MYTHEN, MASKEN UND SUBJEKTE
KRITISCHE WEIßSEINSFORSCHUNG IN DEUTSCHLAND
U N R A S T
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MAUREEN MAISHA EGGERS, GRADA KILOMBA,
PEGGY PIESCHE, SUSAN ARNDT (HRSG.):
MYTHEN, MASKEN UND SUBJEKTE
eBook UNRAST Verlag, Mai 2018
ISBN 978-3-95405-044-4
3. Auflage, Oktober 2017
© UNRAST Verlag, Münster
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Umschlag: Filiz Dýndýn, Münster
Satz: UNRAST Verlag, Münster
FATIMA EL-TAYEB
Vorwort
DIE HERAUSGEBERINNEN
Konzeptionelle Überlegungen
VIERSTIMMIGER PROLOG
PEGGY PIESCHE
Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die Kritische Weißseinsforschung?
MAUREEN MAISHA EGGERS
Ein Schwarzes Wissensarchiv
GRADA KILOMBA
Becoming a Subject
SUSAN ARNDT
Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands
DER WEIßE FLECK UND DAS SUBJEKT SCHWARZE PERSPEKTIVEN ZU WEIßSEIN IN DEUTSCHLAND
PEGGY PIESCHE
Der ›Fortschritt‹ der Aufklärung – Kants ›Race‹ und die Zentrierung des weißen Subjekts
ARNOLD FARR
Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines rassifizierten Bewusstseins
MAUREEN MAISHA EGGERS
Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland.
PAUL MECHERIL
Der doppelte Mangel, der das Schwarze Subjekt hervorbringt
GRADA KILOMBA
No Mask
OBIOMA NNAEMEKA
Bodies That Don’t Matter: Black Bodies and the European Gaze
KIEN NGHI HA
Macht(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft
NICOLA LAURÉ AL-SAMARAI
Inspirited Topography: Über/Lebensräume, Heim-Suchungen und die Verortung der Erfahrung in Schwarzen deutschen Kultur- und Wissenstraditionen
HITO STEYERL
White Cube und Black Box. Die Farbmetaphysik des Kunstbegriffs
MAKOTO TAKEDA
Zaubersprüche
AMY EVANS
Achidi J’s Final Hours: This Thing that Happened in Aschaffenburg …
JINTHANA HARITAWORN
»Der Menschheit treu«: Rassenverrat und Multi-Themenpolitik im derzeitigen Multikulturalismus
RONAMBER DELONEY
Muse:Ich
IYIOLA SOLANKE
Where Are the Black Lawyers in Germany?
REGINA M. BANDA STEIN
Schwarze deutsche Frauen im Kontext kolonialer Pflegetraditionen oder von der Alltäglichkeit der Vergangenheit
EDDIE BRUCE-JONES
Survived (for Audre Lorde)
NISMA CHERRAT
Mätresse – Wahnsinnige – Hure: Schwarze SchauspielerInnen am deutschsprachigen Theater
SÉNOUVO AGBOTA ZINSOU
EIN FREMDER, WER’S GLAUBT! Klischees da, wo man sie am wenigsten erwarten würde
MUTLU ERGÜN
Hayal
ARETHA SCHWARZBACH-APITHY
Interkulturalität und anti-rassistische Weis(s)heiten an Berliner Universitäten
GBIANGO JUNIOR
Das Auge ist der Zeuge
AISCHA AHMED
»Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen«. Passing in Deutschland – Überlegungen zu Repräsentation und Differenz
JOSHUA KWESI AIKINS
Wer mit Feuer spielt… Aneignung und Widerstand – Schwarze Musik/Kulturen in Deutschlands weißem Mainstream
ÜBERGÄNGE
TIMO WANDERT & RANDOLPH OCHSMANN
»Even the rat was white.« Whiteness, Rassismus und ›Race‹ in der Psychologie
MARÍA DO MAR CASTRO VARELA & NIKITA DHAWAN
Of Mimicry and (Wo)Man: Desiring Whiteness in Postcolonialism
WEIßE MYTHEN, WELCHE MASKEN?
KRITISCHE WEIßE PERSPEKTIVEN
SUSAN ARNDT
›Rassen‹ gibt es nicht, wohl aber die symbolische Ordnung von Rasse. Der ›Racial Turn‹ als gegennarrativ zur Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus
ANETTE DIETRICH
Konstruktionen weißer weiblicher Körper im Kontext des deutschen Kolonialismus
KATHARINA WALGENBACH
›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹ – historische Interdependenzen
SANDER L. GILMAN
Die jüdische Nase: Sind Juden/Jüdinnen weiß? Oder: die Geschichte der Nasenchirurgie
ESKE WOLLRAD
Weißsein und bundesdeutsche Gender Studies
CARSTEN JUNKER
Weißsein in der akademischen Praxis: Überlegungen zu einer kritischen Analysekategorie in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften
ASTRID ALBRECHT-HEIDE
Weißsein und Erziehungswissenschaft
KATHARINA SCHRAMM
Weißsein als Forschungsgegenstand. Methodenreflexion und ›neue Felder‹ in der Ethnologie
ANTJE HORNSCHEIDT
(Nicht)Benennungen: Critical Whiteness Studies und Linguistik
JULIA ROTH
»Stumm, bedeutungslos, gefrorenes Weiss«. Der Umgang mit Toni Morrisons Essays im weißen deutschen Kontext
JULIANE STROHSCHEIN
Als weiße Studierende in einer weißen Universität: erste Positionierung
DAGMAR SCHULTZ
Witnessing Whiteness – ein persönliches Zeugnis
URSULA WACHENDORFER
Weiße halten weiße Räume weiß
Angaben zu den Herausgeberinnen
Angaben zu den Autorinnen und Autoren
FATIMA EL-TAYEB
Als im Jahr 2002 Kölner Kanak Attak Aktivisten dem ›Weißen Ghetto‹ Köln-Lindenthal einen Besuch abstatteten, stießen sie auf wenig Verständnis. Das gleichnamige Kanak TV Video dokumentiert die verwirrten bis aggressiven Reaktionen der ›bio-deutschen‹ BewohnerInnen, die von den Kanakstas über ihre mangelnde Integration und Selbst-Isolierung befragt wurden. Das Video entlarvt auf simple, aber effektive Weise unhinterfragte Machtstrukturen, indem es die Mehrheit, die ›Normalen‹ zum Objekt des kritisch-ethnologischen Blicks macht. Die ironische Umkehrung des Integrationsdiskurses legt den Fokus auf Weißsein als markierter Kategorie und gibt der Minderheit die Repräsentationsmacht, auf einmal ist es die dominante Mehrheit, deren Verhalten kritisch an etablierten Normen gemessen wird. Eine Strategie, an die mehrheitsdeutsche ZuschauerInnen offensichtlich nicht gewöhnt sind und die ablehnende Reaktionen auch bei denjenigen auslöst, die sich als sensibilisiert in Rassismusfragen empfinden: die Benennung ›rassischer‹ Unterschiede wird als Tabubruch empfunden, als umgekehrter Rassismus oder unangemessene Übernahme eines aggressiven US-amerikanischen Rassendiskurses. Stattdessen erscheint eine so genannte ›Farbenblindheit‹, ein ›ich sehe keine Unterschiede, für mich sind alle Menschen gleich‹ als politisch korrekte, kaum anzugreifende anti-rassistische Haltung. Es ist eben dieser liberale Diskurs, der es verbietet, die Position der dominanten Mehrheit zu relativieren, indem die Parameter ihrer Dominanz benannt werden. Rassismus als kritisiertes Phänomen bleibt so gebunden an und bestimmend für die Existenz von People of Color. Wenn eine Auseinandersetzung Weißer mit ihrem Weißsein stattfindet, wird sich meist von einem Rassismus distanziert, der entweder in der Vergangenheit oder bei anderen, weniger gebildeten/progressiven/weitgereisten Weißen verortet wird, aber sicher nicht innerhalb eines linken Diskurses oder der eigenen Identitätskonstruktion.
