Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
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Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-8286-0054-6
ISBN E-Book 978-3-688-11551-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11551-8
Für Béatrice und für Marie
Der Mensch ist der Zeit unterworfen, dennoch ist ihm seiner Natur nach die Zeit fremd, so fremd, daß ihn die Idee des ewigen Glücks, verknüpft mit der Idee der Zeit, ermüdet und erschreckt.
Joseph de Maistre
»Sie wissen nichts, nein, Sie können nichts wissen, als sie starb, waren Sie ja noch ein Kind, und wer weiß, ob Sie überhaupt schon geboren waren«, murmelte sie, hingegeben an eine ihrer endlosen Plaudereien, wie sie es, übrigens zu Unrecht, nannte, im ruhigen, nüchternen Tonfall der ehemaligen Lehrerin – einer alten Schulmeisterin, verbesserte sie, als wollte sie Mißverständnissen vorbeugen. Dann hielt sie inne, schalt sich geschwätzig, lächelte verhalten, denn sie sei, so drückte sie sich aus, ins letzte Lebensalter eingetreten, könne sich endlich nachsichtig zeigen und habe – das dürfe er ruhig glauben – keine Angst mehr vor den Wörtern, nachdem sie ihrer in den besten Lebensjahren Herr geworden sei und sie aufgerichtet habe gegen das Unwissen, die Traurigkeit, den Nordwind, die endlosen Winter und die Dunkelheit des Hochlands.
Tag für Tag, selbst in tiefster Nacht, wenn sie keinen Schlaf finden konnte, hatte sie die Wörter herbeigerufen, hervorgezogen, wiederholt, obwohl sie wußte, daß man die Sprache niemals wirklich beherrscht, niemand, selbst die großen französischen Dichter nicht, die sie so sehr bewunderte und deren Fehler mit der Zeit anrührend, sogar großartig wirkten; sie wurden verziehen und ihrerseits zur Regel, lösten die bis dahin richtige und schöne Ausdrucksweise ab. Denn gegen die Zeit, die aus ihr eine alternde Frau gemacht habe, sei man machtlos, nicht wahr, wie gegen den Regen, der auf der anderen Seite der beschlagenen Scheibe seit dem Morgengrauen auf Siom herabfiel, auf den See und die hohen Tannenwälder, die immer noch in Nacht getaucht waren, diese Wälder, murmelte sie, seien so furchteinflößend wie die Reißzähne des Winters oder die Erinnerung an die Wölfe, nichts könne sie der Tagesordnung zurückgeben, weder das Auslichten noch das regelmäßige Fällen alle dreißig Jahre.
Diese Sprache, sie war kaum dichter, undurchdringlicher und lauer als die beschlagenen Fensterscheiben, die sie an diesem Morgen vom Regen trennten, vom Nebel, der wie schmutzige Wäsche vom Himmel herabhing, vom Krächzen der Krähen und vom Hundegebell dort hinten, weit weg, auf dem Teil der Insel, den sie, selbst wenn sie ihren Kopf, so weit es ging, auf die linke Schulter gelegt hätte, nicht hätte sehen können, auf die Schulter, von der das große blaßlila Seidentuch mit dem Akanthusblatt-Muster zu rutschen drohte, wie es immer rutschen sollte, wenn sie sprach. Sie würde es durch eine ärgerliche Bewegung ihrer Finger wieder an seinen Platz rücken, ihren Zuhörer dadurch auf den Gedanken bringend, den sie schließlich mit feinem Lächeln aussprechen sollte: daß sie für so luxuriöse Stoffe nicht gemacht sei, übrigens ein Geschenk, ja, daß sie dafür so wenig gemacht sei wie für allzu gesuchte, kostbare oder seltene Redewendungen, denn sie habe sich dieser Sprache so bedient wie in ihrer Umgebung die Väter und Schüler der Werkzeuge, deren Namen sie mit der aufreizenden Genauigkeit eines Menschen aussprach, der überzeugt ist, daß die Sprache ihm hilft, Stein, Boden und Holz besser zu bearbeiten und an ein besseres Leben zu glauben. Das sagte er vielleicht zu sich selbst, als er beobachtete, wie sie diese Wörter trocken-geschmäcklerisch zum besten gab – auf die gleiche Art würde sie auch von den Pralinen kosten, die er ihr mitgebracht hatte und deren Schachtel zwischen ihnen auf dem Tisch stand, und sie dachte weder daran, das braune Verpackungsband zu lösen noch ihm zu danken. Oder aber, mochte er sich sagen, die Sprache war ein Werkzeug wie jedes andere, das zu gebrauchen, zumindest aber zu fürchten sie gelehrt hatte, bevor sie ihre Schüler in Wälder, Felder und Granitsteinbrüche entließ – ein Werkzeug, das heutzutage zu brillant, vornehm und stumpf sei, als daß man es damit besonders weit bringen könne, vor allem wolle man sich an der Sprache nicht ergötzen, man wolle sie benutzen, ja, und versage ihr den verdienten Respekt, der Sprache und der Liebe, die, sagte sie mit noch leiserer Stimme, so daß er nicht sicher war, ob er ihre letzten Worte richtig verstanden hatte, uns zu etwas anderem als Nachtvögeln mache.
Jedenfalls hatte die Sprache sie bis hierhin gebracht, in dieses kleine Haus mit dem Aussehen einer Villa am Meer, das sie an dem Weg hatte bauen lassen, der zum See hinunterführt, auf einer abschüssigen Viehweide, deren unteren Teil ihr der junge Chadiéras vor zehn Jahren überlassen hatte, hoffend, daß sie sich ihm hingeben würde, wenn schon nicht seiner schönen Augen, dann wenigstens seiner Ländereien wegen, die zu einer anderen Zeit hätten vergessen lassen können, daß an ihm genaugenommen nichts dran war außer seinen großen dunklen Augen und, wenn man so will, der Tatsache, daß er sieben oder acht Jahre jünger war als sie. Sie hatte sich mit ihren sechzig Jahren gut gehalten, sicher nicht, weil sie die Zeit vergessen oder gar hinter sich lassen wollte, sondern weil sie mit der Zeit gegangen, also modern war, modern wie ihre Villa und ihre Ansichten – ganz im Gegensatz zum jungen Chadiéras, den sie mit allen anderen Einwohnern von Siom am Rand einer stockenden Zeit zurückgelassen hatte, die mit ihnen zu Ende gehen würde, auch wenn sie, wie Etienne Chadiéras, jünger waren als sie selbst, denn wie schon bei seinem Vater und seinen Brüdern löste sich seine Lunge auf, zusammen mit dem Land, das er Stück für Stück verkaufte, um damit Arzt und Krankenhaus zu bezahlen, in der Hoffnung, seine Gesundheit wiederherzustellen; das sei so unwahrscheinlich, sagte die alte Schulmeisterin, wie Sonnenschein in der Nacht oder die Treue der Männer.
