Cover

Inhaltsübersicht

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-24151-2

ISBN E-Book 978-3-688-11445-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-11445-0

Erster Teil

Kapitel eins

Eamonn Laraghy war ein beeindruckender Mann. Mit einem Meter neunzig Körpergröße und seiner kraftvollen, robusten Statur erinnerte er an eine stolze, knorrige Eiche. Es war nicht ratsam, sich mit ihm anzulegen. Schon ein Runzeln seiner Augenbrauen ließ seine Gegner erzittern, und sein kräftiger Körperbau verhinderte, dass allzu viele mit ihm Streit suchten. Am meisten Respekt verschaffte er sich jedoch mit seiner Stimme. Wenn er sie erhob, ertönte ein weithin dröhnendes Gebrüll, schreckenerregender noch, so behaupteten die Einheimischen, als ein Wirbelsturm in Kansas. Zwar hatte noch keiner von ihnen einen Wirbelsturm in Kansas erlebt, aber fast alle kannten durch einen Bruder, eine Schwester oder einen Vetter Erfahrungsberichte davon. Wenn Eamonn in Fahrt war, so wie jetzt gerade, war er noch aus einer halben Meile Entfernung zu hören.

«Ich verbiete es, das ist mein letztes Wort! Und jetzt Schluss damit!»

Er ließ seine Pranke durch die Luft fliegen und hätte um ein Haar sein Gegenüber getroffen, das reglos vor ihm stand wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Eine blaue Ader auf seiner Stirn war geschwollen, die eisgrauen Augen sprühten Funken vor Zorn. Eamonn ließ sich nicht gern herausfordern, und noch mehr hasste er es, auf Widerstand zu stoßen, schon gar nicht hier auf seinem eigenen Besitz, wo sein Wort Gesetz war. Unumstößliches Gesetz.

Eamonns Arbeiter fanden diese Zusammenstöße immer sehr unterhaltsam, vorausgesetzt natürlich, sie waren nicht selbst darin verwickelt. Es war ungefähr wie bei einem Boxkampf, der keinen Eintritt kostete. In der Regel wurde zwar kein Blut vergossen, aber die Atmosphäre roch danach. Rings um das Haus und die Gärten machte sich also auf so manchem Gesicht ein Grinsen breit, während Eamonns wütende Stimme über dem leise säuselnden Dezemberwind grollte wie Donner.

Auf dem trotzigen Gesicht seiner Tochter jedoch zeigte sich kein Lächeln. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Kerry Laraghy fest entschlossen, ihrem Vater die Stirn zu bieten und ihren Willen durchzusetzen.

«Tut mir Leid, Papa, aber du kannst mir nichts mehr verbieten. Ich werde heute volljährig, daran kannst du nichts ändern. Ich gehe nach Paris, und dabei bleibt es.»

Eamonn schnappte nach Luft und starrte seine einzige Tochter entgeistert an, das reizende Mädchen, das vom Tag seiner Geburt an sein Augapfel gewesen war. Er liebte sie über alles und hatte bisher noch nie Anlass gehabt, daran zu zweifeln, dass diese Gefühle erwidert wurden. Seit ihn sein neugeborenes Töchterchen zum ersten Mal angelächelt hatte, hatten sie ein ganz besonderes Verhältnis, schenkten einander ihre gesamte Zuneigung und lebten in dem Bewusstsein, aus demselben Holz geschnitzt zu sein.

Und jetzt das. Gerade war der Morgen ihres achtzehnten Geburtstags angebrochen, und schon provozierte sie ihn mit ihrer Unabhängigkeit. Eamonn war völlig überrascht und tief verletzt.

«Aber Kerry, was ist mit dem Besitz, dem Gestüt, den Pferden? Ich dachte, wir wären uns da einig. Ich dachte, du wolltest alles übernehmen?»

Die Erwähnung der Pferde würde sie gewiss zur Vernunft bringen. Die lagen ihr genauso im Blut wie ihm. Die Liebe zu ihren Pferden war seit Generationen eine Stärke und gleichzeitig eine Schwäche der Laraghys.

Kerry aber blieb ungerührt.

«Natürlich will ich das, Papa. Aber eben noch nicht jetzt gleich. Das ist mir zu viel, kommt mir zu früh! Zuerst will ich ein bisschen leben. Mit Brian im Januar nach Paris gehen, mich amüsieren und mich austoben. Ich bin zu jung, um mir das alles jetzt gleich aufzuladen! Schau es dir doch bloß mal an!»

Entnervt riss sie die Terrassentür auf, zog ihren Vater durchs Zimmer, damit er Ashamber überblicken konnte, neunhundert Morgen saftig grünes, im winterlichen Morgenlicht schimmerndes Weideland.

Draußen auf der Terrasse fluteten träge die ersten Sonnenstrahlen über das italienische Fußbodenmosaik, die breite Treppe hinunter und bis zu dem von Trauerweiden umstandenen kleinen See. Im Sommer blühten an seinem Ufer duftige Blaukissen und wilde, üppige Glockenblumen; heute aber hing Frost darüber, so fein und zart wie Spitze. Rings um den See dehnten sich gepflegte Rasenflächen mit jetzt winterlich kahlen Rosensträuchern, und jenseits davon trennte der braun wirbelnde Fluss den Garten vom eigentlichen Gestüt ab. Am Flussufer standen ein kleines Bootshaus und reihenweise Kirschbäume, deren verschwenderische Blütenpracht Kerry im Frühjahr jedes Mal aufs Neue entzückte.

Aber Eamonn wusste, dass es nicht der wunderschöne Garten war, der Kerry an Ashamber band, sondern die scheinbar endlosen grünen Weiden, die sich dahinter erstreckten. Als kleines Kind war sie häufig allein im hohen Gras umhergestreift und hatte sich vergnügt Ketten aus Gänseblümchen geflochten, während die Hälfte des Personals fast verrückt wurde vor Sorge, sie könnte in den Fluss gefallen und ertrunken sein.

