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ISBN 978-3-492-96850-8
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: Rafal Olbinski
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Dieses Buch handelt davon, dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist. Diese These scheint den Wagen vor das Pferd zu spannen, denn die Wirklichkeit ist doch offensichtlich das, was wirklich der Fall ist, und Kommunikation nur die Art und Weise, sie zu beschreiben und mitzuteilen.
Es soll gezeigt werden, dass dies nicht so ist; dass das wacklige Gerüst unserer Alltagsauffassungen der Wirklichkeit im eigentlichen Sinne wahnhaft ist, und dass wir fortwährend mit seinem Flicken und Abstützen beschäftigt sind – selbst auf die erhebliche Gefahr hin, Tatsachen verdrehen zu müssen, damit sie unserer Wirklichkeitsauffassung nicht widersprechen, statt umgekehrt unsere Weltschau den unleugbaren Gegebenheiten anzupassen. Es soll ferner gezeigt werden, dass der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, die gefährlichste all dieser Selbsttäuschungen ist; dass es vielmehr zahllose Wirklichkeitsauffassungen gibt, die sehr widersprüchlich sein können, die alle das Ergebnis von Kommunikation und nicht der Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten sind.
Die enge Beziehung zwischen Wirklichkeit und Kommunikation ist erst in letzter Zeit Gegenstand eingehenderer Untersuchungen geworden. Aus diesem Grunde hätte dieses Buch noch vor dreißig Jahren nicht geschrieben werden können. Und doch enthält es nichts, das sich nicht seit längster Zeit hätte denken, erforschen und anwenden lassen. Oder anders ausgedrückt: Die hier beschriebenen Sachverhalte waren unserem Denken nicht nur schon vor Jahrzehnten, sondern in ihren Ansätzen bereits der Antike zugänglich; was aber fehlte, war die Bereitschaft oder auch nur der Anlass, sich mit dem Wesen und den Wirkungen der Kommunikation als eigenständigem Phänomen auseinanderzusetzen. Freilich hatten Physiker und Fernmeldetechniker die Probleme der Nachrichtenübermittlung bereits weitgehend gelöst, wohl hatte die Linguistik unser Wissen vom Ursprung und Aufbau der Sprachen auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt, und hatte die Semantik schon längst die Bedeutung von Zeichen und Symbolen zu untersuchen begonnen. Aber das Studium der sogenannten Pragmatik der menschlichen Kommunikation, das heißt der Art und Weise, in der sich Menschen durch Kommunikation gegenseitig beeinflussen, wie dabei ganz verschiedene »Wirklichkeiten«, Weltanschauungen und Wahnvorstellungen entstehen können, dieses Studium ist ein verhältnismäßig neuer Zweig der Forschung.
Die Frage, die dieses Buch zu beantworten versucht, ist: Wie wirklich ist, was wir naiv und unbesehen die Wirklichkeit zu nennen pflegen?
Es ist die unverblümte Absicht dieses Buchs, unterhaltend zu sein und dem Leser in anekdotischer Form gewisse willkürlich ausgewählte Gebiete der Kommunikationsforschung vorzulegen, die ungewöhnlich, merkwürdig und vielleicht sogar unglaublich sind, trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb) aber unmittelbar an der Entstehung und Ausbildung von Wirklichkeitsauffassungen beteiligt sind. Dem Pedanten mag diese Form der Darstellung oberflächlich und unwissenschaftlich erscheinen, doch sollte er sich vor Augen halten, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Formen wissenschaftlicher Erklärung gibt. Die eine beginnt mit der Formulierung einer Theorie und führt dann den Nachweis ihrer Gültigkeit für das Verständnis von Erfahrungstatsachen.( 1 ) Die andere Methode besteht im Vorlegen einer großen Zahl von Beispielen aus verschiedensten Gebieten und versucht, auf diese praktische Weise aufzuzeigen, welche Struktur diesen scheinbar ganz verschiedenen Beispielen gemeinsam ist und welche Schlussfolgerungen sich daraus ziehen lassen. Bei den beiden Methoden fällt dem Gebrauch von Beispielen also sehr verschiedene Bedeutung zu. In der ersten müssen die Beispiele Beweiskraft haben. In der zweiten ist ihre Rolle die von Analogien, Metaphern und Veranschaulichungen – sie sollen beschreiben, in leichter verständliche Sprache übersetzen, doch nicht notwendigerweise auch beweisen. Dieses Vorgehen erlaubt daher den Gebrauch von Exemplifikationen, die nicht im strengen Sinne des Wortes wissenschaftlich zu sein brauchen; wie etwa die Verwendung von Zitaten aus Dichtung und Romanen, von Anekdoten und Witzen und schließlich sogar den Gebrauch rein imaginärer Denkmodelle – ein Vorgehen, das Maxwell mit der Postulierung seines Dämons schon vor vielen Jahren respektabel gemacht hat.
Dieses Buch beruht auf der zweiten Methode, und ich hoffe es dem Leser dadurch zu ermöglichen, an die komplexen Probleme der Wirklichkeitsauffassung und -anpassung sozusagen durch die Hintertür heranzukommen.
Die hier folgenden Ausführungen setzen weder ein Verständnis von Formeln noch von abstrakter Theorie voraus. Im Gegenteil, das Buch will erzählen und erzählend Wissen vermitteln. Der Leser soll es irgendwo aufschlagen und, je nach Lust und Laune, dort zu lesen beginnen oder weiterblättern können. Wo aber sein Interesse geweckt wird und er sich über das betreffende Thema näher zu informieren wünscht, sollen ihm die Literaturhinweise den Zugang zu den Quellen erleichtern. In ähnlicher Weise dürfte der Student der Sozial- oder der Verhaltenswissenschaften in diesen Seiten Anregungen für eigene Forschungsprojekte oder für Dissertationsthemen finden.