Das Haus mit Seeblick, ein wenig abseits, unweit der Tränke von Berthe-Dieu, an eine Böschung gebaut, die dem verliebten Schwindsüchtigen kein Fitzchen seiner Lunge gerettet hatte, habe sie bezogen, als sie Pensionärin geworden sei, murmelte sie, zog sich das Tuch wieder um die Schultern und lächelte, sie, die jetzt Zeit hatte und damit machen konnte, was sie für gut hielt. Sie wußte, daß es lächerlich kokett war, aber es machte sie stolz, daß die Zeit sich ihrem Willen beugte, zumindest konnte sie sich das einbilden, auch dies eine Art Nüchternheit, ähnlich der, die ihr fast vierzig Jahre lang geholfen hatte, Zeit und Sprache zusammenzuzwingen und genau das Generationen von Kindern immer wieder zu zeigen, mit Hilfe dieser Moral: Bescheidenheit, Demut oder, einfacher, Respekt vor dem, was über uns steht, obwohl es uns gehört, der französischen Sprache, der Geschichte, der Zeit – einer Zeit, die im großen und ganzen noch genauso wie früher verstrich, abgesehen davon, daß sie jetzt immer erst nach acht Uhr aufstand, nicht ohne in einem geheimen Winkel ihrer selbst, in diesem tiefsten Inneren, wo sich Sprachen, Gebete und Stille entfalten, den schwachen Glockenton zu hören; mehr als drei Jahrzehnte lang, egal, wo sie unterrichtete und wie das Wetter war, war sie vor die Tür getreten und hatte diese Glocke mittels der dünnen rostigen Kette, die unter dem Vordach neben dem Schultor hing, in Schwingung versetzt. Zu diesem Zweck verließ sie sich auf einen der Gegenstände, an denen ihr am meisten lag: auf die Schweizer Uhr, die sie nie im Stich gelassen hatte, und es erschien ihr unter allen Umständen gerechtfertigt, sich ihr zu unterwerfen, denn, sagte sie, es gebe ein zu früh und ein zu spät sowie den richtigen Zeitpunkt, der den klaren, ordentlichen Köpfen vorbehalten sei, die Rechtschreibung, Satzbau und Wortsinn beherrschten und Zeit hätten: den Kindern, Schriftstellern und Greisen.
Deshalb stand sie jetzt immer zu spät auf, um, so hätte sie es ausdrücken können, die andere Seite der Zeit zu betrachten und, was handfester war, ihre Terrasse, ihren Tisch, ihre weißen Plastikgartenstühle und, weiter unten, die beiden schmalen, seichten, mit weißem Beton eingefaßten Teiche, in denen sie hartnäckig Goldfische hielt, die nie den Herbst überlebten. Die Teiche befanden sich zu beiden Seiten einer kurzen Schotterallee aus, wie sie nicht ohne Stolz erklärte, geschreddertem rosa Pérols-Granit, gemischt mit Schiefer und weißen Kieselsteinen, die sie am Seeufer oder in einem Bachbett gesammelt hatte, auf ihren Sonntagsspaziergängen, die der Knoten waren, in den sie jede Woche die Zeit schürzte, denn, so sagte sie nachdrücklich, auch die Dinge müsse man korrekt darbieten, sauber und elegant: wie diese Allee, nicht wahr, die beiden Teiche, die kleine Rasenfläche und den Gemüsegarten hinter dem Haus, den sie jeden Tag inspizierte, um noch das kleinste Unkraut und die heruntergefallenen Eichenblätter zu entfernen von Chadiéras’ großen Eichen, im Südwesten, auf der anderen Seite einer ebenfalls weißgestrichenen Betonmauer, wie sie früher Bahnhöfe umgaben. Die Eichen verhinderten, daß irgend etwas Nennenswertes in dieser Ecke des Gartens wachsen konnte, so wenig wie auf diesem schmalen Handtuch, das sie nicht wagte, ihren Besitz zu nennen, weil sie schon lange wußte, daß man hier unten nichts besitzt, was man sein eigen nennen könnte – noch nicht einmal diesen Grund und Boden, diesen Fetzen von Chadiéras’ Lunge, nicht wahr. Denn wegen der permanenten, durch die Eichen verursachten Dunkelheit und Feuchtigkeit durfte man wohl behaupten, daß der Tuberkulöse dort noch immer herrschte und sich für ihre Unbeugsamkeit rächte, weil sie ihn nicht heiraten wollte und ihm noch nicht einmal den Glauben ließ, sie würde eintauschen, was sie nicht mehr besaß: Jugend gegen die Gesundheit, die ihm fehlte.
Es sei ihr entschieden bessergegangen, unterstrich sie, ohne Mann, den sie unterhalten und, das vor allem, hätte pflegen müssen; außerdem, man heiratet nicht für ein armseliges bißchen Sonne und einige Obstbäume im hinteren Teil des Gartens, die auf den Böden des Hochlands sowieso nie sehr ertragreich sind – entscheidend sei, fügte sie hinzu, daß ihr neben der grauverputzten Villa mit dem Schieferdach, der einen Dachschräge und den bordeauxroten Fensterläden dieses winzige, provisorische, durch die Betonmauer umschlossene Grundstück geblieben sei, mit dem weinroten Gittertor am Ende der Allee, in dessen Mitte ein namenloser Briefkasten prangte. Der Briefträger warf nie Briefe hinein, sondern zog es, wenn er Post für sie hatte, vor, hinaufzugehen, sich für die Aushändigung bezahlen zu lassen und der alten Schulmeisterin zuzuhören, in der überheizten, sommers wie winters in Halbdunkel getauchten Küche, wo das Irrlicht, wie sie es nannte, des Wasserboilers brannte, die Feuerzunge, lachte sie, die niemals auf ihren Kopf herniederfahren würde.
»Ja, noch nicht geboren, unwissender als eine Nacktschnecke«, fuhr sie fort, während der andere sie reglos ansah, lächelte und schwieg.
An diesem Morgen waren es nicht der Briefträger, Chadiéras oder ein Kind aus Siom gewesen, das ahnte, daß Strenge auch ihre heitere Kehrseite hat, und zu ihr kam, um ein wenig Zeit gegen ein säuerliches Bonbon, eine Grenadine oder ein Stück Puddingkuchen einzutauschen. Nein, es war ein junger Mann, in einem weißen, im selben Landkreis gemeldeten Citroën, der sich den Anschein gab, als kenne er die Gegend, denn er bog an der richtigen Stelle, hinter dem Seehotel, nach rechts ab, anstatt auf der größten der drei Straßen von Siom bis zur Akazienterrasse weiterzufahren; er fuhr zum See hinunter, am Haus der Queyroix’ vorbei, hielt vor dem weinroten Tor, betrachtete es und nickte mit dem Kopf, bevor er an einer Art Kuhglocke rüttelte, deren Ton nur für das geschärfte Gehör einer Lehrerin hörbar war. Tatsächlich rief sie auf dem überdachten Teil der Terrasse die alte Schulmeisterin auf den Plan, der er bald darauf am Küchentisch mit der hellen Resopalplatte gegenübersaß, als ob er schon oft dorthin gekommen wäre, sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, denn sie setzte sich im Dreiviertelprofil ins Gegenlicht, einen Ellenbogen auf dem Bauch und das Kinn in der Handfläche, die Beine übereinandergeschlagen: just in derselben ironischen, geduldigen und großmütigen Haltung, die sie immer am Katheder eingenommen hatte, an einem dieser Schreibtische aus gelblichem Holz, den Altären der republikanischen Weisheit. Den Körper wandte sie, wie damals, dem Ofen zu, dem Holzherd, dessen Feuer sie den ganzen Tag über nicht ausgehen ließ – ein Rozières-Herd, erklärte sie, den sie erst vor kurzem angeschafft habe, der aber einem anderen weißen, glänzenden, massiven Herd ähnele, über den sie hätte sagen können (später, an einem anderen Tag, wenn er vertrauter mit ihr wäre und nicht mehr behaupten müßte, daß sie in Rätseln oder Bildern sprach, würde sie es sagen), daß er sie besser gewärmt hatte als die Mutterbrust.
