N. Bernhardt
Der Hexer von Hymal
Komplettausgabe aller 24 Teile
N. Bernhardt
Der Hexer von Hymal
Komplettausgabe aller 24 Teile
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-32-5
null-papier.de/632
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Verlegers
Buch I: Ein Junge aus den Bergen
Erstes Kapitel: Aufbruch ins Ungewisse
Zweites Kapitel: Ende mit Schrecken
Drittes Kapitel: Schrecken ohne Ende
Viertes Kapitel: Der Zweite Aufbruch
Fünftes Kapitel: Großer Dienst am Fürstentum
Sechstes Kapitel: In fürstlicher Mission
Siebtes Kapitel: Überraschende Erkenntnisse
Buch II: Der Untergang des Fürstentums
Erstes Kapitel: Eine Burg voller Fragen
Zweites Kapitel: Ein Gefangener von großem Wert
Drittes Kapitel: Wiedersehen mit Freude
Viertes Kapitel: Das Bankett in Hocatin
Fünftes Kapitel: Flucht auf die Eisenfeste
Sechstes Kapitel: Die dreizehnte Legion
Siebtes Kapitel: Verrat auf der Festung
Buch III: Eine Reise in den Süden
Erstes Kapitel: Der lange Fluss
Zweites Kapitel: Die Stadt am Meer
Drittes Kapitel: Der Vorfall in Brigo
Viertes Kapitel: Raub in der Steppe
Fünftes Kapitel: Die Stadt auf dem Berg
Sechstes Kapitel: Ganz oben in der Stadt
Siebtes Kapitel: In der Höhle des Löwen
Buch IV: Ein talentierter Schüler
Erstes Kapitel: Die erste Lektion
Zweites Kapitel: Die Audienz
Drittes Kapitel: Die zweite Lektion
Viertes Kapitel: Der Marsch des Herzogs
Fünftes Kapitel: Die dritte Lektion
Sechstes Kapitel: Adept Nikko
Siebtes Kapitel: Der Bruch mit dem Orden
Buch V: Rückkehr ins Unbekannte
Erstes Kapitel: Flucht in den Norden
Zweites Kapitel: Adept auf Abwegen
Drittes Kapitel: Frühstück mit Schwierigkeiten
Viertes Kapitel: Der gruselige Graf
Fünftes Kapitel: Der Widerstand in Skingár
Sechstes Kapitel: Eine Lektion für Fortgeschrittene
Siebtes Kapitel: Fürst ohne Fürstentum
Buch VI: Die Festung im Feindesland
Erstes Kapitel: Genau ein Jahr
Zweites Kapitel: Ganz allein im neuen Heim
Drittes Kapitel: Ein jämmerliches Dutzend
Viertes Kapitel: Zweifaches Wiedersehen
Fünftes Kapitel: Zweite Front
Sechstes Kapitel: Ein schlecht gelaunter Gast
Siebtes Kapitel: Ein folgenschwerer Rat
Buch VII: Der leidliche Herzog
Erstes Kapitel: Sieg und Niederlage
Zweites Kapitel: Alles geregelt?
Drittes Kapitel: Adept von blauem Blute
Viertes Kapitel: Der kostspielige Kastellan
Fünftes Kapitel: Herzog oder Bürgermeister?
Sechstes Kapitel: Eine weitere Lektion
Siebtes Kapitel: Geplatzte Träume
Buch VIII: Freund und Feind
Erstes Kapitel: Große Pläne
Zweites Kapitel: Beschwörung für Anfänger
Drittes Kapitel: Beschwörung für Fortgeschrittene
Viertes Kapitel: Beschwörung für Verzweifelte
Fünftes Kapitel: Verdiente Strafe
Sechstes Kapitel: Der Tag danach
Siebtes Kapitel: Endlich Meister!
Buch IX: Kein leichtes Spiel
Erstes Kapitel: Würde und Bürde
Zweites Kapitel: Neuer Graf mit alten Getreuen
Drittes Kapitel: Neuer Graf und alte Pracht
Viertes Kapitel: Hofmagier, wenn es die Zeit erlaubt
Fünftes Kapitel: Kollegen wider Willen
Sechstes Kapitel: Der ungeliebte Gast
Siebtes Kapitel: Alles umsonst?
Buch X: Schuld und Schmach
Erstes Kapitel: Wie gewonnen, so zerronnen?
Zweites Kapitel: Neue Hoffnung
Drittes Kapitel: Der lange Marsch
Viertes Kapitel: Ankunft und Zukunft
Fünftes Kapitel: Anders als gedacht
Sechstes Kapitel: Eine verspätete Lektion
Siebtes Kapitel: Gebeichtete Lügen
Buch XI: Auf tönernen Füßen
Erstes Kapitel: Wie befürchtet
Zweites Kapitel: Eine Lüge zu viel
Drittes Kapitel: Wieder Gejagter?
Viertes Kapitel: Hilfe zur Selbsthilfe
Fünftes Kapitel: Nicht mehr allein
Sechstes Kapitel: Alter Ärger und neue Sorgen
Siebtes Kapitel: Problem gelöst?
Buch XII: Des eigenen Glückes Schmied
Erstes Kapitel: Das Ziel vor Augen
Zweites Kapitel: Auf den Spuren des Großmeisters
Drittes Kapitel: Erster Kontakt
Viertes Kapitel: Die große Stadt am Ende des Stroms
Fünftes Kapitel: Auf Irrwegen zum Ziel
Sechstes Kapitel: Ein neuer Verbündeter?
Siebtes Kapitel: Kein Zurück mehr
Buch XIII: Ein zweifelhafter Bund
Erstes Kapitel: Ein Lied für einen Dämon
Zweites Kapitel: Wie befürchtet?
Drittes Kapitel: Alles wieder gut
Viertes Kapitel: Die Festung der Meister
Fünftes Kapitel: Ein überfälliges Gespräch
Sechstes Kapitel: Neue Möglichkeiten
Siebtes Kapitel: Späte Gerechtigkeit
Buch XIV: Zu zweit allein
Erstes Kapitel: Alte Pläne, neue Pläne
Zweites Kapitel: Alte Sorgen, neue Sorgen
Drittes Kapitel: Ein Problem weniger
Viertes Kapitel: Ein unsichtbarer Feind
Fünftes Kapitel: Leichter als gedacht
Sechstes Kapitel: Eine Frage, zwei Antworten
Siebtes Kapitel: Licht und Schatten
Buch XV: Eine Frage der Ehre
Erstes Kapitel: Nach dem Ritual
Zweites Kapitel: Alles halb so schlimm
Drittes Kapitel: Der Herzog außer Rand und Band
Viertes Kapitel: Blick in die Zukunft
Fünftes Kapitel: Die Zukunft im Blick
Sechstes Kapitel: Ein seltsames Bündnis
Siebtes Kapitel: Zeichen der Zeit
Buch XVI: Kein Weg zurück
Erstes Kapitel: Entkommen, aber wem?
Zweites Kapitel: Wissen und Ohnmacht
Drittes Kapitel: Endlich konkrete Pläne
Viertes Kapitel: Ein neuer Verbündeter?
Fünftes Kapitel: Die Karawane nach Dhobar
Sechstes Kapitel: Zu Fuß nach Norden
Siebtes Kapitel: Die Stadt im Eis
Buch XVII: Die Schlacht um Hymal
Erstes Kapitel: Durch Eis und Schnee
Zweites Kapitel: Schwieriger als gedacht
Drittes Kapitel: Der Ritt auf dem Drachen
Viertes Kapitel: Schon wieder ein Jahr?