Solche Befürchtungen bewahrheiteten sich nie. Das Kind fiel höchstens einmal in einen Heuhaufen, wurde nie von einem Pferd getreten oder gebissen, geriet nie in die Klingen eines Mähdreschers. Es war, als sei sie ein Teil von Ashamber selbst, sicher und geborgen in dieser natürlichen Umgebung. Eamonn erinnerte sich noch gut an ihre ersten Reitstunden in den Koppeln. Sie hatte auf einem stämmigen, ruhigen Pony namens Mick gesessen, mit dem sie bald frühreife Erfolge bei Kinderturnieren in der Gegend feierte. Und so ging es weiter. Je mehr Kerry zu einem jungen Mädchen wurde, desto innigere Bande schien sie mit dem Land selbst zu knüpfen. Jeden Morgen unternahm sie in aller Frühe einen Ausritt über die grünen Weiten, sprengte auf ihrer lebhaft schnaubenden Stute Zephyr mit weithin leuchtenden roten Haaren dahin, während nasse Klümpchen der saftigen Erde bis in ihr gerötetes Gesicht hinaufspritzten.

Dass Kerry auf Ashamber einmal in Eamonns Fußstapfen treten würde, stand von Anbeginn fest. Mit achtzehn sollte sie anfangen, mit ihm zusammen die Tiere zu trainieren und alles zu lernen, was man wissen musste, um Derby-Sieger heranzuziehen. Im Lauf der Jahre hatte sie, wenn sie in den Sommerferien auf dem Hof aushalf, schon manches nebenbei aufgeschnappt, aber ihre richtige Ausbildung sollte erst jetzt beginnen. Und ausgerechnet in diesem Moment hatte sie offenbar festgestellt, dass sie keine Lust darauf hatte. Eamonn war entsetzt.

Erneut flammte der Zorn in ihm auf. Er knallte die Terrassentür zu und schob seine widerspenstige Tochter hinüber zum Sofa, wo sie sich mit trotzigem Gesicht setzte. Er nahm einen Stuhl, drehte ihn um und ließ sich, die kräftigen Arme auf die elegante Rückenlehne aus Mahagoni gelegt, rittlings darauf nieder.

«Also, was zum Teufel willst du, Kerry? Willst du Ashamber nicht mehr, ist es das? Willst du doch keine Trainerin mehr werden? Willst auch keine Zucht mit mir aufbauen, willst am liebsten gar nichts mehr damit zu tun haben?»

Sie spürte, dass sich hinter seinem Zorn tiefe Enttäuschung verbarg. Beschwichtigend sah sie ihn an.

«Ach, Papa, so ein Unsinn. Du weißt, dass ich das alles will. Ich meine doch nur, dass ich noch mein ganzes Leben vor mir habe. Wenn ich nicht losziehe und mir ein bisschen was von der Welt anschaue, bevor ich hier versauere, könnte es sein, dass ich – dass ich explodiere!»

«Dahinter steckt dein verwünschter Bruder. Hätte ich mir ja denken können. Dein verflixter Zwilling, der sich überall einmischt und nur Ärger macht. Der hat dir diesen Unfug in den Kopf gesetzt, ganz klar.»

Das konnte und wollte Kerry nicht bestreiten. Brian, der mittlerweile seit drei Monaten in Paris lebte, hatte ständig angerufen und geschrieben und ihr so verlockende Dinge aus der Stadt der Lichter berichtet, dass sie jetzt wirklich darauf brannte, sich dort selbst einmal umzusehen. Bei seiner Abreise hatte Eamonn ihm eine letzte Verwünschung hinterhergeschickt und damit für sich einen Schlussstrich unter die ganze leidige Angelegenheit gezogen, nachdem er jahrelang vergebens gegen den Berufswunsch seines Sohnes, der Modeschöpfer werden wollte, gewettert hatte.

Eamonn reagierte nicht so, weil er seinen Sohn nicht liebte. Natürlich liebte er ihn. Aber der Junge war so still, so in sich gekehrt, er kam einfach nicht an ihn heran. Dass Brian Ashamber führen oder gar einen Erfolg daraus machen könnte, erschien ihm so gut wie ausgeschlossen. Der Junge war einfach aus anderem Holz geschnitzt – aus dem seiner Mutter. Also grummelte Eamonn nur missmutig, als Brian sich aufmachte nach Paris, um bei Yves Saint Laurent in die Lehre zu gehen und einer jungen Französin namens Lucienne de Veurlay den Hof zu machen. Lu und Kerry hatten sich in Sylvermore angefreundet, dem Internat in Galway, auf dem die eine Englisch und die andere gutes Benehmen lernen sollte. Seit Lu in den Sommerferien einmal nach Ashamber zu Besuch gekommen war, behauptete Brian steif und fest, sie sei die Liebe seines Lebens.

Brian ließ sich vom Spott seines Vaters nicht beirren und kam gut voran, sowohl in seiner Ausbildung als auch bei seiner Angebeteten. Seine Mutter Maeve war hin- und hergerissen; sie bedauerte zwar, dass ihr Sohn kein konventionelles Studium begonnen hatte, war andererseits aber entzückt, dass seine Wahl auf Lucienne gefallen war. Mit seiner ruhigen Art hätte Brian einen so guten Anwalt abgegeben, oder einen Arzt … Mode war ganz und gar nicht dasselbe, irgendwie unseriös, nach dem, was sie so gehört hatte. Lucienne aber war ein äußerst charmantes Mädchen, dessen Vater ein ausgedehntes Weingut an der Loire sein Eigen nannte, und das machte schon einiges wett.

«Ja, Papa. Brian hat tatsächlich viel damit zu tun. Aber weggegangen wäre ich auch so – wenn nicht nach Paris, dann irgendwo anders hin. Ich möchte etwas von der Welt da draußen mitbekommen! Außerdem, wäre es dir nicht lieber, ich tobe mich ein bisschen aus und bin zufrieden, wenn ich wieder nach Hause komme, statt dass ich hier mies gelaunt herumsitze und Trübsal blase?»

Bei allem Zorn darüber, dass seine Pläne durchkreuzt wurden, sah Eamonn ein, dass Kerry Recht hatte. Wenn er sie gegen ihren Willen hier behielt, würde sie nie glücklich werden und nie die richtige Einstellung haben, um Ashamber zu leiten. Außerdem lag es ihm fern, seine geliebte Tochter gegen ihre Wünsche festzuhalten. Er sollte sie wohl besser nach Paris lassen, damit sie endlich Ruhe gab.

Schweigend drehte und wendete er das Problem in Gedanken noch einmal nach allen Seiten, wie eine Münze in der Tasche seines derben Tweedsakkos, das Kerry von Kindesbeinen an vertraut war; sie vermutete dunkel, dass er dieses Sakko schon sein Leben lang trug.

«Also gut.» Seine Stimme klang rau. «Wenn du es dir so dringend wünschst, kannst du gehen.»