Das vorliegende Buch stellt sich diesem bewussten Wegsehen entgegen, indem es die Relevanz rassifizierter Hierarchien für die Struktur der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Gesellschaft insgesamt aufzeigt. ›Rassen‹ sind zwar keine biologische Realität, das Rassenkonzept hat aber soziale, ökonomische, politische, psychologische Fakten geschaffen, hat nachhaltig und bis in die Gegenwart unsere Wahrnehmung der Welt strukturiert. Auch wenn die Unhaltbarkeit des Konstrukts menschlicher ›Rassen‹ wissenschaftlich inzwischen unumstritten ist, ist es im Alltag, auch im akademischen, nach wie vor ein zentrales, wenn auch nicht immer explizit benanntes Kriterium. Rassische Zuweisungen wirken sich täglich auf unzähligen Ebenen aus, beeinflussen banale zwischenmenschliche Interaktionen (und durchaus nicht nur, wenn Nicht-Weiße beteiligt sind), konstruieren unsichtbare, aber unüberwindliche Grenzen, zeigen sich in als selbstverständlich begriffenen, nicht einmal als solchen wahrgenommen Privilegien. Es liegt auf der Hand, dass ein derartig komplexes System nicht durch einen bloßen Willensakt unwirksam gemacht werden kann, selbst wenn ein entsprechender Wille vorausgesetzt wird, was durchaus keine Selbstverständlichkeit wäre. Eine als anti-rassistisch begriffene ›Farbenblindheit‹, die die Negierung von, oft als natürlich wahrgenommenen, Unterschieden als ausreichende Lösung begreift, ist so tatsächlich kontraproduktiv. Sie macht es doch zum einen unmöglich, den Prozess der Erziehung zur Wahrnehmung und Bewertung dieser Unterschiede zu analysieren und lässt zum anderen keinen Raum zur Benennung der Ursachen und Konsequenzen von Rassifizierungsprozessen, die sich nicht auf diese ›Unterschiede‹ zurückführen lassen. Konsequenzen zudem, die wirkungsmächtig bleiben, auch wenn sich die äußeren Formen der Implementierung der Rassenhierarchie ändern. Dass diese ›Farbenblindheit‹ schließlich gewöhnlich nur gegenüber Nicht-Weißen ins Feld geführt wird, macht vollständig ihre Einbindung in den Prozess der Normalisierung von Weißsein deutlich; ein Normalisierungsprozess, der immer nur die ›Anderen‹ als rassifiziert wahrnimmt und Rassismus so letztlich als an die Existenz dieser ›Anderen‹ gebunden betrachtet. Entgegen der landläufigen Meinung, dass Rassismus nur dann und dort existiert, wo als Nicht-Weiß Definierte präsent sind, ist es vielmehr die Präsenz sich als weiß definierender Bevölkerungen, die Rassismus produziert.
Das ist natürlich alles andere als eine neue Erkenntnis – zumindest für Minderheiten im weißen Westen, für die die Critical Whiteness Studies eine notwendige Überlebensstrategie darstellen. Ein ausdifferenzierter Rassismusbegriff, der Ursprung, Wirkung und veränderte Erscheinungsformen des Rassendiskurses ebenso analysiert wie er Verbindungen zu anderen Machtsystemen aufzeigt, ist so zumeist in Texten von People of Color zu finden. Spätestens seitdem W.E.B. DuBois, einer der wichtigsten US-amerikanischen Denker des 20. Jahrhunderts, sein bahnbrechendes The Souls of Black Folk mit einem Aufsatz zu »The Souls of White Folk« ergänzte,[1] ist eine Dekonstruktion der pseudo-natürlichen Kategorie Weißsein Teil einer lebhaften intellektuellen Debatte, die bis in die Gegenwart fast gänzlich vom weißen Mainstream ignoriert wird.
Allerdings hat seit den 1990ern eine unter anderem von Peggy MacIntoshs Artikel »White Privilege. Unpacking the Invisible Knapsack« (1989) initiierte Umorientierung des weißen anti-rassistischen Diskurses weg von einer Identifizierung mit den ›Opfern‹ hin zu einer Analyse der eigenen Ethnisierung stattgefunden. In ihrem Beitrag in diesem Band gibt Susan Arndt einen informativen Einblick in die Entstehungsgeschichte und Methodik dieses neuen Forschungsfeldes, einschließlich der Probleme, die aus der Auffassung von Weißsein als überwindbarer Kategorie entstehen. Gutgemeinte Zurückweisungen weißer Privilegien können so, wie Arndt diskutiert, zu einer Analyse des Rassifizierungssystems führen, in dem nur die weiß sind, die es auch sein wollen – ein politischer Ansatz, der ungewollt genau die eigentlich abgelehnten weißen Privilegien fortschreibt.