Fünftes Kapitel: Allein unter Freunden
Sechstes Kapitel: Die Ruhe vor dem Sturm
Siebtes Kapitel: Vom Gesehen zum Geschehen
Buch XVIII: Chaos in Hymal
Erstes Kapitel: Nach der Schlacht
Zweites Kapitel: Neuanfang in Halfuár
Drittes Kapitel: Rat und Tat
Viertes Kapitel: Eine bittere Wahrheit
Fünftes Kapitel: Neue Pläne und neuere Pläne
Sechstes Kapitel: Ein Krieg und seine Folgen
Siebtes Kapitel: Der Preis der Freundschaft
Buch XIX: Der Griff nach der Macht
Erstes Kapitel: Eine gute Wahl
Zweites Kapitel: Wie geheißen
Drittes Kapitel: Eine fast perfekte Lösung?
Viertes Kapitel: Der unwillige Ritter
Fünftes Kapitel: Der Kampf um die Burg
Sechstes Kapitel: Burg und Stadt in festem Griff?
Siebtes Kapitel: Gegenwind
Buch XX: Licht am Horizont
Erstes Kapitel: Ein Feind weniger
Zweites Kapitel: Alles hat seinen Preis
Drittes Kapitel: Mehr Ärger
Viertes Kapitel: Noch mehr Ärger
Fünftes Kapitel: Ein Problem als Chance
Sechstes Kapitel: Die Schlacht um Malgâr
Siebtes Kapitel: Eine überraschende Zusammenkunft
Buch XXI: Mit neuer Kraft
Erstes Kapitel: Das Ritual
Zweites Kapitel: Ein übler Nachgeschmack
Drittes Kapitel: Der Vertrag
Viertes Kapitel: Personalien
Fünftes Kapitel: Ein verschlossener Eingang
Sechstes Kapitel: Für ein bisschen Silber
Siebtes Kapitel: Störrisches Metall
Buch XXII: Zum Lohn ein Thron
Erstes Kapitel: Besser spät als zu spät
Zweites Kapitel: Neue Wahrheiten
Drittes Kapitel: Der einzige Kandidat
Viertes Kapitel: Doch keine Lösung
Fünftes Kapitel: Ein wenig Rückendeckung
Sechstes Kapitel: Einig in allen Punkten
Siebtes Kapitel: Fürstmagier gegen Ritter
Buch XXIII: Herr im eigenen Lande
Erstes Kapitel: Alles wieder unter Kontrolle
Zweites Kapitel: Über den Tod hinaus
Drittes Kapitel: Endlich auch inauguriert
Viertes Kapitel: Außer Spesen nichts gewesen?
Fünftes Kapitel: Ein wahrlich guter Unterhändler
Sechstes Kapitel: Ein Ritter weniger
Siebtes Kapitel: Die Flamme des Zorns
Buch XXIV: Der letzte Zauberer
Erstes Kapitel: Kein Einzelfall
Zweites Kapitel: Doch nicht allein
Drittes Kapitel: Den Pass blockiert
Viertes Kapitel: Schlechte Nachrichten
Fünftes Kapitel: Der sprechende Tote
Sechstes Kapitel: Der große Schwund
Siebtes Kapitel: Verkürzt und schmerzlos
Epilog
Nachwort des Autors
Autor
Danke
Weitere Informationen zur Reihe und zum Autor finden Sie unter:
hymal.info
Als Niels Bernhardt Ende 2011 sein erstes Manuskript des Zauberers von Hymal an mich schickte, war mein Verlag gerade ein halbes Jahr alt. Bis dahin hatte ich mich auf die Aufbereitung und Veröffentlichung klassischer Literatur konzentriert. Der Markt für E-Books war in Deutschland ein noch unentdecktes Land – der Kindle gerade einmal wenige Monate alt. Und jetzt sollte ich auf einmal das Buch eines lebenden Autors veröffentlichen? Was für ein Abenteuer, und was für eine Verantwortung!
Die erste Veröffentlichung war noch nicht von Erfolg gekrönt: zu unbekannt der Autor, zu unerfahren der Verlag. Aber da hatten wir die Idee, das Werk zu dreiteilen und den ersten Teil gratis herauszubringen. Geboren war die erste Fantasy-E-Book-Reihe auf dem deutschen Markt.
Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Aus den ersten drei Teilen wurden schließlich 24 mit über 250.000 verkauften Einheiten. Ein großer Erfolg für einen Ein-Mann-Verlag und einen unbekannten Autor.
Ein Fan (Danke auch dafür!) regte vor Kurzem an, die Serie doch in einem kompletten, einzelnen Riesen-E-Book herauszubringen. Was in der gedruckten Version unmöglich wäre, ist als E-Book nur eine zu bewältigende Herausforderung. Wieder dachte ich mir, dass es auf einen Versuch ankäme. Wie werden Leser auf ein E-Book mit 4500 Seiten reagieren? Sagen Sie es mir, Sie halten gerade das E-Book in den Händen.
Ich bin dem Autor sehr dankbar für das in mich gesetzte Vertrauen. Und ich hoffe, dass es bald eine Fortsetzung der Zusammenarbeit geben wird.
Bis dahin wünsche ich ihnen viel Spaß beim Lesen.
Ihr
Jürgen Schulze, Oktober 2018
Eine unerwartete Reise entpuppt sich als Albtraum. Nikko, ein einfacher Bauernjunge, sieht sich plötzlich auf der Flucht! Dunkle Häscher, Orks, ein fremdes Land voller Gefahren. Wenig Aussicht auf ein gutes Ende! Nur dank einer seltsamen Waffe kommt er mit dem Leben davon.
Wieder in der Heimat, bieten sich nun ungeahnte Möglichkeiten. Der Fürst nimmt ihn sogar in seine Dienste. Doch schickt er ihn gleich wieder zurück in die gefährliche Fremde. Dann aber erfährt er etwas, das sein Leben völlig verändern wird.
Nikko ließ sich viel Zeit beim Ausmisten der Ställe. Nicht etwa, um die Schufterei zu genießen. Vielmehr mangelte es auf dem Hof nie an mehr Arbeit. Warum also sollte er sich beeilen, wenn doch schon die nächste Drecksarbeit auf ihn wartete? Wer zu schnell arbeitet, schuftet am Ende ja doch nur mehr. Außerdem pfiff in den Ställen wenigstens kein kalter Wind, wie draußen auf dem Hof. Ein guter Platz also, um etwas Zeit zu schinden.
Glücklicherweise lag die kalte Jahreszeit in ihren letzten Zügen und würde das Dorf schon bald aus ihrem eisigen Griff entlassen. Die Schneedecke hatte ja schon begonnen, wieder in die Berge zu weichen. Bald würde sie auch die grünen Bergwiesen freigeben und er würde endlich wieder die Ziegen auf die Alm treiben können. Diese Aussicht zauberte sogleich ein Lächeln auf sein Gesicht. Nicht etwa, dass ihm das Ziegenhüten viel mehr Freude bereitete, aber so würde er wenigstens tagsüber vom Hof fortkommen und auf den einsamen Wiesen seine Ruhe haben.
»Bist du etwa immer noch nicht fertig?«, entriss ihn jäh eine forsche Stimme aus seinen Gedanken. Es war die Gimus, seines ältesten Bruders.
»Mach schneller! Du musst doch noch die Scheune freischippen«, schnauzte der Bruder. »Da ist der Schnee vom Dach gerutscht und versperrt das ganze Tor.«
»Mach doch selbst! Ich muss heute noch zu Thorodos«, log Nikko und erntete sogleich einen bitterbösen Blick.
