image

Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold
Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Bruno Hildenbrand

Genogrammarbeit für
Fortgeschrittene

Vom Vorgegebenen
zum Aufgegebenen

2018

image

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlagmotiv: Daniela Indenbirken

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2018

ISBN 978-3-8497-0242-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8154-5 (ePUB)

© 2018 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten haben, abonnieren Sie den Newsletter unter http://www.carl-auer.de/newsletter.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 69115 Heidelberg

Tel. + 49 6221 6438-0 Fax + 49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

Inhalt

Vorwort

1Von der Einführung in die Genogrammarbeit zur Genogrammarbeit für Fortgeschrittene

1.1Anschluss an Vorhandenes

1.2Vorgeschichte, Teil 1

1.2.1Fallverstehen in der Begegnung im Rahmen von Genogrammarbeit

Konzepte

Ein Beispiel für das Mustererkennen

Das Muster als Apparat, der die Handlungsorientierungen und -entscheidungen des Falls tagtäglich hervorbringt: Theoretische Grundlagen

Andere Ansätze des Mustererkennens

1.3Persönliche Geschichte

1.4Woher rühren die Schwierigkeiten beim Mustererkennen? Eine wissenschaftsgeschichtliche Perspektive

1.5Vorgeschichte, Teil 2, und Schluss

1.6Menschenbild

1.6.1Einführende Bemerkungen

Entwurfshandeln

Möglichkeiten

1.6.2Gesellschaftsbild

1.7Sequenzanalyse als methodische Konsequenz des Menschenbilds, das der hier beschriebenen Form von Genogrammarbeit zugrunde liegt

1.7.1Fallbeispiel: Familie Coppi im blockierten Rückkehrprozess

1.8Abgrenzung zu vorhandenen Konzepten der Genogrammarbeit, Spezifika meines Zugangs

1.9Praktische Erwägungen

1.9.1An welcher Stelle im Prozess von Beratung und Therapie erscheint die Genogrammarbeit?

1.9.2Praktische Durchführung der Genogrammarbeit

1.9.3Vom Gebrauch der Genogrammarbeit

1.10Zu guter Letzt

1.11Exkurs: Wissenschaftliche und philosophische Grundlagen der Genogrammarbeit im hier verstandenen Sinn

1.11.1 Deuten und Verstehen

1.11.2 Deuten und Verstehen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive

1.11.3 Abduktives Schließen

Ein Fallbeispiel aus der Supervision: Der entlaufene Affe

Abduktiver Schluss und der Witz

1.11.4 Genogrammarbeit und radikaler Konstruktivismus

2Vornamen als Deutungsressourcen bei der Genogrammarbeit

Übersicht

2.1Haben Vornamen einen Sinn?

2.2In welchem Verhältnis stehen Vornamen zur sozialen Ordnung?

2.3Sagen Vornamen etwas über die soziale Zugehörigkeit ihres Trägers aus?

2.3.1Vornamen sind zur Gestaltung aufgegeben

2.3.2Milieuspezifika bei der Vergabe von Vornamen

2.4Spezifika der Vergabe von Vornamen der ehemaligen DDR

2.5Genogramme und das Rhizom

2.6Vornamen in der Begegnung von Kulturen

2.6.1Vornamen im Prozess der Migration

2.6.2Vornamen im Migrationsprozess: Wenn die Obrigkeit die Sache selbst in die Hand nimmt

2.6.3Vornamen im Judentum

2.6.4Fazit: Die Praxis der Vergabe von Vornamen ist nur eine begrenzte Deutungsressource bei der Rekonstruktion von Genogrammen

2.7Strategische Vergabe von Vornamen

2.7.1Politik mit Vornamen in Dynastien

2.7.2Politik mit Vornamen im Familienunternehmen

2.7.3Vornamen im Familienkonflikt

2.8Zusammenfassung: Vornamen als heuristische Ressource, das Vorgegebene und das Aufgegebene

3Geschwisterbeziehungen

Übersicht und grundlegende Unterscheidungen

3.1Geschwisterbeziehungen in konventionellen Familien

3.1.1Anschluss an soziologische Grundsatzüberlegungen: Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe (Georg Simmel)

Einzelkind

Zwei Geschwister

Beziehung zu dreien

Geschwistergruppen

3.1.2Geschwisterbeziehungen bei mehr als drei Geschwistern

Exkurs zur Verwendung von Fotos bei der Genogrammarbeit

3.1.3Geschwisterbeziehungen in konventionellen Familien

Familie Cropland

Familie Eigenbrod

3.1.4Geschwisterbeziehungen in unkonventionellen Familien

J. D. Vance

Sascha Kucharczyk

3.1.5An- und Abwesenheit als zentrales Thema in Geschwisterbeziehungen

3.2Geschwisterbeziehungen in der Literatur

4Weiterentwicklungen in der Genogrammarbeit

4.1Rückblick auf die bisher vorgestellten Fälle

4.2Übersicht der in diesem Buch mitgeteilten Fälle

4.3Genogrammarbeit in der Laufbahnberatung: Der Ansatz von Martin Hertkorn

4.3.1Übersicht

4.3.2Genogrammarbeit

4.3.3High Profiling

4.3.4Newsletter

5Integrative Darstellung der hier entwickelten Konzepte zur Genogrammarbeit mit einem Fallbeispiel einer Paarberatung

Rückblick: Grundlagen der Genogrammarbeit

5.1Fallbeispiel: Das Paar und die Stachelschweine

5.1.1Problemdefinition

5.1.2Genogrammarbeit

5.1.3Von der Genogrammrekonstruktion zur Intervention

5.1.4Die Krise, die zum Abbruch der Beratung und zur Selbstorganisation des Paares nach dem Muster der Stachelschweine führt

6Immer wieder gestellte Fragen

6.1Fragen von Praktikern und Fragen von Theoretikern

6.1.1Fragen von Praktikern

Kann man in einem Genogramm kausale Zusammenhänge zwischen familiengeschichtlichen Mustern und dem Entstehen von Krankheiten entdecken?

