ihn auf sich zukommen sah, bereit für diesen Mann? Wirklich bereit, in jeder Hinsicht? Könnte ich mich an ihn binden, wenn er mich darum bäte? Wenn er eine dauerhafte Bindung wollte und Kinder, ein Haus und alles, was dazugehört? Könnte ich mein Leben auf ihn zuschneiden, kürzer treten, bei der Arbeit, meinen Reisen, meiner Zeit mit Crys und den Mädels, mein Leben so einrichten, dass er den Vorrang bekommt, den er beanspruchen dürfte?

Könnte ich das, wenn es hart auf hart käme? Bin ich bereit?

Mit sechsunddreißig sollte ich das allemal sein. Aber was wird dann aus meiner Beförderung? Die Gehaltserhöhung, der Dienstwagen, die drei Urlaubsreisen im Jahr … wäre das vereinbar mit Ehe, Kindern, Haushalt? In der Ehe, hört man immer, geht es vor allem um Kompromisse, und mir sagen alle nach, mit Kompromissen hätte ich es nicht so … doch manchmal ist mir, als würde ich für Brendan Wright einfach alles tun. Wirklich alles, weil ich ihn liebe und jetzt im Moment unheimlich froh bin, ihn zu sehen. Er ist all das, was Rüpel wie Terry O’Hagan und seinesgleichen nie waren und nie sein werden. Eine Rarität nämlich: ein guter Mann.

«Hi, Süße.» Er kam auf sie zugefedert, und sie hob ihm die Wange zum Kuss entgegen. Mit der gewohnten Offenheit musterten sie seine strahlend grünen Augen. «Sind wir ein bisschen gestresst?»

«Oh …» Sie hatte geglaubt, eben in der Toilette mit Lippenstift und Bürste gute Arbeit geleistet zu haben. Offenbar doch nicht. Oder sein Gespür für sie war noch besser als vermutet. «Mir fehlt nichts. Unser Tisch ist noch frei … hast du Hunger?»

Den hatte er immer, weil er so viel Zeit draußen auf Bauernhöfen verbrachte, den Körperbau eines Rugbyspielers hatte und von seinem Vater Fred mit, wie er es ausdrückte, «deftiger australischer Kost» großgezogen worden war. Seine Mutter, Amy, war gestorben, als er zwölf war, und Fred hatte die drei kleinen Söhne, von denen Brendan der Älteste war, allein aufziehen müssen. Genau das, mutmaßte Shona, hatte wohl Brens entschiedene Ansichten über den «Wert des Familienlebens», wie er es nannte, geprägt. Dabei hatte sie gar nichts gegen «Familienleben» als solches, ihr wurde bloß nicht klar, wie man so ein Projekt bewerkstelligte, wo doch noch so viel anderes zu erledigen war. Sie liebte ihre Karriere, hatte viel dafür investiert, und entsprechend wichtig war sie ihr. Ebenso wichtig wie einem Mann. Wie sollte man nur alles unter einen Hut bringen, heutzutage?

«Ja. Etwas.» Er lächelte, wie ihr schien, ein wenig bedauernd, als sie ihm eine Speisekarte reichte, die er aber nur kurz überfliegen konnte, denn da kam auch schon ein Kellner, um sie an ihren Tisch zu führen. Es war ein netter runder Ecktisch, mit weißem Tischtuch und einer Vase mit hellgelben Blumen, nahe bei Lee, dem Mann am Klavier, der gerade etwas von Carly Simon spielte. Sonst zwinkerte Bren Lee immer zu, wenn sie ankamen, worauf Lee sofort eins von Shonas Lieblingsliedern spielte, «Blue Bayou» oder «Summer Breeze» oder «Smoke Gets in Your Eyes»; heute Abend aber schien er irgendwie abwesend. Shona bemerkte, dass Lee das nicht entging, und lächelte ein wenig betreten.