»Faul und nutzlos«, murmelte Gimu, schlug seine Faust gegen einen Balken und stapfte schnaubend davon. Nikkos gelegentlicher Pflicht, dem alten Thorodos zur Hand zu gehen, hatte Gimu nichts entgegenzusetzen. Aus unbekannten Gründen galt dieser Dienst dem Großvater als wichtig. Dessen Wort war auf dem Hof jedoch Gesetz.
Der blonde Junge mit den großen blauen Augen konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Von den vielen ungeliebten Geschwistern konnte er Gimu immerhin am wenigsten leiden. Ein großer bulliger Kerl mit lauter Stimme, der sich meist aufführte, als unterstünde ihm der ganze Hof.
Nun musste er nur noch einen Weg aus der spontanen Lüge finden. Sollte Gimu nämlich herausfinden, dass er gelogen hatte, dann würde es wohl wieder großen Ärger geben. Nikko kam ja schon jetzt nicht gut mit seiner Familie aus. Schließlich war er schwächlich, dazu oft krank und für sein Alter auch noch viel zu klein. Keine guten Voraussetzungen für das harte Leben in den Bergen, wo man nur Leute brauchte, die richtig zupacken konnten. Für seine vielen Geschwister war er nur der Schwächling und ein Faulpelz obendrein.
Sich auf dem großen Hof der Familie zu verstecken, schien zu gefährlich. Immerhin hatte man ihn dort bisher noch immer gefunden. Draußen war es aber noch zu kalt. Da erschien es ihm am besten, dem alten Thorodos tatsächlich einen unangemeldeten Besuch abzustatten.
Seit bald zwei Jahren war er dem alten Mann nun schon behilflich. Meist musste er putzen oder aufräumen, seltener Besorgungen erledigen. Alles in allem keine besonders angenehme Pflicht, zumal der Alte oft übelster Laune war. Dennoch hatte Nikko die Zeit bei Thorodos immer genossen. Der alte Kauz war einfach anders, als alle anderen im Dorf.
*
Ein wenig später dann an diesem Tage machte sich Nikko auf den Weg zur Hütte des Alten, die nur wenige Minuten vom Hof der Familie entfernt lag. Dessen kleine Behausung unterschied sich von den Berghöfen des Dorfs allein schon dadurch, dass sie vollständig aus Holz gefertigt war und auch nur ein Geschoss besaß. Zu welchem Zweck das Gebäude einst errichtet worden war, wusste er nicht. Im Dorf jedenfalls gab es kein ähnliches.
Die Höfe Vyldoros hatten sonst immer den gleichen Aufbau. Das Haupthaus, wo die Familien wohnten, besaß ein steinernes Untergeschoss, aus Felsbrocken von Lehm und Dung so schlecht zusammengehalten, dass man die Wände ständig ausbessern musste, vor allem nach den harten Wintern. Darauf saß ein Obergeschoss aus Fichtenholz zusammengezimmert, gekrönt von einem krummen Schieferdach.
Als Nikko schließlich an der Hütte des Alten ankam, klopfte er leise. Eigentlich hätte er ja heute nicht vorbeikommen sollen und konnte ohnehin nie sicher sein, in welcher Laune er den alten Kauz vorfinden würde. Wie fast immer jedoch reagierte niemand auf das Klopfen und der Junge öffnete behutsam die Tür, um leise einzutreten und sich umzuschauen.
Die Behausung war zwar nicht sehr groß, dafür allerdings mit erstaunlich vielen Dingen vollgeramscht. Unmengen staubiger Gläser, seltsamer Flaschen und Gefäße hortete der Greis. Dazu gesellten sich Utensilien, deren Zweck Nikko nicht einmal erahnen konnte. Hätte der Junge nicht vor wenigen Tagen erst gründlich sauber gemacht und aufgeräumt, dann sähe es hier jedoch noch schlimmer aus.
Er erspähte den Alten schließlich in seinem Sessel am lodernden Kamin sitzend und ein gemütliches Schläfchen machend. Bei Anblick des vor sich hindösenden Greises überkam den Jungen selbst eine urplötzliche Müdigkeit. Ein kleines Nickerchen wäre da doch genau das Richtige. Viel besser, als die blöde Scheune frei zu schippen!
»Das Brennholz geht wieder zur Neige. Besorg doch gleich neues, wo du schon mal hier bist«, befahl der Alte plötzlich, ohne überhaupt die Augen zu öffnen. »Den Schnee kannst du dann auch vom Dach holen, bevor er noch von selbst herunterkommt und mich hier einsperrt.«
Schöne Bescherung! War es denn wirklich zu viel verlangt, ein wenig Zeit für sich allein zu haben? Aber jeder Widerspruch war hier zwecklos. Widerworte würden ihm am Ende nur eine Schelte einhandeln und, viel schlimmer noch, zusätzliche Arbeit.
*
Einige Tage später hatte Nikko tatsächlich, zum ersten Mal in diesem Jahr, endlich wieder die Ziegen auf die Alm treiben können. Jetzt genoss er die wohltuende Ruhe auf seiner einsamen Wiese, die nur durch das gelegentliche Meckern der Tiere unterbrochen wurde.
Von hier oben hatte er einen guten Blick auf das Dorf. Vyldoro, das war ein Kaff hoch in den Bergen, am Ende eines Tals, das sich tief in die Felsmassive mit ihren bizarren Gipfeln schnitt. Unzählige Quellen speisten einen kleinen Bach, der durch das Dorf floss und sich dann mit ganzer Kraft weiter das Tal hinab durch die Felsen fraß. Mit ihm wand sich ein Weg das Tal hinab. Wer ihm folgte, würde schließlich auf die große Straße nach Hocatin stoßen. Im Osten hingegen schlängelte sich ein enger Pfad hoch in die Berge bis hinauf zum alten Pass nach Hymal.
Nikko selbst hatte jedoch weder Hocatin noch Hymal je gesehen. Wie die meisten Bewohner Vyldoros hatte er das Dorf noch nie verlassen. Dieses Dorf mit seinem halben Dutzend Höfen mit ihren schiefen Mauern und moosbedeckten Schieferdächern, den Fichtenwäldern, die stets so schön nach Harz dufteten, und den saftigen Almen, umrandet von schroffen Felsen mit weißen Spitzen hoch im Himmel, das war die ganze Welt, wie der Junge aus den Bergen sie kannte.
Sein Blick fiel wieder auf die Ziegen, denen die Bergluft sichtlich guttat. Während des ganzen Winters waren sie im Stall eingepfercht gewesen und hatten nur trockenes Heu zu fressen bekommen. Entsprechend gierig rissen sie das frische Gras von der Alm. Nikko erfreute der Anblick der glücklichen Tiere zwar, aber im Grunde waren sie ihm egal. Wenigstens musste er die Viecher hier draußen nicht füttern oder hinter ihnen her putzen. Alles in allem war das Ziegenhüten schon eine der erträglicheren Pflichten, die der Hof ihm bot.
Während sich der Junge noch die Frühlingssonne auf sein winterblasses Gesicht scheinen ließ, wanderte sein Blick wieder über das Tal, bis hinauf zum alten Pass hoch in den Bergen. Von hier unten aus gesehen, schlängelten sich die Serpentinen aus den Fichtenwäldern heraus schier unendlich hoch in die Felsen, um dann in einer noch verschneiten Senke zwischen zwei Gipfeln zu verschwinden. Auf der anderen Seite lag ein sagenumwobenes Land namens Hymal. Hymal, ob wohl all die Geschichten wahr waren, die man sich im Dorf erzählte? Gruselmärchen mit bösen Orks und Trollen, alte Legenden von Elfen und grimmigen Zwergen. Hymal, das war die andere Seite der Berge. Eine fremde Welt, so nah und doch so fern.