Es ist ferner meine Hoffnung, dieses Buch möge auch einen anderen Zweck erfüllen. Wie bereits angedeutet, ist der Glaube, dass die eigene Sicht der Wirklichkeit die Wirklichkeit schlechthin bedeute, eine gefährliche Wahnidee. Sie wird dann aber noch gefährlicher, wenn sie sich mit der messianischen Berufung verbindet, die Welt dementsprechend aufklären und ordnen zu müssen – gleichgültig, ob die Welt diese Ordnung wünscht oder nicht. Die Weigerung, sich einer bestimmten Definition der Wirklichkeit (zum Beispiel einer Ideologie) zu verschreiben, die »Anmaßung«, die Welt in eigener Sicht zu sehen und auf eigene Façon selig zu werden, wird immer häufiger zum »think-crime« in Orwells Sinne abgestempelt, je mehr wir uns dem Jahre 1984 nähern. Vielleicht kann dieses Buch einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, den Blick für bestimmte Formen psychologischer Violenz zu schärfen und so den modernen Gehirnwäschern und selbsternannten Weltbeglückern die Ausübung ihres üblen Handwerks zu erschweren.
Das hier zusammengetragene Material beruht teils auf meiner ursprünglichen Ausbildung in Sprachen und Philosophie und teils auf den fünfundzwanzig Jahren meiner Arbeit als Psychotherapeut, von denen ich die letzten fünfzehn Jahre als Forschungsbeauftragter am Mental Research Institute in Palo Alto hauptsächlich mit dem Studium klinischer Aspekte der menschlichen Kommunikation verbracht habe. Andere Teile dieses Buchs leiten sich aus meiner Tätigkeit als Assistenzprofessor für Psychiatrie an der Stanford-Universität und als Konsulent und Gastvorlesender an anderen Universitäten und psychiatrischen Forschungs- und Ausbildungsinstituten in Nordamerika, Europa und Lateinamerika ab. Mit einigen der hier erwähnten Themen und Untersuchungen habe ich nur oberflächliche Berührung gehabt, während schließlich mein Wissen von anderen rein theoretisch und indirekt ist. Es versteht sich aber von selbst, dass ich mich für die Form meiner Ausführungen und alle Irrtümer und Fehler ausschließlich selbst verantwortlich betrachte.
Wie der Untertitel nahelegt, umfasst das Buch drei Teile. Teil I handelt von Konfusion, das heißt von Kommunikationsstörungen und den daraus folgenden Verzerrungen des Wirklichkeitserlebnisses. Teil II untersucht den etwas exotischen Begriff der Desinformation, womit jene Komplikationen und Störungen der zwischenmenschlichen Wirklichkeit gemeint sind, die sich bei der aktiven Suche nach Information oder der absichtlichen Verschleierung oder Verweigerung von Informationen ergeben können. Teil III ist den faszinierenden Problemen der Anbahnung von Kommunikation dort gewidmet, wo noch keine besteht – also den Fragen, die sich auf das Zustandebringen einer allen Partnern zugänglichen Wirklichkeit beziehen, ob diese Partner nun Tiere, die Bewohner anderer Planeten oder rein imaginäre Wesen sind.
Wohlan, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe.
Man kann einen Zustand der Konfusion als das Spiegelbild der Kommunikation auffassen. Mit dieser sehr allgemeinen Definition sei einfach dies gemeint: Wenn ein sogenannter erfolgreicher Kommunikationsvorgang in der korrekten Übermittlung von Information besteht und damit die beabsichtigte Wirkung auf den Empfänger hat, so ist Konfusion die Folge gescheiterter Kommunikation und hinterlässt den Empfänger in einem Zustand der Ungewissheit oder eines Missverständnisses. Diese Störung der Wirklichkeitsanpassung kann von Zuständen leichter Verwirrung bis zu akuter Angst reichen, da wir Menschen, wie alle anderen Lebewesen, auf Gedeih und Verderb von unserer Umwelt abhängen und sich diese Abhängigkeit nicht nur auf die Erfordernisse des Stoffwechsels, sondern auch auf hinlänglichen Informationsaustausch bezieht. Dies trifft vor allem auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu, wo ein Höchstmaß an Verstehen und ein Mindestmaß an Konfusion für erträgliches Zusammenleben besonders wichtig ist. Um hier Horas oft zitierten Aphorismus zu wiederholen: »Um sich selbst zu verstehen, muss man von einem anderen verstanden werden. Um vom andern verstanden zu werden, muss man den andern verstehen.«[1]( 2 )
Obgleich (oder vielleicht gerade weil) Konfusion ein recht alltägliches Ereignis ist, war sie bisher kaum je der Gegenstand ernsthafter Untersuchung, vor allem nicht auf dem Gebiet der Kommunikationsforschung. Sie ist unerwünscht und daher zu vermeiden. Aber gerade weil sie das Spiegelbild »guter« Kommunikation ist, kann sie uns einiges über dieses Thema lehren. In den folgenden Seiten wollen wir daher ihre wichtigsten Eigenschaften prüfen und werden dabei feststellen können, dass sie auch gewisse wünschenswerte Wirkungen hat.
Die Gefahr der Konfusion besteht überall dort, wo Sinn und Bedeutung von einer Sprache (im weitesten Sinne) in eine andere übertragen werden muss. Reine Übersetzungsfehler und ganz einfach minderwertige Übersetzungen sollen uns hier nicht interessieren. Etwas bedeutsamer sind die Formen sprachlicher Konfusion, die sich aus der unterschiedlichen Bedeutung gleicher oder ähnlicher Worte ergeben. Burro ist das italienische Wort für Butter, auf Spanisch aber bedeutet es Esel – und diese scheinbare Identität liefert die Pointe für mehrere hispano-italienische Witze. Chiavari (mit der Betonung auf dem ersten a) ist ein Kurort an der italienischen Riviera di Levante; chiavare (mit der Betonung auf dem zweiten a) ist ein nicht sehr gesellschaftsfähiges italienisches Zeitwort, das sich auf die Ausübung von Geschlechtsverkehr bezieht. Die Konfusion dieser beiden Worte liefert die Pointe anspruchsloser Witze über beschränkte Ausländer, deren italienische Aussprache zu wünschen übrig lässt. Etwas weniger harmlos ist die erstaunlich häufige Fehlübersetzung des englischen Eigenschaftsworts actual mit aktuell im Deutschen (beziehungsweise dem spanischen actual, dem italienischen attuale oder dem französischen actuel). Das englische actual bedeutet »wirklich, tatsächlich, eigentlich«, während aktuell bekanntlich »im gegenwärtigen Zeitpunkt wichtig oder gültig, neuzeitlich« bedeutet. Ähnlich geht es mit der Übersetzung von eventually, das eben nicht eventuell (bzw. eventualmente oder eventuellement) bedeutet, sondern »schließlich, endlich«. Wesentlich ernster sind aber die Irrtümer, die selbst erfahrenen Übersetzern mit dem Zahlwort billion unterlaufen, das in den USA und in Frankreich tausend Millionen (109) bezeichnet, in Großbritannien und den meisten anderen europäischen Ländern aber eine Million Millionen (1012). In diesen Ländern ist die richtige Übersetzung der amerikanischen beziehungsweise französischen billion daher Milliarde (beziehungsweise miliardo etc.). Es erübrigt sich, darauf zu verweisen, dass die Folgen einer Konfusion zwischen Butter und Esel kaum schwerwiegend sein dürften, wohl aber die Verwechslung von 109 und 1012, wenn sich dieser Fehler zum Beispiel in ein Lehrbuch der Kernphysik einschleicht.