Ein Kellner mit Block und Bleistift kam an ihren Tisch. Shona bestellte Garnelenmousse und Glattbutt, Bren entschied sich für eine pikante Tomatenvorspeise und ein kurz gebratenes Steak, und als Kompromiss zwischen ihren unterschiedlichen Vorlieben empfahl der Kellner einen leichten Beaujolais.

Kompromiss. Siehst du, sagte Shona sich, ist doch gar nicht so schwer. Ein Chablis wäre mir lieber, aber Bren zuliebe trinke ich auch mit Freuden einen Beaujolais.

Sie merkte, dass er sie, das Kinn auf die Knöchel gestützt, mit nachdenklicher Miene anschaute. Ach, wie sie diese Sommersprossen liebte, das widerspenstige Haar, das nie ganz verfliegende Lächeln! Terry O’Hagan verblasste zusehends, ihr wurde warm ums Herz, als sie ihn über den Tisch hinweg ansah.

«Wie geht’s deinem Dad? Wie war dein Tag?»

Während der Vorspeisen erzählte er ihr von Fred, der Feuer und Flamme war, seit er kürzlich entdeckt hatte, dass man im Internet auch Schach spielen konnte, und von seinem Tag, der überwiegend aus Laborarbeit bestanden hatte. Shona lächelte; Bren war die Arbeit vor Ort lieber, aber er musste beides vereinbaren.

«Na ja, es hat den ganzen Tag geschüttet, da warst du doch drinnen besser aufgehoben!»

«Hm. Kann sein. Wie war dein Tag? Mir war nicht ganz klar, was eigentlich los war.»

Sie zögerte. «Das war mir selbst nicht klar. Terry wollte, dass ich Überstunden mache. Aber dann hat er – hatten wir – eine kleine – Meinungsverschiedenheit. Ich glaube, ich – ich habe meine Beförderungschancen ganz schön verdorben.»

Finster sah er auf seinen leeren Teller. «Siehst du deshalb so gestresst aus? Hat Terry dich wieder mal durch den Flur gejagt? Falls ja, Shona, dann reicht’s mir. Ich werde ihn mir vorknöpfen. Höchste Zeit, dass das endlich aufhört.»

Wie wohl seine Worte ihr taten. Aber dass er etwas unternahm, wollte sie um keinen Preis. Sie konnte sich schon selbst zur Wehr setzen … und außerdem hatte Terry O’Hagan doch schon eine tüchtige Ohrfeige abbekommen. Das Letzte, was sie brauchte, war ihr Liebster, der wie ein altmodisch-erboster Vater hereinmarschiert kam, um sich Terry «vorzuknöpfen».

«Nein – es war nur eine Meinungsverschiedenheit über etwas.»

«Worüber?»

O Gott. «Über meine Zukunft. Er versucht seine Macht als Waffe gegen mich einzusetzen, weiß, dass ich seinen Job, wenn er nach Dublin geht, nur kriege, wenn er mich dafür vorschlägt. Deshalb hat er mir auch die Überstunden aufgebrummt, einfach, weil es in seiner Macht steht. Ich – ich hasse ihn, Bren! Er macht mir das Leben zur Hölle!»

Hoppla. Da hatte sie sich wohl etwas verplappert. Zu ihrer Verwunderung aber antwortete er nicht sofort. Stattdessen nahm er die Serviette von seinem Schoß und zwirbelte sie nervös in wunderliche Formen, den Blick abwechselnd auf sie und das Kaminfeuer gerichtet, das in der Wand links von ihm brannte.

«Verstehe.»

Wie bitte? Shona war so perplex, dass ihr zunächst die Worte fehlten. Normalerweise hatte Brendan ein feines Gespür, aber heute Abend schien eine Befangenheit in der Luft zu liegen, irgendetwas passte nicht. Hatte er etwa eigene Probleme, von denen er ihr nichts sagte? Sie war erleichtert, als er schließlich nach ihrer Hand griff, sie ausgiebig in Augenschein nahm und dann, ganz sanft, ihre Fingerspitzen küsste.