Hat sich durch das Vordringen unkonventioneller Familien (Stieffamilien, Pflegefamilien, heterologe Insemination etc.) die Genogrammarbeit verändert?

Über welchen Wissensvorrat muss man verfügen, um Genogrammarbeit durchführen zu können?

6.1.2Fragen von Theoretikern (oder solchen, die sich dafür halten)

6.2Fiktive Fragen

6.2.1Bewegungsrichtungen in der Genogrammarbeit

6.2.2Zum Bezug der Genogrammarbeit zu Familienaufstellungen

6.2.3Was tun bei zu vielen/zu wenigen Daten?

Zu viele Daten

Zu wenige Daten

6.2.4Genogrammarbeit und Genetik

6.2.5Kritische Phasen und Grenzen der Genogrammarbeit

Eine kritische Phase

Widerstand

Anhang

Grafische Darstellung von Genogrammen

Vorschlag von Annemaria Köhler (Fernuniversität in Hagen)

Vorschlag von Julian Sehmer (Kassel)

Literatur

Einführende Bemerkungen

Erwähnte Literatur

Weiterführende Literatur

Namens- und Personenverzeichnis

Über den Autor

Vorwort

Auf das Erscheinen dieses Buches habe ich mich schon gefreut, als ich die ersten Entwürfe und Manuskriptfassungen zu lesen bekam. In einem Satz: Es ist ein spannendes, geistreiches, immer wieder überraschendes und anregendes Buch über ein vermeintlich altbekanntes Thema geworden.

Die Arbeit mit Genogrammen ist aus der systemischen Therapie und Beratung nicht wegzudenken. Kein Wunder, dass es bereits eine Vielzahl an Artikeln und Büchern über dieses Thema gibt. In der klassischen Variante der Genogrammarbeit geht es – ausgehend von einer Indexperson – um die Visualisierung von Familienbeziehungen durch Symbolisierung der Familienmitglieder und ihrer horizontalen (Geschwister- und Paarebene) und vertikalen (mehrgenerationale Ebene) Verbindungen über mindestens drei Generationen. Mit Hilfe von Angaben zu wichtigen Daten und lebensgeschichtlichen Ereignissen wird es möglich, das komplexe Geflecht einer mehrgenerationalen Beziehungsstruktur simultan in einer Abbildung abzubilden (und sich so von einer linearen Darstellung – wie z. B. in einer Erzählung oder einer Behandlungsakte – zu lösen). Auf diese Weise bringt die Erstellung eines Genogramms einen Orientierungsgewinn und erleichtert die Hypothesenbildung (nicht nur) in der therapeutischen Arbeit. So weit, so traditionell.

Bruno Hildenbrand, emeritierter Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie an der Universität Jena und langjähriger Dozent und Supervisor im Meilener Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung, schlägt dagegen eine völlig andere Betrachtungsweise von Genogrammen vor. Die Grundzüge seines Konzepts hat er schon 2005 in seiner Einführung in die Genogrammarbeit ausgearbeitet, die ebenfalls in diesem Verlag erschienen ist. Mit dieser »Genogrammarbeit für Fortgeschrittene« entfaltet er nun die theoretischen, empirischen und anwendungsbezogenen Grundlagen seines Vorgehens auf lebendige und originelle Art und Weise.