Viel Beachtung hatte man der alten Bergstraße bis zum letzten Jahr kaum geschenkt. Schließlich überquerte ja nie eine Seele den alten Pass. Nie war jemand nach Hymal gereist oder von dort gekommen, jedenfalls nicht solange Nikko denken konnte. Die Leute im Dorf selbst hatten auch keinen Grund gehabt, den steilen Pfad zu erklimmen. Der Aufstieg war lang und beschwerlich. Außerdem, da war man sich im Dorf einig, war Hymal ein gefährliches Land. Dort hatte man nichts verloren und folglich nichts zu suchen.
Letzten Sommer erst hatte sich dies geändert, als sich eine seltsame Expedition über die Berge nach Osten zwängte. An Soldaten aus Hocatin und fremdes Volk aus dem Süden konnte Nikko sich noch lebhaft erinnern. Die Aufregung in dem sonst so verschlafenen Dorf war natürlich groß gewesen. Mit Neugier und Argwohn hatten die Dörfler die Geschehnisse beobachtet. Da sich die Reisenden jedoch kaum mit den einfachen Dorfbewohnern abgegeben hatten, war letztlich doch im Dunkeln geblieben, was hinter der Geschichte steckte. Den ganzen Winter lang hatten die Geschehnisse dann für reichlich Stoff gesorgt, die Nächte auf den Höfen Vyldoros mit wilden Spekulationen zu füllen. Letztlich, als sich die Expedition in der Erinnerung der Dörfler schon zu einem riesigen Heer aufgeblasen hatte, setzte sich die Meinung durch, der alte Fürst versuche, das wohl lange schon verlassene Hymal an sich zu reißen. Wahrscheinlich um dort neues Erz zu finden. Denn fast immer doch ging es um das wertvolle Erz, das die Herrscher so dringend brauchten, um ihre Heere in Eisen und Stahl zu rüsten.
Wie so oft, fragte sich Nikko, ob er sich nicht hätte der Expedition anschließen sollen, um mit ihr sein Glück zu suchen. Ob man einen einfachen Dorfjungen wie ihn dort hätte gebrauchen können, war natürlich eine andere Frage. Aber er hatte sich ja nicht einmal getraut zu fragen. War ihm dadurch vielleicht die einzige Gelegenheit entgangen, dem öden Leben auf dem Hof zu entfliehen?
In diesem Moment nahm Nikko von seiner Bergwiese aus einen Aufruhr auf dem Dorfplatz wahr. Das konnte wohl nur heißen, dass der alte Fodaj und seine beiden Jungs dem Dorf mal wieder einen Besuch abstatteten.
*
Fodaj war ein stets gutgelaunter Händler aus Hocatin, der als einziger auch Vyldoro ansteuerte. Trotz seines fortgeschrittenen Alters und ansehnlichen Gewichts nahm er mit seinen beiden, zwar nicht ganz so betagten, aber dennoch nicht weniger beleibten Söhnen mehrmals im Jahr die, laut seinen eigenen Bekundungen, unglaublichen Strapazen der langen und gefährlichen Reise hinauf nach Vyldoro auf sich. Aus reinster Verbundenheit zu den von ihm doch so hochgeschätzten Bewohnern des Dorfes, wie er jedes Mal erneut versicherte. Natürlich kam der großherzige Mann nicht etwa ins Dorf, um das große Geschäft zu machen. Nein, dazu würde er seine Waren schließlich viel zu billig feilbieten.
Auch wenn ihm dies im Dorf so recht keiner abnehmen wollte, war der Händler doch ein gern gesehener Gast. Nicht nur konnten die Dörfler bei ihm ihre Produkte gegen die vielen Dinge eintauschen, die man im Dorf nicht selbst herstellte, sondern er brachte stets auch Neuigkeiten aus der weiten Welt, vor allem natürlich aus Hocatin.
Fast alle Familien in Vyldoro lebten vom Vieh, meist Ziegen oder Schafe. Die Almen mit ihren Gräsern und Kräutern boten ausgezeichnetes Futter für die Tiere, aus deren gehaltvoller Milch vor allem Käse gewonnen wurde. Fodaj tauschte gern Käse und Wolle, aber auch Felle aus den Wäldern, sowie getrocknete Pilze und Kräuter. Dafür bot er Mehl und Früchte aus dem unteren Tal, sowie Kleidung, Werkzeuge und Töpfe aus teurem Metall, wie auch sonstigen Tand aus Hocatin. Meist handelte man hier Waren gegen Waren. Münzen hingegen wechselten selten den Besitzer. Den meisten Dörflern war Geld suspekt und die wenigsten konnten gut zählen.
*
Nikko hatte sich sofort auf ins Dorf gemacht, denn schließlich wollte er nichts verpassen. Die Ziegen konnte er schon für eine Weile sich selbst überlassen. Erst abends würde er sie wieder auf den Hof treiben müssen. Außerdem würde der Händler wohl eine Lieferung für Thorodos bereithalten, die es schnell auszuliefern galt. Im letzten Herbst, als Fodaj das letzte Mal im Dorf gewesen war, hatte Nikko ihm ja eine Bestellung vom Alten überbringen müssen. Vor allem an das Ledersäckchen mit den darin klimpernden Münzen konnte er sich noch genau erinnern.
Als Nikko auf dem Dorfplatz ankam, wurde der dicke Händler mit den silbergrauen Haaren und seine beiden Söhne schon von einer Traube neugieriger Dörfler umringt. Mit drei großen Ochsenwagen standen sie auf dem schlammigen Platz und priesen ihre Waren in wohlgeübtem Dreiklang.
»Du bist doch der Kleine vom Thorodos?«, fragte Fodaj laut, als er den atemlosen Jungen erspähte, der den ganzen Weg ins Dorf hinab gerannt war.
»Ja, Herr«, hechelte Nikko. »Aber ich bin nicht mehr klein. Meinen sechzehnten Sommer schon werde ich dieses Jahr erleben.«
»Verzeih mir, Großer«, lachte der Händler. »Ich habe die Lieferung für den Alten«, fuhr er schließlich fort und kramte eine Kiste aus einem seiner Wagen hervor. »Sei doch so gut und bring sie ihm gleich.«
Nikko hätte die Kiste, die für ihre kleine Größe ein erstaunliches Gewicht besaß, fast fallen gelassen, als er sie entgegen nahm.
»Nimm auch den hier mit«, grinste der Händler und legte ein versiegeltes Schreiben auf die Kiste. Nikko beäugte den Umschlag ungläubig. Einen Brief hatte Thorodos doch noch nie erhalten.
»Eine Sendung auf langer Reise, wie es scheint. Sag dem Alten, dass er schon seit dem Herbst in Hocatin lag. Bei mir braucht er sich gar nicht erst wegen der Verspätung zu beklagen«, versicherte sich der Händler mit einem Augenzwinkern.
Gerne wäre Nikko noch geblieben, aber er wusste nur zu gut, dass er Thorodos nicht warten lassen sollte. Sicherlich hatte der garstige Alte schon mitbekommen, dass der Händler im Dorf war. Außerdem nahm er die zunehmend finsteren Blicke der Dorfbewohner wahr. Hielten sie ihn etwa für einen Wichtigtuer, nur weil er die Lieferung entgegennahm?