«Shona … weißt du … ich habe dich über die letzten paar Monate sehr lieb gewonnen.» Wie zur Bestätigung betrachtete er sie anerkennend, ihr Gesicht, das seinem nicht ganz unähnlich war, frisch und sommersprossig, nur dass ihre Augen blau wie Heidekraut und ihre glatten, fast schulterlangen Haare leuchtend kupferrot waren. Sie beugte sich vor, umfasste seine Hand und flüsterte über die Kerze zwischen ihnen.

«Und ich dich, Bren. Ich fühle mich …» Was fühlte sie? Sie überlegte kurz, um den genau richtigen Ausdruck zu finden: glücklich mit dir? Sicher? Geliebt? Ja. Alles zusammen. Aber bevor sie es noch aussprechen konnte, legte er ihr einen Finger an die Lippen.

«Scht. Sag jetzt nichts, Shona. Hör mir bitte zu.»

Was war los? Leicht blinzelnd lehnte sie sich zurück und rätselte, was er sagen wollte, weshalb er plötzlich so ernst wirkte. Ihr fiel auf, dass er aussah wie ein Mann, der irgendeine Entscheidung getroffen hatte, und ihr Magen schlug Purzelbäume – nein – unmöglich – er wollte ihr doch keinen Heiratsantrag machen, oder? Jetzt und hier, aus heiterem Himmel an diesem nasskalten Winterabend … konnte das sein … war es so weit? Alarm, Shona!

«Ich höre zu, Bren.» Ihre Stimme hing in der Luft wie ein Wölkchen, ihr Körper spannte sich in einer Mischung aus Furcht, Vorahnung und rapide aufsteigender Euphorie. Dies war einer jener Momente, an den sich jede Frau ihr Leben lang erinnert, und sie kostete ihn jetzt schon aus, versiegelte die Blumen und das Feuer und die Kerze in ihr Gedächtnis, fing Lees Blick quer über das Klavier auf und versuchte, sein schelmisches Zwinkern zu übersehen, gab sich bemüht spröde, wo sie doch am liebsten –

«Nun ja … ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll … aber ich habe nachgedacht … über uns …»

«Ja», murmelte sie, «ich auch. Mehr und mehr …»

Er knetete ihre Hand in seiner und schien sie gar nicht zu hören, während er auf seinem Stuhl herumrutschte und ihr auf seine aufrichtige Art in die Augen sah, fast umstrahlt von einer Aura der Fairness.

«Und ich bin zu dem Schluss gelangt, dass …»

Ja! Etwas in ihr traf die Entscheidung für sie, ihr Herz gewann die Oberhand über ihren Verstand, jeden Gedanken an den Job, der in diesem Moment ebenso gut auf dem Mars hätte sein können. Er würde sie bitten, ihn zu heiraten, und sie würde ja sagen. Ja, Brendan, ich liebe dich, ich bin mir dessen ganz sicher, ich will deine Frau werden und deine Kinder bekommen, und das ist jetzt alles, was für mich zählt. Ich werde Kompromisse eingehen, falls nötig, was absehbar ist, ich werde dir absoluten Vorrang einräumen und mein restliches Leben ganz auf dich –

«Dass wir eigentlich … nicht … zusammenpassen, Shona.»

Von irgendwo über dem Raum, oder von draußen vor dem Restaurant, oder möglicherweise aus hundert Meilen Entfernung hörte sie, wie Lee es zu spielen begann, ohne Zweifel veranlasst von der sichtlichen Intimität zwischen ihnen: «Smoke Gets in Your Eyes». Nie wieder, so viel stand fest, würde sie es hören, ohne sich an den Tag zu erinnern, an dem ihr Leben in Trümmer stürzte. Den Tag, an dem ihr alles um die Ohren flog, ihre Karriere, ihre tot geborene Ehe, ihr wunderbarer, wunderbarer Bren. Ihre gesamte Zukunft, ihre gesamte Existenz.