Anstelle eines Gegenwartsproblems nimmt Hildenbrand die ältesten verfügbaren biografischen Daten einer Familie zum Ausgangspunkt für eine sequentielle Analyse der Familiengeschichte, die dann schrittweise von Generation zu Generation rekonstruiert wird. Die Aufgabe jeder Generation sieht er – mit Bezug auf Konzepte der phänomenologischen Anthropologie – darin, sich mit dem bereits Vorgegebenen auseinanderzusetzen und sich die Gestaltung des eigenen Lebens zum Aufgegebenen zu machen. Vorgegeben sind dabei die Konstellationen, in die wir hineingeboren werden: historische, politische, soziale und kulturelle Kontexte, Eigentumsverhältnisse, Milieuzugehörigkeit, Bildungchancen usw. Sie stecken den Horizont der Möglichkeiten ab, die den Individuen offenstehen oder eher versperrt sind. Daraus aber eben keine Determinierung von Lebensläufen zu konstruieren, sondern das Vorgegebene als etwas zu betrachten, das den Menschen zur Veränderung und Gestaltung aufgegeben ist, eröffnet den Blick auf die individuellen Entscheidungen, aber auch auf Zufälle, die zu biografischen Wendepunkten, Krisen und Neuanfängen beitragen, welche wiederum zum Vorgegebenen für die nachfolgende Generation werden. Der methodische Anspruch ist daher, sequentiell aus der Rekonstruktion des Vorgegebenen Hypothesen über Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln und dann zu überprüfen, welche dieser Möglichkeiten in der nächsten Generation realisiert oder verworfen wurden und welche lebensgeschichtlichen Gewinne und Verluste damit verbunden sind. Als Soziologe konzentriert sich Hildenbrand dabei strikt auf »objektive Daten«, z. B. Berufswahl, Partnerwahl, Wohnort etc. Beziehungsmerkmale (»distanziert«, »verstrickt«, »feindselig« usw.) bleiben außen vor, was Therapeuten zunächst irritieren mag. In einem faszinierenden Kapitel über die Bedeutung von Vornamen zeigt er aber, wie facettenreich sich solche Daten für die Genogrammarbeit nutzen lassen können. Der Witz, dass »Kevin« kein Name, sondern eine Diagnose sei, schiebt dem Namensträger die Verantwortung für den vorgegebenen Namen auf entwertende Weise in die Schuhe. Untersucht man die Rolle von Vornamen in der Generationenfolge, kann man aber erkennen, dass es hier nicht zuletzt um die Fortsetzung von oder gerade auch um den Bruch mit Traditionen geht oder dass z. B. ein Milieuwechsel durch die Vergabe von ungewöhnlichen Vornamen erkennbar wird.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Analyse hinreichendes Wissen über regionale und überregionale historische und soziale Konstellationen erfordert, die die Lebenswelten der Protagonisten in den jeweiligen Jahren geprägt haben – eine Zeitspanne von fünf oder zehn Jahren kann da schon einen bedeutsamen Unterschied ausmachen. Aus eigener Erfahrung mit der Erstellung zahlreicher Genogramme in Supervisions- und Ausbildungskontexten weiß ich, dass ein solches Kontextwissen nicht immer vorausgesetzt werden kann, leider aber auch, dass der Zusammenhang mit solchen »nichtklinischen« Rahmenbedingungen zu selten gesehen, gesucht oder hergestellt wird. Insofern lässt sich das Buch auch als ein Plädoyer lesen, sich ein solches Kontextwissen zuzulegen.

Für die hier beschriebene tiefgreifende Analyse von Genogrammen gibt es in der therapeutisch-beraterischen Alltagspraxis natürlich in der Regel zu wenig Zeit. Es kann daher nicht darum gehen, die unterschiedlichen Praktiken der Genogrammarbeit gegeneinander auszuspielen, wie Hildenbrand einräumt: »Die Disziplin der thematischen Eingrenzung ist für den Berater überlebensnotwendig, der Soziologe muss sie erst lernen«. Allerdings können sich gerade für Praktiker die beiden Perspektiven auf wunderbare Weise ergänzen. Bruno Hildenbrand beschreibt sich selbst als »Grenzgänger« zwischen den Disziplinen. Auch wenn er in seinen letzten Berufsjahren vorwiegend als Hochschullehrer mit Genogrammen in Forschung und Lehre beschäftigt war, hat er seine akademische Karriere erst spät begonnen und zunächst ganz praktische Erfahrungen in der Psychiatrie und später in der Beratung von landwirtschaftlichen Familienbetrieben gemacht, bei der seine Genogrammarbeit eine zentrale Stellung innehatte. Dies hat ihm eine weitreichende Unabhängigkeit vom akademischen Betrieb und seine Identität als »klinischer Soziologie« verschafft.

Wer sich unter diesem Blickwinkel an dieses Buch heranmacht, wird reich belohnt. Es bietet nicht nur einen detaillierten Einblick die Praxis der Genogrammarbeit, sondern ist darüber hinaus ein Füllhorn an Gedanken, Impulsen und Querverweisen, das sich auf jeder Seite über die Leser ergießt. Vor allem ist es auch ein Buch, das die einzigartige Persönlichkeit Bruno Hildenbrands zur Geltung bringt. Das hat auch mit den Bedingungen seiner Entstehung zu tun. Seit einem Schlaganfall 2012 hat er seine Textproduktion durch eine teilweise Lähmung auf die Arbeit mit digitaler Spracherkennung umstellen müssen, eine Einschränkung, die man angesichts des enormen Outputs an Arbeiten, die seitdem erschienen sind, gar nicht für möglich halten mag. Seine Lust am und seine Fähigkeit zum Erzählen erhält dadurch aber noch mehr Raum – und wer ihn schon persönlich erlebt hat, hat seinen unverwechselbaren »Sound« bei der Lektüre sofort »im Ohr«. Seinen anregenden, auch oft bissigen, ironischen und auch durchaus selbstkritischen Stil atmet das Buch auf jeder Seite. Das ist mutig, weil nicht jeder Gedanke in jede Richtung hin abgesichert wird und auch durchaus polemische Urteile und Bewertungen zu finden sind, mit denen man nicht einverstanden sein muss, die aber auf jeden Fall zum Nachdenken reizen und einladen.

Neben dem beeindruckenden Wissenshorizont und der originellen Behandlung von empirischem Material (neben der schon erwähnten Untersuchung von Vornamen z. B. spannende Reflexionen über Geschwisterbeziehungen und die Deutung von Familienfotos) ist es vor allem die subjektive Ausdruckskraft, die mich am meisten fasziniert hat – beim Lesen habe ich mich immer schon auf die nächste Seite gefreut. Was gibt es Schöneres über ein Fachbuch zu sagen?