Mit einem Satz flog sie vom Sofa und umarmte ihn stürmisch. Ihre grünen Augen strahlten vor Erleichterung.

«Oh, Papa! Danke! Du bist so lieb zu mir, so ein Schatz!»

Eamonn hustete verlegen. «Schatz» wurde er eigentlich so gut wie nie genannt – nicht mal, wie er kurz überlegte, von seiner Frau. Besonders nicht von seiner Frau. Kerrys Umarmungen und Küsschen aber wogen jetzt, wie immer, all das auf, was zwischen Maeve und ihm fehlte. Er lächelte gerührt.

«Ach, mein Herzchen, will ich denn nicht immer nur dein Bestes? Würde ich dir je etwas abschlagen, wenn du es dir wirklich wünschst?»

Nein. Das war noch nie vorgekommen und würde auch nie vorkommen. Ihr Vater verstand sie intuitiv. Als Maeve sie nach Sylvermore schickte, hatte er wochenlang kein Wort mit ihr gesprochen. Noch heute, Jahre später, spürte Kerry den Bruch, den diese Sache zwischen ihren Eltern verursacht hatte. Doch kühl war die Beziehung von Eamonn und Maeve immer gewesen. Weshalb, wusste Kerry nicht; und sie wagte dieses Thema nicht anzusprechen, nicht einmal gegenüber ihrem Vater, obwohl sie vor Neugier fast umkam.

Sie drückte ihn noch einmal an sich, und Eamonn umarmte sie ebenso liebevoll, wobei ihm auffiel, wie weiblich der bislang kindlich schlaksige Körper seiner Tochter in letzter Zeit geworden war. Aus der Halbwüchsigen war eine richtige junge Dame geworden.

«Da wäre – da wäre nur eins, worum ich dich bitten möchte, Kerry.»

«Was denn, Papa?»

«Sag mir hier und jetzt, ganz ehrlich, wann und ob du überhaupt nach Hause zurückkommen willst.» Seine Stimme klang belegt.

Was für eine Frage. Natürlich würde sie zurückkommen. Irland, Ashamber und die Pferde, das war ihr Zuhause; in Paris wollte sie sich nur eine Atempause gönnen, bevor ihr wirkliches Leben anfing. Dass er an ihr zweifeln konnte, versetzte ihr einen kleinen Stich. Sie brach nie ihr Wort und hielt sich immer an die Abmachungen.

«Hör zu, Papa, heute ist der 27. Dezember. Gleich im Januar reise ich ab, mit Brian, und im Sommer bin ich wieder zurück. Sagen wir, am 1. Juli. Was meinst du dazu?»

Ausgezeichnet. Wenn ein Termin vereinbart war, wusste er, dass sie sich daran halten würde. Sein Lächeln besiegelte ihre Übereinkunft, und sie machten es sich zusammen auf dem Sofa gemütlich, um die Einzelheiten zu besprechen, die sie sich, wie er feststellte, schon gründlich überlegt hatte. Im Grunde war sie von Anfang an im Vorteil gewesen, hatte sie ihn doch mit dem Plan, den sie sich offenbar schon lange zurechtgelegt hatte, so überrumpelt, dass er zu einer überlegten Reaktion gar nicht imstande war. Schlaues Mädchen. Sie würde eines Tages eine prächtige Erbin all dessen abgeben, was er im Laufe seines vierundfünfzigjährigen, harten Lebens aufgebaut hatte. Was die Laraghys über sechs Generationen aufgebaut hatten.

«Und jetzt, mein Fräulein, wenn Paris mal kurz warten kann, müssen wir uns noch um eine andere Kleinigkeit kümmern.»

«Ach? Worum denn?»

«Komm mit und schau’s dir an.»

Gehorsam stand sie auf und folgte ihm, über die Steinfliesen der riesigen Eingangshalle, die zweihundert Jahre alte, abgenutzte Steintreppe hinunter und über die kiesbestreute Auffahrt seitlich um das Haus herum, wo sich die Schuppen, Garagen, Außengebäude und Lagerräume befanden.

Mit stolzem Lächeln öffnete Eamonn das Tor einer Garage, in der ihr Geburtstagsgeschenk stand: ein schnittiges Mercedes 380SLC Cabrio. Der Wagen war in der Vorwoche geliefert und seither zwischen Spaten, Gartenschläuchen und Spinnweben versteckt worden, bis zu diesem Augenblick, den er mit Kerry ganz für sich haben wollte. Es war zwar ein Geschenk von beiden Eltern, die Beschenkte aber gehörte, wie Eamonn gerne eifersüchtig überlegte, ihm und nur ihm allein.

Lange sagte Kerry kein Wort, starrte bloß wie gebannt das Cabrio an, als sei es womöglich nur ihrer notorisch blühenden Phantasie entsprungen und könne sich jederzeit in Luft auflösen. Aber das geschah nicht. Elegant und glänzend stand es dort, die grauen Ledersitze noch mit Plastikfolie überzogen, den Zündschlüssel im Schloss. Zum Geburtstag war sie immer schon mehr als großzügig beschenkt worden, selbst nach den Maßstäben ihrer begüterten Eltern. Einmal hatte sie ihre Stute Zephyr bekommen, ein anderes Mal ein Collier aus Diamanten und im Jahr darauf die passenden Ohrringe, und mit vierzehn den handgearbeiteten Sattel aus Mexiko, den sie sich so sehr gewünscht hatte. Aber das hier – das war einfach umwerfend. Ihr fehlten buchstäblich die Worte, sie spürte einen Kloß im Hals, und widersinnigerweise schossen ihr sogar Tränen in die Augen. Das war mehr als ein Auto. Es war ein Zeichen der Anerkennung, dass sie jetzt erwachsen und unabhängig war. Mit diesem Wagen waren ihrer Unternehmungslust keine Grenzen mehr gesetzt.

«Papa. O Papa.»

Eamonn lächelte übers ganze Gesicht.

«Tja, Fräulein, wer sich die Welt anschauen will, sollte das am besten stilvoll tun, nicht wahr?»

Vor nicht einmal sechs Wochen hatte Kerry die Führerscheinprüfung bestanden, eins der diversen Ziele, die sie sich nach ihrem Schulabschluss im Juni gesetzt hatte. Beim ersten Anlauf war sie zu ihrer Empörung durchgefallen und hatte von dem Prüfer den gut gemeinten Rat erhalten, sich vor dem nächsten Versuch das leichtsinnige Rasen abzugewöhnen. Innerlich brodelnd vor Zorn absolvierte sie die zweite Prüfung im Schneckentempo – jedenfalls schien es ihr so. In diesem Flitzer aber würde sie wohl nur selten so langsam dahinschleichen.

