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Aus dem Englischen von Bärbel Arnold und Velten Arnold
© 2018 Piper Verlag GmbH, München
Titel der Originalausgabe: »Brightly Shone the Moon that Night«
© Paul Finch 2017
Redaktion: Barbara Raschig
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic®, München
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Im Wetterbericht war für den Abend Schnee vorhergesagt worden, aber Jen hatte nicht erwartet, dass es wirklich schneien würde. Wie oft schneite es schon mitten in London, und dann auch noch an Weihnachten?
Weiße Weihnachten gab es nur äußerst selten, auch wenn das zu der Zeit, in der Charles Dickens gelebt hatte, vielleicht einmal anders gewesen sein mochte. Jen hatte mal gelesen, dass es in London dieser Tage wärmer war als im neunzehnten Jahrhundert. Damals hatte auf der Themse offenbar sogar oftmals ein Weihnachtsmarkt stattgefunden, da man auf der Eisdecke des Flusses Stände und Zelte hatte aufbauen können. Doch solange sie sich zurückerinnern konnte, war die Themse kein einziges Mal zugefroren, und das wollte was heißen, denn sie war durch und durch ein Londoner Mädel und hatte in den vierzig Jahren ihres Lebens nie woanders gewohnt. Dass die Themse nicht mehr zufror, lag wahrscheinlich an all den unterirdischen Installationen, die es dieser Tage gab. Nicht nur die U-Bahn, sondern auch Abwasserkanäle, elektrische Leitungen oder mit Gas und heißem Wasser gefüllte Rohre. Und all diese Installationen sandten Wärme nach oben durch die Bürgersteige und Straßendecken. Außerdem gab es inzwischen viel mehr und höhere Häuser als damals, die zudem zentral geheizt wurden und in denen es jede Menge elektrische Leitungen und Warmwassersysteme gab, sodass die Gebäude Wärme in die Atmosphäre über der Stadt abstrahlten.
Somit konnte es im inneren Stadtbereich Londons zwar durchaus kalt werden, aber es musste schon sehr kalt werden, damit sich die Stadt in eine klassische Winterlandschaft verwandelte. Und an diesem Abend musste es extrem kalt sein.
Alle würden den Schneefall natürlich herrlich finden. All diese Idioten da draußen, die tranken, bis sie voll waren wie die Haubitzen. Sie würden sagen, dass die weiße Pracht alles »so weihnachtlich« mache, während sie von einem Pub zum nächsten taumelten, die Typen in kurzärmeligen Hemden mit offenen Kragen, die Mädels in freizügigen Minikleidern und hochhackigen Schuhen, und alle so sternhagelvoll, dass sie gar nicht merkten, wie durchgefroren sie waren. Gegen Mitternacht würden einige von ihnen in den Gossen liegen oder auf Parkbänken schnarchen und die Kälte immer noch nicht spüren.
Man musste schon ziemlich betrunken sein, um in so einen Zustand zu verfallen, was in Anbetracht dessen, dass Weihnachten war, einfach nur absurd war. Wie viele Weihnachtsfeiertage mussten diese Leute als ein Häufchen Elend verbracht haben, von pochenden Kopfschmerzen geplagt, und beim leichtesten Hauch der Brandy-Sahne auf dem Pudding kurz davor, sich übergeben zu müssen?
So ein selbstzerstörerisches Verhalten. So kindisch.
Über all das sann Jen nach, während sie unter der weihnachtlichen Dekoration am vorderen Fenster stand, eine Zigarette rauchte und zusah, wie die Schneeflocken unaufhörlich hinabrieselten und die Jubilee Crescent mit einem makellosen weißen Teppich bedeckten. Und obwohl sie sich an diesem Abend selber ein Glas Sheridan’s Coffee Liqueur genehmigt hatte, das sie sogar noch in der linken Hand hielt und in dem die Eiswürfel klirrten, während sie ihren Ärger über das kollektive Besäufnis da draußen zu unterdrücken versuchte, sagte sie sich, dass sie keine Heuchlerin war. Nach diesem Glas war Schluss. Oh ja, sie gönnte sich gerne ein Gläschen oder auch zwei, aber sie kannte die Schattenseiten des exzessiven Trinkens. Sie hatte in dieser Hinsicht zu viel durchgemacht, erst mit ihrem Vater und später dann mit Ronnie.