Diese kurzen Hinweise sollen lediglich zur Einführung der weniger bekannten Tatsache dienen, dass – im Widerspruch zum Buch Genesis – babylonische Sprachverwirrungen sich nicht auf menschliche Kommunikation beschränken. Die bahnbrechenden Untersuchungen des Nobelpreisträgers Karl von Frisch zeigen, dass Bienen eine sehr komplexe Körpersprache verwenden, um ihren Artgenossen nicht nur die Entdeckung, sondern auch die Lage und die Qualität neuer Futterplätze mitzuteilen. Im Allgemeinen verwenden sie dafür drei verschiedene »Tänze«:
Wenn der gefundene Nektar in unmittelbarer Nähe des Stocks ist, führt die Biene einen sogenannten Rundtanz aus, der in abwechselnden Vollkreisen rechts- und linksherum besteht.
Futter in mittlerer Entfernung vom Stock wird durch den sogenannten Sicheltanz angezeigt, der, von oben gesehen, einer flachen, sichelartig verbogenen Acht gleicht. Die Öffnung der Sichel zeigt in die Richtung der Nahrungsquelle, und wie auch in anderen Bienentänzen bezieht sich die Geschwindigkeit des Tanzes auf die Qualität des Nektars.
Ist das Futter noch weiter vom Stock entfernt, so führt die Biene einen sogenannten Schwänzeltanz aus, der darin besteht, dass sie sich einige Zentimeter in Richtung auf die Fundstelle hin bewegt, im Halbkreis nach rechts oder links zum Ausgangspunkt zurückkehrt und von dort aus die Bewegung wiederholt. Während des geraden Vorrückens bewegt sie ihren Unterleib auffällig hin und her. (Siehe Abbildung 1)
Vor einigen Jahren machte von Frisch die zusätzliche Entdeckung, dass zwei Bienenarten, nämlich die österreichische und die italienische Biene (Apis mellifera carnica und Apis mellifera ligustica) zwar sich kreuzen und friedlich zusammenleben und -arbeiten können, dass sie aber verschiedene »Dialekte« sprechen, das heißt, dass die eben erwähnten Entfernungsangaben für sie verschiedene Bedeutungen haben[2]. Die italienische Biene verwendet den Schwänzeltanz zur Angabe von Entfernungen über 40 Meter, während für die österreichische dasselbe Signal eine Entfernung von mindestens 90 Metern bedeutet. Eine österreichische Biene, die sich mit der von einer italienischen Kollegin gegebenen Information auf den Flug zum Nektar macht, wird ihn also vergeblich, da viel zu weit vom Stock entfernt, suchen. Umgekehrt wird eine italienische Biene nicht weit genug fliegen, wenn sie sich auf österreichische Information verlässt.
Die Sprache der Bienen ist angeboren. Von Frisch konnte österreichisch-italienische Kreuzungen züchten, deren Kommunikationsverhalten zu babylonischen Verwirrungen Anlass gab: Er fand, dass 16 seiner Kreuzungen zwar die typische Körperzeichnung ihres italienischen Elternteils hatten, 65- von 66mal aber den Sicheltanz zur Kommunikation mittlerer Entfernungen vom Stock verwendeten. 15 dieser Kreuzungen dagegen sahen wie ihr österreichischer Elternteil aus, verwendeten aber 47- von 49mal den Rundtanz, wenn sie dieselbe Entfernung meinten. Mit anderen Worten, sie »sprachen italienisch«.