«Ich fasse es nicht. Na los, Papa, steig ein – wir holen Brian ab!»

Brian sollte mittags am Flughafen Dublin eintreffen. Nachdem er die Weihnachtstage mit Lu auf dem Château ihrer Eltern verbracht hatte, wollte er an seinem Geburtstag und an Silvester zu Hause sein. Kerry hatte vorgehabt, ihn mit Eamonns altem nougatbraunen Jaguar abzuholen. Aber das hier war natürlich viel besser. Brian würden die Augen aus dem Kopf fallen.

Doch Eamonn schüttelte bedauernd den Kopf. Es war kurz vor elf, und um diese Uhrzeit suchte er jeden Tag seine Frau in ihrem blauen Salon auf, wo sie sich über die Rechnungsbücher beugten und geschäftliche Fragen mit der Verbissenheit zweier Generäle erörterten, die gemeinsam die Strategie einer Schlacht ausarbeiteten. Zumindest in dieser Hinsicht waren sie sich einig: Ashamber hatte Vorrang, ganz gleich, wie es um ihre Beziehung stand. Es war das einzige Zusammentreffen mit Maeve, vor dem Eamonn nicht graute, im Gegenteil: Er bewunderte ihren Geschäftssinn und ihre Weitsicht, auch wenn sie ihm ständig das Gefühl vermittelte, ein kleiner Junge zu sein, der sich beim Schuldirektor entschuldigen muss.

«Tut mir Leid, Liebes, aber du weißt, deine Mutter darf ich nicht warten lassen. Fahr ruhig und hol ihn allein ab. Führ mir nur kurz vor, ob du mit dem Wagen klarkommst, und dann winke ich dir an der Auffahrt nach.»

Es handelte sich weniger um eine Auffahrt als um eine Allee von fast einer Meile. Kerry würde längst außer Sichtweite sein, bevor sie die schmiedeeisernen Tore erreichte, die Ashamber seit zweihundert Jahren behüteten. Dann ging es flott nach Dublin, wo der Verkehr vielleicht etwas, na ja … Kerry beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie das schon hinbekommen würde, da es alle anderen ja auch hinbekamen. Sie küsste ihren Vater auf die Wange, öffnete die Autotür und setzte sich ans Steuer, wobei Eamonn auffiel, wie gut seiner langbeinigen Tochter diese neumodischen Miniröcke standen.

Im nächsten Moment schnurrte der Motor, und Kerry grinste, mehr als zufrieden mit sich selbst, zu ihm hoch.

«Keine Angst, Papa! Das schaffe ich schon. Sag Mama, zum Mittagessen sind wir pünktlich zurück – und erzähl ihr auch das mit Paris, einverstanden?»

Geschickt legte sie den Gang ein, trat aufs Gaspedal und flitzte davon, während Eamonn leicht verwirrt auf dem Kiesweg stand. Ihm fiel also die Ehre zu, Maeve über Kerrys Pläne zu unterrichten? Da hatte sich aber jemand elegant aus der Affäre gezogen. Eamonn lachte vor sich hin und ging kopfschüttelnd ins Haus zurück.

In ihrem neuen Wagen probierte Kerry eine verwirrende Anzahl von Knöpfchen und Schaltern aus, konnte aber die Heizung nirgends finden. Doch das spielte keine Rolle, denn das Verdeck war oben, und sie glühte ohnehin vor Freude und Aufregung. Sie schaltete das Radio an, stellte einen Popsender ein, auf dem gerade «Paint It Black» von den Stones lief, und gab Gas.

 

In ihrem blauen Salon betrachtete Maeve Laraghy nachdenklich den schweren runden Briefbeschwerer aus Glas, der ein paar Veilchen und ein Maiglöckchen in sich barg. Häufig fragte sie sich, ob diese Blumen echt waren. Zumindest wirkten sie echt, nur, wie hielten sie sich in ihrem Gefängnis so frisch? Vielleicht waren sie irgendwie behandelt worden, um unvergänglich zu werden, mit Lack oder Wachs oder so etwas.

Sie nahm den Briefbeschwerer in die Hand und drehte ihn in ihren gepflegten, schlanken Fingern. Das Glas fühlte sich kühl an, massiv. Nein. Die konnten nicht echt sein. Oder? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Maeves Gesicht zeigte keine Regung bei dem Gedanken, der ihr nicht mehr annähernd so furchtbar erschien wie beim ersten Mal, als er ihr in den Sinn gekommen war. Sie wollte den Briefbeschwerer zertrümmern, um sich die Blumen genauer anzusehen – und zwar mit einem einzigen gezielten Hieb gegen Eamonn Laraghys Schädel, diesen harten, dicken, von Wind und Wetter gegerbten und immer spärlicher behaarten Schädel, der sie zunehmend an eine Kokosnuss erinnerte. Und genauso schwer zu knacken war, bildlich gesprochen.

Seltsam mitgenommen von der lautstarken Auseinandersetzung zwischen Eamonn und Kerry, die sie soeben mitbekommen hatte, ließ sie sich in ihren weich gepolsterten Schreibtischstuhl zurücksinken. Ihr Mann ahnte ja gar nicht – und würde es auch nie erfahren –, wie viel Angst er ihr einjagte. Diese wild rollenden eisgrauen Augen, diese grässlich laute Stimme … sie lächelte matt. Ihre eher gedämpfte Stimmlage machte ihn verrückt. Es brachte ihn fast zum Wahnsinn, wie leise und beherrscht sie stets mit ihm sprach. Selbst nach all den Jahren hatte er sich nicht daran gewöhnt, erwartete er doch von seinen Diskussionspartnern, dass sie ihm stimmlich mit gleicher Münze heimzahlten, so wie Kerry gerade. Wie sollte er sich richtig mit einer Frau streiten, die niemals laut wurde? So war sie von Anfang an im Vorteil, und bis heute begriff er nicht, wie sie das anstellte, oder warum. Deshalb ließ er es auch selten auf eine Auseinandersetzung mit ihr ankommen. Ein handfester Krach mit den Pferdepflegern, Arbeitern, Fahrern oder Verwaltern war ihm jederzeit lieber.