Was Weihnachten selbst anging, hatte sie ähnlich widersprüchliche Ansichten.
Einerseits war es ein Feiertag, und das war schon mal gut. Alles, was dazu beitrug, dass sie eine Weile von der Supermarktkasse wegkam, war gut. Und als Kind hatte sie Weihnachten geliebt. Auch wenn sie nie einen Penny übriggehabt hatten, hatte ihre Mutter immer getan, was sie konnte, damit es in ihrer Sozialwohnung in Stepney Green ein bisschen weihnachtlich wurde. Sie hatte es jedes Jahr geschafft, dass ihre einzige Lichterkette funktionierte, hatte den Weihnachtsbaum auf der Anrichte mit selbstgebasteltem Schmuck aus Alufolie dekoriert und von den Büschen im Park echte Stechpalmenzweige abgeschnitten und damit den Kaminsims geschmückt, auf dem die Weihnachtskarten standen. Und Jen hatte auch Geschenke bekommen. Keine übermäßig teuren, nicht die tollen, kostspieligen Spielzeuge, die man in den Schaufenstern bei Harrods oder Hamleys bewundern konnte, aber trotzdem schöne Dinge, über die sie sich gefreut hatte. Vielleicht ein schönes Kleid oder ein neues Paar Schuhe. Manchmal auch zusätzlich noch eine Selection Box oder eine der alljährlich zu Weihnachten herausgegebenen Comic-Jahresausgaben. Alles in allem hatte sie sich nicht beklagen können.
Aber es war ja nicht nur um die Geschenke gegangen.
Weihnachten war immer, na ja, eben Weihnachten gewesen, mit dieser ganz besonderen Atmosphäre, der aufgeregten Neugier, der Freude und dieser magischen Aura des Geheimnisvollen. In der Schule hatte sie immer gerne bei der Aufführung der Weihnachtsgeschichte mitgespielt und in der Heiligen Nacht den Mitternachtsgottesdienst besucht und sich an dem flackernden Kerzenschein auf den Tannenzweigen und der Krippe erfreut.
Aber dann war da auch noch die eher düstere Seite von Weihnachten gewesen.
Als Kind war das Fest für sie immer dadurch getrübt gewesen, dass sie und ihre Mutter so viele Weihnachtsnachmittage im Pentonville-Gefängnis verbracht hatten, wo sie ihren Vater besucht hatten. Es wunderte sie und machte sie ein wenig ratlos, dass sie Weihnachten dieser Tage immer noch teilweise im Gefängnis zubrachte, nur dass ihre Besuche inzwischen im Belmarsh-Gefängnis stattfanden, wohin die Anfahrt zwar länger dauerte, aber wenigstens war es in London. Die ersten beiden Jahre seiner Strafe hatte Ronnie in Wakefield absitzen müssen, wohin die Anfahrt mit dem Zug einen halben Tag gedauert hatte. Aber eins war natürlich klar: Wo auch immer die, die man lieb hatte, eingesperrt waren – im Gefängnis kam keine Freude auf. Dabei gab Jen sich alle Mühe, Ronnie gegenüber gute Miene zum bösen Spiel zu machen, indem sie sich zum Beispiel sexy kleidete. Letzteres war allerdings schon für sich genommen eine Herausforderung, da sie immer älter und schwerer wurde.
Vielleicht war es deshalb keine Überraschung, dass ihre Gedanken, wenn sie zur Ruhe kam und über Weihnachten nachsann, von einem Hauch Melancholie getrübt waren.
Aber es nutzte nichts, über solche Dinge nachzugrübeln.