Trotz dieser methodischen und inhaltlichen Probleme, die zu berechtigter Skepsis bei TheoretikerInnen und AktivistInnen of Color führten, stellen die Critical Whiteness Studies einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Schritt aus der politischen Sackgasse dar, die Paul Gilroy 1992 als »the end of anti-racism« beschrieb[2] – besser geeignet, das Rassenkonzept zu de-essentalisieren, als ein Festhalten am Sprechen für die unterdrückten ›Anderen‹, welches (inner)weiße rassifizierte Dynamiken unhinterfragt lässt. Trotz des nach wie vor verbreiteten Glaubens, Rassismus sei ein Phänomen, das für Deutschland, dank der mangelnden Präsenz von People of Color und der weitgehend fehlenden Kolonialgeschichte,[3] nicht oder erst seit allerneuestem relevant sei, ist die Kritische Weißseinsforschung inzwischen auch hier angekommen.[4] Schon seit einiger Zeit sind die vielfältigen Verbindungen von Weißsein und Deutschsein Thema bei AutorInnen mit migrantischem Hintergrund.[5] Die Ergänzung dieses wichtigen Diskurses durch eine kritische weiße Perspektive ist nicht nur begrüßenswert, sondern überfällig. Allerdings verhindern strukturelle Rassismen, die von eben dieser neuen Forschung addressiert werden, oft noch einen gleichberechtigten Dialog, zu leicht werden Beiträge von Minderheiten sowohl instrumentalisiert als auch marginalisiert. Der vorliegende Band stellt den bisher deutlichsten Versuch dar, einen solchen Dialog für den deutschen Kontext zu initiieren. Masken, Mythen und Subjekte fasst aber nicht nur den Stand der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland zusammen, sondern schreibt sich auch in internationale Diskussionen ein. Hito Steyerls Überlegungen zur Farbmetaphysik des Kunstbegriffs, die um Konnotationen von White Cube und Black Box kreisen, öffnen ebenso neue Dimensionen des Diskurses um Weißsein wie Aischa Ahmeds Untersuchung des Themas passing im spezifischen Kontext der Bundesrepublik oder Nisma Cherrats Erfahrungsbericht einer Schwarzen Schauspielerin an deutschen Theatern.
Insgesamt lassen sich die AutorInnen nicht auf eine Sicht von Sinn und Zweck einer Kritischen Weißseinsforschung festlegen, nähern sich dem Thema aus literarischer, psychologischer oder linguistischer Perspektive. So folgt etwa Kien Nghi Ha den Traditionslinien des deutschen Kolonialismus bis in die Gegenwart, während Nicola Lauré al-Samarai eine kulturelle Topographie des Widerstands nachzeichnet und Jinthana Haritaworn die Ethnisierungspolitik weißer Queers und Feministinnen untersucht und nach produktiven Formen des weißen ›Rassenverrats‹ fragt. So bietet diese erste deutsche Anthologie zum Thema Weißsein Denkanstöße, die in diesen Zeiten der erneuten Normalisierung weiß-christlich-westlicher Dominanz mehr als nötig sind.
San Diego, Oktober 2005
1 DuBois, W. E. B.: The Souls of Black Folk. Chicago: A. C. McClurg & Co., 1903; Ders.: »The Souls of White Folk.« In: Ders.: Darkwater. Voices From Within the Veil. New York: Harcourt, Brace & Howe, 1920.
2 Gilroy, Paul: »The End of Antiracism.« In: Donald James & Ali Rattansi (Hrsg.): ›Race‹, Culture and Difference. Newbury Park, CA.: Sage, 1992, S. 49-61.
3 Inzwischen ist der deutsche Kolonialismus recht gut erforscht, zahlreiche Studien beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten dieses Herrschaftssystems, und auch wenn in der Öffentlichkeit nach wie vor kaum ein Bewusstsein der deutschen Kolonialgeschichte, geschweige denn ihrer Bedeutung für die Gegenwart existiert, werden Jahrestage wie der des Völkermords an den Herero 1904 zunehmend zur Kenntnis genommen (für einen kritischen Überblick der Rezeption deutscher Kolonialgeschichte siehe auch Kien Nghi Ha in diesem Band). Anders sieht allerdings der Umgang mit dem Thema deutsche Minderheiten aus, das in Öffentlichkeit wie Wissenschaft immer noch ein marginales Dasein führt.
4 Vgl. etwa: Sieg, Katrin: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2002; und: Wollrad, Eske: Weiss-sein im Widerspruch. Königstein/Ts.: Ulrike Helmer Verlag, 2005.
5 Eine Anzahl dieser AutorInnen, so Hito Steyerl, Kien Nghi Ha und Peggy Piesche, ist in diesem Band vertreten.
DIE HERAUSGEBERINNEN
Mehr als ein Jahrzehnt nach der wissenschaftlichen Etablierung kritischer Perspektiven zu Weißsein in den USA hält die Forschungsrichtung der Critical Whiteness Studies ihren Einzug auch in den hiesigen akademischen Diskurs. Der vorliegende Band fasst zum ersten Mal ein breites Spektrum der Auseinandersetzung mit dieser Kategorie in Deutschland zusammen. Diese postkoloniale Perspektiverweiterung, die das weiße Subjekt zusätzlich zum Schwarzen Subjekt ins Zentrum des Interesses rückt, soll auf diese Weise einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden.
Auch wenn die Auseinandersetzung mit Weißsein wissenschaftspolitisch eine Errungenschaft der letzten 10 bis 15 Jahre ist, so bleibt unbenommen, dass Schwarze Menschen und People of Color die weiße Hegemonie seit Beginn der »Europäisierung der Erde« (W. Reinhardt) mit hegemonialkritischen Gegenblicken auf Weiße und Weißsein begleitet haben. Über Jahrhunderte hinweg waren diese Gegenstand Schwarzer künstlerischer Ausdrucksformen in Text und Bild. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass auch die Anfänge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Weißsein von Schwarzen und People of Color ausgingen (wie etwa Frantz Fanon, Toni Morrison und bell hooks). Diesen enormen und durchaus nachhaltigen Einfluss Schwarzer Menschen und People of Color in Kunst und Wissenschaft sowie der Tatsache, dass sich diese Gegenblicke gegen einen enormen Widerstand weißer Diskurse und Gewalten behaupten und durchsetzen mussten,[1] versucht der Band auf eine entsprechende Art und Weise konzeptuell und strukturell Rechnung zu tragen.