Sie merkte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich, ohne jedoch zu ahnen, wie blass sie wurde. Sie nahm nur die plötzliche Sorge in seinem Gesicht wahr, die langsamer werdende, unsicher schwankende Musik, die schließlich in ein anderes Stück überging. Er sah sie erschrocken an und schenkte ihr ein Glas Wasser ein.

«O Gott, Shona – tut mir Leid. Es tut mir so Leid. So hatte ich es nicht sagen wollen, so schroff, was bin ich für ein Ochse … komm, gehen wir vor die Tür, damit du frische Luft schnappen kannst.» Dabei sprang er auf, kam um den Tisch herum und half ihr, die Arme um ihre Schultern gelegt, auf die Beine. Als sie von ihm gestützt aus dem Lokal wankte, hörte sie ihn noch dem Kellner etwas von «fühlt sich nicht wohl» zumurmeln. Eine bemerkenswerte Untertreibung.

Draußen ließ sie sich auf ein niedriges Mäuerchen sacken, und er setzte sich neben sie und rieb ihr hilflos die Hand, bis sie ihm endlich das Gesicht zuwandte, tief innerlich fröstelnd, kaum fähig zu sprechen.

«Wirst du mir einen Grund nennen?»

«Ja. Natürlich.» Seufzend ließ er den Blick über den Parkplatz schweifen. «Es … es ist dein Elan, Shona.»

«Mein was?»

«Dein Job. Dein berufliches Engagement. Du hasst deinen Chef, aber du liebst deine Arbeit, du bist schon mit ihr verheiratet, und ich habe selbstsüchtigerweise Angst, dass ich da immer nur an der jämmerlichen zweiten Stelle kommen würde. Genauso wie die Kinder, die wir vielleicht mal hätten.»

Kinder. Nach denen hatte sie sich nie sonderlich gesehnt, aber jetzt fiel ihr siedend heiß ein, dass sie sechsunddreißig Jahre alt war. Kinder waren keine Option, die ihr noch sehr lange offen stand. Brendan nahm ihr mehr als seine Liebe; er nahm ihr Leben, ihre gemeinsame Familie, ihre Kinder und Enkelkinder und … sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie gleich selbst wie ein Kind losheulen, sich auf den Boden werfen und die Seele aus dem Leib brüllen würde.

«Verstehe. Tja, in dem Fall ist es wohl sinnlos, das noch – das weiterzuführen, nicht wahr?»

Schwankend erhob sie sich, ortete ihr Auto und machte sich unter Aufbietung all ihrer verbliebenen Würde auf den Weg. Brendan blieb hinter ihr auf dem Mäuerchen sitzen und unternahm nichts, um sie umzustimmen. Beim Einsteigen war ihr klar, dass sie sich immer den Kopf darüber zerbrechen würde, was wohl gewesen wäre, wenn sie versucht hätte, ihn umzustimmen, ihm gut zuzureden, zu versichern, dass er mit Abstand der wichtigste Bestandteil ihres Lebens war.

Aber es ging nicht, sie ließ es bleiben. Er sah nicht aus wie ein Mann, der wild darauf war, ein «Bestandteil» in wessen Leben auch immer zu sein.

 

Aileen Hegarty persönlich gab der Irish Times die Schuld an allem. Bis dieses Blatt anfing, alles zu analysieren, war das Abgangszeugnis bloß eine Prüfung, die jeder mit achtzehn zu absolvieren hatte. Entweder bestand man oder fiel durch, oder, falls man Grips hatte und einen weiten Bogen um den Pub machte, erhielt man Auszeichnungen und konnte studieren. Aber dann hatte die Times mit ihrer hartnäckigen Analyse daraus weit mehr als nur eine Prüfung gemacht; nach und nach war das Zeugnis für alle Teenager zu einem Pass fürs Leben mutiert, zum lebensnotwendigen Dokument, ohne das ihnen jede Tür vor der Nase zugeschlagen würde und sie über Nacht zu sozial Ausgestoßenen herabsänken. Die Schule ohne ein Abgangszeugnis voller Einsen zu verlassen, das war heutzutage in etwa so, als liefe man splitternackt auf der Straße herum.