Tom Levold, Köln

1Von der Einführung in die Genogrammarbeit zur Genogrammarbeit für Fortgeschrittene

1.1Anschluss an Vorhandenes

Es wäre albern, aber zeitgemäß, mit dem Anspruch aufzutreten, die Grundlagen der Genogrammarbeit seien etwas ganz Neues, Unerhörtes. Ein Blick in die Geschichte der Literatur und der Philosophie zeigt, dass es anders ist. In Dichtung und Wahrheit von Johann Wolfgang von Goethe (entstanden zwischen 1809 und 1831) heißt es im Vorwort (Goethe 1961, S. 8, Hervorheb. d. Autors):

»Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biografie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet hat und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, dass nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, dass man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein

Goethe stellt sich hier, ohne Propaganda drum herum zu machen, dem damals aufkommenden Zeitgeist entgegen. Dieser Zeitgeist setzt, angestiftet von dem französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), dem Geist den Körper entgegen, dem Außen das Innen. Hier die Res cogitans, dort die Res extensa, die zudem den Vorteil hat, dass man sie, dem Naturwissenschaftler gleich, messen kann. Übersehen wird durch ein solches Konstrukt, das bis heute das europäische Denken bestimmt, dass man das Individuum auch anders beschreiben kann: Es ist in der Welt und zur Welt.

Der große Vorteil der Genogrammarbeit besteht darin, dass sie den Kartesianismus unterläuft. Wer, sich als der Welt gegenübergestellt begreifend, einigermaßen nüchtern auf seinen eigenen Lebenslauf zurückblickt, wird feststellen,

dass er nicht unbedingt seines Glückes Schmied war,

dass er die Welt, in die er hineingestellt wurde, nicht unbedingt beherrscht hat,

dass einiges an Zufällen zusammenkommen musste, damit das herausgekommen ist, worauf er heute zurückblicken kann.

Diese Rückschau ist allerdings eine mitunter prekäre Angelegenheit: Zufälle werden als Resultat eigener Entscheidungen ausgegeben, Biografie wird geglättet und geschönt. Max Frisch sagte dazu: »›Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält‹, sage ich, ›oder eine ganze Reihe von Geschichten‹, sage ich.‹« So heißt es in Mein Name sei Gantenbein (Frisch 1964, S. 52). Dieses Thema hat ihn sein Arbeitsleben lang nicht verlassen, man denke nur an den Roman Stiller (ders. 1954).

Vor solchen Irrtümern, wie Frisch sie benennt, bewahrt eine regelgerecht durchgeführte Genogrammrekonstruktion.

Wer mit einer nichtkartesianischen Konzeption Berater und Therapeuten1 interessieren will, hat einen dominanten Zeitgeist gegen sich. Das muss man aushalten, da hilft kein Jammern. Die Gedanken sind frei.

1.2Vorgeschichte, Teil 1

2011 erschien die dritte, überarbeitete Auflage meiner Einführung in die Genogrammarbeit in der Buchreihe Carl-Auer Compact. Das ist eine Buchreihe, die sich im Hinblick auf Format und Umfang als Einführung in ein Sachgebiet eignet. Die Farbe, die ich damals für den Umschlag ausgesucht habe und die vom Verlag Petrol genannt wird, gefällt mir heute noch. Der Buchtitel ist unterlegt mit einen knapp 6 cm großen, roten Punkt. Das wird dann wohl heißen, dass in dieser Einführung die Dinge auf den Punkt gebracht werden sollen.

Bringt man die Dinge auf den Punkt, bleibt aber so manches auf der Strecke. Dazu gehören Begründungen für das, was man da als Vorgehen vorschlägt. Die eiligen Leser sind damit zufrieden.

Andere wollen es vielleicht genauer wissen. Für sie ist dieses Buch geschrieben.

Das vorliegende Buch wird die Einführung in die Genogrammarbeit nicht ersetzen, und es geht im Folgenden auch nicht (nur) um Begründungen der Genogrammarbeit. Seit 2011 haben andere und ich Erfahrungen mit der hier vorgeschlagenen Form der Genogrammarbeit gemacht, die es mitzuteilen gilt. Es ist deutlich geworden, in welchen Arbeitsfeldern Genogrammarbeit sich mit welchem Erfolg durchführen lässt. Diese Erfahrungen müssen bedacht werden. Zudem hat sich herausgestellt, dass sich der Zugang zur Genogrammarbeit je nach Berufsgruppe unterschiedlich gestaltet. Auch das ist ernst zu nehmen.

Auf Betreiben von Gunthard Weber, Mitbegründer und geschäftsführender Gesellschafter des Carl-Auer Verlags, erschien 2012 mein Buch Einführung in die Genogrammarbeit auch in russischer Übersetzung. Die Umschlaggestaltung dieser Ausgabe halte ich für bemerkenswert. Da hat sich jemand etwas gedacht (Abb. 1).

image

Abb. 1: Umschlagmotiv der russischen Ausgabe von »Einführung in die Genogrammarbeit«

Ich sehe zwei Bäume mit ihrem Wurzelwerk. Dieses Wurzelwerk erzeugt über dem Boden ganz andere Formen als die des Wurzelwerks selbst. Das bedeutet in meinem Verständnis: Die Gestalt der Wurzeln (diese stehen gemeinhin als Metapher für Herkunft) eines Menschen bildet sich nicht notwendig ab in dem, was sich oberhalb dieses Wurzelwerks zeigt. Durch die spiegelbildliche Darstellung beider Bäume wird dieser Eindruck noch verstärkt.