Heute aber gab es keinen Grund zum Streiten. Leise seufzend legte sie den Briefbeschwerer aus der Hand und entschied, der Meinungsverschiedenheit zwischen Vater und Tochter kein Gewicht beizumessen. Anscheinend hatten die beiden ja auch alles geklärt. Vier ordentliche Unterlagenstapel vor ihr auf dem Chippendale-Schreibtisch forderten ihre Aufmerksamkeit. Maeve war auf Ashamber für die Finanzen zuständig. Sie erledigte die gesamte Buchhaltung, überwachte jede Transaktion und schob Eamonns verschwenderischen Anwandlungen einen Riegel vor. Sie liebte die säuberlichen Zahlenreihen, die sie mit ihrer peniblen Handschrift in blaue Hauptbücher eintrug, und freute sich alljährlich regelrecht auf den Besuch des Steuerprüfers, so wie andere Frauen sich darauf freuten, auf der Rennbahn am Tag des Derbys mit eleganten neuen Hüten Champagner zu schlürfen. Der Sieg war ihr jedes Jahr gewiss.

Maeve hatte ein angeborenes Talent für alles Geschäftliche. In einem anderen, späteren Zeitalter hätte sie es zu einer Unternehmerin oder gar Magnatin bringen können, die das Börsengeschehen aufmischte. Leider hatte sie das Pech, zu früh geboren zu sein, im Winter 1920. Doch der Erfolg hier auf Ashamber genügte ihr vollauf. Sie ließ sich nicht auf die spektakulären Risiken ein, die Eamonns Freunde aus der Rennwelt so gerne eingingen, aber sie hatte einen untrüglichen Riecher für vielversprechende Anlagemöglichkeiten.

Wenn Eamonn das Herz von Ashamber war, war Maeve das Hirn. Sie fand große Befriedigung in der Arbeit, die neben ihren Pflichten als Mutter und Dame der Gesellschaft einen Großteil ihrer Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchte. Vor ihrer Hochzeit, als junges Mädchen, hatte Maeve gerne Klavier gespielt und sich mit den Werken von John Stuart Mill, Bertrand Russell und Maynard Keynes beschäftigt. Damals war sie voller Wissbegier gewesen. Heute jedoch verzichtete sie auf derlei Ablenkung, jedwede Träumerei oder Ähnliches, um nicht darüber ins Grübeln zu geraten, wie sie Eamonn Laraghy überhaupt hatte heiraten können.

Nur einmal hatte sie das ehrlich beantwortet, und zwar am Tag vor der Hochzeit, als sie komplett die Nerven verloren und ihrer Mutter gestanden hatte, dass sie nur des Geldes wegen heiratete. Eine geschäftliche Transaktion, mehr nicht. Dafür, dass er sie von einem verarmten, bürgerlich-protestantischen Leben in einem verschlafenen Kaff erlöste, bekam Eamonn eine pflichtbewusste, aufmerksame und tüchtige Ehefrau; alles in allem ein fairer Handel. Maeves verwitwete Mutter war zwar nicht völlig mittellos gewesen, aber dennoch arm, und in gewisser Weise war es schlimmer, sehr wenig Geld zu haben, als gar keins.

Wenn man wirklich arm war, kümmerten sich die Leute um einen. Iren im Norden wie im Süden freuten sich über Menschen, die auf der Leiter eine Sprosse tiefer standen als sie selbst, boten diese ihnen doch Gelegenheit, sich überlegen zu fühlen und zur Abwechslung Almosen zu geben, statt sie, wie sonst immer, selbst von den Briten zu erhalten. So konnte man sich der Armut getrost überlassen, da andere einen schon nicht verhungern lassen würden.

Wenn aber eine Familie einst Geld gehabt und es dann nach und nach verloren hatte – das war schlimm. In diesem Fall musste man selbst sehen, wo man blieb, und mit neunundzwanzig Jahren wusste Maeve, dass sie dazu einen Mann brauchte. Und zwar umgehend, wenn sie nicht für den Rest ihres Lebens ledig bleiben und Pullover strickend versauern wollte. In dem nordirischen Städtchen Lisburn waren verarmte, nicht mehr ganz junge Damen, die einen Mann mit ihrem überlegenen Verständnis wirtschaftlicher Prinzipien das Fürchten lehren konnten, nicht allzu gefragt.

Da sie mit ihrem Wissen naiverweise nicht hinter dem Berg hielt, hatte Maeve bereits zwei junge Männer in die Flucht geschlagen. Wenn sie ihr Geschick doch noch zum Besseren wenden wollte, das leuchtete ihr ein, würde sie ihre eigenen Interessen zurückstellen müssen. Außerdem müsste sie sich aus ihrem engen protestantischen Umfeld in Nordirland lösen und einen Katholiken in Betracht ziehen – notfalls sogar einen Katholiken aus Südirland.

Maeve bemerkte nicht, dass ein bitterer Zug um ihre Lippen spielte, während sie jetzt, das Kinn auf die Hände gestützt, den Blick auf den Briefbeschwerer gerichtet, über all das nachsann.

Dabei hasste sie Eamonn nicht einmal. Sie nahm es ihm, ebenso wie im Grunde allen Männern, lediglich übel, sie an der Verwirklichung ihrer Träume gehindert zu haben. Männer pickten sich im Leben ganz selbstverständlich die Rosinen heraus und überließen den Rest mit widerlicher Gönnerhaftigkeit ihren Frauen. Die Kinder, den Haushalt, die ganze Schufterei, für die sich die meisten Frauen auch noch bei ihrem Schicksal bedankten. Maeve war sich bewusst, dass sie Glück hatte. Sie musste nicht den lieben langen Tag kochen und putzen und konnte ihren Kopf gebrauchen, und sei es nur im Dienste ihres Ehemanns, der eine erstklassige Buchhalterin bitter nötig hatte. Ein Studium aber, womöglich sogar an der London School of Economics, diesem Wissenstempel, von dem sie lange geträumt hatte, war ihr verwehrt geblieben.