Ihr Sohn Finn war inzwischen fast zwanzig. Und er war durch den Abschluss gerasselt. Nicht nur einmal, zweimal. Zweimal war definitiv, bei zweimal war offiziell Schluss. Weder sie noch sein Vater Joe wussten, was sie als Nächstes mit ihm anfangen sollten, und schlimmer noch, er wusste es selbst nicht. Beim ersten Mal war er, zugegeben, selbst schuld, damals hatte er nur Mädchen im Kopf, beim zweiten Mal aber hatte er sich schon auf den Hosenboden gesetzt. Und fiel trotzdem durch. Finn reagierte, als trüge er das Wort «Versager» auf die Stirn tätowiert, und führte anschließend das ihm vermeintlich von der Gesellschaft vorgezeichnete Leben, hing in Pubs ab, spielte den ganzen Tag Billard, lief in schwarzer Ledermontur mit spitzen Nieten durch die Straßen von Ennis und Lahinch, einen lila Irokesenkamm auf dem kahl geschorenen Schädel, mit dem er allerdings nicht cool aussah, wie er glaubte, sondern eher armselig. Aileen bedauerte ihn von ganzem Herzen, zugleich wollte sie ihn an den Ohren schütteln: Warum versuchte er es nicht mit irgendeiner Lehre in den Sparten, die ihm noch offen standen – als Klempner, Menschenskind, oder Tischler oder mit sonst einem Handwerk? Klempner, Schreiner, Elektriker und solche Leute machten schließlich heutzutage ein Vermögen, konnten sich vor Aufträgen kaum retten.

Finn schaltete auf stur. Da würde er doch auch nur versagen, oder? Er war blöd, er war ein hoffnungsloser Fall, und damit hatte es sich. Reden wir nicht weiter drüber, Ma, das Ganze kotzt mich an.

Aileen kam er zutiefst deprimiert vor. Irgendein Job müsste her, dachte sie, um ihn aus seinem offenkundigen Stimmungstief zu holen.

«Wie wär’s denn mit McDonald’s? Du kannst doch nicht dein ganzes Leben auf der Straße rumhängen, Finn.»

«Wollen wir wetten?» Mehr hatte er dazu nicht zu sagen, und sie war mit ihrem Latein am Ende.

Die Irish Times hatte aber nicht nur die Sache mit dem Abgangszeugnis auf dem Kerbholz. Ihr anderes Vergehen war fast noch schlimmer. Vor einem oder zwei Jahren hatte sie einen fraglos genialen Gag für ihren Immobilienteil ausgebrütet, eine Donnerstagskolumne namens «Take Five». Der Grundgedanke – in Irland ließ ein Immobilienboom gerade die Hauspreise in astronomische Höhen schnellen – war, fünf zum Verkauf stehende Häuser vorzustellen, eins in Irland, die anderen vier im Ausland, gewöhnlich in Spanien, Frankreich, Amerika, Italien oder Griechenland. Die Nation war im Handumdrehen wie im Wahn, konnte kaum fassen, was für bildschöne Villen in Mallorca oder Florida zum Preis eines Reihenhäuschens in Raheen oder Ringsend zu haben waren. Und schrecklicherweise war sie, Aileen, davon hypnotisiert wie ein Karnickel von der Schlange; wenn sie eins dieser herrlichen Häuser im Ausland betrachtete, malte sie sich jedes Mal aus, wie sie auf dem Balkon oder der Terrasse saß, mit einem Cocktail in der Sonne lag und zum Pool schlenderte, um sich abzukühlen. Sie hatte sich ihre Irish Times im Zeitungsladen extra zurücklegen lassen müssen, denn donnerstags ab zehn Uhr morgens war sie immer komplett ausverkauft. Bis zehn schaffte sie es nie, um diese Zeit saßen ihre Pensionsgäste noch beim Frühstück, über ihre Karten gebeugt, während sie erklärte, wie man nach Galway, Westport oder zu den Cliffs of Moher kam. Manchmal, wenn sie von oben noch Finns Schnarchen hörte, wäre sie am liebsten von den Cliffs of Moher gesprungen.