Dann sehe ich im Hintergrund einen von Wolken überzogenen Himmel. Es handelt sich um jene Sorte von Kumuluswolken, die der Laie mit schönem Wetter in Verbindung bringt. Genogrammarbeit ist also schönwettermäßig grundiert, Regenwolken wären unpassend.

Fazit: Die Wurzel bestimmt nicht notwendigerweise das, was sich oben zeigt, denn was da unten wurzelt, ist noch lange nicht identisch mit dem, was schließlich oben erscheint. Die Wurzeln bilden einen Rahmen von Möglichkeiten, und was oben zum Ausdruck kommt, zeigt, wie dieser Rahmen genutzt wird. Außerdem führt Genogrammarbeit nicht ins Unwetter, sondern allenfalls zur Schönwetterlage.

Mein Kompliment an den Grafiker, der dieses gestaltet hat2 und den ich gerne einmal kennenlernen würde. Ich werde in Kapitel 2 zur Bedeutung von Vornamen auf eine Möglichkeit zurückkommen, das Wurzelwerk noch anders zu gestalten und ihm eine andere Bedeutung zu unterlegen.

1.2.1Fallverstehen in der Begegnung im Rahmen von Genogrammarbeit

Konzepte

Im Zentrum des Meilener Konzepts3 steht das Fallverstehen in der Begegnung (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 2004, unter Mitarbeit von Reinhard Waeber und Robert Waeschle). In diesem Abschnitt werde ich mich mit dem Thema Fallverstehen auseinandersetzen und dabei mit einem Fallbeispiel beginnen. Danach werde ich das Fallverstehen im wissenschaftlichen Kontext verorten.

Zuvor komme ich noch auf die Begegnung zu sprechen. Diesbezüglich haben sich inzwischen Erweiterungen gegenüber dem ursprünglichen Kontext ergeben, nachdem ich mich mit dem von Ralf Koerrenz (2004) vorgeschlagenen Konzept von Begegnung in der Pädagogik auseinandergesetzt habe. In Anlehnung an Martin Buber meint Begegnung gemäß dem ursprünglichen Konzept die Bildung eines Wir im Gespräch; in einer Situation, in der das Ich, das in Not ist, auf ein Du trifft, von dem das Ich erwartet, dass es ihm helfen kann. Im nun erweiterten Konzept ist dieses ursprüngliche Konzept nicht aufgegeben, sondern aufgehoben. Zusammengefasst heißt das:

Erstens müssen die Erziehenden4 überhaupt in der Lage sein, die Besonderheit von Klienten in bestimmten Augenblicken wahrzunehmen.

Zweitens geht es darum, solche Phänomene wie die Krise, in der der Klient sich befindet, als positive Situation zu akzeptieren, die zum menschlichen Lebenslauf in all ihrer Unberechenbarkeit und Unstetigkeit dazugehören.

Damit ist als dritter Aspekt die Einsicht in die Grenzen der Gestaltbarkeit dieser Situationen verbunden. Die Erziehenden sollen sich nicht anmaßen, solche Situationen planmäßig durchgestalten und in diesem Sinne beherrschen zu wollen. Es gilt, die eigenen Gestaltungsgrenzen zu akzeptieren. Das zugrunde liegende pädagogische Verhaltensmodell ist das der eher passiven Begleitung, des Zu- und Hinhörens und nicht das des aktiven Lenkens (Koerrenz 2004, S. 96).

Es ist aus meiner Sicht nicht allzu weit hergeholt, diese dem Pädagogen zugeschriebenen Haltungen auch dem Therapeuten ins Stammbuch zu schreiben, obgleich die Aufgabenstruktur und die Rahmenbedingungen therapeutischen Handelns sich von denen pädagogischen Handelns unterscheiden (Hildenbrand 2017b, S. 14). Was mir an diesem Konzept gefällt, ist

die Abkehr von jeder Technokratie im pädagogischen (und eben auch im beraterischen und therapeutischen) Handeln,

die Zuschreibung von Handlungskompetenzen sowie

die Betonung des Konzepts von Widerständigkeit in der Begegnung (das ist das Neue gegenüber dem von uns verwendeten Konzept von Begegnung).

Als Nächstes komme ich zum Fallverstehen. Unter einem Fall verstehe ich eine Einheit autonomer Lebenspraxis mit angebbaren Grenzen. Mit Verstehen ist gemeint, dass Fälle Sinnzusammenhänge aufweisen, die es zu erschließen bzw. zu rekonstruieren gilt.5

Für die Genogrammarbeit, wie ich sie verstehe, kommt als Besonderheit hinzu, dass je nach Arbeitsform eine Begegnung nicht möglich ist. Hat man nur das nackte Genogramm vor sich liegen, also eine Zusammensetzung von Kästchen, Kreisen, Linien und Jahreszahlen etc., kann man Zusammenhänge herstellen und sich einen Reim darauf machen (Mustererkennen), d. h. eine Deutung produzieren.6

Begegnung in der Genogrammarbeit ist v. a. dann möglich, wenn man das Genogramm zusammen mit Klienten erhebt. Dann kann man auch die Geschichten hören, die der Klient zu seinem Genogramm zu erzählen weiß.