Eins allerdings musste sie Eamonn Laraghy zugestehen, auch jetzt noch: Nie stellte er ihre Intelligenz infrage. Vielleicht hatte er schon am Anfang erkannt, wie nützlich sie ihm werden könnte, vielleicht hatte er in Anbetracht ihrer anderen Vorzüge auch einfach beschlossen, sie zu übersehen. Sie war anmutig, ungleich kultivierter als die eher rustikale Sorte Mädchen, die Kilbally bevölkerte, und würde vorzüglich an die Spitze eines Betriebs passen, der im Jahr 1949 einen gewaltigen Aufschwung zu nehmen begann. Eamonn war klar, dass er eine Frau brauchte, die ihrer Rolle gerecht werden könnte, sich als liebenswürdige Gastgeberin bewährte, stilvoll kleidete und seinen großen, geschäftigen Haushalt führte, ohne ihn mit jeder kleinen Lappalie zu behelligen. Sein Bereich war die «richtige» Welt, während seine Frau ihr häusliches Reich zu verwalten hatte, geräuschlos und unsichtbar.

Ihr ganzes Leben schien sich nur um Männer und ihre Bedürfnisse zu drehen, speziell um Eamonn. Wie unfair und absurd das war: Wie viele tausend Frauen mochten ihre Talente und Träume unter Bergen von Wäsche begraben? Eine fürchterliche Vergeudung, und die puritanisch erzogene Maeve hasste Vergeudung. Gleichwohl hatte sie ihren Teil der Abmachung mit Eamonn Punkt für Punkt erfüllt, war nach der Hochzeit zum katholischen Glauben übergetreten, hatte in Kilbally die richtigen Freundschaften geknüpft und sogar auf regelmäßigen Kirchgang gepocht. Eamonn sträubte sich dagegen, musste aber wohl oder übel mitgehen, um den Eindruck zu vermeiden, seine Ehe stecke in Schwierigkeiten – dabei war genau dies bald der Fall.

In einem so kleinen Ort blieben ihre Probleme nicht unbemerkt, und es wurde geredet. Am Ende kam Eamonn gar nicht mehr mit zur Messe, wohingegen sie am Kirchgang festhielt, öffentlich ihre Frömmigkeit demonstrierte und ihn so nebenbei auch noch als Heiden bloßstellte. Dass sie ihm noch viel mehr hätte schaden können, kam ihm gar nicht in den Sinn.

Beispielsweise hätte sie riesige Geldsummen abzweigen können, ohne dass er es je bemerkt hätte. Aber man biss nicht die Hand, die einen fütterte, und Maeve verachtete Menschen, die ihre Schulden nicht beglichen. Mit solchen Leuten machte sie keine Geschäfte, und sie sah keinen Grund, warum sie in einer Ehe, die im Grunde auch nur ein Geschäft war, anders verfahren sollte.

Sie hätte auch ein Leben im Müßiggang führen können wie so viele Ehefrauen in ihrer Umgebung, sich zum Schein ein wenig mit Wohltätigkeitsarbeit abgeben können, um die teure Garderobe, den Schmuck, die Schönheitspflege und die Reisen zu rechtfertigen. Für Maeve aber bedeutete Geld einfach nur Sicherheit, Status und einen gewissen Einfluss. Es bereitete ihr großes Vergnügen, die Ausgaben ihres Mannes zu beschneiden, es vermittelte ihr ein Gefühl von Macht, das sie auch nach neunzehn Jahren noch genoss.

Kinder kamen in Maeves Lebensplanung nur am Rande vor, wenn ihr natürlich auch klar war, dass sie wohl oder übel welche bekommen müsste. Die Mitteilung, dass sie Zwillinge erwartete, war ihr mehr als willkommen. Zwei zum Preis von einem sozusagen, damit konnte sie ihre Pflicht auf einen Schlag erfüllen. Die Schmerzen bei der Geburt waren so grässlich, dass sie sich schwor, diese Erfahrung nie mehr zu wiederholen.

Trotzdem war sie eine fähige Mutter, das stand außer Zweifel. Sie sprach mit den Lehrern, putzte die Zwillinge allerliebst heraus, sorgte dafür, dass sie Musik- und Ballettstunden nahmen, zum fünften Geburtstag beide ein Pony bekamen und regelmäßig Freundinnen und Freunde nach Hause einluden. Die Kinder waren gut erzogen, diszipliniert und geimpft und machten ihr alle Ehre, so die einhellige Meinung – wenn sie es auch insgeheim schade fand, dass Brian so hübsch geraten war, während Kerry mit sehr roten Haaren und einem aufbrausenden Temperament gestraft war, das sie als Halbwüchsige zum Schrecken aller Jungen im Ort machte. Welcher junge Mann es einmal mit Kerry aushalten sollte, war Maeve schleierhaft.

Die Leute im Dorf fanden es sonderbar, dass die Laraghys nur zwei Kinder hatten. Das kam ja bei reichen Leuten öfter vor, merkwürdig, wie die das wohl anstellten … aber Mrs. Laraghy war ja auch schon über dreißig und sehr auf ihre Figur bedacht, und Eamonn hatte immer schon eher eine Schwäche für dralle, lebenslustige Mädchen … Maeve bekam das Gerede zwar mit, lernte aber, es einfach zu überhören.

Anfangs, als die Zwillinge noch klein waren, war Eamonn ein begeisterter Ehemann. Wann immer eine seiner häufigen Reisen ins Ausland bevorstand, lud er Maeve ein, mitzukommen; sie müsse nicht mit auf die Rennbahn, könne sich nach Lust und Laune amüsieren, einkaufen gehen oder was auch immer. Ein untreuer Ehemann hätte wohl kaum solche Einladungen ausgesprochen. Mittlerweile aber hatte er das ganz aufgegeben.

Zum Glück. Maeve ließ ihren Alltag ungern durch diese Reisen auf den Kopf stellen, und sie hatte nichts für die lauten Freunde ihres Mannes übrig. Am meisten aber missfiel ihr, dass ihr Mann auf solchen Reisen ihre ehelichen Beziehungen zu erneuern versuchte, was in plumpe sexuelle Annäherungsversuche mündete. Eamonn war nie aggressiv, aber hartnäckig, und es hatte lange gedauert, bis er es endlich verstanden hatte. Wie so vielen Frauen ihrer Generation erschien es Maeve unvorstellbar, dass ein Mann im Bett auch zärtlich und rücksichtsvoll sein konnte. Eamonn hatte davon offenbar ebenfalls nie gehört. Also kamen sie im Bett verbissen und ohne jedes Vergnügen ihrer Pflicht nach, bis die Geburt der Zwillinge sie endlich von dieser unerfreulichen Sache erlöste.