Während er die Kiste in Richtung von Thorodos’ Hütte schleppte, wurde sich der Junge klar, dass ihm die Dörfler überhaupt mit zunehmendem Argwohn begegneten. Lag es vielleicht daran, dass er so viel Zeit mit Thorodos verbrachte? Sicherlich, der Alte war ein seltsamer Kauz, der nur wenig redete. Kaum etwas wusste man über ihn im Dorf. Klar war allerdings, dass er gebildet war, was ihn schon vom einfachen Volk abhob. Als Einziger weit und breit konnte er lesen und schreiben, jedenfalls bevor er Nikko darin unterrichtet hatte. Seit vielen Jahren lebte Thorodos nun schon in Vyldoro. Mit den Bewohnern aber gab er sich nur selten ab und wenn, dann auch nur widerwillig. Als Eigenbrötler galt er vielen, anderen als arrogant. Einigen war er verdächtig. Manche fürchteten ihn gar.
Vielleicht war es ja kein Wunder, wenn dies nun auf ihn abzufärben drohte. Wo sollte das alles nur noch hinführen? Im ganzen Dorf so unbeliebt, wie auf dem Hof!
*
Als er wenig später an der Hütte des Greises angekommen war, stellte er zunächst die schwere Kiste ab und klopfte laut an die Tür. Es wunderte ihn jedoch kaum, dass wieder einmal keine Antwort kam. Meist war Thorodos tief in Gedanken versunken oder schlief. So öffnete er die Tür und schleppte die Kiste hinein, die seine Arme schon langsam in die Länge zog.
Thorodos, ein hagerer Mann, gegen den selbst Nikkos Großvater jung wirkte, stand unbeeindruckt am Kamin. Er drehte seinen kahlen Kopf, den dunkelgraues Haar auf Ohrenhöhe schütter umkränzte, und fixierte den Jungen mit seinen grauen Augen, die tief unter den wildbuschigen Brauen hervorstachen.
»Höchste Zeit«, tadelte der Alte und befahl, während er auf seinem Tisch etwas zusammen suchte: »Stell die Kiste ab und bring dies zum Händler, bevor er wieder abreist!«
»Der hier ist auch für Euch«, sagte der Junge und kam sich dabei wichtig vor. Schließlich hatte er dem Greis noch nie einen Brief überreicht.
»Was ist das?«, fragte Thorodos scharf und Nikko glaubte fast, eine Erregung in der Stimme des Alten zu erkennen.
»Ein Brief aus Hocatin. Nein … wartet … es war anders, er lag seit Herbst in Hocatin. Der Händler verbittet sich aber jegliche Beschwerden.«
»Was faselst du da? Gib her!«, fuhr ihn der nunmehr sichtlich erregte Alte an.
»Wo sind nur wieder meine Augengläser? Verflucht nochmal!«, schimpfte er schließlich, nachdem er das versiegelte Schreiben aus Nikkos Händen gerissen hatte.
»Mach du ihn auf und lies!«, befahl er schließlich nach einer kurzen Pause und gab dem Jungen den Umschlag zurück.
Der Brief war mit einem rot glänzenden Siegel verschlossen, in welches seltsame Zeichen getrieben waren. Nikko hatte jedoch keine Zeit, es weiter zu bewundern. Unter den ungeduldigen Blicken des Alten, dessen spitze Hakennase wie der Schnabel eines Raubvogels drohte, brach er das Siegel und öffnete das gefaltete Papier. Was er sah, war wirr, ergab keinen Sinn. Es schien fast so, als seien Buchstaben und Zahlen wild durcheinander gewürfelt worden.
»Ich kann das nicht lesen, Herr. Die Buchstaben scheinen durcheinander«, entschuldigte er sich unter den bohrenden Blicken des Greises.
»Verschlüsselt?«, fragte der Alte erregt, wobei die Frage wohl eher an sich selbst gerichtet war, und nahm den Brief zurück. Er legte das Schreiben dann auf den Tisch und starrte in den lodernden Kamin.
»Gut. Hier, nimm das und bring es dem Händler«, meinte Thorodos nach einigen endlos erscheinenden Augenblicken voll knisternder Spannung und gab Nikko eine Liste sowie ein kleines Ledersäckchen mit Münzen. Sogleich schob er den Jungen unsanft aus der Tür, bevor dieser weitere Fragen stellen konnte. Nikko wusste es besser, als den Alten jetzt weiter zu stören. Thorodos beantwortete Fragen ohnehin fast nie. Wahrscheinlich würde er nie erfahren, was es mit dem geheimnisvollen Brief auf sich hatte.
*
Als er schließlich wieder zum Dorfplatz kam, waren der Händler und seine beiden Söhne gerade dabei, die Ladung auf ihren Ochsenkarren zu sichern. Die meisten Dörfler waren jetzt damit beschäftigt, die eingetauschten Güter auf die Höfe zu tragen und dort ausgiebig zu begutachten. So war der Junge mit den Händlern fast allein auf dem matschigen Platz.
»Na, Kleiner. Eine neue Bestellung?«, fragte Fodaj, als er Nikko entdeckte.
»Ja. Hier habt Ihr sie, Herr«, entgegnete Nikko und übergab dem Händler die Liste und das Säckchen, was dieser mit einem warmen Lächeln quittierte.
»Fahrt Ihr nach Hocatin?«, traute er sich dann zu fragen und hoffte ein wenig, er könnte mit dem Händler ziehen.
»Später, Kleiner. Erst geht’s noch nach Skingár«, antwortete der Händler. »Warst du schon mal da?«
»Nein«, antwortete Nikko. »Wie lange seid Ihr dahin unterwegs?«
»Nach Skingár? Gut drei Tage mit den schweren Karren. So, jetzt müssen wir aber.«
Mit einem Lächeln verabschiedete sich Fodaj und setzte seinen vollgepackten Karren in behäbige Fahrt. Ihm folgten seine Söhne mit den anderen beiden Wagen.
Was war er nur für ein Feigling! Fast hätte er den Händler, der ihn scheinbar doch so mochte, gefragt, ob er nicht mit ihm kommen könnte. Aber eben nur fast. Wie so oft.
*
Später am Abend, nachdem er die Ziegen von der Alm in den Stall getrieben hatte, saß er mit der Familie zu Tisch. Wie immer gab es vor allem Ziegenkäse. Käse, wie er ihn doch hasste! Weder konnte er den Gestank ertragen, noch konnte er ihn essen, ohne dass ihm davon übel wurde. Seine großen blauen Augen inspizierten entgeistert den großen Tisch, auf der Suche nach akzeptablen Alternativen. Einen schrumpeligen Apfel konnte er noch ergattern. Sonst blieb nur trockenes Brot. Wie so oft, hatten seine Geschwister ihm nicht viel übrig gelassen. Wie so oft, war er zu spät von der Alm zurückgekommen.
Er versuchte, sich das unansehnliche Obst und das Brot schmecken zu lassen, was jedoch kaum gelingen wollte. Dazu erntete er wieder nur ungläubiges Kopfschütteln. »Was hast du nur gegen den guten Käse?«, provozierte die Mutter.
Nikko antwortete nicht darauf und versuchte, das Gekicher der Geschwister zu ignorieren. Einmal mehr fühlte er sich fehl am Platze an diesem Abendtisch, denn wie immer drehte sich dann alles um den Ziegenkäse. Das Jahr war jung. Viel musste da geplant und vorbereitet werden. Auch hatte Fodaj eine größere Lieferung bestellt, da sich der Käse aus Vyldoro in Hocatin wohl steigender Beliebtheit erfreute. Aber richtig hörte Nikko nicht zu, denn ihm war der Käse so egal, wie eigentlich der ganze Hof.