Die offensichtliche Lehre, die wir aus diesem Beispiel ziehen können, ist, dass die Zuschreibung einer bestimmten Bedeutung an ein bestimmtes Zeichen dann zur Konfusion führen muss, wenn diese Zuschreibung nicht von allen Zeichenbenutzern anerkannt wird – es sei denn, dass die verschiedenen Bedeutungen richtig von der einen in die andere Sprache (im weitesten Sinne dieses Ausdrucks) übersetzt werden. Weniger offensichtlich ist die Tatsache, dass auch wir Menschen dadurch, dass wir für unsere Kommunikation nicht nur Laut-, sondern auch Körpersprache verwenden, für dieselben Probleme anfällig sind wie die eben erwähnten Bienen. Die averbalen Ausdrucksformen der Körpersprache, die wir von unseren tierischen Vorfahren ererbt und in typisch menschlicher Weise weiterentwickelt haben, sind viel archaischer und daher viel bewusstseinsferner als unsere menschlichen Lautsprachen. Es gibt unzählige Verhaltensformen, die allen Mitgliedern einer bestimmten Kultur zur Vermittlung averbaler Kommunikation dienen. Diese Verhaltensweisen sind das Resultat des Aufwachsens und der Sozialisierung in einer bestimmten Kulturform, Familientradition usw. und werden dadurch sozusagen in uns hineinprogrammiert. Die Ethnologen verweisen bekanntlich darauf, dass es in verschiedenen Kulturen buchstäblich Hunderte von Formen der Begrüßung, des Ausdrucks von Freude oder Trauer, des Sitzens, Stehens, Gehens, Lachens usw. gibt. Wenn wir uns vor Augen halten, dass alles Verhalten in Gegenwart eines anderen Mitteilungscharakter hat, so sehen wir leicht ein, wie viel Raum für Konfusion und Konflikt allein schon im Bereich der Körpersprachen, geschweige denn in dem der Lautsprachen besteht. Hierzu zwei Beispiele:
In jeder Kultur gibt es eine Regel über den »richtigen« Abstand, den man einem Fremden gegenüber en face einzunehmen hat. In Westeuropa und in Nordamerika ist dieser Abstand die sprichwörtliche Armeslänge. Im Mittelmeerraum und in Lateinamerika ist dieser Abstand wesentlich anders: zwei aufeinander zugehende Personen bleiben auf viel kürzerer Distanz voneinander stehen. Wie Hunderte anderer, ähnlicher Regeln für »richtiges« Verhalten in einem bestimmten Wirklichkeitsrahmen sind auch diese Abstände rein außerbewusst, und solange sie von allen Kommunikationsteilnehmern befolgt werden, kann zwischen diesen kein Konflikt entstehen. Wenn sich nun aber ein Nordamerikaner und ein Südamerikaner in dieser Situation befinden, wird sich unweigerlich ein typischer Verhaltensablauf ergeben: Der Südamerikaner wird den für ihn als richtig empfundenen Abstand einnehmen, der Nordamerikaner dagegen wird die Situation undeutlich als unangenehm empfinden und durch Zurücktreten die für ihn »richtige« Distanz herstellen. Nun ist die Reihe am Südamerikaner, das vage Gefühl zu haben, dass etwas nicht stimmt, und er wird aufrücken usw. – bis der Nordamerikaner schließlich mit dem Rücken gegen eine Wand stoßen (und eventuell in eine homosexuelle Panik geraten) wird. Auf jeden Fall werden beide das undeutliche Gefühl haben, dass sich der andere falsch benimmt, und beide werden versuchen, die Situation zu korrigieren. Damit aber erzeugen sie einen typisch menschlichen Konflikt, der darin besteht, dass das Korrekturverhalten des einen Partners vom anderen als das Verhalten gesehen wird, das der Korrektur bedarf[3]. Und da ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach kein Ethnologe zu Hilfe kommen und die Verschiedenheit ihrer Körpersprachen und der durch sie ausgedrückten kulturellen Normen erklären wird, sind sie in einer misslicheren Lage als die erfolglos suchenden Bienen, da sie sich gegenseitig die Schuld an ihrem Konflikt zuschieben werden.
Das zweite Beispiel ist dem Buch »Interpersonelle Wahrnehmung«[4] von Laing und seinen Mitarbeitern entnommen. Ein in Ehetherapie stehendes, seit acht Jahren verheiratetes Paar berichtet, dass es bereits am zweiten Tage seiner Flitterwochen den ersten Ehezwist hatte. Die beiden saßen in einer Hotelbar, und die Frau knüpfte ein Gespräch mit einem anderen, ihnen unbekannten Ehepaar am nächsten Tisch an. Zu ihrer Enttäuschung und ihrem Ärger weigerte sich ihr Mann, an dieser Konversation teilzunehmen, und legte ein auffällig feindseliges und abweisendes Benehmen an den Tag. Sie fühlte sich dadurch in eine peinliche gesellschaftliche Lage versetzt, und nach Rückkehr auf ihr Zimmer kam es zu einer bitteren Auseinandersetzung, in der sie sich gegenseitig der Rücksichtslosigkeit beschuldigten.
Nun, acht Jahre später, stellt es sich heraus, dass die beiden ganz verschiedene Interpretationen vom Zweck und der Bedeutung der Flitterwochen (eines Brauchs, der zum Wohle der Menschheit ohnehin behördlich verboten werden sollte) hatten. Für die Frau waren die Flitterwochen die erste Gelegenheit, ihre neue gesellschaftliche Rolle auszuüben; bis dahin, so sagte sie, hatte sie nie ein Gespräch als Ehefrau mit einer anderen Ehefrau gehabt – sie war bisher nur Tochter, Schwester, Freundin und Verlobte gewesen.
Seiner Auffassung nach waren die Flitterwochen aber eine Zeit ausschließlichen Zusammenseins, eine einmalige Gelegenheit, der übrigen Welt den Rücken zu kehren und sich gegenseitig näherzukommen. Ihr Gespräch mit dem anderen Ehepaar bedeutete für ihn daher, dass ihr seine Gesellschaft nicht genügte und er ihre Bedürfnisse nicht befriedigen konnte. Und auch hier fehlte natürlich der »Übersetzer«, der den »Übersetzungsfehler« der beiden hätte entdecken und ihnen klarmachen können.( 3 )
Um aber von fast gänzlich außerbewussten Sachverhalten zur weitgehend bewussten Verwendung von Lautsprachen zurückzukehren, sei festgestellt, dass auch ein Übersetzer im eigentlichen Sinne des Wortes weit mehr als nur Sprachen kennen muss. Übersetzen ist eine Kunst, und dies bringt es einerseits mit sich, dass auch ein schlechter Übersetzer immer noch Besseres leistet als eine Übersetzungsmaschine. Andererseits aber bedingt auch die beste Übersetzung einen Verlust – vielleicht nicht so sehr einen Verlust an objektiver Information, aber zweifellos an jenen schwer zu erfassenden Merkmalen einer Sprache, die ihr Wesen ausmachen: ihre Schönheit und Bilderwelt, ihre Tradition, ihren Rhythmus und die vielen anderen Eigenarten, für die es keine unmittelbare Übersetzung gibt.( 4 )
Die Italiener haben ein Sprichwort: Traduttore, traditore. Was diesen Ausdruck so interessant macht, ist, dass er sowohl die Schwierigkeit ausdrückt, originalgetreu zu übersetzen, als auch, dass er selbst ein Beispiel dieser Schwierigkeit ist. Wie der Sprachwissenschaftler Roman Jacobson einmal bemerkte, würde die (sprachlich richtige) Übersetzung »der Übersetzer ist ein Verräter« diesen Ausdruck seines paronomastischen( 5 ) Wertes entkleiden. Das heißt, die Übersetzung wäre zwar korrekt, aber trotzdem nicht im Entferntesten das, was das Original ausdrückt.