Lag dieser schreckliche Tag im Kreißsaal tatsächlich schon achtzehn Jahre zurück? Versonnen fuhr Maeve mit dem Zeigefinger über die goldbossierte Schreibtischauflage, folgte den Furchen und Kerben im Leder. Zumindest ihre Tochter würde es besser haben. Kerry müsste nie mit einem Mann das Bett teilen, der im Vergleich zur London School of Economics nur zweite Wahl war.

Sie schrak heftig zusammen, als es laut an der Tür klopfte und Eamonn gleich darauf ins Zimmer kam. Anklopfen hatte er zwar gelernt, aber warten konnte er immer noch nicht.

Sie verzog leidend das Gesicht, als er mit seinen nassen Stiefeln über ihr glänzendes Parkett stapfte; er wiederum knurrte unwillig, als der chinesische Läufer unter ihm verrutschte und er unsanft auf dem zierlichen Stilsofa landete, auf dem er sich lächerlich fühlte. Wann würde diese Frau sich endlich ein anständiges Sofa ins Zimmer stellen und diesen vermaledeiten Läufer am Boden fixieren? Scheinbar nie! Wie es seine Art war, kam er gleich zur Sache.

«Ich habe Kerry ihr Auto gegeben. Sie war völlig aus dem Häuschen und ist gleich damit losgefahren, um Brian abzuholen.»

Maeve versetzte es einen kleinen Stich. Er hätte ruhig warten und sie an der Freude ihrer Tochter teilhaben lassen können. Aber – das war eben Pech, zu spät. Maeve hielt sich schon lange nicht mehr mit Unabänderlichem auf.

«Und da ist noch was. Sie will nicht sofort mit mir anfangen, die Pferde zu trainieren. Will ihren Bruder im Januar nach Paris begleiten und sich dort erst mal ein halbes Jahr amüsieren.»

Eamonn hielt inne, um zu sehen, wie seine Frau diese Neuigkeit aufnahm. Einerseits kam das überraschend, und Maeve hatte es gern, wenn alles nach Plan lief. Aber mit der stillschweigenden Übereinkunft, dass Kerry gleich nach ihrem achtzehnten Geburtstag mit dem Training von Rennpferden beginnen sollte, war Maeve im Grunde nie so recht einverstanden gewesen. Tatsächlich schien der Aufschub ihre Zustimmung zu finden. Eamonn war erleichtert, den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht zu entdecken.

«Nun, meinen Segen hat sie jedenfalls, Eamonn, und deinen hoffentlich auch. Das Mädchen ist noch sehr jung. Sie muss sich ein bisschen in der Welt umsehen, bevor sie sich eine so schwere Last wie Ashamber aufbürdet.»

Er nickte. «Ja. Sagt sie auch. Das kann ich schon nachvollziehen. Ich habe ihr grünes Licht gegeben, vorausgesetzt, sie kommt anschließend wieder nach Hause und kniet sich dann voll in die Arbeit.»

«Schön. Freut mich, dass du so vernünftig denkst.»

Wieder spürte Maeve einen kleinen Stich. Hätte das Mädchen denn nicht erst zu ihr kommen können? Nein. Immer nur ihr Vater. In allem kam er bei ihr an erster Stelle. Sicher, Brian hielt mehr zu ihr, aber weh tat es trotzdem, ein ganz klein wenig.

Beim Blick auf den Terminkalender kam ihr eine Idee.

«Eamonn – unsere Silvesterparty am Samstag. Warum funktionieren wir die nicht zu einer Abschiedsfeier für Kerry um? Es ist schon alles organisiert, wir könnten einfach noch ein paar Leute mehr einladen und für ein bisschen mehr Glanz sorgen, damit sie schon mal einen Vorgeschmack auf Paris bekommt.»

Ein bisschen mehr Glanz. Eamonn wusste, was damit gemeint war. Er müsste seinen affigen Anzug tragen, lauter beschränkte Leute anlächeln und so tun, als könne er immer noch tanzen wie ein junger Gott. Na, egal. Wenn es Maeve ein Lächeln aufs kalte Gesicht zauberte und Kerry noch dazu eine Freude bereitete, dann bitte schön. Er zuckte mit den Schultern.

«In Ordnung, Maeve. Wie du meinst, ganz wie du meinst.»

 

Sergeant Mulligan saß in der Zwickmühle. Normalerweise verteilte er ungern Strafzettel an Leute aus der Gegend. Aber an Leute, die aus Richtung Dublin wie die Irren nach Cork oder Limerick rasten, schon. Wer in solchem Tempo auf Landstraßen unterwegs war, verdiente einfach einen Strafzettel. Und Sergeant Mulligan verstand außerdem beim besten Willen nicht, warum man nach Cork oder Limerick derartig rasen musste. Wenn die Leute von dort Reißaus nehmen würden, hätte er das weit eher verstanden. Bei Einheimischen allerdings, die er schon von Kindesbeinen an kannte und die nur im äußersten Notfall die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten, drückte er auch mal ein Auge zu.

Doch so ein dreistes Rowdytum war ihm sein Lebtag noch nicht untergekommen. Kerry Laraghy natürlich. Hätte er sich denken können. Hatte kaum den Führerschein in der Tasche und raste schon mit hundertachtzig Sachen durch die Gegend. Um ein Haar hätte sie ihn mitsamt seinem Fahrrad umgefahren, als sie rasant an der Kreuzung bremste, wo er gerade an der Ampel wartete. Sergeant Mulligan fand, dass er es schon schwer genug hatte, auch ohne dass die Leute sein Leben gefährdeten. Es war kalt und fing gerade an zu schneien, und das schlug ihm zusätzlich auf die Laune.

Die gesamte Situation erboste ihn. Während er, ein Mann von beinahe sechzig Jahren, an einem eisig kalten Dezembertag auf einem armseligen Drahtesel unterwegs war, fuhr dieses Gör in einem schicken weißen Mercedes durch die Gegend, grinste frech und ließ nicht einen Hauch von Reue erkennen. Höchste Zeit, dass sie mal von jemandem in die Schranken gewiesen wurde. Er zückte seinen Protokollblock.

«So, junge Dame, und was haben wir als Entschuldigung vorzubringen? Sie rasen hier bei Nässe wie eine Wilde über die Hauptstraße und gefährden damit sich selbst und alle anderen!»

Auf dem Beifahrersitz saß ihr Bruder, der viel umgänglicher und ruhiger als sie war. Aber sie saß selbstverständlich am Steuer, wohin ihr vernarrter Vater sie vermutlich am liebsten schon am Tag ihrer Geburt gesetzt hätte. Noch dazu war sie vorlaut und patzig.

