Pierre Martin
Madame
le Commissaire
und der tote Liebhaber
Ein Provence-Krimi
Knaur e-books
Hinter dem Pseudonym Pierre Martin verbirgt sich ein Autor, der sich mit Romanen, die in Frankreich und in Italien spielen, einen Namen gemacht hat. Für seine Hauptfigur Madame le Commissaire hat er sich eine neue Identität zugelegt. Seine Krimis um die Kommissarin Isabelle Bonnet wurden zu Bestsellern.
Von Pierre Martin sind im Knaur Taschenbuch folgende Titel erschienen:
Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer
Madame le Commissaire und die späte Rache
Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs
Madame le Commissaire und das geheimnisvolle Bild
Madame le Commissaire und die tote Nonne
Madame le Commissaire und der tote Liebhaber
Madame le Commissaire und die Frau ohne Gedächtnis
Madame le Commissaire und die panische Diva
© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Dr. Gisela Menza
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © FinePic/shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45083-3
Sie erinnerte sich genau an Docteur Lambarts letzte Worte. Tout va bien hatte er gesagt, alles wird gut. Dann wurde sie in den Operationssaal geschoben …
Damals konnte sie nicht sicher davon ausgehen, dass sich die optimistische Annahme des Arztes bestätigen würde. Bei einem chirurgischen Eingriff an der Wirbelsäule, bei dem es darum ging, einen Bombensplitter zu entfernen, waren Zweifel angebracht.
Tout va bien? Isabelle saß unter Platanen in einem Liegestuhl und lächelte versonnen vor sich hin. Der Arzt hatte recht behalten, alles war gut verlaufen. Sein Glück, denn sonst hätte sie ihm eine Kugel in den Kopf gejagt. Na ja, nicht wirklich. Aber aus dem versprochenen Tanz, den er als Prämie für ihre Wiederherstellung eingefordert hatte, wäre nichts geworden. Jetzt hatte er ein Tänzchen gut. Es hatte keine Eile damit – aber sie würde ihr Versprechen halten. Das war sie ihm schuldig.
Und jetzt? Jetzt entspannte sie sich auf einer grün umrankten Terrasse bei Saint-Rémy in den provenzalischen Alpilles – und hatte in den letzten vier Wochen nichts Besseres zu tun gehabt, als wieder fit zu werden. Sie hatte sich für einen Reha-Aufenthalt in einer Clinique de réhabilitation entschieden. Das war ihr nicht leichtgefallen, denn eigentlich mochte sie solche Kliniken nicht. Sie umgab sich ungern mit Menschen, die alle auf irgendeine Weise lädiert waren. So was schlug schon unter normalen Umständen aufs Gemüt. Erst recht, wenn es einem selber nicht so toll ging.
Aber sie hatte sich überreden lassen. Und im Rückblick war es genau die richtige Entscheidung gewesen. Zu Beginn ihrer Rehabilitation war sie noch an Krücken gegangen. Heute konnte sie auf der Treppe zum Salle à manger wieder zwei Stufen auf einmal nehmen. Wo sich der Lift befand, hatte sie schon fast vergessen.
Warum lag sie dann gerade stinkefaul im Liegestuhl? Weil das Reha-Programm beendet war? Weil keine Übungen oder Anwendungen mehr anstanden und sie morgen entlassen wurde? Das war kein hinreichender Grund, träge vor sich hin zu dösen.
Auf Isabelles Schoß lag eine Broschüre, die sie sich an der Rezeption geholt hatte. In ihr wurden die Schönheiten von Saint-Rémy gepriesen, so die charmante Altstadt mit den vielen Boutiquen, Cafés und Galerien. Auch gebe es Museen, die man sich unbedingt anschauen sollte. Zum Beispiel das Musée des Alpilles oder das Musée Estrine. Natürlich hatte sie keines besucht und auch sonst nicht viel gesehen, denn der straffe Tagesablauf in der Clinique de réhabilitation ließ für solche Extratouren kaum Zeit.