Von zusätzlicher Wichtigkeit für unsere Überlegungen ist die Tatsache, dass eine Sprache nicht nur Information übermittelt, sondern auch Ausdruck einer ganz bestimmten Wirklichkeitsauffassung ist. Wie schon Wilhelm von Humboldt feststellte, sind verschiedene Sprachen nicht ebenso viele Bezeichnungen einer Sache; es sind verschiedene Ansichten derselben. Diese Eigenschaft aller Sprachen fällt besonders in internationalen Konferenzen ins Gewicht, wo es zum Zusammenprall von Ideologien kommt und der Übersetzer oder Dolmetscher, der nur eigentliche Sprachen, nicht aber auch die Sprachen von Ideologien kennt, hoffnungslos verloren ist. Eine Volksdemokratie ist bekanntlich nicht ganz dasselbe wie eine Demokratie; detente hat im sowjetischen Wörterbuch eine andere Bedeutung als in dem der NATO; umgekehrt aber kann ein und dasselbe Ereignis von einer Seite Befreiung und von der anderen Unterdrückung genannt werden.
Die Schlüsselstellung des Übersetzers (und noch mehr die des Dolmetschers( 6 )) kann es mit sich bringen, dass scheinbar unbedeutende Fehler rasch zu weitreichender Verwirrung führen. Diese Konfusion kann überaus ernste Folgen besonders dann haben, wenn sie ihr Unwesen in internationalen Konferenzen treibt, deren Beschlüsse unter Umständen das Schicksal von Millionen von Menschen beeinflussen. Dazu kommt noch, dass derartige Konfusionen manchmal nicht durch krasse Übersetzungsfehler oder Fahrlässigkeiten der Dolmetscher entstehen, sondern in der wohlgemeinten Absicht, im Interesse größerer Klarheit von sich aus eine Erklärung oder einen Zusatz beizusteuern. Prof. Ekvall, ein Fachmann für orientalische Sprachen, der viele Jahre lang als Dolmetscher an den wichtigsten Konferenzen im Fernen Osten teilnahm, berichtet über einen besonders eklatanten Zwischenfall dieser Art:
In der Schlusssitzung der Genfer Korea-Konferenz im Sommer 1954 nahm Paul Henri Spaak als Sprecher der Vereinten Nationen Stellung gegen die Unversöhnlichkeit Nordkoreas, der durch Tschou En-lai vertretenen Volksrepublik China und der Sowjetunion. Spaak war der Ansicht, dass es
die Vollständigkeit und die Offenheit des Vorschlags der Vereinten Nationen überflüssig machte, irgendwelche anderen Vorschläge in Betracht zu ziehen, und er schloss mit dem Satze: »Cette déclaration est contenue dans notre texte.« Die englische Simultanversion, der ich mit meinem anderen Ohr zuhörte, lautete: »Diese Erklärung ist im Text des Waffenstillstandsabkommens enthalten.« Wie sich später herausstellte, hatte der Dolmetscher »dans l’autre texte« statt »dans notre texte« verstanden und hatte, in der Meinung, dass »l’autre« vage war und eines genaueren Bezugs bedurfte, den Zusatz »des Waffenstillstandsabkommens« eingeschoben.
Von diesem Augenblick an begannen sich die Dinge zu überstürzen. Tschou ließ sich die gute Gelegenheit nicht entgehen und beschuldigte Spaak, eine unzutreffende Feststellung gemacht zu haben. Er betonte, dass im Widerspruch dazu, was Spaak eben behauptet hatte, der Vorschlag der Volksrepublik China eben nicht in das Waffenstillstandsabkommen aufgenommen worden war.
Paul Henri Spaak beguckte sich Tschou En-lai mit einer Mischung von wohlwollendem, aber nicht übertriebenem Interesse und offensichtlicher Verwunderung über dessen Aufregung. Vielleicht in der Annahme, dass diese schrillen chinesischen Silben eine merkwürdige Antwort auf die nuancierte Eleganz dessen waren, was er so treffend auf Französisch ausgedrückt hatte, und jedenfalls willens, zu ergründen, was diese unbekannten Laute bedeuteten, rückte er gutmütig seine Kopfhörer zurecht. Als ihr Sinn ihm aber schließlich auf dem Umwege vom Chinesischen über Englisch und Französisch klar wurde, war die Reihe an ihm, zornig durch Handzeichen und Rufe das Wort zu fordern.
Da viele Konferenzteilnehmer Spaaks Erklärung auf Französisch angehört hatten, fanden auch sie Tschous Reaktion befremdend, während diejenigen, die nur über die »angereicherte« Übersetzung verfügten (Tschou, seine Delegation und die Nordkoreaner), ihrerseits Spaaks Entrüstung für unangebracht hielten.
Das nächste Glied in dieser Kette der Verwirrungen war ein weiterer Übersetzungsfehler. Es war Spaak schließlich gelungen, glaubhaft zu machen, dass er den fatalen Zusatz »des Waffenstillstandsabkommens« nie gemacht hatte. Und wie es sich so häufig nach peinlichen Missverständnissen ergibt, überboten sich nun sowohl er wie auch sein noch vor einer Minute feindseliger Partner in Beteuerungen gegenseitigen Verständnisses und versicherten sich des aufrichtigen Wunsches, das Malheur ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Tschou stellte dann folgende Frage:
Wenn die Erklärung der 16 UNO-Staaten und der letzte Vorschlag der Delegation der Volksrepublik China trotz einiger gewisser Unterschiede auf einem gemeinsamen Wunsch beruht und nicht nur auf der einseitigen Stellungnahme der Sechzehn, warum soll es dann den in dieser Genfer Konferenz versammelten 19 Staaten nicht möglich sein, diesen gemeinsamen Wunsch in einem gemeinsamen Abkommen auszudrücken?