Letztlich war er tief in käsefremden Gedanken versunken, als ihm plötzlich jemand unsanft den Ellenbogen in die Seiten stieß. »Hörst du schwer, du Trottel?«, bellte Gimu, der ungeliebte große Bruder.
»Was ist denn?«, klagte Nikko und hielt sich vorwurfsvoll die Seite.
»Simoj für dich«, entgegnete Gimu forsch. Es war Nikko wohl entgangen, dass es an die Tür geklopft hatte.
Simoj, ein nerviger kleiner Rotschopf mit hässlich vielen Sommersprossen, war der Jüngste vom Westhof, unweit dem Thorodos rumplige Hütte stand. Sicherlich hatte der Alte mal wieder nach Nikko geschickt.
Der rothaarige Bengel kam sich furchtbar wichtig vor, als Nikko schließlich an die Tür kam. Bevor die Nervensäge jedoch ihre Botschaft herauströten konnte, fragte Nikko unbeeindruckt: »Thorodos?«, worauf hin Simoj ihm nur die Zunge herausstreckte und kindisch lachend davon lief.
*
Es war fast dunkel, als Nikko wenig später wieder an die Tür des Alten klopfte. Natürlich kam keine Antwort. So öffnete der eigentlich entnervte Junge dennoch sehr vorsichtig die Tür und sah gleich, wie Thorodos gemütlich im Sessel am lodernden Kamin saß und nachdenklich an seiner Pfeife zog. Offenbar war in der schweren Kiste, die er dem Alten früher an diesem Tage geliefert hatte, auch neues Pfeifenkraut gewesen. Schließlich hatte Thorodos seit Wochen nicht mehr geraucht.
»Da bist du ja«, bemerkte der Alte beiläufig. »Mach uns doch einen schönen heißen Tee und setz dich dann zu mir.«
Dieser Befehl, der eher wie eine Bitte klang, überraschte den Jungen. Zwar hatte er schon oft Tee kochen müssen, aber zusammen hatten sie noch nie welchen getrunken. Der Alte war schon sonderbarer als sonst. Weiter wunderte er sich aber nicht, denn von Thorodos war er schon einige Schrullen gewohnt.
Wortlos machte er sich sogleich daran, Wasser in den Kupferkessel zu gießen, um diesen dann in den Kamin zu hängen. Während das Wasser dort langsam heiß wurde, begann er, den Tee vorzubereiten. Die Dose war voller als zuvor. Offenbar war in der Lieferung von Fodaj auch ein neues Päckchen teuren Tees gewesen. Der Junge steckte je einige der duftenden Blätter in zwei Tonbecher. Während das Wasser nun langsam zu sieden anfing, beäugte Nikko den alten Mann, der noch immer in das lodernde Feuer starrte und gelegentlich an seiner Pfeife zog.
Als das Wasser schließlich kochte, nahm er den Kessel mit einem Haken aus dem Kamin und stellte ihn auf den Tisch. Mit einer Kelle goss er das heiße Wasser in die beiden Becher und ging zum Alten hinüber. Er reichte ihm eines der dampfenden Gefäße, zog einen Stuhl herüber zum Kamin und setzte sich darauf. Tief atmete er den würzigen Dampf des Heißgetränks ein. Oft hatte er noch keinen Tee getrunken. Das Getränk war im Dorf eigentlich unbekannt. Nur hier beim Alten hatte er gelegentlich davon probieren können. Wie weit im Süden das Land der Teeblätter wohl lag, fragte sich der Junge, als er auf eine Reaktion des Alten wartete.
»Was hast du vor mit deinem Leben?«, brach Thorodos endlich das Schweigen und nippte an seinem Becher, um dann mit ruhiger, ja fast großväterlicher Stimme fortzufahren: »Willst du ein Bauer sein, ein Hirte vielleicht?«
»Hä?«
»Die Frage war nicht schwierig, oder?«, quittierte der Alte Nikkos wenig sprachgewandte Antwort.
»Nein, ich will kein Hirte sein, und Bauer noch viel weniger«, antwortete dieser und versuchte dabei überzeugend zu klingen, obwohl er ja nur die Wahrheit sprach.
»Dann musst du hier und jetzt eine Entscheidung treffen«, sagte Thorodos ruhig. »Ich werde eine kleine Reise machen. Komm mit mir, wenn du dich so entscheidest.«
»Eine Reise?«, begeisterte sich Nikko. »Wohin denn?«
Der Alte nickte zufrieden und sprach: »Nach … Skingár. Morgen früh bei Sonnenaufgang brechen wir auf.«
»Ich muss aber erst noch den Großvater fragen«, erwiderte Nikko aufgeregt und hoffte sehr, dass dieser der Reise ohne Probleme zustimmen würde. Er verstand zwar nicht, was hier gerade geschah. Die Aussicht auf eine Reise aber elektrisierte ihn. Hatte er sich doch schon lange danach gesehnt, endlich das Dorf zu verlassen!
»Gut«, entgegnete der Alte. »Bring Proviant mit, warme Kleidung und Decken.«
»Wie la …«, versuchte Nikko noch zu fragen, aber der Greis wurde jetzt wieder forsch und befahl mit barschem Ton: »Genug jetzt! Geh nach Hause und triff deine Vorbereitungen. Morgen früh bei Sonnenaufgang geht es los.«
Nikko wusste genau, dass aus Thorodos jetzt keine weiteren Informationen heraus zu holen waren. Es blieb ihm nur, sich zu verabschieden und den Rückweg zum Hof anzutreten. Vielleicht würde der Alte ja morgen gesprächiger sein.
*
Auf dem Weg nach Hause schossen ihm viele Fragen durch den Wuschelkopf. Das Verhalten des Alten war schließlich noch absonderlicher als sonst. Warum dieser plötzliche Aufbruch? Hatte dies etwa etwas mit dem verschlüsselten Brief zu tun? Warum war der Alte plötzlich so freundlich zu ihm? Warum schien ihm so sehr daran gelegen, dass er ihn begleitete? Was hatte dies damit zu tun, ob er ein Bauer oder Hirte werden wollte?
Skingár, soweit er wusste, war eine Bergbausiedlung in einem Seitenarm des langen Tals, an dessen Ende Vyldoro lag. Fodaj, der dicke Händler, war doch gerade nach Skingár aufgebrochen. Vielleicht hatte der Alte bei seiner Bestellung ja nur etwas Wichtiges vergessen. Ja, das musste es wohl sein!
*
Als er wenig später zu Hause ankam, waren die meisten schon im Bett. Nur Großvater Vikko, ein Mann von vielen Jahren harter Arbeit gezeichnet, saß wie jeden Abend in der großen Küche im Untergeschoss und blickte gedankenversunken in die erlöschende Glut des Kamins.
»Großvater?«, fragte Nikko kleinlaut. Er wollte den Herrn des Hofs schließlich nicht schon im Voraus verärgern, indem er ihn auch noch erschreckte. Dass er sich die nächsten Tage nicht um die Ziegen kümmern konnte, versprach ja schon Ärger genug.
»Was denn, Junge?«, antwortete der Alte abwesend.