Sie zog den Vorhang vor den herabrieselnden Flocken zu, ging durch das Wohnzimmer ihres kleinen Reihenhauses und drehte den Gaskamin hoch, bis der Schein der flackernden Flammen den Raum erfüllte. Dann ließ sie sich in ihrem Sessel nieder und legte ihre in Hausschuhen steckenden Füße auf den Hocker.
Weihnachten war, wie es nun mal war, und man musste das Beste daraus machen.
Es war ja auch nicht so, als ob sie absolut alleine wäre. Morgen würde sie Ronnie besuchen und ein paar nette Stunden mit ihm verbringen. Und in der Zwischenzeit hatte sie ihren anderen besten Freund: den Fernseher, der natürlich lief. Auf der Mattscheibe wurde festliche Ausgelassenheit zum Besten gegeben. Ken Bob führte in Blackpool Sketche auf. Der Typ war wirklich erstaunlich; über siebzig, und immer noch in Bestform. Und als ob das noch nicht genug wäre, spielten Hale und Pace auch noch die Broker’s Men. Wenn sie noch mal Appetit bekommen sollte, hatte sie noch ein paar Stücke Pizza übrig. Die Schachtel, in der die Pizza geliefert worden war, stand vor dem Gaskamin auf dem Boden. Auf dem Tisch zu ihrer Rechten stand eine Schale Popcorn, zu ihrer Linken eine Schachtel Pralinen. Und wenn das alles nicht half und ihre jeglicher Trübsal trotzende gute Laune sich verflüchtigen sollte, hatte sie ja immer noch die Flasche Sheridan im Kühlschrank. Na gut, es war nicht der Inbegriff eines frohen Weihnachtsabends, aber es gab jede Menge schlimmere Dinge.
In dem Moment klopfte es an der Haustür.
»Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich wollen?«, fragte Gwen Straker.
Heck blickte von seinem Schreibtisch auf. »Ich bin immerhin hier, Ma’am. Sonst ist ja keiner mehr da.«
Sie ging zum Fenster des Büros. Heck blätterte weiter durch die Papiere, die sich vor ihm stapelten. Heck war natürlich sein Spitzname. Mit richtigem Namen und Dienstgrad hieß er Detective Constable Mark Heckenburg. Mitte zwanzig, einsfünfundachtzig groß, schlank und athletisch gebaut. Er hatte schwarzes, kragenlanges Haar, das sich normalerweise in einem unbändigen, leicht zerzausten Zustand befand, und markante, jedoch liebenswerte Gesichtszüge. Inzwischen schob er zwar schon seit einigen Jahren Dienst bei der Metropolitan Police, hatte seinen Lancashire-Akzent jedoch noch nicht abgelegt, auch wenn er langsam verblasste.
Gwen Straker hingegen, oder mit komplettem Dienstgrad, Detective Inspector Gwen Straker, war durch und durch Londonerin und unweit der Wache, in der sie Dienst tat, in Shoreditch geboren worden. Selbst bei der Metropolitan Police, bei der fortschrittliches Denken großgeschrieben wurde, war sie als eine farbige Frau, die auf der Karriereleiter nach oben geklettert war, noch eher ein seltenes Exemplar. Sie hatte es nicht leicht gehabt, doch sie war inzwischen Ende dreißig und hatte die »Cleopatra-Jones/Foxy-Brown«-Hänseleien somit lange hinter sich gelassen. Sie hatte oft gedacht, dass sie viel dafür gegeben hätte, wenigstens ein bisschen wie Tamara Dobson oder Pam Grier auszusehen, aber was sie erreicht hatte, hatte sie sich hart erarbeitet und nicht irgendeiner Art von positiver Diskriminierung zu verdanken. Inzwischen war sie sehr respektiert, und zwar nicht nur aufgrund ihrer Fähigkeiten als Detective sondern auch insbesondere dank ihres Führungsstils. Im Grunde sah sie Pam Grier sogar ein bisschen ähnlich. Sie hatte tatsächlich einmal die langen Haare gehabt, doch inzwischen trug sie sie kurz und gelockt und schlüpfte nie in die Rolle einer knallharten Frau. Gwen stand mit beiden Beinen im Leben, aber sie hatte sich auch eine Scheibe von ihren regelmäßig in die Kirche gehenden grenadinischen Eltern abgeschnitten. Sie hielt sich für umgänglich und zugänglich und, was die ihr unterstellten Beamten anging, sogar beinahe für mütterlich, jedenfalls solange sie sie nicht allzu sehr auf die Palme brachten.