Nun komme ich zu einem Fallbeispiel, mit dem ich beabsichtige, die soeben vorgetragenen Worterklärungen mit Leben zu füllen.

Ein Beispiel für das Mustererkennen

Beim Mustererkennen kommt es darauf an, einige wenige Daten in ihrem Zusammenhang zu erkennen und diesem Zusammenhang einen Namen zu geben.

Die Familie Dittrich steht im Mittelpunkt meines Buchs Fallrekonstruktive Familienforschung (Hildenbrand 2005a). Als ich diese Familie in einem abgelegenen Tal des Rothaargebirges zum ersten Mal besuchte, stellte ich fest, dass

das Wohnhaus dieser Familie am Ortsrand liegt, und zwar direkt am Weg zum Friedhof;

das größte Fenster des Hauses vis-à-vis des am Haus vorbeiführenden Weges liegt;

dieses Fenster gelb getönt und geriffelt ist, sodass man von innen und außen nicht hindurchblicken kann.

Zieht man diese vier Informationen zusammen, stößt man auf einen zentralen Widerspruch, allerdings nicht sofort, sondern erst nach einer Zeit, nachdem man sich mit dieser Familie gesprächsweise und beobachtend auseinandergesetzt und über den Fall nachgedacht hat: auf den Widerspruch von Nähe und Distanz. (Das ist ein abduktiver Schluss,7 auf dessen Logik ich in Kapitel 1.11.3 eingehen werde.) Befördert wird dieser Schluss durch die oben erwähnten zusätzlichen Informationen:

Einerseits liegt das Haus am Ortsrand in ungünstiger Lage. Die Vorgeschichte ist, dass die Familie Dittrich ihr in der Ortsmitte gelegenes Fachwerkhaus an den Staat verkauft hat (zwecks Abriss und Bau eines Buswendeplatzes). Mit dem auf diese Weise eingenommenen Geld hätte sie andere Möglichkeiten realisieren, zum Beispiel andernorts, in einem Nachbarort, ein neues Haus errichten können. Es bestand keine Notwendigkeit, das Haus in diesem Ort am Weg zum Friedhof zu bauen, wo von November bis März die Sonne nicht scheint und der Grund durch die Lage im Schatten und an einem Bach sehr feucht ist.

Andererseits ermöglicht die Wahl dieses Bauplatzes der Familie, ihrem Heimatort treu zu bleiben. Und weiter: Wenn das Haus am Weg zum Friedhof liegt, kann man damit rechnen, dass hier regelmäßig Fußgänger anzutreffen sind, die die Gräber ihrer Angehörigen besuchen. Das erzeugt Nähe, man kann durch das offene Fenster zu ihnen Kontakt aufnehmen. Lässt man das Fenster aber geschlossen, ist ein Blickkontakt nicht möglich, besonders dann, wenn eine kaum durchsichtige Scheibe eingebaut ist.

Der Widerspruch, der das Zentrum des Musters bildet, welches ich auf diesen Fall bezogen formuliert habe, sollte inzwischen deutlich geworden sein. Die interpretative Kunst besteht darin, diese vier Daten zu erkennen und zusammenzuführen. Den zunächst beobachteten Widerspruch nenne ich Widerspruch von Nähe und Distanz (Helm Stierlin spricht vom Widerspruch von Bezogenheit und Verbundenheit; Stierlin 1980). Das von mir rekonstruierte Muster habe ich später umformuliert in: Die Familie mit der widersprüchlichen Innen-Außen-Orientierung.8

Das Muster als Apparat, der die Handlungsorientierungen und -entscheidungen des Falls tagtäglich hervorbringt: Theoretische Grundlagen

Dieses Muster verstehe ich als den Apparat, der die Handlungsorientierungen und -entscheidungen des Falls tagtäglich hervorbringt. Pierre Bourdieu nennt das Habitus, damit meint er die Vermittlung zwischen Struktur und Praxis (Bourdieu 1974). In Anlehnung an Ulrich Oevermann spreche ich von der Fallstrukturhypothese (Oevermann, Allert u. Konau 1980).

Ein Beispiel: In dem Aufsatz Bourdieus, auf den ich mich hier beziehe, befasst sich der Autor mit der Verlagerung des Schwerpunkts des Wissens im 10. und 12. Jahrhundert. Im Sinne einer synthetischen Intuition führt Bourdieu drei Entwicklungen zusammen,

die Entstehung von Curricula in den Schulen,

die Veränderung des Maßwerks von Fenstern in gotischen Kirchen sowie schließlich

die Veränderung der grafischen Gestalt von Druckwerken,

und beschreibt so einen »eingefleischten Habitus« (Bourdieu 1974, S. 149).

Jedoch verwendet Bourdieu keine Mühe darauf, diesem Muster einen Namen zu geben, denn darauf kommt es ihm nicht an. Ihm geht es um das methodische Prinzip; um die Konzepte Strukturierung und Differenzierung.