Nicht, daß ihr etwa noch kalt war oder daß sie etwas anderes, Erinnerungen oder Kummer, warmzuhalten hatte: Sie schien es vielmehr zu tun, weil sie ihre Wirkung wohlberechnete, eitel und gerissen wie ein alter Routinier der Worte, mit dieser Stimme, deren Schärfe sie zu mildern verstand, indem sie so leise sprach, daß man genau hinhören mußte, um nichts von dem, was sie sagte, zu verpassen, und um am Ende zu verstehen, daß sie nichts so sehr geliebt hatte wie dies: zu sprechen, zugleich Furcht und Liebe einzuflößen, falls das nicht dasselbe ist, zumal sie eine Frau war und sich durchsetzen mußte, vor allem auf dem Hochland, gegen diese kleinen Bengel mit den rötlichen Vollmondgesichtern, den prahlerischen oder verschlagenen Augen und den Händen, die mit Heugabel, Sense und Hacke geschickter umgingen als mit der Schreibfeder. Von deren Lippen mußte sie die Dialektwörter absägen oder abschaben (eines ihrer Worte gebrauchend, sagte sie sogar harken, als ob es sich dabei um Heu handelte, das man auf den Wiesen zusammenharkt, mit den langen hölzernen Heurechen, die ihr Vater sie herzustellen gelehrt hatte: Man schnitt einen gegabelten Haselzweig zu, spitzte ihn an, polierte ihn und faßte ihn schließlich sorgfältig mit Zinken aus Buchenholz ein, ungefähr so, wie sie es später mit den französischen Wörtern und den Zahlen machen sollte). Dabei hätte sie ihnen oft selbst gerne mit Dialektwörtern geantwortet, deren Gebrauch die Schulbehörde in Limoges aber unerbittlich verbot. Das hielt die Kinder nicht davon ab, aus diesen Wörtern ihr alltägliches Geplapper anzurühren, in den Alkoven, Küchen und Scheunen, auf dem Pausenhof, den Feldern und in den Wäldern, die Sprache des Waldes gegen die der Republik ausspielend, weil all das, Tiere, Bäume, Jahreszeiten, Arbeiten, Freuden und Ängste, im Dialekt besser klang – sie ahnten im übrigen nicht, daß das Spiel schon verloren war, ja daß sie im Begriff waren, in die Nacht der Vergessenheit hinabzusteigen, mit ihren Tieren, Erinnerungen, Bräuchen und Legenden, mit dem armseligen Glanz einer schriftlosen Sprache, die die Jüngeren schon nicht mehr sprachen und von der nichts übrigbleiben würde, weder Gesicht noch Körper oder Gesten, nicht einmal die Erinnerung daran.
»Und außerdem, was könnte ein Mann schon von all dem verstehen«, begann sie wieder, nach einem Moment des Schweigens, in dem sie gemeinsam hatten hören können, wie die Regentropfen auf dem Schieferdach das leise Summen von Boiler und Herd sowie ihr Atmen übertönten, wenn es nicht der Wind in Chadiéras’ Eichen war oder eine einzigartig aufeinander eingestimmte Mischung von beidem. Etwas weiter nördlich knirschten Holzschuhe auf den Straßensteinen, zuerst zwischen den Fichten von Nuzejoux, dann noch einmal weiter unten, in der Nähe der Gartenmauer, dort, wo der Asphalt kurz vor der Villa endete: kein Besucher, sondern der kleine Gehilfe von Berthe-Dieu, der, die Stange über der Schulter, hinunterging, um die Kühe an der Granittränke vor der Straßenkehre unter den Eichen zu versorgen, wobei er einen Blick auf das Fenster warf, hinter dem, wie er und alle anderen Bewohner von Siom wußten, die Lehrerin, die alte Schulmeisterin, mit ihrem jungen Besucher saß, zu dem sie soeben sagte:
»Wer sind Sie überhaupt, daß ich Ihnen von ihr erzählen soll?«
Auf ihren Lippen lag ein leichtes Lächeln, das der Besucher sicher nicht sehen konnte, obwohl sie sich bemühte, ihm eine Ahnung davon zu geben, indem sie den Kopf dem Lichtschein des Wasserboilers zuwandte, diese Meisterin der Verstellung und des Wortes, Herrscherin über Kongruenzen, Ausnahmen und Fehler, sie konnte sich besser als jeder andere Gehör verschaffen, auch an diesem Oktobermorgen bei dem jungen Mann, der sie ansah, ohne seinerseits ein Lächeln verbergen zu wollen, das unter der vordergründigen Unterwürfigkeit, frech, zumindest spöttisch war: ein Lächeln, wie sie es auf den Lippen bestimmter Schüler geliebt hatte. Aber an diesem Morgen, an dem es mehr durch die Flamme des Wasserboilers als durch die Sonne, der es nicht durchzubrechen gelang, beschienen wurde, mußte ihr das Lächeln dieses Großneffen ein ganz anderes, entfernteres und dennoch näheres Gesicht in Erinnerung rufen. Er war Enkel eines Bruders von dem, der vor vierzig Jahren, und nur für einige Monate, ihr Gatte gewesen war, des Burschen aus Chamberet, wo sie zu Beginn ihrer Laufbahn unterrichtet hatte, des jungen Witwers, der nicht viel länger als seine erste Frau durchgehalten hatte – die Leute hatten mit den Achseln gezuckt und getuschelt, daß manchen die Ehe eben einfach nicht gelingen wolle.