Sie stand am Fenster, öffnete die Rillen der Jalousie ein wenig und sah in ihren Jeans, ihren Blockabsatzschuhen und ihrem langen Ledermantel so aus, als wäre sie längst bereit, Feierabend zu machen und nach Hause zu fahren, doch angesichts der Winterlandschaft, die sie da draußen begrüßte, verharrte sie wie angewurzelt.
»Mensch, sehen Sie sich mal dieses weihnachtliche Wetter an! Und da wollen Sie im Büro hocken bleiben?«
»Meinen Sie, ich sollte lieber da draußen sein und Schneebälle werfen?«, fragte Heck. »Oder Schneemänner bauen?«
Sie musterte ihn kurz mit einem leicht missbilligenden Blick. »Mark, sind Sie absolut sicher, dass Sie heute den Nachtdienst übernehmen wollen?«
Er lachte. »Ich glaube kaum, dass einer der Kollegen erfreut sein würde, wenn Sie ihn jetzt antanzen ließen, wenn ich meine Meinung noch kurzfristig ändern sollte.«
»Ich könnte einspringen. Ich habe sowieso Bereitschaft.«
Er verzog das Gesicht. »Sie haben zwei Kinder.«
»Sie sind keine richtigen Kinder mehr.«
»Na schön, dann eben Teenager. Sie wollen trotzdem, dass ihre Mum am Heiligen Abend bei ihnen ist.«
»Sie machen Witze, oder? Sie werden natürlich noch losziehen und einen draufmachen. Der Weihnachtsmann ist heutzutage nicht mehr so eine große Attraktion.«
Er zuckte mit den Schultern. »Dann bleiben immer noch Sie und Dom. Vielleicht können Sie ihm in diesem Jahr ein kleines Geschenk der besonderen Art bescheren.«
»Jetzt wird’s aber ein bisschen dreist, oder?« Doch dann schien sie darüber nachzudenken.
»Ist allerdings nicht die schlechteste Idee.« Sie ging zur Tür. »Na gut, ich weiß Ihre Liebenswürdigkeit zu schätzen und lasse Sie jetzt alleine.«
»Gute Nacht, Ma’am.«
»Frohe Weihnachten, Mark.«
»Wünsche ich auch.«
»Versuchen Sie zumindest, eine angenehme Weihnachtsnacht zu haben, okay?«
Er nickte.
»Kann ich noch irgendwas für Sie tun?«
»Ich muss nur diese Unterlagen für meinen Auftritt vor Gericht in Form bringen«, entgegnete er. »Vorausgesetzt, ich werde nicht rausgerufen.«
Sie dachte darüber nach und verzog das Gesicht. »Die uniformierten Kollegen dürften heute Nacht alle Hände voll zu tun haben, da bin ich sicher. Vor allem die Kollegen von der Verkehrspolizei. Aber mit ein bisschen Glück wird nichts passieren, was das Einschreiten eines Detectives erforderlich macht.«
»Hundert Punkte, Ma’am. Sie haben es geschafft, es so klingen zu lassen, als ob Sie daran wirklich glauben würden.«
»Haben Sie Nachsicht mit mir, Mark.« Sie öffnete die Tür. »Ich will einfach nicht, dass am Heiligen Abend etwas Furchtbares passiert.«
»Was auch immer passiert, Ma’am – ich glaube nicht, dass es etwas Furchtbares sein wird.«
Bevor sie auch nur die Tür erreichte, hörte Jen überrascht etwas, das klang wie Weihnachtssingen. Sie hielt in der kleinen Diele inne, die sich in einen Kühlschrank verwandelt hatte, da sie vergessen hatte, den Zugluftstopper vorzulegen, und nun eine eisige Brise hineinblies. Jen lauschte verwundert.