Bei der Ausarbeitung eines Musters der Familie Dittrich bin ich nicht anders vorgegangen als Bourdieu, habe dem Muster aber einen Namen gegeben. Auf diese Weise entsteht eine generative Grammatik von Handlungsmustern (Bourdieu 1974, S. 150, in Anlehnung an Noam Chomsky), will heißen: Hat man erst einmal ein Muster entdeckt, kann man prognostizieren, wie die beobachtete Familie in bestimmten Situationen handeln wird. Geht es um Veränderungen im Rahmen von Beratung und Therapie, kann man also primär an diesen Handlungsmustern ansetzen.

Von Hypothese spreche ich deshalb, weil man ein solches Muster ständig überprüfen muss, hat man es erst einmal gefunden. Konkret heißt das, dass man Möglichkeiten sucht, das Muster zu verwerfen. Hat man nur einen Beleg gefunden, der das Muster infrage stellt, ist es gemäß dem Falsifikationsprinzip Karl Poppers verworfen. Bei Familie Dittrich wäre ein Datum, das zeigt, dass sie sich auf eine Sache widerspruchsfrei festlegen kann, ein Anlass, das herausgearbeitete Handlungsmuster in Zweifel zu ziehen. Stattdessen habe ich in meiner Studie der Familie Dittrich zahlreiche Beispiele gefunden, die das im Lauf der Zeit verdichtete Handlungsmuster bestätigt haben.

Kürzlich (im November 2017) habe ich dem Haus der Familie Dittrich einen Besuch abgestattet. Dass ich dort niemanden mehr antreffen würde, war mir aufgrund des Alters der Eltern des Indexpatienten zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie klar. Auf dem Friedhof habe ich dann das Grab der Eltern gefunden. Ihr Sohn Frank, der Indexpatient, scheint noch zu leben, denn weder hat er den für ihn vorgesehenen Platz auf dem Grabstein noch (mutmaßlich) im Grab selbst eingenommen. Dieses Grab ist so angelegt, dass es gepflegt aussieht, obwohl nur ein minimaler Aufwand betrieben wird. Jedoch ist es nicht, wie man in diesem feuchten Winkel hätte erwarten können, vermoost. Jemand scheint sich also um das Grab zu kümmern, vielleicht Frank selbst. Möglicherweise lebt er in einer Einrichtung für Patienten mit psychischen Erkrankungen in der Nähe.

Das Haus der Familie ist heruntergekommen, an den Klingelschildern sind niederländische Namen zu lesen. Ob es sich um Mieter oder neue Besitzer handelt, ist nicht auszumachen.

Mit dieser Beobachtung schließe ich das Fallbeispiel der Familie Dittrich ab und kehre zurück zu allgemeinen Überlegungen.

Andere Ansätze des Mustererkennens

Die Kunst des Mustererkennens, wie ich sie oben dargelegt habe, ist ein im Alltag bekanntes Phänomen,9 jedoch keine soziologische Spezialität. Carlo Ginzburg, der italienische Historiker, ist der Frage nachgegangen, wo aus der Deutung von Spuren systematisch Erkenntnisse gewonnen werden und stieß dabei auf die Namen Morelli, Holmes und Freud: Das Anliegen des Kunsthistorikers Morelli war es, bei Kunstwerken Originale von Kopien zu unterscheiden. »Er entdeckt den Täter mittels Indizien, die dem Außenstehenden unsichtbar bleiben« (Ginzburg 2002, S. 109). Ebenso geht Sherlock Holmes vor, wenn er eine Tat aufklären will, und auch Sigmund Freud erkennt eine Nähe zwischen der Vorgehensweise Morellis und seiner eigenen.10

Eine wissenschaftliche Methode mit Verfahren zu begründen, die dazu taugen, Kunstfälschungen nachzuweisen, Täter zu fangen und psychische Störungen zu heilen, ist riskant. Es braucht nicht viel, und der Vorwurf des Irrationalismus wird erhoben, zumal noch von Intuition die Rede ist. Darum geraten Adepten solcher Verfahren unmittelbar in Erklärungsnot, wenn sie einen Nachweis von deren Seriosität erbringen sollen. Deshalb ist es taktisch klüger, über die Weisen des Schlussfolgerns (Abduktion statt Induktion/Deduktion) Stillschweigen zu bewahren.

Mich interessieren solche taktischen Spiele aus dem Bereich der Wissenschaftstheorie wenig, mir kommt es im Gegenteil darauf an, zu meiner Vorgehensweise zu stehen und nichts zu kaschieren.

1.3Persönliche Geschichte

Im Jahr 2012 erlitt ich einen Schlaganfall, von dem eine Lähmung links zurückblieb. Damals war ich 63 Jahre alt. Die Friedrich-Schiller-Universität Jena war so freundlich, mir nach Abschluss der Rehabilitation ein letztes Semester mit der nötigen personellen Unterstützung zu ermöglichen.

Bei meiner letzten Vorlesung Einführung in die Mikrosoziologie, die als Pflichtveranstaltung von durchschnittlich ca. 400 Studierenden besucht wurde, fiel mir auf, dass ich nach dem Schlaganfall einen Hang zum Ausufern entwickelt hatte. Hinweise darauf erhielt ich von meiner Vorlesungsassistentin. Um diesem prekären Zustand abzuhelfen, besorgte ich eine Schaffnerkelle mit Stoppzeichen. Einem jeweils zufällig ausgewählten Studenten gab ich den Auftrag, immer dann, wenn er den Eindruck habe, ich ufere aus, das Stoppzeichen zu heben. Davon machte bereits der zuerst Gewählte regen Gebrauch, bis einige seiner Kommilitonen Einspruch erhoben: Er würde jeweils unterbrechen, wenn ich im Begriff sei, Geschichten zu erzählen, und wenn ich dann diese Geschichten abbräche, fiele das Interessanteste an der Vorlesung weg.