Sie hatte vom Monastère Saint-Paul-de-Mausole gelesen. Dort war Vincent van Gogh ein Jahr in der Nervenheilanstalt untergebracht, nachdem er sich im Absinth-Rausch einen Teil seines linken Ohres abgeschnitten hatte. Isabelle lächelte. Sie war Kriminalkommissarin und von Natur aus misstrauisch. Nach ihrer Theorie hatte sich van Gogh nicht selbst verstümmelt, vielmehr wurde ihm sein Ohr im Streit von seinem Freund Paul Gauguin abgetrennt. Van Gogh hatte sich danach stark blutend in ein Bordell gerettet, wo er verarztet wurde. Für diesen Tathergang gab es einige Indizien. Leider war dieser Fall, gut hundertdreißig Jahre später, nicht mehr aufzuklären. Schade, die Aufgabe hätte sie gereizt.
Wie auch immer, Saint-Rémy hatte van Gogh zu großartigen Bildern inspiriert. Zum Beispiel hatte er den ummauerten »Irrenhausgarten« gemalt. Eine Kopie hing in ihrem Krankenzimmer. Wie man gerade dieses trübsinnige Bild für eine Rehaklinik auswählen konnte, war ihr ein Rätsel. In der Mitte stand eine mächtige Pinie, der ein Teil abgesägt war. Sozusagen zwangsamputiert. Keine gute Symbolik.
Der Kontrast zum Garten ihrer Rehaklinik könnte nicht größer sein. Isabelle sah sich um. Ein gepflegter Rasen, akkurat geschnittene Hecken. Platanen, Palmen, Orangenbäume und Magnolien. Ein Teich und ein sanft plätschernder Wasserfall. Eine Idylle. Friedlich und beschaulich. Aber nicht ihr Ding. Sie fand wildromantische Gärten viel schöner. Urwüchsig und naturbelassen. Gerne auch ein wenig verwildert. Halt wie das richtige Leben. Da war auch nicht alles vollkommen und frei von jedem Makel. Nein, wirklich nicht.
Isabelle überlegte, dass sie die nächsten Stunden zu ihrer freien Verfügung hatte. Zumindest van Gogh könnte sie zum Abschied ihre Reverenz erweisen. In der Broschüre stand, dass es zwischen dem Monastère und dem historischen Zentrum von Saint-Rémy eine Promenade dans l’univers van Gogh gab. Entlang dieses Weges habe der Maler viele seiner Motive gefunden. Diese seien auf insgesamt neunzehn Schautafeln abgebildet. Isabelle gab sich einen Ruck und stand auf. Schluss mit der Lethargie. Sie würde einen Spaziergang machen und auf den Spuren des Meisters wandeln.
Mit den Schwertlilien Les iris hatte der Weg begonnen und mit dem Mittagsschlaf La Méridienne im historischen Ortszentrum seinen Abschluss gefunden. Jetzt saß Isabelle vor dem prächtigen Rathaus auf der Place Jules Pellissier – unter Platanen und roten Sonnenschirmen. Sie trank eine eisgekühlte menthe à l’eau. Sie mochte diesen giftgrünen, mit Wasser verdünnten Pfefferminzsirup. Zugegeben, noch lieber wäre ihr ein Glas Wein gewesen. Aber bis morgen würde sie noch durchhalten, dann hätte sie während der ganzen Reha keinen Tropfen Alkohol getrunken. Ein schöner Nebeneffekt. In Fragolin wäre ihr das nie gelungen. Da wurde ihr in Jacques’ Bistro der Rosé ungefragt auf den Tisch gestellt. Ob van Gogh in seiner »Irrenanstalt« Wein bekommen hatte? Nun, seinen geliebten Absinth ganz sicher nicht.
Von Vincent van Gogh schweiften ihre Gedanken zu ihrem eigenen Leben. Sie dachte über die Umstände nach, die sie von Paris in die Provence verschlagen hatten. »Umstände« war eine allzu harmlose Umschreibung für eine Bombe, die vor Jahren am Arc de Triomphe mehrere Menschen in den Tod gerissen hatte. Sie selbst war nur knapp mit dem Leben davongekommen. In der Folge hatte sie ihren hochrangigen Job als Kommandantin einer geheimen Antiterroreinheit an den Nagel gehängt – um fortan als einfache Madame le Commissaire im verschlafenen Fragolin zu leben. Dort leitete sie ein kleines Kommissariat der Police nationale. Isabelle musste schmunzeln. Zu leiten gab es nicht viel, denn sie hatte nur einen einzigen Mitarbeiter: Sous-Brigadier Jacobert Apollinaire Eustache. Der war zwar ziemlich verschroben, gelegentlich strapazierte er auch ihre Nerven, aber sie hatte ihn gern. Sie freute sich darauf, ihn wiederzusehen.