»Denn Sie bedeuten mir so gut wie nichts, ein angeheirateter Großneffe, noch dazu aus einer Familie, die ich sozusagen vergessen habe, die mich verleugnet und mit den anderen über mich gelacht hat … Und dennoch, Sie sind nun einmal hier, und ich sollte Sie duzen, wie ich all diese jungen Leute geduzt habe, die jahrelang vor mir gesessen haben. Sie sind nicht um meinetwillen gekommen, sondern wegen meiner Schwester Amélie, nicht wahr?, Sie würden gern alles wissen, und deshalb sitzen Sie da, sperren siegesgewiß den Schnabel auf und tun so, als wären Sie auf dem laufenden, nur um noch mehr aus mir rauszulocken. O nein! Fangen Sie bloß nicht an zu rauchen! Das hat noch kein Mann in meiner Gegenwart gewagt, schon gar nicht bei mir zu Hause. Der Rauch ist Fluch und Segen zugleich, wie das Geschwätz. Ich ertrage nur noch Schnupftabak, wie eine Greisin, dabei bin ich noch gar keine wirklich alte Frau … Sie wundern sich? Finden das altmodisch? Sehen Sie, dort auf dem Buffet, das kleine, dunkelbeigefarbene Päckchen, das der Tabakhändler von Buiges nur für mich bestellt, jetzt, wo die alte Dutheil tot ist. Sie lächeln. In Ihrem Alter, da kennen Sie den Duft der Vergangenheit noch nicht, sorgen sich dafür um eine Tote …«
Er wartete, wie man es ihm geraten hatte, der gesiezte Großneffe, das Fast-Nichts, der ungeborene, unverschämte Neugierige, der Zweig, der der Zeit entsproß. Er steckte die Zigarette in das blaue, flache Päckchen zurück, auf dem sich eine Zigeunerin reckte, und legte seine rechte Hand auf die hellgraue Resopalplatte, zwischen das Feuerzeug und eine halbleere Flasche Vichy-Wasser, während er mit der anderen Hand sein Knie umfaßte, vielleicht darauf wartend, daß sie weitersprach oder daß die Sonne sich endlich entschließen würde, den Nebel zu durchbrechen, der, seitdem es nicht mehr regnete, in hellerem Licht über dem See aufstieg. Oder aber er wartete darauf, daß ihm Wörter zum Abschied einfielen, denn er mußte sich damit abfinden, daß sie an diesem Tag nichts weiter sagen würde, es war zu spät: Sie hatten sich kennengelernt, obwohl er nichts über sich erzählt hatte, was sie anscheinend auch gar nicht interessierte, als ob es für sie unwichtig war zu wissen, wer ihr Fragen stellte oder zuhörte, und obwohl sie nicht auf diesen Großneffen gewartet hatte, sondern auf irgend jemanden, der es wagen würde, die Rede auf etwas anderes zu bringen als auf das Wetter, der ihr nichts verkaufen und ihr vor allem nicht weismachen wollte, daß die Ewigkeit auf Kredit zu haben war. Einmal, vor sehr langer Zeit, hatte sie sich auf diesen trügerischen Handel eingelassen, mit dem jungen Mann aus Chamberet, der es geschafft hatte, ihr einige Monate Eheleben als das ewige Glück vorzumachen, sich dann davonstahl, lächelnd, wenngleich er wußte, welcher Ewigkeit er entgegenging.
Er wartete auf ein Zeichen – die Sonne oder einige Worte, das kam aufs selbe heraus –, daß es genug war und er sie ihrem Gemüse überlassen mußte, das an einigen Stellen schon braun wurde, in der kleinen grünen Schüssel, die auf dem Rand der Spüle neben zwei Forellen stand, die sie, als er schellte, gerade fertig ausgenommen hatte (so daß sie ihn mit schmutzigen, blutigen Händen, weit vom Körper abgehaltenen Armen und gequältem Gesichtsausdruck empfangen hatte, als ob sie, hätte er denken können, soeben vom Kreuz abgenommen worden wäre). Die Forellen hatte ihr, früh am Morgen, der Fischer aus Aubusson gebracht, der mit ihrer Erlaubnis seine Angelruten am Ende der bis an den See heranreichenden Wiese aufstellte, die sie vor kurzem gekauft hatte; auf die Wiese war sie genauso stolz wie auf den gewagten maritimen Anstrich ihrer Villa (was auch immer sie für gewagt modern hielt, denn das war es nur im Vergleich mit der winterlichen, massiven Strenge der anderen Häuser auf dem Hochland): ein mit Farn und Stechginster bewachsenes Stück Wiese, das sie nicht besser instand hielt als der vorige Besitzer und nur deshalb erworben hatte, um ihren Blick auf etwas ruhen lassen zu können, das ihr das Gefühl gab, Grundbesitzerin zu sein, denn der Lungenkranke weigerte sich, ihr weiteres Land zu überlassen. Ja, hatte sie mit erstaunlicher Eitelkeit wiederholt, etwas, worauf sich ihr Blick ausruhen könne, wenn sie sich an schönen Tagen abends auf der Terrasse in einen Liegestuhl setze, damit sie, die sich immer bemüht habe, sich nichts vormachen zu lassen, sich sagen könne, daß auch sie ihren Zugang zum See habe, wie die Queyroix’, Philippeaus und Barbattes, die eines sehr wohl wußten: Um sich davon zu überzeugen, daß es ein weltliches Königreich gab, war nichts besser als ein Stück Land am Ufer eines stillen Gewässers.
Endlich war es soweit, daß sie sich erhob. Sie richtete sich plötzlich auf, maß seine Größe an der ihrigen und übertraf ihn erneut, denn sie war immer, so flüsterten die Leute, eine lange Bohnenstange gewesen und ein kühler, starker Kopf, eine von denen, der man nichts vormachte, der niemand den Respekt schuldig blieb: die Yvonne vom Montheix, wie sie weithin genannt wurde, denn in Siom rief man die Leute selten bei ihrem Familiennamen, und auch der junge Besucher hatte es, um das Spiel zu eröffnen, so gehalten, reizend unverschämt wie ein begabter Schüler, der zu dick aufträgt, errötet, zittert, stammelt und dabei irgend etwas zwischen den Händen zerbricht, die Ordnung, die er angeblich unterläuft, zugleich mißachtend und achtend und damit glorreich sein Heil in den Augen derjenigen verspielend, die er eigentlich beeindrucken wollte. Der junge Besucher errötete also, aber anstatt sich einfach hinzustellen, baute er sich vor ihr auf, senkte nicht den Blick, ließ geschehen, daß seine Augen sich mit Tränen füllten, nicht nur wegen der kalten Luft, die sie beim Öffnen der Tür hereingelassen hatte, und ertrug es, daß die Schulmeisterin ihn prüfend ansah, gründlicher, als sie es anderthalb Stunden zuvor, als er sich vorstellte, getan hatte: aufgetaucht aus dem Regen, in einem schlechtgeschnittenen marineblauen Blazer und einer dieser blaßblauen Drillichhosen, die sie sich nie entschließen konnte, bei ihrem amerikanischen Namen zu nennen, nicht weil sie ein amerikanisches Produkt waren, sondern weil dieser Drillich allzusehr der blauen Kleidung der Landarbeiter ähnelte. Es schockierte sie, daß man ein Vorrecht der Armen zur Mode erhob, hätte sie sagen können, als sie den jungen Mann von Kopf bis Fuß musterte, der zur Zeit des Postboten bei ihr geklingelt hatte und weder aussah wie ein Fischer, Bauer oder Hilfsbriefträger noch wie ein fliegender Händler, Betbruder oder Zigeuner, die auch manchmal die Glocke am Tor anschlugen, jene Glocke aus gelblichem Stahl mit dem Fries aus Enzianblüten und dem Datum 1988, möglicherweise das Jahr, in dem sie auf einem Sommerausflug gekauft worden war, in La Bourbole oder Puy Mary.