Unterdessen verschlimmerte sich ihre Sucht, sie brauchte immer höhere Dosen ihrer Droge und erschloss sich neue Bezugsquellen. Etwa eine Zeitschrift namens Häuser International, die sie wiederum veranlasste, sich von Finn den Umgang mit seinem Computer beibringen zu lassen, weil es im Internet Adressen gab, durch die sie stundenlang surfte. Mit sehnsüchtigem Blick bewunderte sie Schweizer Chalets, Strandvillen, Landsitze, römische Stadthäuser, Apartments in Miami und Blockhäuser in Kanada. Und dann – o Freude, o Wonne! – hatte Channel 4 eine Sendereihe namens Ein Platz an der Sonne gestartet. Jede noch so krumme Tour war ihr recht, um sich pünktlich um fünf Uhr nachmittags vor den Kasten zu setzen und mit Spannung zu verfolgen, ob die vorgestellten Interessenten für die umgebaute Wassermühle in der Toskana bieten würden, für das alte Pfarrhaus in der Provence oder das Loft in Madrid … kein Zweifel. Sie war süchtig, sie war eine Abhängige, und Häuser im Ausland waren ihre Droge.

Manchmal grübelte sie, ob man dafür Hilfe in Anspruch nehmen konnte. Konnte man einen Therapeuten aufsuchen und sagen, «Äh, Entschuldigung, aber ich habe da anscheinend ein kleines Problem, mein Sohn ist eine Katastrophe, und ich flüchte mich rund um die Uhr in Tagträume über Häuser im Ausland. Ich brate Schinken mit Eiern und möchte viel lieber meine frisch geschnittenen, taufeuchten Rosen in meinem holzgetäfelten Wohnzimmer mit Panoramafenster auf den Gardasee arrangieren»? Vermutlich schon. Heutzutage behandelten Therapeuten jeden wegen wirklich allem, es ließen sich wahre Reichtümer scheffeln mit der wachsenden Flut von Spinnern in Irland, sämtlich geeint in der Überzeugung, an der verschrobensten Neurose der Welt zu leiden.

Wenn ich doch nur, dachte sie, während sie an diesem tristen Winterabend die Geschirrspülmaschine belud, mit Joe darüber reden könnte. Dann müsste ich mir nichts von Therapeuten zusammenphantasieren. Aber Joe … Joe ist nicht die Lösung, oder? Joe ist Teil des Problems.