»Thorodos«, entgegnete Nikko schüchtern. »Er will mit mir nach Skingár. Schon morgen früh.«
Der Großvater schaute zwar etwas verblüfft, fragte dann aber nach einem kurzen Augenblick: »Und wo ist das Problem?«
»Die Ziegen?«, hielt Nikko ihm fast vorwurfsvoll entgegen und empfand seine Arbeit als Hirte, so stumpfsinnig sie ihm selbst auch erschien, zu Unrecht ungewürdigt.
»Wenn Thorodos etwas von dir will, dann gehorchst du!«, erwiderte das greise Familienoberhaupt mit bestimmendem Ton. »So einfach ist das.«
Auf Nikkos ungläubigen Blick hin, fügte er schließlich noch sanft hinzu: »Mach dir keine Sorgen um die Ziegen. Wir wissen doch beide, dass du kein Hirte bist. Jetzt aber ab ins Bett!«
Fast hatte Nikko den Eindruck, ein ungewohntes Zittern in der sonst so starken Stimme des Großvaters wahrgenommen zu haben, als dieser jene letzten Sätze sprach. »Gute Nacht, Großvater«, war jedoch alles, was er entgegnete. Schließlich war er zu erleichtert, dass ihm die ungeplante Reise keinen Ärger auf dem Hof einbrachte.
*
Erst im gemeinschaftlichen Schlafgemach, oben im hölzernen Obergeschoss des Hauses, begann Nikko sich zu wundern, was der Großvater wohl damit gemeint haben könnte, als er sagte, dass er kein Hirte sei und beide wüssten dies. Es hatte nicht wie eine Beleidigung geklungen, was die Erklärung erleichtert hätte. Auch wunderte er sich einmal mehr, warum dem Großvater der Dienst für Thorodos so wichtig war. Sogar gegen eine plötzliche Reise nach Skingár hatte er nichts einzuwenden, obwohl der Junge so seinen Pflichten auf dem Hof für einige Tage nicht nachkommen konnte.
Als Nikko sich schließlich in sein knarrendes Bett gekuschelt hatte, fielen jedoch all diese Fragen von ihm ab. Zu müde war er, um sich den Schlaf durch die Geschehnisse dieses Tages rauben zu lassen. Oder durch das entsetzliche Schnarchen der Geschwister, allen voran Gimus.
*
Nach kurzer Nacht, aber gutem Schlaf, stand Nikko mit dem Rest der Familie noch vor Sonnenaufgang auf. Zeit für das gemeinsame Frühstück hatte er an diesem Morgen jedoch nicht. Schließlich wollte er nicht riskieren, zu spät zum alten Thorodos zu kommen. Dafür bediente er sich am Frühstückstisch und sammelte schnell etwas Brot und Wurst zusammen, sowie ein paar saftige Äpfel. Auf dem Weg nach draußen packte er auch zwei Decken und seinen Umhang mit Kapuze ein.
»Hier, nimm das, Junge«, erschrak ihn die Mutter, als er schon fast aus dem Haus war. Mit einem mütterlichen Lächeln, wie es ihm seit langem nicht vergönnt gewesen war, steckte sie ihm ein Päckchen zu.
»Mach’s gut, mein Kleiner. Pass auf dich auf!«, sagte sie schließlich mit feuchten Augen. Jetzt erst wurde ihm klar, dass er bald so weit weg von zuhause sein würde, wie noch nie zuvor. Jeden Tag seines Lebens hatte er bisher nahe dem Dorf verbracht und jede Nacht auf dem Hof. Schnell jedoch verbannte er diese Gedanken aus seinem Kopf. Zu groß war ohnehin die Freude.
»Auf Wiedersehen, Mutter. Mach dir keine Sorgen. Wir reisen doch nur dem dicken Fodaj nach«, beruhigte er die Mutter, wobei ihm nun selbst Zweifel kamen, ob der Händler tatsächlich das Ziel der Reise war. Gern hätte er noch einige Worte mit dem Großvater gewechselt, aber dieser war nirgends zu sehen. So machte sich Nikko gleich auf den Weg zu Thorodos.
*
Pünktlich bei Sonnenaufgang klopfte er an die Tür der kleinen Hütte des Alten. Zu seiner Verwunderung öffnete Thorodos umgehend und fragte aufgeregt: »Hast du ihnen gesagt, dass wir nach Skingár reisen?«
»Wem?«
»Wem wohl? Den Dorftrotteln!«, schnauzte der Alte.
»Ich habe nur mit dem Großvater gesprochen und mit der Mutter. Aber ja, die wissen, dass wir nach Skingár wollen«, berichtete Nikko.
»Der alte Vikko? Gut, dann weiß es bis heute Abend eh das ganze verfluchte Kaff«, freute sich Thorodos mit einem heiseren Lachen.
»Hier, nimm den«, bemerkte er dann und warf Nikko einen Rucksack zu, den man wohl kaum als leicht bezeichnen konnte.
»Jetzt aber los!«, befahl er. »Wir haben schließlich einen langen Weg vor uns.«
Wenigstens wusste der Junge nun, warum der garstige Greis ihn mit auf Reisen nehmen wollte. Als Packesel offenbar!
*
Sie verließen das Dorf auf dem Weg nach Norden hinaus und kamen nach einigen Minuten an die Gabelung, wo sich die Pfade zum Pass über die Berge im Osten und das Tal hinab nach Hocatin im Westen trennten. Nikko hatte nur eine vage Vorstellung, wie lange der Marsch nach Skingár wohl dauern würde. Von etwa drei Tagen hatte Fodaj zwar gesprochen. Aber zu Fuß waren sie bestimmt schneller als der Händler mit seinen schweren Ochsenkarren.
So sehr in Gedanken versunken war Nikko, dass er fast gar nicht bemerkt hätte, wie der Alte, der nur wenige Schritte vor ihm ging, nicht nach Westen abbog, sondern dem Weg nach Osten folgte. Natürlich glaubte er, Thorodos würde aus Versehen den falschen Weg einschlagen.
»Falsche Richtung«, stellte er daher selbstgefällig fest und machte Anstalten, den Weg nach Westen zu nehmen.
»Wie gut, dass ich dich mitgenommen habe«, spottete der Alte, ohne sich überhaupt umzudrehen. »Da hätte ich mich doch fast verlaufen. Also, wenn ich dich nicht hätte!«
Jedoch machte Thorodos keine Anstalten, seine Richtung zu korrigieren, sondern folgte weiter dem staubigen Pfad nach Osten. Als Nikko zunächst zögerte, dem Greis zu folgen, befahl dieser schließlich: »Komm schon! Ich will über den Pass sein, bevor es dunkel wird, oder willst du etwa da oben übernachten?«
Es war wohl gegen Mittag, als die beiden Wanderer schließlich den Pass erklommen hatten. Genau konnte man es allerdings nicht sagen, da sie ihr Pfad bereits seit vielen Stunden durch dicken Nebel führte. Oben angekommen, konnte Nikko die Sonne nur als blassen Lichtschimmer wahrnehmen, den die dichten Schwaden gelegentlich offenbarten. Es war eine gespenstige Stimmung, die die Entwicklungen der letzten beiden Tage in ein noch seltsameres Licht rückte.
Während des mühsamen Aufstiegs hatte Thorodos kein einziges Wort gesprochen. Mit Leichtigkeit hatte der uralte Mann die Serpentinen gemeistert, auf denen sich der steile Pfad die Berge hinaufschlängelte. Oft hatte Nikko sogar Schwierigkeiten gehabt, mit dem Alten Schritt zu halten.