Oh, kleine Stadt Bethlehem
Wie still wir dich dort liegen sehen …
Es war wunderschön. Eine tiefe, wohlklingende Baritonstimme. Natürlich männlich, und nur eine einzige Stimme. Normalerweise hätte letztere Tatsache sie nicht gerade mit Begeisterung erfüllt, insbesondere nicht in der Nacht der Nächte. Doch der Gesang durchdrang die kalte Luft in einer derart ergreifenden, emotional anrührenden Weise, dass in ihr längst begrabene Erinnerungen wieder heraufbeschworen wurden.
Über deinen tiefen und traumlosen Schlaf
Ziehen die lautlosen Sterne hinweg …
Der verzerrte Blick durch die Fischaugenlinse des Spions enthüllte nicht immer die ganze Wahrheit. Während all der Zeit, die Jen jetzt schon alleine lebte – dies war ihr drittes Weihnachtsfest ohne Ronnie –, hatte sie sich an den langen, dunklen Winterabenden immer am verletzlichsten gefühlt. Jemand mit bösen Absichten konnte diese vor dem Spion problemlos verbergen, zum Beispiel, indem er einen Köder vor der Linse positionierte, etwa eine Frau oder ein Kind, während der Bösewicht selber außerhalb des Sichtfeldes kauerte, bereit aufzuspringen, sobald die Tür geöffnet wurde. Aber er müsste sich nicht mal verstecken. In ihrem schmalen Vorgarten gab es nur Unrat, doch nichts konnte ihn daran hindern, sich einfach neben eine der beiden Seiten der Tür zu stellen und sich dort unsichtbar zu machen. Und in dem dichten Schneefall konnte es noch einfacher sein, sie zu täuschen. Doch sie blickte trotzdem durch den Spion, und zu ihrer Überraschung, weil sie immer noch nur eine Stimme hörte …
Doch in deinen Straßen scheint
Ein ewiges Licht
… standen dort drei Gestalten, die alle kostümiert waren. Da der Schnee alles mit einer dicken weißen Schicht bedeckte, war es nur schwer zu erkennen, aber es sah so aus, als ob sie alle mit Kostümen aus der viktorianischen Zeit ausstaffiert waren. Was irgendwie hübsch anzusehen war – und ganz bestimmt nicht das war, was Jen erwartet hatte.
Waren die drei Gestalten vor ihrer Tür Mitglieder eines Kirchenchors? Der Gesang klang jedenfalls durchaus melodisch, eigentlich sogar noch mehr als das. Vielleicht eine Amateurschauspielergruppe? Aber wer auch immer sie waren, auf jeden Fall sammelten sie offenbar Geld für wohltätige Zwecke.
Und das war am Heiligen Abend ja nichts Schlechtes.
»Bin gleich wieder da«, rief sie durch die Tür. »Singen Sie weiter. Es klingt wirklich wunderschön.«
Auf dem Kaminsims lag ein bisschen Kleingeld, ein paar Pfundmünzen und ein Fünfer, das Wechselgeld, das beim Bezahlen der Pizza, die sie sich zuvor bestellt hatte, übriggeblieben war. Zum Glück hatte sie die Pizza bereits so frühzeitig bestellt. Bei dem Wetter war es höchst unwahrscheinlich, dass jetzt noch irgendetwas geliefert werden würde. Die Straßen waren alle so gut wie unpassierbar. Perfekte Weihnachtsfestbedingungen, aber ein Albtraum, wenn man irgendwohin fahren musste.
Sie eilte zurück zur Tür, steckte die Münzen in die Tasche ihres Bademantels und beschloss, ihnen den Fünfer zu geben.
Das war zwar ziemlich viel, aber es war ja für einen guten Zweck.