Ganz prominent steht dafür die Einteilung des Buches in drei Kapitel. In dem ersten Teil, Der weiße Fleck und das Subjekt. Schwarze Perspektiven zu Weißsein in Deutschland, begegnen den LeserInnen zunächst Texte, die aus Schwarzer Perspektive geschrieben wurden. Im zweiten Teil, Übergänge, schließen sich Texte an, die von jeweils zwei AutorInnen geschrieben wurden und eine Schwarze/People of Color und eine weiße Perspektive verbinden. Der dritte Teil des Buches, der den Titel Weiße Mythen, welche Masken? Kritische weiße Perspektiven trägt, beinhaltet dann Texte von weißen AutorInnen. Analog zu dieser Struktur werden auch die drei Schwarzen Herausgeberinnen (Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba und Peggy Piesche) vor der weißen Herausgeberin (Susan Arndt) genannt.
Gerade diese Positionierung, die für den hiesigen Kontext einzigartig ist, hat den (wissenschafts-)politischen Rahmen dafür geboten, die auch in der deutschen Wissenschaftslandschaft strukturell und diskursiv verankerte weiße Dominanz und Ressourcenbindung zu zähmen. Zudem bietet sie die Grundlage für einen deutlich positionierten Zugang Schwarzer Perspektiven zu diesem Buch, das sich als komplexer und vor allem gegenhegemonialer Beitrag zur Kritischen Weißseinsforschung versteht. Die damit verbundene Relevanz der Positionalität jeder einzelnen Forschungsperspektive wird vor allem auch in dem sich hier anschließenden vierstimmigen Dialog der Herausgeberinnen verdeutlicht, der aber eben auch den thematischen Rahmen dieses Bandes skizziert.
Der langen Geschichte und multimedialen Form der Auseinandersetzungen mit Weißsein versucht der vorliegende Band zudem dadurch strukturell Ausdruck zu verleihen, als er Beiträge aus Wissenschaft und Praxis vereint und dabei darauf bedacht ist, die Originalität der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland heraus zu arbeiten. So finden sich neben wissenschaftlichen Beiträgen, die aus wissenschafts- und gesellschaftskritischer Perspektive Weißsein in seiner Historizität und Dynamik verorten, auch Essays, die Erfahrungen um und mit Weißsein in der deutschen Gesellschaft und Wissenschaft reflektieren, sowie literarische Texte und visuelle Arbeiten von Schwarzen KünstlerInnen und KünstlerInnen of Color, die mit ihrer Perspektive das weiße Selbstverständnis des kulturellen Kanons, welches zumeist unausgesprochen bleibt, als solches verorten. Vor diesem Hintergrund ist der Band auch bewusst zweisprachig (deutsch und englisch) konzipiert, weil er allen AutorInnen die Möglichkeit offerieren sollte, sich in der Sprache zu artikulieren, in der sie sich am ehesten zu Hause fühlen. Übersetzt wurden ein französischsprachiger Beitrag und zwei Artikel, die bereits in englischsprachigen Publikationen vorliegen, die jedoch für den Zusammenhang dieses Buches relevant sind und auf diese Weise einem erweiterten Lesepublikum auch im hiesigen Diskurs nunmehr nahe gebracht werden können.
Die Beiträge des Bandes unterziehen die Debatte um die Kategorie Weißsein in Deutschland einer kritischen Prüfung und fragen nach den Transferpotentialen, Grenzen und Leerstellen, die sich aus der transatlantischen Applikation eröffnen. In diesem Zusammenhang werden nicht nur die aus den anglo-amerikanischen Wissenschaften bekannten Parameter der postkolonialen Studien neu beleuchtet, sondern auch einzelne geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen selbst aus wissenschaftskritischer Perspektive diskutiert und verortet. Die Herausgeberinnen haben mit diesem Band einen interdisziplinären Blick aus Schwarzen, People of Color und weißen Perspektiven auf die Kategorie Weißsein freigelegt und versuchen damit, die Grundlage für einen Diskurs zu schaffen, der jenseits von hegemonialtypischen Dynamiken eine Bereicherung nicht nur für die hiesige akademische Debatte darstellen kann, sondern auch für eine gesamtgesellschaftliche (Aufarbeitungs-)Debatte in Deutschland und Europa.
Um die Relevanz der Kategorien Weißsein und ›Rasse‹ für die deutsche Gesellschaft und Wissenschaft unzweideutig herauszustreichen, steht das Buch konzeptuell für die Überzeugung, in der deutschsprachigen kritischen Weißseinsforschung mit den deutschen Begrifflichkeiten zu arbeiten. Denn nur diese Sprachwahl ermöglicht es, einen deutlichen Bezug zur deutschen Geschichte und Gesellschaft herzustellen – gerade auch in bestehenden historischen Zusammenhängen, die den diskursiven Bogen zwischen Antisemitismus und Rassismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus, Transatlantischem Sklavenhandel, kolonialem Genozid und der Shoa benennen und dabei Deutschland in europäischen Diskursen verorten, aber nicht verschwinden lassen. In Bezug auf den Begriff der Rasse haben sich die Herausgeberinnen für den Modus entschieden, ›Rasse‹ in Anführungszeichen zu schreiben, sobald die biologistische Konstruktion ›Rasse‹ gemeint ist und Rasse in Kursivschreibung zu verwenden, wann immer auf die Wissens- und kritische Analysekategorie rekurriert wird. Als editorische Richtlinie galt neben der geschlechtsensitiven Schreibweise die Großschreibung von Schwarz (auch in adjektivischer Verwendung). Hinsichtlich von weiß entschieden wir uns statt der Großschreibung für eine Kursivsetzung, um den Konstruktcharakter markieren zu können und diese Kategorie ganz bewusst von der Bedeutungsebene des Schwarzen Widerstandspotenzials, das von Schwarzen und People of Color dieser Kategorie eingeschrieben worden ist, abzugrenzen.