Didaktisch gesehen ist das ein interessanter Vorgang: Das Lernen mithilfe von Geschichten ist sehr voraussetzungsvoll. Man muss in der Lage sein, die Geschichte auf das verhandelte theoretische Thema zu beziehen. Demgegenüber ist das Lernen im Stil von Beim Sterbeprozess unterscheiden wir x Phasen einfacher. Diese Phasen kann man auswendig lernen. Den einzelnen Fall, dem man in der Praxis begegnet, kann man dann unter diese Phasen subsumieren, d. h. in die entsprechende Schublade stecken. Mit Zusammenhängen muss man sich nicht abgeben.

Das Risiko dabei besteht darin, dass die Schubladen dem Fall nicht gerecht werden. Hier lässt sich aus der griechischen Mythologie viel lernen, besonders am Beispiel des Herrn Prokrustes, der im heutigen kollektiven Gedächtnis, wenn überhaupt, vor allem durch das nach ihm benannte Bett bekannt ist. Der Sage nach soll Prokrustes, der in Attika als Bösewicht und Wegelagerer sein Unwesen trieb, Wanderern sein Bett angeboten haben. Nahmen sie sein Angebot an, und waren sie für das Bett zu lang, schnitt er die überhängenden Gliedmaßen ab, waren sie zu kurz, streckte er sie so lange, bis sie in das Bett passten.

Die Metapher Prokrustes-Bett eignet sich für alle Vorgänge, bei denen ein empirischer (empirisch heißt hier: der Erfahrung zugänglicher) Sachverhalt in ein vorgefasstes Konzept gezwungen werden soll. Und alle, die das tun, dürfen unter Berufung auf die griechische Mythologie als Bösewichte und Wegelagerer bezeichnet werden. Das kann sowohl bei unreflektierter Verwendung von Diagnosen als auch bei der Zuordnung von empirischen Vorgängen zu Phasen der Fall sein. Wenn also die Studierenden in meiner Vorlesung sich für das Erzählen von Geschichten entscheiden, so würde die miesepetrige Deutung lauten, dass das Anhören von Geschichten zur Regression einlädt. Demgegenüber fordert das Auswendiglernen von Phasen den Verstand viel weniger. (Nebenbei bemerkt: Ich habe soeben das Reizwort Deutung benutzt. Darauf werde ich gleich zurückkommen.)

Vorher aber will ich mich noch zum Thema Geschichtenerzählen äußern. Der ostfriesische Richter und Philosoph Wilhelm Schapp musste sich den ganzen Tag über Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven anhören. Als er dies philosophisch reflektierte, fand er heraus, dass das, was der Alltagsmensch von der Welt versteht, in Geschichten gehüllt ist: Wirklichkeit ist Wirklichkeit in Geschichten, und Schapp ergänzt: Wir sind in Geschichten verstrickt (Schapp 1976).

Eine dieser Geschichten enthält das beschriebene Fallbeispiel der Familie Dittrich, bei dem es darum geht, wie und weshalb deren Wohnhaus in die beschriebene Lage geraten ist.

Dass die Studierenden meine Vorgehensweise des Geschichtenerzählens bevorzugten, kam meinen theoretischen Vorstellungen sehr entgegen. Die von ihnen erhobenen Einwände bedeuteten nicht, dass ich mein Experiment in der erwähnten Vorlesung abbrach. Schon deshalb nicht, weil die Geschichten, die ich zu erzählen hatte, sich in der Regel auf die soziologischen Theoriebestände bezogen, die ich den Studierenden jeweils nahebringen wollte. Die Aufgabe der Studierenden bestand darin, mit meiner Unterstützung einen Bezug der Geschichten zu diesen Theoriebeständen herzustellen. Ich sorgte nach der Intervention des Plenums lediglich dafür, dass die Gelegenheiten, das Stoppschild zu heben, seltener wurden, aber nicht die Geschichten selbst.

So ähnlich werde ich es auch in diesem Buch halten.

Die vorliegenden Konzepte zur Genogrammarbeit, auf die ich in Kapitel 1.1 eingegangen bin, kommen durchweg ohne wissenschaftlichen Begründungsapparat aus. So kann man vorgehen, wenn man gar keine Grundlagen, sich seiner Grundlagen nicht vergewissert hat oder »leserfreundlich« schreiben will. Ich bin der Ansicht, dass die Leser Anspruch darauf haben, in die Quellen des Denkens eingeführt zu werden, aus denen der Autor schöpft. Enthält man ihnen diese Quellen vor, verkauft man sie für dumm.

Allerdings ist es ein schmaler Grat zwischen der Überforderung und der Unterforderung der Leser. In Kapitel 1.2 habe ich bereits Themen aus der Philosophie gestreift, und ob ich damit den Grat in der einen Richtung (der Überforderung) überschritten habe, kann diskutiert werden.

Man kann auch fragen, wozu die Streifzüge durch Philosophie und Wissenschaften gut sein sollen, die als Einführung in die Grundzüge bzw. Grundlagen verkauft werden.11 Ich will ja auch nicht wissen,