Der springende Punkt waren natürlich die Worte, »trotz einiger gewisser Unterschiede«, die die scheinbare Konzilianz Tschous, wenn auch in bagatellisierender Weise, einschränkten. In der Nervosität über das eben erst mühsam bereinigte Missgeschick seines Kollegen unterlief Tschous Dolmetscher der Fehler, diese Worte auszulassen. Was darauf geschah, beschreibt Ekvall wie folgt:
Was Spaak schließlich auf Französisch hörte, war ein weitgehender Appell für ein auf dem gemeinsamen Wunsch nach Verständigung beruhendes Übereinkommen. Möglicherweise klang es in seinen Ohren sogar wie ein verspätetes chinesisches Einlenken auf den Standpunkt, den er so eloquent vertreten hatte. Vielleicht glaubte er, Tschou endlich zur Vernunft gebracht zu haben. In der Hitze ihres Missverständnisses hatte ihn sein kühles, klares Denken im Stich gelassen, und um nun zu zeigen, dass auch er einlenken konnte, erklärte er ohne Vorbehalt: »En ce que me concerne et pour éviter toute doute, je suis prêt à affirmer que j’accepte la proposition du délégué de la république chinoise.«( 7 )
Die Folgen waren sensationell. Ein Sturm der Entrüstung brach im Konferenzsaal aus und tobte eine Dreiviertelstunde lang. Spaak, der allseits geachtete Führer der westlichen Mächte, hatte scheinbar seine eigene Seite betrogen, hatte – um Ekvall nochmals zu zitieren –
die vor Beginn der Schlusssitzung so sorgfältig hergestellte Einstimmigkeit und Einheit gebrochen und war zum Feinde übergegangen. Premierminister Casey von Australien, der philippinische Vizepräsident Garcia und die Führer anderer Delegationen überboten einander, das Wort erteilt zu bekommen. General Bedell Smith, der Leiter der USA-Delegation, versuchte zweierlei: zu Wort zu kommen und gleichzeitig die südkoreanische Delegation, die plötzlich Verrat witterte und sich anschickte, den Saal zu verlassen, physisch am Aufstehen zu hindern. Sir Anthony Eden wusste in der Konfusion der sich überstürzenden Ereignisse offensichtlich nicht, ob Spaak plötzlich nachgegeben oder den Chinesen eine unerwartete Konzession abgerungen hatte. Auch war es ihm nicht klar, wem von den vielen, die sich zu Worte meldeten, er es erteilen sollte, und auch er schien so der allgemeinen Verwirrung zum Opfer zu fallen.[5]
Was Ekvall hier nur andeutet, hat besonderes Gewicht für unser Thema: Da er alle Konferenzsprachen kannte, war er vermutlich der einzige Teilnehmer an dieser hochwichtigen Generalversammlung der Genfer Korea-Konferenz, der volle Kenntnis vom Ursprung dieser Konfusion und von ihrer lawinenartigen Entwicklung hatte. Alle anderen Anwesenden hatten nur einen Teil der Gesamtinformation, die Ekvall besaß, und dieses Teilwissen führte sie typischerweise dazu, Verrat und Unaufrichtigkeit zu wittern. Die Rolle des Dolmetschers beschränkt sich aber notwendigerweise auf die eines getreuen Echos (wie Ekvall sie bescheiden definiert); er darf nur vermitteln, nicht aber aktiv in den Lauf der Ereignisse eingreifen. Was den Inhalt der Verhandlungen als solche betrifft, ist diese Beschränkung natürlich absolut notwendig. Der Fluss der Kommunikationen sollte idealerweise so fehlerfrei und wahrheitsgetreu sein, als sprächen die Verhandlungspartner dieselbe Sprache. Gerade aber dies versetzt den Dolmetscher in eine Machtstellung, die sogar die des Konferenzvorsitzenden übertrifft, denn wie jeder Vermittler hat er ein großes Maß an geheimer Macht.( 8 )Beide Seiten sind auf ihn angewiesen, denn er ist ihre einzige Verständigungsmöglichkeit, und weder die eine noch die andere Partei hat daher Macht über ihn. Es versteht sich von selbst, dass die Versuchung gelegentlich groß ist, sich dieser Macht zu bedienen und ein nicht ganz wahrheitsgetreues Echo zu sein. Hiervon berichtet eine Geschichte, die in die Zeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie zurückgeht (und wahrscheinlich von Roda Roda, einem der bekanntesten Chronisten dieser Epoche, berichtet wurde):
Der Kommandant einer österreichischen Abteilung hat Befehl, Repressalien gegen ein albanisches Dorf durchzuführen, falls sich die Dorfbewohner nicht verpflichten, gewissen österreichischen Forderungen voll nachzukommen. Glücklicherweise spricht keiner der Soldaten albanisch, noch verstehen die Bewohner des Dorfes auch nur eine der vielen Sprachen, die im ethnischen Mischmasch der k. und k. Armee gesprochen werden. Endlich findet sich ein Dolmetscher – ein Mann, reich an jenem praktischen Verständnis der menschlichen Natur, das die Bewohner jener fernen, fabelhaften Länder östlich und südlich von Wien (dem Maghrebinien Gregor von Rezzoris) so besonders auszeichnet. Und da ist kaum ein einziger Satz in dem ganzen langen Palaver, den er wahrheitsgetreu übersetzt. Vielmehr erzählt er jeder der beiden Seiten nur das, was sie von der anderen hören will oder anzunehmen bereit ist, schiebt hier eine kleine Drohung, dort die Andeutung eines Versprechens ein, bis schließlich beide Seiten die andere so vernünftig und fair finden, dass der österreichische Offizier keinen Grund für Repressalien mehr sieht, während die Dorfbewohner ihn nicht gehen lassen, bis er gewisse Abschiedsgeschenke annimmt, von denen er wiederum glaubt, es handle sich um freiwillige Wiedergutmachungen.
Zur Zeit, in der diese Geschichte angeblich spielt, war die Psychotherapie ein noch unbekannter Begriff, doch kann die Intervention des Dolmetschers durchaus therapeutisch genannt werden. Dies mag freilich nicht dem entsprechen, was der Leser unter diesem Begriff versteht. Denn was hat all das mit der Erforschung des Unbewussten zu tun, mit Einsicht und menschlicher Reife? Die Geschichte handelt vielmehr von einem Netz von Lügen, von Manipulation und absichtlich erzeugter Konfusion. Die entscheidende Frage ist aber: Welche Situation war konfuser und daher pathologischer – die vor oder nach der Intervention des Dolmetschers? Die Antwort hängt davon ab, welchen Preis wir für Ehrlichkeit verantworten können, wenn diese Ehrlichkeit im Dienste der Unmenschlichkeit steht.