Mit seinem Fokus auf die weißen Subjekte rassialisierender Konstruktionsprozesse und Herrschaft, die in ihrem komplexen Verhältnis zu Schwarzen Subjekten sowie weißen Mythen und Masken zu verorten sind, entwirft das Buch neue kritische Perspektiven auf Debatten um Kolonialismus, Rassismus, Feminismus und Postkolonialiät und strebt nach einer grundlegenden Resituierung von Rassialisierungsprozessen – von Schwarzsein ebenso wie Weißsein.
Berlin, im Oktober 2005
1 So ist es auch bezeichnend, dass dieser Band vor allem mit Hilfe einer finanziellen Unterstützung von ADEFRA e.V. (Schwarze Frauen in Deutschland) entstehen konnte, während sich traditionelle Publikationsförderungen diesem Projekt nicht ohne Weiteres erschlossen. Die für die Perspektive des vorliegenden Bandes unerlässlichen Übersetzungen konnten schließlich mit dieser Unterstützung realisiert werden.
VIERSTIMMIGER PROLOG
PEGGY PIESCHE
Die zentralen Strategien in der Konstruktion von Weißsein sind bekannt und vor allem für marginalisierte und ethnisierte Menschen in ihrem Alltagsleben immer wieder zu dekodieren. Denn, die Prozesse der Dekonstruktion weißer Normalitäten sind integrierte und essentielle Bestandteile der vielschichtigen Schwarzen Befreiungs- und Widerstandskämpfe in weißen hegemonialen Machtzusammenhängen. Wenn sich die Kritische Weißseinsforschung nunmehr auch in den deutschen akademischen Diskurs einzuschreiben scheint und der hier vorliegende Band auch genau dies unter anderem dokumentiert, drängen sich Fragen nach der Originalität, der Adressiertheit und dem Nutzen dieser sich nunmehr durchaus etablierenden Disziplin auf. Im Vorfeld und während der Entstehung des vorliegenden Buches wurde das hier zugrunde liegende Konzept einer historischen Integrativität Schwarzer Perspektiven in der Kritischen Weißseinsforschung immer wieder mit Originalitäts- und Tradierungsansprüchen einer weißen hegemonialen Forschungsperspektive konfrontiert und herausgefordert. Die Kritische Weißseinsforschung als Analysekategorie, die in der bisherigen dominanten Rezeption durchgängig in ihrer englischsprachigen Entsprechung als Critical Whiteness Studies bereits auf seine angloamerikanische Herkunft verweist, sollte demnach als Teil eines akademischen Diskurses aus dem US-amerikanischen Kontext auch im deutschen Diskurs fruchtbar gemacht werden. Dieser Argumentation folgend wäre die Kritische Weißseinsforschung nunmehr auch im deutschen Kontext angekommen. Erste Arbeiten dazu sind in der Tat bereits in den späten 1990er Jahre erschienen. Diese Leseart vernachlässigt nicht nur bereits früher zu datierende akademische Arbeiten, sie negiert auch vollständig die tief greifenden und fortlaufenden Auseinandersetzungen mit den jeweils auch kontextspezifischen Bedingungen von Weißsein in den politischen und emanzipatorischen Kämpfen von Schwarzen Menschen und People of Color in Deutschland. Deren permanente Dekonstruktion und Dekodierung der Mythen im Alltag stellen eine reichhaltige Quelle für die Kritische Weißseinsforschung dar.
So konfrontiert – ähnlich wie in den USA von Toni Morrison vorgelegt[1] – wohl die erste Arbeit zum Thema Weißseinsforschung in Deutschland bereits 1983 die normative Rezeption des Eigenen, mit einer üblichen Rassifizierung des Anderen, mit eben diesen Gewohnheiten und markiert Weißsein in seinen kontextspezifischen Bedingungen in einer Spannbreite vom bundesdeutschen kirchlichen Alltag hin zum universitären Wissenschaftsdiskurs. Diana Bonnelamé wendet in ihrer Dissertation zu den Initiationsverfahren weißer deutscher Jugendlicher evangelischen Glaubens Methoden der Völkerkunde an und fordert so mit ihrer Arbeit die völkerkundliche Betrachtung auch der weißen Deutschen ein. Die Schwierigkeiten, denen sie im universitären Diskurs mit einem solchen Ansatz begegnet, stellt sie schließlich in der Dokumentation »Wie andere Neger auch«,[2] die die Entstehungsbedingungen ihrer Dissertation schonungslos aufzeigt, dar. In dieser bemerkenswerten Arbeit, die Einblicke in die Hierarchien, Diskussionen und Machdynamiken sowohl im Wissenschaftskontext als auch in den alltäglichen, konfessionsbestimmten Bedingungen gibt, arbeitet Bonnelamé deutlich die Unterschiede und Grenzen einer Verfahrensübernahme auf das Thema Weißsein heraus. In der Einstiegssequenz analysiert sie ein Wandgemälde, welches eine klassische Kolonialszene darstellt: Umringt von spärlich bekleideten Schwarzen Menschen sitzt ein weißer Mann mit Notizbuch. Bonnelamé verweist auf die Selbstverständlichkeit des weißen Ethnologen, der sich der ihm eigenen Definitionsmacht, der Macht mit seinen Beobachtungen Wissen zu schaffen, vollständig bewusst ist. Im Unterschied zu ihm muss Bonnelamé durchaus auf ihre ›Neger hier‹ Rücksicht nehmen, haben diese schließlich Einfluss darauf, was an die Öffentlichkeit gelangt und was nicht. Bonnelamé entlarvt bereits in einem prä-postmodernen Wissenschaftsdiskurs Nicht-Problematisierung eigenen Weißseins und die Schwarze Statthalterschaft des Abgespaltenen, welches aus weißer Sicht das verkörpert, was faszinierend und begehrenswert ist, was Lust macht, aber auch Angst. Mit Schlüsselbegriffen des ethnologischen Diskurses provoziert Bonnelamé im weißen hegemonialen Blick dieses Unbehagen der eigenen Differenzmarkierung, die, dem System folgend, ja unweigerlich mit einer Abwertung verbunden sein müsste. Die von Bonnelamé angewandten Techniken der Mimikry zeigen Schwarze Überlebensstrategien im weißen Mainstream auf.