In Wahrheit konnte Jen sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal Weihnachtssänger vor der Haustür gehört hatte. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte man ständig welche gehört. Wenn sie damals nicht in der vierten Etage gewohnt hätte, hätte sie bei sich zu Hause auch ständig welche hören können. Sie war früher sogar selber als Weihnachtssängerin unterwegs gewesen. Gut, es war eher eine Art des Bettelns gewesen. Mit ihren schäbigen Beanie-Mützen, ihren zerschlissenen alten Schals und Fausthandschuhen und ihren schmutzigen von der winterlichen Kälte geröteten Wangen und ihren zerzausten Pony-Frisuren mussten sie und ihre Freundinnen und Freunde wie ein Haufen Gossenkinder ausgesehen haben, als sie in furchtbarer Weise die paar Weihnachtslieder zum Besten gegeben hatten, die sie auswendig kannten.
Und Oh kleine Stadt Bethlehem war wahrscheinlich eines dieser Lieder gewesen. Wobei der Typ vor ihrer Haustür inzwischen zu God Rest You Merry, Gentlemen übergegangen war, was genauso hinreißend klang.
Der gegen den allbösen Feind
an uns´rer Seite ficht
Jen war gerade im Begriff, die Tür zu öffnen, doch aus irgendeinem Grund ließ diese Liedzeile sie innehalten.
Der allböse Feind.
Aber das war doch lächerlich. Warum sollte das in diesem Kontext irgendetwas Unheilvolles zu bedeuten haben?
Na ja, vielleicht, weil da Leute vor ihrer Haustür standen und es zehn Uhr abends war und sie keine Ahnung hatte, wer diese Gestalten waren – und sie trotzdem im Begriff war, aufzumachen.
Mag ja sein, aber es ist Weihnachten, sagte sie sich. Und diese Leute sind Weihnachtssänger.
Die, wie sie sich selber gegenüber bereits eingeräumt hatte, dieser Tage so selten zu sehen waren, dass es sie eigentlich so gut wie gar nicht mehr gab.
Trotzdem hatte sie nach wie vor die Absicht, die Tür zu öffnen, doch sie beschloss, vorsichtshalber erst einmal die Sicherheitskette anzulegen.
Hört die Botschaft von Freude und Trost,
Freude und Trost
Es schien merkwürdig, dass da ein Chor stand, aber nur der Solist sang. Hatte es den beiden anderen die Sprache verschlagen? Jen schloss auf und machte die Tür einen winzigen Spalt weit auf.
Es überraschte sie, wie nah der Solist tatsächlich vor ihrer Tür stand. Er stand auf der letzten Stufe, sein Gesicht war keine fünfundzwanzig Zentimeter von ihrem entfernt.
»Ah, guten Abend, meine Verehrteste«, sagte er und unterbrach seinen Gesang.
Ihr schlug sofort ein Schwall Mundgeruch entgegen, dann stieg ihr der Geruch von schalem Schweiß und Nikotin in die Nase. Seine Tracht – ein Paletot, ein Krawattenschal, ein Hemd mit hohem Kragen, ein schief sitzender Zylinder und an Fagin aus Oliver Twist erinnernde fingerlose Handschuhe – sah zwar entfernt aus wie eines der unzähligen Ebenezer-Scrooge-Kostüme, war jedoch abgetragen und mottenzerfressen, ein Laientheaterkostüm, das aus irgendeinem vergessenen Keller hervorgekramt worden war. Sein Gesicht war aufgedunsen und verfärbt, an den Seiten wucherten Koteletten, der Mund war voller bräunlicher Zähne, das linke Auge war milchig und zwinkerte nicht zusammen mit dem anderen, sondern war starr und sah in seiner verengten Augenhöhle aus wie eine Murmel.
Dennoch, dachte sie, musste diesem Mann irgendetwas Zuträgliches innewohnen – diese herrliche Baritonstimme! – oder zumindest einmal innegewohnt haben, auch wenn es sich inzwischen offenbar seit Langem verflüchtigt hatte.
»Und frohe Weihnachten«, fügte er mit wohlklingender, volltönender Stimme hinzu.
Dies verriet eher Kultiviertheit und eine gute Kinderstube als ein Dasein in den ärmlichen Straßen des East Ends und passte somit zu ihrem Eindruck, den sie von ihm hatte, nämlich dem eines einstigen Gentlemans, der heruntergekommen war.