Doch wäre es verfrüht, eine Antwort auch nur zu versuchen. Wir werden uns dieser Frage und ihren fragwürdigen Beantwortungen wieder zuwenden müssen, wenn wir uns mit jenen merkwürdigen Kommunikationskontexten befassen werden, »in denen alles wahr ist, auch das Gegenteil«. Vorläufig sei nur festgehalten: Da das vertiefte Verständnis von Kommunikation uns menschliche Probleme in neuem Licht zeigt, zwingt es uns auch, die bisherigen Lösungsversuche kritisch zu überprüfen.
Wenn ich denke,
dass ich nicht mehr an dich denke,
denke ich immer noch an dich.
So will ich denn versuchen,
nicht zu denken,
dass ich nicht mehr an dich denke.
Mit dem bisher Gesagten ist das weite Feld der Konfusion auch nicht annähernd umrissen. Wir haben gesehen, dass sie überall dort auftreten kann, wo von einer Sprache (im weitesten Sinne) in eine andere übersetzt werden muss, und es sich dabei aus verschiedenen Gründen ergeben kann, dass eine Mitteilung (wiederum im weitesten Sinne) für Sender und Empfänger sehr verschiedenen Sinn und Bedeutung hat. Als Nächstes wollen wir einige typische Situationen näher prüfen, in denen die Konfusion nicht als Folge einer Störung des Übertragungsvorgangs auftritt, sondern in der Struktur der Mitteilung selbst enthalten ist. Was damit gemeint ist, lässt sich wiederum am besten anhand von Beispielen erläutern:
Lieber M. G.,
Bitte senden Sie mir diese Karte wieder zurück, tragen Sie aber vorher »ja« oder irgendein beliebiges anderes Zeichen in das leere Rechteck links von meiner Unterschrift ein, wenn Sie Grund zur Annahme haben, dass ich bei Erhalt der Karte dieses Rechteck noch leer vorfinden werde.
Ihr ergebener
K. R. Popper
Falls diese Beispiele im Kopf des Lesers ein gewisses Gefühl der Lähmung erzeugt haben, so hat er damit bereits die erste praktische Erfahrung mit einer weiteren Gattung der Konfusion gemacht. Im bekannten Kinderbuch »Mary Poppins« von Pamela Travers kommt sie noch besser zum Ausdruck. Mary Poppins, ein englisches Kindermädchen, besucht mit ihren beiden Schützlingen, Jane und Michael, Frau Corrys Lebkuchenladen. Frau Corry, eine kleine, verhutzelte, hexenhafte Alte, hat zwei riesenhafte, freudlose Töchter namens Fannie und Annie, die als Ladenmädchen arbeiten, während sie selbst sich meist in einem Stübchen hinter dem Ladenraum aufhält. Als sie Mary Poppins und die Kinder hört, kommt sie heraus:
»Ich nehme an, meine Liebe –« sie wandte sich an Mary Poppins, die eine alte Bekannte zu sein schien –, »ihr seid wegen Pfefferkuchen gekommen?«
»Erraten, Missis Corry«, antwortete Mary Poppins sehr höflich.
»Sehr gut! Haben euch Fannie und Annie noch keine gegeben?« Bei dieser Frage sah sie Jane und Michael an.
Jane schüttelte den Kopf. Zwei schüchterne Stimmen kamen hinter dem Ladentisch hervor.
»Nein, Mutter«, sagte Miss Fannie betreten.
»Wir waren dabei, Mutter –«, flüsterte Miss Annie verschüchtert.
Missis Corry richtete sich auf, so hoch sie konnte, und betrachtete ihre riesigen Töchter voll Zorn. Sie sagte leise, aber verärgert und höhnisch:
»Eben dabei? Wirklich? Das ist ja höchst interessant. Und wer, darf ich fragen, Annie, gab dir die Erlaubnis, meine Pfefferkuchen fortzugeben –?«
»Niemand, Mutter. Und ich hab’ sie auch nicht fortgegeben. Ich dachte nur –«
»Du dachtest nur. Das ist sehr gütig von dir. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du es bleiben ließest. Was es hier zu denken gibt, besorge ich!«, erklärte Missis Corry mit ihrer leisen, schrecklichen Stimme. Dann brach sie in ein grelles, gackerndes Gelächter aus.
»Schaut sie an! Schaut sie nur an! Angsthase! Heulsuse!«, kreischte sie und zeigte mit ihrem knotigen Finger auf die Tochter.
Jane und Michael drehten sich um und sahen, wie eine große Träne über Miss Annies trauriges Gesicht kollerte; aber sie wagten nichts zu sagen, denn so winzig Missis Corry war, sie fühlten sich vor ihr verlegen und eingeschüchtert. [7].
In weniger als einer halben Minute gelingt es Frau Corry also, die arme Annie in allen drei Bereichen menschlichen Lebens und Erlebens zu blockieren, nämlich in ihrem Handeln, Denken und Fühlen. Durch die Form ihrer ersten Frage deutet sie an, dass sie es von ihren Töchtern als selbstverständlich erwartet, den Kindern Lebkuchen zu geben. Sobald sich ihre Töchter aber dafür entschuldigen, dies noch nicht getan zu haben, spricht sie ihnen plötzlich das Recht zum selbständigen Handeln ab. Annie versucht daraufhin, sich damit zu verteidigen, dass sie es ja nicht wirklich getan, sondern nur zu tun beabsichtigt habe – offensichtlich in der immerhin vernünftigen Annahme, dass ihre Mutter bei ihr zumindest selbständiges Denken voraussetzt. Doch auch dies trägt ihr kein mütterliches Lob ein, denn Frau Corry lässt sie prompt wissen, dass sie kein Recht hat, derlei oder überhaupt zu denken. Und die Art und Weise, in der die Mutter ihr Missfallen zum Ausdruck bringt, lässt schließlich keinen Zweifel darüber, dass die Angelegenheit keine Kleinigkeit ist, sondern dass sie sich von ihren Töchtern Reue erwartet. Kaum hat sie Annie damit in Tränen versetzt, verhöhnt sie als nächstes die Gefühle ihrer Tochter.