Auch hinsichtlich der Adressiertheit der Analysekategorie Weißsein haben die Diskussionen um die Entstehung dieses Bandes durchaus unterschiedliche Positionalitäten aufgedeckt. VertreterInnen der hier beschriebenen Forschungsperspektive positionierten die Auseinandersetzung mit der Analysekategorie Weißsein in einem ausschließlich weißen akademischen Raum, wobei die Partizipation Schwarzer Perspektiven in der Kritischen Weißseinforschung eher als ein gewollt politisches Beiwerk, als eine Art ›token‹ verstanden wurde, von dem es sich vor allem mit dem Wissen um die Machtdynamiken der Konstruktion von Weißsein abzugrenzen galt. Dabei wurde zwar vornehmlich auf eben jene weiterhin dominierende weiße Perspektive gezielt, die Kritik an ihrer Dominanz gern dadurch unterlaufe, dass sie VertreterInnen bislang ausgeschlossener Gruppen in ihre Reihen aufnimmt und sich somit moralisch legitimiert, bei gleichzeitiger Beibehaltung überkommener hegemonialer Strukturen. Damit entzog sich jedoch dieses ›analytisch korrekte Weißsein‹ ganz eloquent den praxis- und handlungsorientierten lokalen Schwarzen Kritiken und einer dahingehenden Auseinandersetzung mit dem eigenen Weißsein. Vielmehr wurde so einer Kritik an und der Analyse von Weißsein aus einer Schwarzen wissenschaftlichen, künstlerischen und aktivistischen Perspektive der Subjektstatus abgesprochen und in eine – zwar diesmal nicht zu untersuchende, jedoch für diesen Diskurs – vermeintlich irrelevante Objektposition verwiesen. Die von Fatima El-Tayeb im Vorwort beschriebene Gefahr einer wieder alles vereinnahmenden Selbstreferenzialität des weißen hegemonialen Diskurses zeigt sich hier bereits auf. Mit Positionen wie ›Wir brauchen keine Schwarzen, um uns über Weißsein auseinander zu setzen‹ scheint sich dieses ›kritische weiße Subjekt‹ wieder als Ergebnis asymmetrischer Machtverhältnisse und deren Zuschreibungspraxen zu situieren, wobei auch hierbei die Positionierung des Anderen die eigenen Grenzen zu erkennen gibt. Die privilegierte Position des weißen Subjektes wird so erfolgreich verschleiert.
Wenn Kritische Weißseinsforschung als innerweiße Analyse einer kollektiven Imagination, welche ausschließlich durch die Existenz der Anderen definiert werden kann, betrachtet würde und die Fragen nach der Sichtbarkeit von Weißsein innerhalb verschiedener historischer, kultureller und biographischer Zusammenhänge nur in diesem Rahmen verhandelt werden sollte, dann führte diese Kritische Weißseinforschung durchaus zu einer Re-Zentrierung des weißen Subjekts. Eine solche, vermeintlich alternative Nischenbesetzung im deutschen akademischen Diskurs entspräche so jedoch einer Reproduktion der dem Weißsein zugrunde liegenden Dimensionen der Machtausübung und Gewalt. Diese symbolische selbstrepräsentative politische Korrektheit läuft dabei der Dynamik der Dekonstruktion von Weißsein entschieden entgegen. Vor diesem Hintergrund kann es nicht darum gehen, eine weiße ›antirassistische‹ Kritikelite zu bilden, die ihr eigenes Weißsein analysiert und von dieser Nische aus Diskurse produziert, die es ihr ermöglichen, sich wieder in ihrer eigenen weißen Progressivität zu verlieren. Weißsein wird so nicht dekonstruiert, sondern erhält lediglich eine kritische Verpackung und die ihr zugrunde liegende tagtäglich realisierte wirk- und definitionsmächtige Gewalt bleibt ungetastet und normalisiert.[3]
Vor allem auch deshalb steht der vorliegende Band nicht nur für eine, erstmals auch in Deutschland vorgelegte, Problematisierung der Normativität von Weißsein als Rassekonstrukt und gewaltvoller gesellschaftlicher Realität, sondern vielmehr auch für eine explizite Schwarze Kritik an diesen exklusiven, mächtigen weißen ›kritischen‹ Diskursen für die Selbstrepräsentation eines (antirassistischen) Weißseins. Dieser Band soll daher auch der Tatsache Rechnung tragen, dass dem hegemonialen Fokus auf sich selbst, der Selbstmarkierung des Markierers, der marginalisierte Blick der Markierten voraus ging: Die Analysekategorie Weißsein wurde nicht zuletzt auch im Kontext Schwarzer Hegemonialkritik gebildet und ist ebenso Teil einer tradierten Schwarzen Überlebensstrategie wie auch Schwarzer politischer Bewegungen. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland ist damit keineswegs ein rein akademisches Feld, sondern auch die alltägliche Reflexion Schwarzen Lebens in einem hegemonialen weißen Setting. Diese, in diesem Band fruchtbar gemachten Schwarzen Perspektiven dechiffrieren Weißsein als Bedeutung produzierende Wirklichkeitskonstruktion mit realen, nicht selten gewaltvollen Realitäten. Die Repräsentationskritik in so unterschiedlichen Bereichen wie z.B. kanonisierter Kultur (Schwarze SchauspielerInnen im weißen Theater) oder historisch uneingebettetes Gesundheitssystem (Schwarze Menschen in der Pflege) richtet die Analyse auf die soziale Praxis von Weißsein. Gerade solche Perspektiven tragen dazu bei, die Normalität/Normativität des hegemonialen Diskurses zu durchbrechen, indem Weißsein ins Zentrum des Blickfeldes gerückt, explizit benannt und in sozialen Interaktionen subversiv umgedeutet wird. Die Dekonstruktion der hegemonialen weißen Positionalitäten benötigt eine Kontextualisierung von Weißsein in historisch verankerten und reflektierten Zusammenhängen. Die Arbeiten zu einer