Trotz der Strapazen hatte der Junge während des Aufstiegs Gelegenheit gehabt, seine Gedanken etwas zu ordnen. Viel war seit gestern passiert. Erst der Brief, den er nicht entziffern konnte. Dann der überhastete Aufbruch. Eigentlich sollte es nach Skingár gehen, dann hatte sich der Alte jedoch im letzten Moment anders entschieden. Oder war Skingár nur eine Finte? Hatte er etwa eine falsche Spur legen sollen? Es würde schon zusammenpassen. Wenn der Alte auf der Flucht wäre, ergäbe schließlich alles einen Sinn. War der Brief etwa eine Warnung? Eine Drohung?
Nun, da sie auf dem Pass angekommen waren, hoffte Nikko auf eine erste Rast. Der lange Aufstieg steckte ihm schon merklich in den Knochen. Außerdem war er hungrig. Schließlich hatte er diesen Morgen kein Frühstück zu sich genommen. Nicht ein einziges Mal hatte der Alte bisher Halt gemacht. Der müde Junge fragte sich, wie ein so alter Greis nur solch erstaunliche Ausdauer besitzen konnte.
Tatsächlich blieb Thorodos nun stehen und machte sich ein Bild von der Lage. Nebelschwaden füllten die Senke zwischen den beiden Bergmassiven im Norden und Süden, durch die der alte Bergpfad nach Osten führte. Hier oben, auf dem höchsten Punkt des Passes, lag der Winterschnee noch fast kniehoch und würde erst in einigen Wochen den kargen Boden darunter freigeben, auf dem wohl nur noch Moos und Flechten wuchsen. Auch das halb verfallene Steingebäude, das den Übergang hier krönte, schien wenig einladend für eine Rast. Das Dach der Hütte war an einer Seite bereits eingefallen und der Eingang tief verschneit.
»Wir sollten nicht lange hier oben verweilen«, meinte der Alte schließlich und nahm einen Schluck aus seiner Flasche.
»Ich bin müde und habe Hunger«, protestierte Nikko. »Ich brauche eine Rast.«
»Willst du dich gemütlich in den Schnee setzen und auf die Nacht warten?«, spottete der Greis und befahl: »Hier, nimm einen kräftigen Schluck!«
Thorodos reichte Nikko seine Flasche, der zögerlich daran roch. »Was ist denn da drin?«, fragte er schließlich und machte keine Anstalten, seinen Ekel zu verbergen.
»Trink!«, befahl der Alte unbeeindruckt. Nikko nahm nur ein verzagtes Schlückchen. Zu seiner Überraschung jedoch schmeckte der Inhalt wesentlich besser als er stank. Als er das Gebräu herunterschluckte, spürte er sogleich ein angenehmes Prickeln, das seinen ganzen Körper durchdrang. Nikko fühlte sich urplötzlich energiegeladen, bis in die Zehenspitzen. Keine Spur mehr von der Müdigkeit!
»Nimm noch einen Schluck. So hält die Wirkung besser«, sagte der Alte. »Iss etwas dazu.«
»Was ist denn das für ein Zeug?«, fragte Nikko begeistert.
»Gib die Flasche her! Ich armer alter Mann brauche sie dringender als du«, ignorierte der Alte die Frage.
Thorodos verstaute das Gefäß in seiner Jacke und setzte sodann seinen Marsch unbeirrt fort. Nikko kramte noch schnell einen Apfel aus seinem Rucksack hervor, um dann schließlich mit neuer Kraft und Mut im Herzen dem alten Mann zu folgen.
Wenigstens ein Rätsel war gelöst. Kein Wunder, dass der Alte den schwierigen Aufstieg so gut meisterte. Der Trank warf jedoch mehr Fragen auf als er beantwortete.
*
Im kniehohen Schnee in der Senke kamen die Beiden nur mühsam voran. Nicht nur war es schwierig, den Verlauf des Pfades überhaupt noch auszumachen, der Weg schien nach Osten hin auch weniger stark abzufallen, was es nur noch unwahrscheinlicher machte, dass die Beiden den Schnee schnell hinter sich lassen würden. Tatsächlich stieg er nach einer Zeit sogar wieder an.
Als die hoffentlich letzte Anhöhe erklommen war, bot sich den beiden Reisenden zum Lohn schließlich ein weiter Blick hinunter in das Tal im Osten. Dies war Hymal, das unbekannte Land, über das im Dorf so viele Geschichten erzählt wurden. Was sie hier wohl erwarten würde? Viel konnte man von hier oben jedoch noch nicht erkennen, denn dort im Osten wurde es langsam dunkel.
»Wir müssen aus dem Schnee raus, bevor es Nacht wird. Also weiter!«, drängte der Alte schließlich und nahm einen weiteren Schluck aus seiner Flasche.
Der Abstieg auf der anderen Seite gestaltete sich jedoch schwieriger als erhofft. Zum einen war der Hang auf der Ostseite wesentlich steiler. Zum anderen machte den Beiden die zunehmende Dunkelheit mehr und mehr zu schaffen. Teilweise gelangten sie nur halb rutschend in die Tiefe. Wie weit sie mittlerweile schon vom eigentlichen Pfad abgekommen waren, konnte Nikko nicht einmal mehr erahnen.
*
Schließlich hatten sie den Schnee doch hinter sich lassen können und waren wohl auf einer Art Plateau gelandet. Genau konnte Nikko es nicht erkennen, denn jetzt war es schon fast völlig finster. Nur ein schwacher Schimmer umkränzte noch die bizarren Gipfel im Westen und ließ sie so in einem unwirklichen Licht erscheinen, während im Osten einige wenige Sterne den pechschwarzen Himmel nur leicht erhellten.
»Machen wir ein Feuer?«, fragte der fröstelnde Junge schließlich in Hoffnung auf etwas Wärme, nicht zuletzt auch, um seine schneenassen Kleider und Schuhe trocknen zu können, bevor die Kälte der Bergnacht über sie hereinbräche.
»Hast du denn Holz mitgebracht?«, spottete Thorodos mit einem heiseren Lachen.
Nikko schwieg daraufhin nur und schämte sich seiner Unbedarftheit. Nach einem kurzen Augenblick kramte der Alte dann wieder die seltsame Flasche aus seiner Jacke hervor und reichte sie dem Jungen.
»Hier, nimm einen kleinen Schluck davon«, meinte er dann mit lieblicher Stimme, fast so, als wollte er sich für das gemeine Lachen entschuldigen.
Nikko glaubte natürlich, es würde sich wieder um den Stärkungstrank handeln und nahm gierig einen kräftigen Schluck. Ein großer Fehler, wie sich sogleich zeigte! Wie Feuer brannte es in seinem Mund. Der entsetzliche Schmerz breitete sich in seinem ganzen Körper aus und nahm ihm die Luft. Mit tränenden Augen, hustend und panisch nach Luft japsend, glaubte sich Nikko schon dem Tode nah. Es schien nur noch die Frage, ob er erst verbrennen oder ersticken würde!
Einen kurzen Augenblick später, der dem gequälten Jungen jedoch wie eine Ewigkeit vorkam, war der Schmerz dann plötzlich vorüber. Schnell erholte er sich und stellte erstaunt fest, dass nunmehr eine angenehme Wärme seinen Körper erfüllte, die sich langsam bis in die Fingerspitzen ausbreitete, und dann sogar bis in die Zehen.
»Einen kleinen Schluck hatte ich gesagt«, kommentierte der Alte kopfschüttelnd. »Gib her, ich brauche auch etwas davon!«
»Was war denn das für ein Gebräu?«, fragte Nikko und reichte dem Alten die Flasche.
»Versuch, etwas Schlaf zu finden. Die Wirkung hält nur wenige Stun