Wir wissen nicht, warum Frau Corry so mit ihren Töchtern umgeht, aber wir können es uns nicht leisten, die Geschichte einfach als fiktiv abzutun. Das eben beschriebene Kommunikationsmuster findet sich nämlich in klinisch gestörten Familien nur zu häufig, und es existiert darüber eine ausgedehnte Literatur [zum Beispiel [8], [9], [10], [11], [12], [13], [14], [15], [16]]. Man spricht von ihm als einer Doppelbindung. Was dieser Begriff und die oben angeführten Beispiele gemeinsam haben, ist ihre Struktur, die der der Paradoxien (der Antinomien) in der Formallogik entspricht. Während die Paradoxien der Logik für den Nichtfachmann aber höchstens amüsante Erinnerungen an seine Schulzeit sind, ist ihr Auftreten im Gebiet der menschlichen Kommunikation von überragender Bedeutung. Und ganz ähnlich wie bei Frau Corrys Tochter lassen sich dabei drei Variationen des Grundthemas unterscheiden:
Nun gibt es aber noch eine vierte Variante dieses Grundthemas, die allein schon deswegen die häufigste sein dürfte, weil sich ihr Auftreten nicht auf klinisch gestörte Kommunikationssituationen beschränkt. Es handelt sich dabei um die merkwürdige, sehr irritierende Zwangslage, die immer dann entsteht, wenn ein Partner vom anderen ein ganz bestimmtes spontanes Verhalten fordert, das sich aber deswegen eben nicht spontan ergeben kann, weil es gefordert wurde. Je nach der Stärke des ihnen zugrunde liegenden Bedürfnisses können sich diese sogenannten »Sei spontan!«-Paradoxien von harmlosen Reibungen bis zu tragischen Verwicklungen erstrecken. Es ist eine der vielen Merkwürdigkeiten menschlicher Kommunikation, dass es unmöglieh ist, einen anderen Menschen zur spontanen Erfüllung eines Wunsches oder eines Bedürfnisses zu veranlassen. Geforderte Spontaneität führt vielmehr unweigerlich in die paradoxe Situation, in der die Forderung ihre eigene Erfüllung unmöglich macht. Dieses Kommunikationsmuster liegt zum Beispiel dann vor, wenn eine Ehefrau es ihrem Mann nahelegt, ihr doch gelegentlich Blumen mitzubringen. Da sie sich vermutlich seit Langem nach diesem kleinen Liebesbeweis gesehnt hat, ist ihr Wunsch menschlich durchaus verständlich. Weniger offensichtlich dagegen ist die Tatsache, dass sie sich damit nun die Erfüllung ihrer Sehnsucht endgültig verbaut hat: Wenn er nämlich ihren Wunsch ignoriert, wird sie sich noch weniger geliebt fühlen; kommt er ihm aber nach, so wird sie dennoch unzufrieden sein, denn er bringt ihr die Blumen ja nicht spontan, von sich aus, sondern nur, weil sie sie verlangte. Ganz ähnlich kann es Eltern ergehen, die ihren Sohn für zu weich und nachgiebig halten und ihm daher irgendeine Variation des Themas »Sei nicht so nachgiebig!« einzubläuen versuchen. Doch auch hier sind nur zwei Ergebnisse möglich, und beide sind unannehmbar. Entweder der Junge bleibt passiv (in welchem Falle die Eltern unzufrieden sein werden, da er ihrem Wunsch nach festerem Auftreten nicht gehorcht), oder sein Verhalten ändert sich in der gewünschten Weise, doch werden sie in diesem Falle trotzdem unzufrieden sein, weil er sich aus dem falschen Grunde (nämlich eben doch wieder aus Nachgiebigkeit ihnen gegenüber) richtig verhält. In solchen zwischenmenschlichen Zwickmühlen sind alle Partner gleichermaßen gefangen, wenn auch die Schuld daran erfahrungsgemäß jeweils dem oder den anderen zugeschrieben wird.
Abbildung 3 stellt eine besondere Variante einer »Sei spontan!«-Paradoxie oder, genauer genommen, ihr Spiegelbild dar. Der von der Kellnerin getragene Blechknopf mit der kitschigen, aber schwer übersetzbaren Aufschrift »We’re glad you’re here« (etwa: Wir freuen uns, dass Sie unser Gast sind) widerspricht dem Sinn dieser Aufschrift durch die Art und Weise, in der dieser Sinn kommuniziert wird. Ein herzlich gemeintes Willkommen dieser Art hat nur dann wirkliche Bedeutung, wenn es individuell und spontan geboten wird. Dem widerspricht aber nicht nur der Gesichtsausdruck der kaffeeservierenden Kellnerin, sondern vor allem die Tatsache, dass dieser als Massenartikel hergestellte Blechknopf, den vermutlich jeder Angestellte des Hotels als Teil seiner Uniform trägt, im Gast schwerlich den Eindruck aufkommen lässt, persönlich willkommen zu sein. Bei diesem Beispiel liegt die Paradoxie also nicht in einer Forderung nach spontanem Verhalten, sondern umgekehrt im unterschiedslosen Blanko-Angebot pseudo-spontaner Gastfreundschaft.
Paradoxien sind universal, und sie können ihr Unwesen in allen möglichen Gebieten menschlicher Beziehungen treiben, und es besteht guter Grund zur Annahme, dass sie unsere Wirklichkeitsauffassung nachhaltig beeinflussen können. Begriffe wie Spontaneität, Vertrauen, Folgerichtigkeit, Beweisbarkeit, Gerechtigkeit, Normalität, Macht und viele andere haben die fatale Neigung, bei allzu genauem Durchdenken in Paradoxien zu münden. Besehen wir uns den letzteren, die Macht. Macht erzeugt ihre eigenen Paradoxien und Doppelbindungen, wie ein Zitat aus Peter Schmids Studie über die Beziehungen zwischen den USA und Japan in der Mitte der Sechzigerjahre veranschaulicht. Für Schmid war das damals im Schatten Amerikas dahinlebende Japan ein Hamlet, der zwischen den sich gegenseitig ausschließenden Idealen von Sicherheit und Verzicht auf Macht schwankte:
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