Schwarzen Historisierung im weißen Setting, die eine von einer weißen Definitionsmacht unabhängigen Subjektivität situieren wollen, tragen dazu bei, die Dialogizität, die der Analysekategorie Weißsein schließlich auch eingeschrieben ist, aufzuzeigen und eröffnen Wege, Weißsein theoretisch bzw. methodisch erfassen zu können, ohne dessen Hegemonie zu stützen. Kritische Weißseinsforschung ist in Deutschland daher nicht ohne Schwarze Forschungsperspektiven zu denken. Dieser Band stellt dazu eine Standortbestimmung dar, sondiert sozusagen den Diskurs im deutschen (akademischen) Kontext und möchte schließlich zu einer Begriffsmakrotesierung der Kritischen Weißseinsforschung führen. Dabei tragen gerade die Arbeiten des ›markierten Blickes‹ dazu bei, dass sich die fragile Komplexität der Instabilität der Konstruktion Weißsein nicht zu Gunsten einer Aufhebbarkeit des Weißseins verschiebt. Dieses »instabile[s] Produkt von Kämpfen auf den Bedeutungsfeldern von Rassekonstruktionen […]«,[4] das Weißsein als fragilen Besitz zeichnet, kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass Weißsein in seiner sich selbst eingeschriebenen Essentialität gerade nicht verhandelbar ist. Gerade die immer wieder betonte (Aus-)Differenzierung des Herrschaftssubjektes in ein prototypisches – weiß, männlich, heterosexuell besetzt –, die eine ›weniger-weiß-Setzung‹ weißer (deutscher) Frauen propagiert[5] und das Überwinden von Weißsein mit einschließt, stellt zwar die Diskursivität von Weißsein in den Fokus der Auseinandersetzung, verschleiert jedoch die privilegierte Position des weißen sprechenden Subjektes. Vielmehr will der Band die Positionen dokumentieren, die die Rekonstruktion eines weißen Subjekts ohne Mantel leistet und Einsprüche gegen populistische Varianten der Dekonstruktion, die sich unterschiedslos aller Identitäten bemächtigen, bilden. Geraten nämlich hierbei die gesellschaftlichen Machtgefälle aus dem Blick, so verwandeln sich die Rekonstruktionen in einen inhaltslosen Universalismus, der die Unsichtbarkeit und Unterdrückung rassfizierter Markierungen reproduziert.
1 In gleicher Zeit stellt Toni Morrison mit ihrer kleinen Geschichte »Recitatif« die bis dato gängigen Rezeptionsgewohnheiten US-amerikanischer Literaturgeschichte durch die Verweigerung konsensgestützter Markierungen radikal zur Disputation. Das eigentlich Revolutionäre daran ist, wie diese Erzählung gleichsam als Spiegel für die sich anschließende Diskussion fungierte und hegemoniale Definitions- und Interpretationsstrategien aufdeckte. Vgl. Morrison,Toni: »Recitatif.« in: Amiri Baraka & Amina Baraka (Hrsg.): Confirmation. An Anthology of African American Women. New York: William Morrow & Company, 1983, S. 243-261.
2 Vgl. Bonnelamé, Diana & Peter Heller: Wie andere Neger auch. Dokumentarfilm. BRD 1983.
3 Eine Strategie, die, Coco Fusco folgend, die Verdoppelung der weißen Hegemonie einschließt und die Machtvermessenheit des weißen Subjektes aufzeigt. Vgl. dazu: hooks, bell: Yearning – Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie, Geschlecht. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1996, S. 180.
4 Wollrad, Eske: »Der Weißheit letzter Schluss. Zur Dekonstruktion von ›Weißsein‹.« In: polylog: Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 8(2001): 77-82.
5 Diese Argumentation kann sich bis hin zu einer Metapher für ›nicht-weiß‹ ausweiten. Vgl. dazu auch den gerade erst erschienenen Band innerhalb des Periodiukms: WerkstattGeschichte 39/2005 (»Die Farbe ›weiß‹«).
MAUREEN MAISHA EGGERS
»… (in) describing a slave as a socially dead person …«[1]
Die Konstruktion von Sklavinnen und Sklaven sowie von kolonialisierten Subjekten und rassistisch markierten ›Anderen‹ gründet auf dem Mythos, dass sie observiert werden können, sie diesen observierenden Blick jedoch nicht zu erwidern vermögen. Mit anderen Worten: ›Schwarze sehen Weiße nicht‹. Wir sehen nur die positiven Projektionen von Weißsein (naturalisierte weiße Führungsansprüche, eine vermeintliche universelle weiße Neutralität, automatische weiße Kompetenzen und ein selbstverständlich universell gültiger weißer Machtanspruch). Wir sind den Bildern vermeintlich ausgesetzt und unterworfen, die durch weiße Identitätskonstitutionsinstanzen in zeitlicher und zeitspezifischer Kontinuität medial und diskursiv verbreitet werden.
Literarische Werke, Hollywood und auch aktuelle deutsche ›Afrikafilme‹ (Die weiße Massai, Nirgendwo in Afrika), theoretische Texte und sogar Interpretationen von der Bibel, vermitteln Weißsein in Assoziation mit Milde, Güte, Rettung von ahnungslosen Schwarzen, weißer Unschuld, Reinheit und weißem Heldentum. Gegenwärtige Diskurse und mediale Repräsentanzen erzeugen und tradieren Weißsein als humanistisch, fortschrittlich, demokratisch, an egalitären Verhältnissen interessiert, der Genderdemokratie verpflichtet.
Wenn rassistisch markierte ›Andere‹ diese Erzählversion von Weißsein als die einzige annehmen, dann könnten wir in der Tat genauso gut – wie Mills in der oben zitierten Aussage ironisch bemerkt – tot sein. Zumindest als Subjekte.
Der soziale Tod oder auch der Subjekttod rekurriert auf den effektiven Ausschluss aus sozialen Interaktionen mit anderen Subjekten. Er suggeriert aber vor allem eine fehlende Berechtigung zu sozialen Interaktionen.