Dabei ist an ihm im Grunde gar nichts auszusetzen. Es gibt wesentlich schlechtere Ehemänner. Er ist kein Spieler oder Schürzenjäger, nicht gewalttätig, gemein oder faul. Bloß … so … so verdammt langweilig. Zuverlässig und beständig und all die anderen Eigenschaften, die mir mal als Tugenden erschienen, und so voraussagbar, dass ich ihm manchmal am liebsten Feuer unterm Hintern machen möchte. Jeden Morgen um acht geht er zur Arbeit, ist um sechs wieder zu Hause, vier Abende die Woche von neun bis elf im Pub, Abend für Abend für Abend dieselben Gespräche mit denselben Leuten in demselben Pub … und er wundert sich, warum ich nicht mehr mitgehe. Ich komme nicht mit, Joe, weil es mich anödet! Das habe ich dir auch erklärt, aber ebenso gut hätte ich gegen die Wand reden können, weil es dir weiter Spaß gemacht hat und immer noch macht. Na gut, im Pub hocken ist kein Verbrechen, aber besonders anregend ist es auch nicht, oder? Nicht romantisch, nicht sehr schmeichelhaft, dass du lieber mit Dave Dödel Doherty zum neunhundertsten Mal über eure Fußballhelden von Man U quatschst als – genau! – mit deiner Frau essen zu gehen oder ins Kino oder auch nur auf einen Spaziergang nach der Arbeit. Schließlich arbeite ich auch, weißt du, ich führe diese Pension, jahraus, jahrein, seit inzwischen fünfzehn Jahren. Ich trage meinen Teil zu dieser Ehe bei, und ich gebe mir alle Mühe, auch als Frau attraktiv zu bleiben. Schön, ein Pfund oder zwei könnten vielleicht runter, aber für zweiundvierzig bin ich nicht schlecht in Schuss, außerdem hellwach im Kopf; von Verblödung keine Spur. Die Irish Times jedenfalls lese ich jeden Donnerstag, das steht mal fest! Was also ist so toll an Laffy’s Pub, was ist so berauschend an der Arbeit im Eisenwarenladen, dass du praktisch nur noch über Nieten und Sandpapierschleifmaschinen und nicht tropfende Emulsionen reden kannst, hm? Sandpapierschleifmaschinen hängen mir zum Hals heraus, und falls es dir noch nicht aufgefallen ist, du bist nicht mit einer Büchse nicht tropfender Emulsion verheiratet. Ich bin eine gesunde, muntere Frau, und ich bin deine Ehefrau!

Langsam schnappe ich über. Ist doch so, oder? Übergeschnappt mit zweiundvierzig, Unsinn brabbelnd mit fünfzig, weggesperrt mit sechzig … mein armer Trottel von Sohn, der mich besuchen kommt und mir mein Möhrenbreichen füttert. So werde ich enden, in einem hinten zugebundenen Papiernachthemd, von einer Zwei-Zimmer-Maisonettewohnung in Gibraltar faselnd. Und wenn das Geschäft nicht bald wieder anzieht, könnte das Ende näher sein, als wir denken.

Nun, dafür kann ich der Irish Times nicht die Schuld geben. Ich gebe Osama bin Laden die Schuld. All diese Absagen seit September, die Amerikaner, die scharenweise wegbleiben … und der Wirtschaftsaufschwung derzeit schadet auch eher, Touristen können sich die Reise hierher nicht mehr so einfach leisten wie früher. Und die Iren selbst – tja, nach dem letzten Sommer, wer kann es ihnen verübeln, dass sie im Urlaub lieber in die Sonne fliegen? Zumal wenn es billiger ist, nach Griechenland oder Spanien zu reisen als zu Hause zu bleiben. Wenn die Politiker mal wieder von unserem grandiosen Aufschwung schwafeln, können sie nicht mich meinen, oder alle anderen Pensionsinhaber. Ich werde wohl anfangen müssen, überall zu inserieren, aber bald, falls ich dieses Jahr überhaupt noch ein paar Buchungen will.

Will ich denn? Nein. Momentan, genau jetzt, will ich keine. Nach fünfzehn Jahren habe ich die Nase voll davon, immer dasselbe zu tun, mit einem Mann zusammenzuleben, der immer dasselbe sagt und tut, in diesem immer gleichen Haus, aus dem ich längst herausgewachsen bin. Komisch, als wir es damals gekauft haben, schien es so perfekt! Aber wir hatten wenig Geld und waren junge Leute, die es nicht interessierte, wie ihr Dach über dem Kopf aussah. Ich hatte noch keine einzige Folge von Ein Platz an der Sonne gesehen, ich ahnte nicht, dass es noch andere Häuser gab als Doppelhausschuhschachteln in geraden Reihen mit Netzgardinen und dreiteiligen Sitzgruppen. 16, Glen Heath schien mir damals, als wir es kauften, das absolut höchste der Gefühle.