Sie musterte seine beiden Begleiter.
Sie standen hinter ihm, einer ein Stück weit hinter dem anderen. Der von der Tür aus am weitesten Entfernte lungerte zwischen den Torpfosten herum. Trotz des dichten Schneefalls, der die Sicht stark minderte, konnte Jen eindeutig erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Sie war nicht besonders groß, vielleicht einssiebenundsechzig und damit ein bisschen kleiner als Jen, aber sie trug ebenfalls ein schäbiges viktorianisches Kostüm und hielt ein Lumpenbündel vor sich, als wäre es ein Baby. Sie trug eine Schute und ein graues, bodenlanges Kleid voller Flicken und hatte einen zerschlissenen Umhang um sich gezogen. Unter der Haube war ihr Gesicht komplett verborgen, da sie den Kopf, als Jen sie musterte, die ganze Zeit nach unten gebeugt hielt. Obwohl die Schneeflocken sich auf ihren mit Wolle bedeckten Schultern sammelten, verharrte sie bewegungslos.
Der zweite Besucher, der direkt hinter dem Solisten stand, wirkte deutlich bedrohlicher.
Seiner Größe und seinem Körperbau nach zu urteilen war er eindeutig ein Mann. Er trug einen zweifarbigen rot-grünen Anzug, der aussah wie ein Harlekin-Kostüm, das jedoch ebenfalls schlabberig und abgetragen war. Auf seinem Kopf saß eine Narrenkappe mit diversen Zipfeln mit Glöckchen. Sein Gesicht war hinter einer hervorstehenden Pappmaschee-Maske verborgen, einem schlichten, primitiven Machwerk, dessen übertrieben geformte und bemalte Gesichtszüge – insbesondere die riesige, wie eine Beilklinge aussehende Nase und das hervorstehende messerartige Kinn – die böse Visage von Mr Punch darstellte, jener oft gewalttätigen Figur des in England bekannten Puppentheaterspiels Punch and Judy. Doch das vielleicht Unheilvollste am äußeren Erscheinungsbild dieser Gestalt waren die Augen. Sie waren nichts als hohle Löcher, und auch wenn sich dahinter zweifellos echte Augen befanden, waren sie im Moment nichts weiter als zwei unergründliche schwarze Höhlen.
Jens anfängliche Begeisterung für die Truppe war so schlagartig verflogen, dass sie im ersten Moment kaum ein Wort herausbringen konnte. »Was … was wollen Sie?«
»Das ist doch ganz offensichtlich, gute Frau«, erwiderte der Solist. »Wie sind hier, um die frohe Weihnachtsbotschaft und festliche Stimmung zu verbreiten.«
»Okay. Ja, das Lied war sehr schön. Vielen Dank.« Sie zerknüllte den Fünfer in ihrer Hand und ließ ihn in die Tasche ihres Bademantels gleiten. »Es war schön, aber jetzt müssen Sie wieder gehen. Ich bin gerade beschäftigt.«
»Oh, das ist aber schade. An so einem schönen Heiligabend. Und sogar das Wetter spielt mit.«
Trotz des Schnees, der sich auf dem Rand seines Zylinders türmte, kam er ihr immer abstoßender vor, je genauer sie ihn in Augenschein nahm. Diese gelblichen, pockennarbigen Wangen, die braun gefleckten Schneidezähne, dieses starre linke Auge. Sie war sich immer sicherer, dass sie wollte, dass er mitsamt seinen Gefolgsleuten verschwand.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe zu tun.«
»Wir wollen Sie nur ein bisschen unterhalten.«
»Das haben Sie bereits getan.«
»Durch eine geschlossene Haustür können Sie kaum in den vollen Genuss unserer Darbietung gekommen sein.«
»Ich habe es gehört. Sie haben sehr schön gesungen.«
Jen sprach bewusst mit möglichst tonloser Stimme und gab sich Mühe, abweisend sein, ohne übermäßig feindselig zu klingen.
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