Tatsächlich trug sich ein enormer Fundus an Beobachtungen Schwarzer Bediensteter von Weißen zusammen. Ein spezifisches Schwarzes Wissen von kolonialisierten Schwarzen Subjekten, von Schwarzen Sklavinnen und Sklaven entstand. Diese ›Daten‹ und Deutungen wurden vermittelt und tradiert in Sprichwörtern, verschlüsselten Predigten, Parabeln, Witzen über Weiße, in Liedgut (Blues, Spirituals), in Legenden und Erzählungen und vor allem im erzieherischen Sprechen. Wie bell hooks und Nancy Boyd-Franklin feststellen, entstand dieses Wissen in Zusammenhang mit der Entwicklung von Überlebensstrategien.[2] Es sicherte das nackte Überleben und gleichzeitig den Zusammenhalt Schwarzer Gemeinschaften während des Kolonialismus und der Sklaverei.
Subalterne Schwarze Subjekte beobachteten Abläufe in weißen Zusammenhängen, sie lernten es, weiße Kommentare zu entziffern. Sie beobachteten weiße Individuen und weiße Kollektive eingehend. Sie sammelten somit also nicht nur Daten, sondern auch Detailwissen. Sie diskutierten diese Alltagsbeobachtungen, werteten sie aus, reflektierten und interpretierten sie.[3] Sie gaben ihnen diskursive Strukturen. Sie vermittelten ihre Einsichten instruktiv als Einweisungen im diplomatischen Umgang mit Weißen. Diese wurden als Erziehungsbotschaften an Schwarze Kinder weitergegeben – und zwar in Form von Anweisungen, wie man Weiße ansprechen solle, wohin man sehen solle, während man mit Weißen sprach, welche Antworten auf welche Fragen empfehlenswert wären usw.
Schwarze Menschen haben Weiße immer ganz genau – wenn auch unauffällig, wie Boyd-Franklin und Elsie J. Smith betonen – observiert, taxiert und analysiert.[4] Schwarzes Wissen über weiße Hegemonie funktioniert somit als ein Wissensarchiv. Die ›wohlwollenden‹ Maskierungen, die Schwarze Subjekte im Umgang mit Weißen performieren und tradiert haben, täuschen nicht darüber hinweg, dass wir uns schon immer eigene Bilder über Weiße und Weißsein gemacht haben.
Unser experimentelles Vorgehen als Herausgebende dieses Bandes, bezogen auf die Situierung und Aufteilung der Beiträge in ›Kritische weiße Perspektiven‹ und ›Schwarze Perspektiven‹ gründet maßgeblich auf dem Bestreben, eben dieses tradierte Schwarze Wissen anzuerkennen. Wir erhoffen damit ein zugleich, irritierend-destabilisierendes und konstruktiv-anregendes Wechselspiel von ›View and Gaze‹ (wie Peggy Piesche es nennt) eröffnet zu haben. Unser Ziel ist es, diesen Prozess nicht beliebig ins ›Nichts‹ laufen zu lassen, sondern durch eine klare und klar positionierte Struktur zu konkreten und spannenden Einsichten über Weißsein und rassifizierte Konstruktionen in Deutschland hinzuführen.
In den letzten Monaten haben wir uns als Team von Herausgeberinnen sehr intensiv mit ganz verschiedenen Perspektiven auf Weißsein in Deutschland auseinandergesetzt. Dabei sind wir zu einer ganzen Reihe von denkanregenden Einsichten und auch zu einigen durchaus irritierenden Erkenntnissen gelangt. Erstens mussten wir feststellen, dass offensichtlich ein großer Widerstand gegen eine explizite Kennzeichnung und damit Markierung von Weißsein in Deutschland herrscht. Uns begegnete häufig die Aussage, dass (gerade) in Deutschland ja doch nicht ›alles ganz so schwarz-weiß‹ sei, wie die Kritische Weißseinsforschung es sieht. Dabei blieb allerdings offen, wie es denn dann tatsächlich in Deutschland aussähe. Ein häufig vorgebrachtes Hauptargument für diesen Zweifel an der Relevanz von Weißsein war, dass Deutschland an der spezifischen Produktion von (Wissen über) Weißsein weitgehend unbeteiligt gewesen wäre, da Deutschland ja (wir kennen diesen so oft bemühten Mythos) nur vergleichsweise kurz eine offizielle Kolonialmacht gewesen sei. Für den Kontext der deutschen Geschichte und Gesellschaft sei vielmehr die Aufarbeitung von Antisemitismus und Shoa und (vor dem Hintergrund gegenwärtiger Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik) die Auseinandersetzung mit ausgrenzenden Konstruktionen (weißer) osteuropäischer Subjekte relevant. Forschungen zu ›Schwarzen europäische Identitäten‹ im Rahmen der ›Black European Studies‹, wie sie in dem ›BEST Projekt‹ verankert sind, dürften beide Vorstellungen nachhaltig erschüttern und ergänzend zeigen, dass es historisch bedingte und relevante Zusammenhänge zwischen diesen Narrativen der Erinnerungspolitik und Aufarbeitung gibt.[5] Erstens verorten diese Forschungsrichtungen die afrikanische Diaspora in Europa als integralen und selbstverständlichen Teil innereuropäischer Geschichtsentwicklung. Zweitens zeigen sich durch und aufgrund dieser Verankerungsebene wesentliche Verbindungen zwischen der Historizität Schwarzer Präsenz in Europa und dem Nationalsozialismus, wobei es eben auch aufzuarbeiten gilt, dass Schwarze Bevölkerungen ebenfalls konkret betroffen waren von der nationalsozialistischen Rassenideologie.
Unsere Perspektive als Herausgebende beruht ohnehin keinesfalls auf einem dichotomen Verständnis von Schwarz und weiß, sondern unser Ziel besteht vielmehr darin, Weißsein in seiner historischen Dynamik und Komplexität als Analysekategorie in Deutschland fruchtbar machen. Unser Ziel ist es, die hegemoniale Funktion rassifizierender Markierungspraxen in Zusammenhang mit der Normalisierung von Weißsein reflektorisch zu erfassen.
Zweitens wurden wir mit einer fast automatischen, reflexartigen Positionierung weißer Reflektionen und Beiträge außerhalb weißer Kollektive konfrontiert, die auf der Grundlage eines antirassistisch definierten Selbstverständnisses und einer Positionierung als ›weiße Ausnahme‹ erfolgte. Unsere eigene Perspektive geht von der Möglichkeit und sogar von der Notwendigkeit einer kritischen und zugleich konstruktiven Positionierung innerhalb weißerweiße