Nein, dieser junge Mann sah nicht aus wie diese Leute, nach den anderthalb Stunden, die er in ihrer überheizten Küche verbracht hatte, im Dunst von Forellen, Lauch, Rüben, Möhren und frischgeschälten Kartoffeln, der ihm schließlich zu Kopf gestiegen war, nachhaltiger als die Stimme der alten Dame, die durch den jungen Mann an nichts erinnert wurde, höchstens daran, daß noch mehr Zeit vergangen war und sie nun das Essen einer Frau vom Lande zubereiten mußte, von dem er um nichts auf der Welt hätte kosten mögen. Das sagte er sich vielleicht, als er an die Forellen dachte, deren offene, blutige Bäuche oft seine Aufmerksamkeit erregt hatten, während die Lehrerin sprach, und warf einen letzten Blick darauf, als er vor den schiefergrauen, kühlen und beinahe hochmütigen Augen dieser allzu weitläufigen Verwandten stand, die anscheinend belächelte, was er für hübsche Privilegien hielt: Jugend, Freiheit, sein kleines, brünettes Puppengesichtchen, das bei den Frauen gut ankam, das Mahl, das er eine Stunde später in Gesellschaft einer schönen Frau in einem Gasthaus in Barsanges einnehmen würde, und die Lust, die ihm diese Frau, die er nie beim Vornamen nennen sollte, nachmittags zu schenken versprach. Er errötete, als er sich den innigen Wunsch eingestand, die alte Schulmeisterin würde ihn beim Vornamen rufen und sich, das vor allem, von ihm Yvonne nennen lassen – sie, die bereits wußte, daß all dies, Jugend, Freiheit, hübsches Puppengesicht, gutes Essen und Lust, eines Tages vergangen sein würde, früher, als er denke, schien ihr überlegener Blick zu sagen, und daß er nicht mehr lange genug ein junger Mann bleiben werde, um zu lernen, sich davon zu befreien und so zu tun, als sei das alles nicht mehr wichtig, ja sich damit abzufinden, daß auf der Welt alles vergänglich ist.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte er übertrieben laut und blickte zur Seite, in den hinteren Teil des Zimmers, zu einer großen Standuhr, deren Pendel, wie er jetzt bemerkte, ein lauteres Geräusch verursachte als der Wasserboiler oder der Regen auf dem Schiefer. »Ich würde gern wiederkommen …«
Er drückte sich aus wie ein Verliebter, spöttisch und zugleich respektvoll, geradezu überhöflich, senkte den Kopf, nur so viel, daß er sie trotzdem lächeln sah wie eine verwirrte, zumindest geschmeichelte Frau – als kämen sie plötzlich, für eine Dauer, deren Länge, Kürze oder illusionäre Gewalt keiner von beiden zu messen gedachte, in dem Glauben überein, daß es alles in allem nichts Schlechtes war, sich, auch wenn man darauf schon verzichtet hatte oder sich schneller, als man dachte, auf diesen Verzicht einstellen mußte, ein wenig in Illusionen zu wiegen: sich nicht nur etwas erzählen zu lassen, sondern damit zu spielen, noch einmal zu verführen, sich zu verspäten, Vergnügen am Zusammensein zu finden – sei es auch nur, um unterschiedliche Bedürfnisse zu befriedigen. Als der junge Mann fragte, tat sie, als ob sie darüber nachdächte, und antwortete dann mit gespitzten Lippen, wobei eine leichte Röte ihr Gesicht überzog:
»Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben.«
Es sollten noch andere, langsamere Stunden folgen, einer Zeit unterworfen, die, wie die Zeit der heimlich Liebenden, bald nur noch ihnen allein gehören würde, und immer montags, denn das war der freie Tag des kleinen Claude – so nannte sie ihn ab dem zweiten Besuch und verlieh diesem klein, trotz des scharfen Tonfalls, einen leidenschaftlichen, zumindest liebevollen Beiklang: diesem der Tiefe der familiären Zeit entsprungenen Unbekannten zwar nicht angemessen, dafür aber der ironischen Übertreibung einer Frau, die die wehmütige Erinnerung an erträumte Lieben bewahrt und aus diesem Scheffel Bedauern herausliest, daß die Liebe vor allem das ist, was man erträumt, und daß das immer noch besser war als nichts, besser als das einsame Gemurmel einer Pensionärin in einer überheizten, ländlichen Küche, zwischen dem Gemüse vom Montag und der ewigen Suppe, wozu sich ab dem zweiten Montag der Anisduft des Pernod mischte, bald ein Bestandteil ihres kleinen Rituals zwischen zehn und Viertel vor zwölf. Fast zwei Stunden lang konnte er hören, wie die Zeit zerkaut wurde, zwischen den alten Lippen durchsickerte und im Gleichmaß der Metalltropfen, die von der Standuhr im hinteren Teil des Zimmers hinabfielen, dahinplätscherte, im Gegentakt zu den Tropfen des Wasserhahns, was sie jeden Montag zu der Bemerkung veranlaßte, sie habe schon wieder vergessen, den Klempner zu rufen, woraufhin er denken mochte, der kleine Claude, daß der Wasserboiler diese Metall- und Wassertropfen zum Glühen brachte, zusammen und getrennt, weniger durch einen chemischen Prozeß als durch die subtileren Metamorphosen der Zeit.
Beinahe zwei Stunden lang konnte er die alte Lehrerin im Gegenlicht murmeln, ihre Worte im geschmolzenen und wieder erstarrten Silber der Sekunden rauschen hören, jede Viertelstunde unterbrochen durch die drei Noten einer kleinen feierlichen Musik und um elf Uhr (wie zu jeder vollen Stunde) durch denselben Refrain, vollständig, erweitert, reicher, eine Art Rachegeläut. Es ließ sie beide den Kopf heben und einander anblicken, die alte redende Dame mit neuer Verwirrung, als wollte sie dem Besucher noch einmal in Erinnerung rufen, daß sie nicht nur Herrin der Wörter, sondern auch der Stunden war und die Wörter nur zäh gewordene und erstarrte Zeit sind, ja, das alte Fett der Zeit – der wiederbegonnenen Zeit, denn es müsse immer eine Geschichte geben, nicht wahr, es müsse immer Geschichten und Märchen geben, und das alles völlig vergeblich, wurde sie nicht müde zu wiederholen. Er hatte es längst verstanden, mußte jedoch zum Schein immer wieder zustimmen, als höfliches Vorspiel oder versöhnliche Geste, bevor er dem Fluß der Zeit zuhören konnte, ja, wenn auch erst ab dem dritten Besuch, beim zweiten hatte sich nämlich keiner der beiden einen Schritt weitergewagt: Sie hielt sich geschickt zurück und weigerte sich fürs erste, irgend etwas über ihre verstorbene Schwester preiszugeben, und er spielte geduldig und bescheiden mit, kreuzte die Arme und belauerte (eine Beobachtungsrunde, hatte der kleine Claude zu der anderen Frau, die er die junge Meisterin nannte, gesagt, am Nachmittag desselben Tages, im Gasthaus von La Celle, wo sie sich getreu einem zweiten Ritual eingefunden hatten, dessen Bedeutung ihnen noch nicht vollständig bewußt war) die alten Lippen, die beim dritten Mal plötzlich, stärker als nötig, lächelten. Und sie gab den gebieterischen, überlegenen Ton auf, in dem sie ihn befragt hatte wie einen Schüler, der mitten im Schuljahr ankommt und das Gefüge der Klasse bedroht.