«Wirklich, Sergeant? Na so was, ist mir gar nicht aufgefallen. Ist das nicht ein toller Wagen?» Das freche Ding zwinkerte ihm doch tatsächlich zu! «Habe ich zum Geburtstag bekommen. Ich werde nämlich heute achtzehn. Sie verpassen mir doch keinen Strafzettel, oder?»

Sie lächelte so entwaffnend, ihr Ton war so bittend, dass Sergeant Mulligans Stift ein wenig zitterte, als er ihn über sein Blöckchen führte. Dieser Lippenstift war ja geradezu unanständig rot – und dann trug sie auch noch passende kirschrote Handschuhe! Die Kälte war schuld daran, dass er so zitterte, entschied er kurzerhand.

«Das tue ich ganz bestimmt, Miss Laraghy. Sie brauchen mich gar nicht so frech anzugrinsen, und gewöhnen Sie sich ein wenig Respekt vor Älteren an, wenn Sie schon dabei sind.»

Jetzt erst fiel ihm die Kiste besten Whiskeys ein, die ihr Vater ihm alljährlich an Weihnachten zu schicken pflegte. Erst vor drei Tagen hatte er die letzte Kiste erhalten. Na, egal. Bis nächstes Jahr wäre die Sache hier längst vergessen, und außerdem konnte er einen Strafzettel nicht rückgängig machen, wenn er schon begonnen hatte, ihn auszustellen. Übellaunig riss er ihn von dem Blöckchen ab.

«Bitte sehr, lassen Sie es sich eine Lehre sein. Und lassen Sie sich am besten nicht noch einmal von mir beim Rasen erwischen.»

Kerry war leicht beunruhigt. Papa würde natürlich nichts sagen, aber Mama würde ihr Vorträge halten, einen Elefanten aus dieser Mücke machen, ihr vielleicht sogar den Wagenschlüssel abnehmen. Verflixt!

Unfreundlich riss sie Sergeant Mulligan den Strafzettel aus der Hand.

«Na prima, Sergeant, verderben Sie mir ruhig den Geburtstag, wenn Sie unbedingt müssen. Aber ich finde das unheimlich gemein von Ihnen. Und das nach dem tollen Whiskey, den mein Vater Ihnen geschickt hat. Der wird stinksauer sein.»

 

«Kerry, das errätst du nie. Ich habe um Lus Hand angehalten, und sie hat ja gesagt. Wir werden heiraten.»

Oh nein. Doch nicht mit achtzehn! Die beiden waren viel zu jung. Er sollte sich doch nur mit Lu amüsieren und sich nicht fürs Leben an sie binden. Kerry verzog unwillkürlich das Gesicht.

Feierlich neigte er sich vor und gab ihr einen Kuss auf die mit Sommersprossen übersäte Wange.

«Sag mal, Brian, du hast sie doch wohl nicht etwa geschwängert, oder?»

«Nein. Aber Lus Eltern sind einverstanden, und wir wohnen sowieso schon zusammen, warum also noch warten?»

«Liebt sie dich auch wirklich, Brian? Bist du dir sicher?»

Er lächelte, ein hilfloses, rührendes Lächeln, und Kerry begriff, dass ihr Bruder hoffnungslos verliebt war. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Er strahlte. Mochte sie auch Vorbehalte haben, ihre guten Wünsche bedeuteten ihm schon sehr viel.

«Ich werd’s versuchen. Aber ich habe Papa heute selbst schon einen kleinen Schock versetzt. Ich an deiner Stelle würde ihm beim Essen immer schön nachschenken.»

So fuhren sie, vorbei an kahlen Bäumen, die sich unheilvoll vor dem bleigrauen Himmel abzeichneten, bis es endlich vor ihnen auftauchte: Ashamber. Grau, rechteckig und an diesem Wintertag seltsam düster erhob es sich am Ende der langen, gewundenen Eschenallee. Brian wappnete sich im Stillen, als müsse er vor ein Erschießungskommando treten.

Das Kristallglas fiel aus Eamonns Hand und zerschellte auf dem Fußboden. Mit Zornesröte im Gesicht war er aufgesprungen.

«Verlobt, Papa. Mit Lucienne.» Brians Stimme war leise und klang furchtsam.

«Ach, Papa, du erinnerst dich doch. Sie war mit Kerry im Internat, und letztes Jahr war sie im Sommer hier zu Besuch.»

«Brian, hör zu. Du bist noch sehr jung und unerfahren. Du hast keinen blassen Schimmer von Frauen oder von der Ehe, und du wirst diese – diese Person, oder auch sonst wen, frühestens mit fünfundzwanzig heiraten. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?»

«Aber Papa – wir lieben uns – wir –», stammelte er.

«Das reicht jetzt! Ich will kein Wort mehr davon hören, verdammt!»

«O Papa, er wird doch heute volljährig, und Lucienne ist eine sehr –»

Sie waren zu weit gegangen. Kerry lenkte ein.

Bekam Brian auch ein Auto? Eamonn wäre durchaus imstande, es jetzt im Fluss zu versenken. Zaghaft umarmte sie erst ihn und dann ihre Mutter, die darauf mit kühler Zurückhaltung reagierte. Maeve hatte ihre Kinder körperlich immer auf Distanz gehalten, und Kerry bekam eine erste Ahnung, worin die Schwierigkeiten ihrer Eltern bestehen mochten, als sie ihre Mutter losließ. Vermutlich lief es im Bett nicht. Aber eine Tochter ging so etwas ja eigentlich nichts an.

«Also wirklich, Brian ist gerade erst nach Hause gekommen. Könnten wir uns nicht ein andermal streiten? Eamonn, beruhige dich. Brian, Liebling, lass das Thema für heute auf sich beruhen.»

«Reden wir lieber über etwas anderes. Unsere Silvesterparty. Euer Vater und ich haben beschlossen, dieses Jahr besonders groß zu feiern, weil ihr volljährig werdet und weil Kerrys Reise bevorsteht. Bei der erstklassigen Akustik hier im Haus können wir ein kleines Orchester engagieren, wir könnten Lichterketten zwischen den Bäumen spannen, für eure Freunde könnte vielleicht sogar eine Rockband spielen … na?»

Die Stimmung am Tisch entspannte sich nach und nach. Aber Eamonn atmete unverändert schwer, während Brian einen trotzigen Gesichtsausdruck zur Schau trug, den Kerry bei ihm noch nie gesehen hatte.