Heute ist es wie wir: abgenutzt, nicht mehr ganz taufrisch, dringend renovierungsbedürftig. Aber eine Renovierung werden wir uns nicht leisten können, stimmt’s, wenn das Geschäft diesen Sommer mau läuft? Ich muss mit Träumen aufhören, mir «Take Five» abgewöhnen und mir etwas einfallen lassen, um Kundschaft anzulocken … Waren das Zeiten, als Shona Fitzpatrick mir scharenweise Gäste brachte, manchmal mehr als ich unterbringen konnte, oft mussten wir noch Leute zu Noreen Foley rüberschicken! Aber dann wurde Shona ja befördert, vom Kundenschalter im Fremdenverkehrsbüro in den Innendienst … so ein nettes Mädel war das, Shona, und jetzt sehe ich sie kaum noch. Was sie wohl heute so macht, wie es ihr wohl geht?

 

Crys Sheehan hatte ihre Freundin Shona Fitzpatrick noch nie weinen sehen. Natürlich hatte sie auch mal einen schlechten Tag, wie alle, aber normalerweise war sie so fröhlich, zuversichtlich, wirkte nahezu unbesiegbar, wie sie so durchs Leben schwirrte – und das hatte Brendan Wright letzten Abend angeknackst. Jetzt weinte Shona sich in ihrer Küche die Augen aus, und Crys fühlte von Herzen mit ihr, ließ sich jedoch bei allem Mitgefühl nicht davon abhalten, ihre Fingernägel in grellen Schattierungen von Kirschrot und Gold zu lackieren. In Krisenzeiten suchte sie Zuflucht bei ihren Nägeln, an ihnen konnte sie sich zu schaffen machen, während sie über das Problem nachdachte.

«Aber Shona, du meintest doch zu mir, du wärst dir bei ihm nicht sicher. Ich meine, du warst Feuer und Flamme und so, hattest aber doch deine Bedenken, was Ehe und vor allem Kinder angeht, wie sich das häusliche Leben auf deine Karriere auswirken könnte.»

Shona griff nach einem weiteren Kleenex. «Tja, darüber brauche ich mir jetzt keine Sorgen mehr zu machen, stimmt’s?»

«Aber das ist wichtig. Bloß weil du zu deinen Bedingungen mit einem Mann zusammenleben willst, heißt das nicht unbedingt, dass er das auch will. Mir kommt es vor, als hätte Bren dich nur auf die Probe gestellt, und du hattest kein Ass mehr im Ärmel. Sonst hättest du gesagt, dass er sich irrt, dass dein ‹Elan› dir nicht wichtiger ist als er oder Ehe und Familie. Ihr hättet das Ganze wie zwei erwachsene Menschen besprechen können – stattdessen bist du bloß aus lauter verletztem Stolz weggerannt.»

«Das stimmt nicht! Ich wollte einfach – einfach …»

Shona verstummte. Mist. Crys traf doch wirklich immer den Nagel auf den Kopf. Pff. Die hatte gut reden, mit neunundzwanzig Jahren und einem wunderbaren Ehemann und aller Zeit der Welt, sich Gedanken übers Kinderkriegen zu machen. Sie hatte zwar noch keine, nach fünf Jahren Ehe, aber sie konnte andere, die nicht ganz so wild auf Babys waren, einfach nicht verstehen, weil sie selbst welche wollte und anderer Leute Nachwuchs anhimmelte. Und auch den Karriere-Aspekt des gestrigen Desasters begriff sie nicht, weil schon der Begriff «Karriere» zu hoch für sie war. Als Shona Crys kennen lernte, war sie Stewardess; in den sieben Jahren seither hatte sie als Rezeptionistin in einem Hotel und einer Zahnarztpraxis gearbeitet, in der Marktforschung und als Boutiqueverkäuferin. Sobald sie sich langweilte, machte sie etwas Neues. Mittlerweile war sie seit sechs Monaten Schulbusfahrerin.