»Sie sind dort gewesen«, sagte sie gleich zu Anfang, am dritten Montag, sah ihm scharf ins Gesicht und ärgerte sich vielleicht, weil er nicht die Lippen bewegte, sondern mit den Lidern zwinkerte und unschuldig lächelte, »ja, Sie mußten hingehen …«
Ohne den kleinen Claude aus dem Blick zu verlieren, wies sie mit einer knappen Kopfbewegung auf einen Punkt zu ihrer Linken, hinter Chadiéras’ Eichen, zum südlichsten Ende des Sees und den höchsten Hügeln, bevor sie fortfuhr:
»Ich werde Ihnen sagen, was Sie dort gesehen haben. Am Ortsende von Siom haben Sie links die Straße nach Les Freux genommen, die nach Treignac, wenn Sie so wollen. Mit Sicherheit haben Sie sich verfahren, wie alle, und sind nach L’Oussine-des-Bois abgebogen, wo das Schild abgefallen ist, nicht in die Straße Richtung Staudamm, sondern ein bißchen weiter hinten, hinter den Tannen von La Planche. Auch dort gibt es kein Schild? Es liegt ebenfalls im Gras? Gut möglich. Wen kümmert es schon noch, was sich am Ende dieser Straße befindet, drei Kilometer weiter, jenseits des Staudamms, vor dem Sie Ihr Auto geparkt haben. Sie haben es gemacht wie alle anderen: Sie haben der Stille nachgelauscht, lange Zeit, und sich zweifellos noch einsamer gefühlt, dann haben Sie diesen Staudamm überquert und bestimmt auf jeder Seite über den Rand gespäht, zuerst ins Leere, auf der eingebuchteten Seite, auf das dünne, Vézère genannte Rinnsal, das durch felsige, mit kleinen Eichen, Haselsträuchern und Brombeerranken bestandene Schluchten dahinplätschert. Und Sie haben geschaudert. Es war ein schöner, kalter Tag, gestern, Sonntag, nicht wahr, beim Morgengrauen war Nordwind aufgekommen und hatte die dunklen Wolken der letzten Tage vom Himmel gefegt. Man wußte, daß es bis zum Abend schön bleiben würde, weil der Arsch des Limousin sauber war, lachen Sie nicht, das ist ein Spruch von hier, man muß sich nur den Himmel auf dieser Seite von Limoges ansehen, um zu erfahren, wie das Wetter am nächsten Tag wird … Es schauderte Sie, Sie haben zum – wie die Dichter sagen – kobaltblauen Himmel aufgeblickt; und ich glaube, auf der Mitte des Staudamms ist Ihnen ganz schön schwindlig geworden, nicht wahr? Der Himmel in seinem harten Blau, die Vögel, die gewiß im Abgrund kreischten, und der eisige Wind, der Sie zwang, Ihre Schritte zu beschleunigen, und Sie auf den Gedanken brachte, wie die Fischer da hinten, auf der anderen Seite des Sees, bloß dagegenhalten könnten, auf dem schwarzen Wasser in ihren Booten, noch dazu reglos – als ob sie nicht mehr ganz von dieser Welt wären … Wie ich das wissen kann? Zu dieser Jahreszeit sind die Fischer immer da, egal, ob es schön ist oder regnet. Und Sie gingen weiter, den von Forstfahrzeugen und Regen aufgewühlten Weg hinauf: Zwischen einem Haufen Kiefernholzklötzen und Reihen von Buchen und Eichen, wo es dunkler und feuchter war als zwischen den geteilten Wassern des Roten Meers, überquerten Sie die Wegkreuzung, wo es sicher noch dunkler, feuchter und kälter war, und kamen zum alten Backhaus, von dem nur noch der Giebel, der Ofen, ja, und einige Balken übrig sind, außerdem Dachziegel, ja, Ziegel, damals war es modern, die Backhäuser mit Ziegeln zu decken, während es die Häuser gegenüber nicht mehr gibt, sie sind unter Gras, Brombeeren und Efeu verschwunden. Dort haben Sie Luft geschöpft, vielleicht gehorcht, ob jemand da war. Aber wer zum Teufel sollte da sein außer Wind, Füchsen, Wildkatzen und Vögeln? Der Teufel persönlich? Vielleicht haben Sie ja recht: In dieser Höhe – eine der höchsten Erhebungen des Landkreises, wußten Sie das? – weht in manchen Nächten der Wind so stark, daß man glauben möchte, die Völker der Dunkelheit hätten sich dort versammelt und bliesen den armen Leuten die Ohren voll. Sie lachen, weil Sie keine Angst hatten, Ihre Generation kennt keine Angst vor der Dunkelheit, außerdem war es hellichter Tag: Sie haben den Montheix nur für einen Schlupfwinkel alter Tiere gehalten. Vielleicht haben Sie gelächelt, als Sie sich vorstellten, wie wir als Kinder dort, in diesem Schlupfloch der Winde, gespielt haben. Aber als Sie durch den weißen Zaun geschlüpft sind, verging Ihnen das Lächeln, da, wo Randalierer das Maschengeflecht zerstört haben – übrigens dieselben, die einige Meter weiter rechts, auf dem bemoosten Steinmäuerchen, den Bildstock aus Granit gestohlen haben, der zwischen den Eichen der Allee stand, die vom Wahnsinn des letzten Besitzers verschont geblieben sind, denn sie stehen nur noch auf einer Seite, aber höher und schöner als je zuvor … Haben Sie auch die Eibe bemerkt? Am Ende der Allee, links, gegenüber dem Schloß, das wohl genauso alt ist wie sie? Ja? Das freut mich. Wenn Sie sich mit dem Rücken zum Baum stellen, befinden Sie sich dort just gegenüber dem Schloßportal. Ein schöner Anblick, nicht wahr? Obwohl der Rasen und die Ligusterhecke unter Haselsträuchern verschwunden sind. Die Allee, oder was davon übrig ist, führt an der Eibe vorbei nach rechts, an dem langen Gebäude mit Scheunen und Ställen entlang, dann am Schweinestall vorbei, der senkrecht dazu steht, biegt dann abermals nach rechts ab – formt also, vom Eingang aus gesehen, ein S –, und zwar am Brunnen. Man hat mir gesagt, er sei jetzt ohne Rand und Dach, man habe ein rostiges Stück Blech darübergelegt, das vom Kapellendach heruntergefallen sei, und man könne ihn unter dem Gras kaum mehr erkennen … Eigentlich ist dieses S eher eine 8, denn die Allee endete nicht, wie man denken könnte, vor dem Schloßportal, sondern ging, an der Kapelle vorbei, weiter und dann, auf der anderen Seite des Hofs, an all diesen Gebäuden entlang, die senkrecht zum Schloß stehen, vorbei an den Ruinen der beiden Schuppen, dem Schafstall und den Resten unseres Hauses. Sie haben es gesehen, nicht wahr, es ist fast nichts davon übrig außer ein paar Mauerresten und eingestürzten Steinen unter Efeu, Brombeerranken und dem verdammten Haselgestrüpp. Bald wird man vergessen haben, daß wir dort so lange leben konnten, eine richtige Familie, mein kleiner Claude, solche Familien gibt es nicht mehr, drei Schwestern, ja …«
Sie schwieg. Er hörte nicht mehr zu. Vielmehr, wie sie hörte er in sich etwas sausen, ähnlich dem Wind, der an jenem Tag durch ihn gefahren war und ihn bis in die Seele hatte gefrieren lassen, hätte die alte Schulmeisterin sagen können. Vielleicht lauschten sie auch gemeinsam dem Rauschen der Zeit, deren am besten wahrnehmbares Element der Wind ist: nicht die Zeit, die seit einer Stunde verstrich, nicht die Zeit ihrer eigenen Lebensjahre, sondern die sogenannte alte Zeit, die den Bau jenes Gebäudes gesehen hatte, das man in Siom hartnäckig das Schloß vom Montheix nennt und das doch in Wahrheit nur ein Landsitz ist, ein befestigter Bauernhof auf den Fundamenten einer Festung aus der Zeit vor den Religionskriegen: ein dicker, eckiger Turm, der heutzutage nur noch eine einzige Etage hat, in seiner Mitte ein kleines Fenster ohne Fensterläden und weiter oben, unter dem Dach, zwei Schießscharten, flankiert von zwei Gebäudeflügeln, in die das Tageslicht, im Parterre wie im ersten Stock, durch zwei hohe, in viele kleine Scheiben unterteilte Fenster eingefallen war. Das Ganze lehnte an einem der Hügel, der möglicherweise aus den Überresten der ursprünglichen Festung bestand, der das Haus auf dem Montheix den Namen Schloß verdankte: Dafür standen jetzt nur noch seine Einsamkeit, sein verstümmelter Turm und im Parterre jedes Flügels die riesigen Kamine, deren Einfassungen mit kaum mehr erkennbaren Wappen geschmückt waren und in denen man einen Eichenstamm verbrennen oder einen Ochsen hätte braten können.
Das sagte die alte Lehrerin, die, ohne daß er es wirklich bemerkte, wieder zu sprechen begonnen hatte, murmelnd, das Schönste, was es im Schloß gebe, seien nicht diese Kamine, sondern sei die Wendeltreppe, die vom Keller über die erste Etage auf den Dachboden führe, ein Symbol für das Unendliche, habe sie irgendwo gelesen, und der Türsturz am Eingang, mit seinem verblichenen Wappen über dieser Inschrift
die nur im Morgenlicht oder in der Abendsonne erkennbar sei, und niemand habe sie je entziffert. Aber sie, Yvonne Piale, habe sie unablässig befragt, und am Ende hätten die Zeichen, behauptete sie, zu ihr gesprochen wie ein modernes, scheinbar unverständliches Gedicht.
»Vielleicht habe ich zuviel Vertrauen in die Wörter gesetzt«, fuhr sie fort, schnaubte, als wollte sie ihre geistigen Kräfte sammeln, und riß sich vor dem Sturz in die Vergangenheit zurück, der ihr ebenso langsam, tief und dunkel vorkam wie der Fall der Kieselsteine, die sie, als sie ein Kind war und den Wörtern noch nicht vertraute, in den alten, heutzutage randlosen Brunnen geworfen hatte, der so tief ist, daß sie die Kiesel niemals ins Wasser eintauchen hörte, und dessen Eimer man nur zu zweit heraufziehen konnte mit Wasser so kalt, als käme es aus dem Herzen derer, die niemals geliebt haben, oder aus dem Mund des Teufels. »Am Ende haben Sie aber doch Angst bekommen, oder nicht? So ganz allein inmitten dieser hohen Bäume, die sich ohne Unterlaß im Wind bewegen, geräuschvoller als eine unruhige Schulklasse. Sie müssen den Oktoberwind übrigens gehört haben, als Sie im Hof vor der offenen Tür standen. Schaudernd haben Sie deren Schwelle überschritten, vorsichtig zunächst, um Ihre Augen an das Halbdunkel zu gewöhnen und nicht noch einmal zu stolpern, voller Erstaunen den Fuß auf die drei Stufen setzend, die zu den beiden Sälen im Parterre führen, von denen Sie den linken nicht betreten konnten, weil auf dieser Seite das Dach zusammen mit dem Fußboden der ersten Etage eingestürzt und somit die Tür von zwei oder drei riesigen Balken blockiert ist. Statt dessen sind Sie im Dämmerlicht des schmalen Flurs mit den bloßen Steinmauern weiter vorgedrungen, der zur sogenannten Küche führt, im Schloß der Raum, in dem sich das meiste Leben abspielte, mehr als in jedem anderen – auf jeden Fall ein angenehmeres Leben als in den drei Zimmern der ersten Etage, die Sie durch die fehlenden Bodendielen sehen konnten. Die Zimmer sind ganz leer, bis auf einen schäbigen Nachttisch mit falscher Marmorplatte, zwei oder drei nicht weniger schäbigen Korbstühlen, einigen Tapetenfetzen mit blauen und gelben Blumen und etwas Stoff aus Jouy, darüber derselbe kobaltblaue Dichterhimmel, diesmal sichtbar durch lange Dachplatten hindurch, die vom Wind durchgerüttelt werden und, von Zeit zu Zeit, wie eine Guillotine pfeifend auf die Granitplatten fallen. Das stimmt, wissen Sie, der kleine Besson aus La Goutaille, der mit seinen Klassenkameraden im Schloß gewütet hat, hätte fast seinen Kopf dort gelassen, in dem nicht viel drin war, das gebe ich zu, aber jetzt trägt er ihn immer ein wenig schief, dort, wo die Dachplatte ihm den Halsansatz gebrochen hat, so daß er seitdem den Himmel fürchtet, so wie Sie sich an diesem Tag gefürchtet haben, ich täusche mich sicher nicht, denn Sie waren vorsichtig, sind nämlich nicht die schöne Steintreppe hinaufgestiegen, an der, wie Sie sicher gemerkt haben, einige Stufen schadhaft sind. Was hätten Sie im übrigen oben entdecken können, was Sie nicht auch von dort aus, wo Sie standen, sehen konnten, am Ende des kurzen Flurs, dessen Tür auf Sie zu gefallen war. Sie gewöhnten Ihre Augen an die übermäßige Dunkelheit, so daß Sie schließlich, trotz der Wind und Wetter hineinlassenden Fenster und des zerfetzten Dachs, eine Steinspüle, deren Zulauf früher einmal die Form eines Teufelchens hatte, und einen runden, schuttbedeckten Tisch unterschieden, über dem noch immer an einem endlos langen Kabel eine Glühbirne mit weißem Emaille-Lampenschirm hängt. Weiterhin sahen Sie einige Flaschen, Teller, Gläser und Schüsseln, zum größten Teil zerbrochen und ausgeschüttet, zwischen all dem namenlosen Zeug, das den Kachelboden bedeckt, vor allem diese Plastikverpackungen, die viel trostloser sind als jeder andere Müll. Mehr ist nicht übrig, ja, von denen, die dort, in dieser Höhe, zusammenlebten, ja, Reiche und Arme, die Familien Barbatte und Piale, nicht in Freuden, sondern die einen voller Stolz auf ihr Dasein und die anderen voller Stolz, sich nicht aufzugeben, zu sterben, sondern weiterzumachen, zu zeigen, daß man als Armer genausoviel Haltung bewahren kann wie die anderen und daß man sich so langsam vorwärtsbewegt wie diese Mauern, Bäume und Hügel, daß man mit der Zeit geht, Zeit hat, zeitgemäß ist, so wie ich, und noch mehr …«
Sie hielt mit offenem Mund inne, ihr Gesicht zitterte vor Erregung, jetzt ohne Ironie, leicht verärgert, daß sie sich hatte gehenlassen, als hätte sie zuviel und zu früh preisgegeben oder als hätte er sie nackt überrascht, denn sie gehörte zu den Menschen, die ihre wahre Blöße im Gesicht tragen: ein Gesicht, das der kleine Claude erkunden lernte, das er schließlich zu entdecken meinte und ganz betrachten konnte. Und sie ließ ihm jetzt die Muße dazu, nachdem sie es durch das Wort von jedem Schatten entkleidet hatte, der von der Zeit um ihre eher strengen, aber regelmäßigen und nicht unangenehmen Gesichtszüge angesammelt worden war, um sich ihm nicht in ihrem gegenwärtigen oder damaligen Alter, sondern in der zeitlosen Schönheit ihrer schiefergrauen Augen zu zeigen. Er sah ihr schmales, energisches, herablassendes und enttäuschtes Gesicht unter dem kaum ergrauten, immer noch dichten Haar, das ihn an eine andere Frau erinnerte, die es vielleicht gar nicht gab – genauso suchte Yvonne Piale im Gesicht ihres Besuchers wohl die unwahrscheinliche Erinnerung an ihren entfernten, flüchtigen Gatten und nahm hin, daß dieser Besucher nur der kleine Claude war, ein in keiner Hinsicht außergewöhnliches, aber angenehmes menschliches Wesen mit dichten braunen Locken, blassem Teint, beinahe schwarzen, ruhigen und aufmerksamen Augen, die eher zu Kühnheit und Intuition als zu wirklicher Klugheit fähig, gleichwohl lebendig waren, wie das, sagte sie sich vielleicht im stillen, bei kleingewachsenen Menschen häufig der Fall ist.
Er hatte, seinerseits, die Lippen geöffnet, um Worte zu sagen, die er nicht aussprechen würde. Wahrscheinlich ahnte er, daß sie überflüssig waren, nicht nur, weil er die ihm zugestandene Zeit überschritten hatte (die zweite Stunde hatte soeben geschlagen, und er ging immer noch nicht, hatte sich noch nicht einmal erhoben, und die alte Schulmeisterin schien diese Mißachtung des Rituals nicht zu bedauern), sondern auch, weil sie jetzt wirklich in den Gang ihrer Geschichte eingetaucht waren. Denn so muß genannt werden, was plötzlich zwei Menschen vereint, die vorher nichts gemeinsam hatten und die sich ohne die Neugier des jüngeren und die, sozusagen, Leidenschaft, mit der die alte Schulmeisterin versuchte, diese Neugier zu befriedigen, sicher nicht begegnet wären. Leidenschaft brachte sie an diesem Tag fast zum Verstummen, sie war unfähig weiterzureden, was sie aber, das darf man ruhig glauben, nicht daran hinderte zu ahnen, daß auch der Besucher, ihr kleiner Claude, ohnehin nicht länger hätte zuhören können, denn sie sah sein leicht dümmliches Lächeln, obwohl sie sich sagen mochte, daß man sich nicht durch den Anschein täuschen lassen sollte, schon gar nicht bei einem Mann, und daß dieser da vielleicht durchtriebener und hartnäckiger war, als es schien, so als ob er längst verstanden hätte, was sie nur langsam begriff, und deshalb den Mund schloß, sein gewöhnliches Lächeln wiederherstellend: langweilig, entrückt und, da war sie sich plötzlich sicher, schrecklich egoistisch, schäbig, hart, ein Lächeln, das man an Männern sieht, die entschlossen sind, ihre Wünsche um jeden Preis zu befriedigen, die bekommen haben, was sie wollten, und doch wie die Frauen (vielleicht besser, jedenfalls unerbittlicher als diese) wissen, daß alles vergeblich ist, ja, daß sie die Vergangenheit trotz aller Vergeblichkeit freudig aufwühlen müssen, sagte sie sich. Eine Komödie also war nötig, um zu dieser Art Lust zu gelangen, der man nicht entrinnen kann, genauso enttäuschend wie die andere Lust – es waren Wörter, immer nur Wörter, alles endet, wie es begonnen hat: mit Wörtern, die nichts Besseres herbeibringen würden als Rauschen, kaum lauter als das gezähmte Leiden der Frauen oder der Herbstwind in Chadiéras’ Eichen. Unterdessen stand der kleine Claude vor ihr, obwohl es schon vor zehn Minuten Mittag geläutet hatte, und fragte sich, worauf sie wohl wartete, denn er hatte begriffen, daß sie für heute fertig war und daß sie nicht alles sagen, noch weniger alles wissen konnte – auch nicht, was er am Vortag auf dem Gut vom Montheix bemerkt hatte: wie still es inmitten der brausenden Winde war, ja, wie außerordentlich geräuschlos sich die Vögel in den Wipfeln der Bäume niederließen. Und verstummten, mochte er sich sagen, in dem, was hinter dem Schloß vom Weißbuchenhain übriggeblieben war, der über den See hinausragte. Von dort aus hatte er am anderen Ufer den Rauch von Couignoux sehen können und weiter links, ganz hinten, im Westen, den von Siom, den Ort zwischen den Tannen erahnend, die der alte Barbatte auf der anderen Seite des Staudamms auf einer Fläche von etwa hundert Hektar hatte pflanzen lassen.
Er hatte noch mehr gesehen, was er für sich behalten würde. Er spürte, daß Schweigen ihm am besten zu Gesicht stand – es war das Beste, was er zu bieten hatte, abgesehen von seinem Kleiner-Claude-