Vor vier Wochen hatte er sie nach Saint-Rémy chauffiert. Zuvor war sie nach der Operation und dem damit verbundenen Klinikaufenthalt für eine Woche in Fragolin gewesen. Dort hatte sie einiges zu regeln gehabt – bevor es zur Reha ging.
Die wichtigste Maßnahme hatte ihr Privatleben betroffen. Isabelle mochte es nicht, Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Das brachte erst recht nichts, wenn man sie mit dem Herzen und im Kopf längst getroffen hatte. Gleichwohl war es ihr nicht leichtgefallen, mit Thierry zu reden – und mit ihm Schluss zu machen!
Thierry Blès war der Bürgermeister von Fragolin. Sie waren ein Paar. Ein Paar gewesen! Im Krankenhaus hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Dabei war ihr klar geworden, dass ihre Beziehung keine Perspektive mehr hatte. Wie sagte man? Sie hatte sich emotional von ihm entfernt! Natürlich hatte er sie besucht, sogar mehrere Male. Er hatte auch Blumen mitgebracht, leider die falschen, aber das war egal. Es gab gute Gründe für ihre Trennung, die sie hätte erklären können. Aber was brachte das? Das brachte Thierry nichts – und ihr selbst half es auch nicht. Deshalb hatte sie auf lange Vorreden verzichtet und ihn kurz und knapp vor vollendete Tatsachen gestellt. Das war sicher hart, aber am besten so. Romantisches Gesülze war bei Trennungen fehl am Platz. Auch sonst hielt sie nicht viel davon.
Eines musste man Thierry lassen, er hatte nicht herumgejammert, sondern ihre Entscheidung ertragen wie ein Mann. Eine Erklärung wäre, dass ihr Trennungswunsch für ihn nicht überraschend kam. Thierry war sensibel. Sicher hatte er längst gespürt, dass sie in ihrer Beziehung nicht mehr glücklich war.
Sie hatten sich versprochen, einander weiterhin mit Respekt zu begegnen, nicht schlecht übereinander zu reden und einen freundschaftlichen Umgang zu pflegen. Die Zukunft würde zeigen, ob sie es schafften. Sie hoffte es sehr. Schon deshalb, weil es in Fragolin unmöglich war, sich aus dem Weg zu gehen. Eigentlich hatten sie keine andere Option.
Isabelle hatte durchaus schöne Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit. Als sie von Paris in die Provence gekommen war, hatte ihr Thierry geholfen, sich in die Dorfgemeinschaft zu integrieren. Er hatte ihr die provenzalische Lebensart nähergebracht und die Kunst des Savoir-vivre. Dafür würde sie ihm für immer dankbar sein.
Was hatte ihr der Arzt im Krankenhaus gesagt? Tout va bien! Er hatte das auf die Operation bezogen. Isabelle lächelte. Warum nicht darüber hinaus? Zum Beispiel für ihr weiteres Leben? Alles wird gut? Leider eine unrealistische Annahme, das wusste sie selber am besten. Aber sie könnte ja mal den Versuch machen, daran zu glauben. Jedenfalls für die nächste Zukunft. Tout va bien? Doch, das wäre schön.
Saint-Rémy ist nicht nur ein Städtchen, das mit van Gogh in Verbindung gebracht wird, sondern auch der Geburtsort von Nostradamus, dessen mystische Vorhersagen noch heute viele Menschen in ihren Bann ziehen. Isabelle war keine Frau, die an Prophezeiungen glaubte. Auch würde sich bei Nostradamus wahrscheinlich keine Weissagung finden, die sich auf ihre ganz persönliche Zukunft anwenden ließe. Wenn es aber eine gäbe, dann müsste sie anders lauten. Statt dem hoffnungsvollen »Tout va bien« wohl eher: »Des nuages sombres se lèvent à l’horizon«, am Horizont ziehen dunkle Wolken auf. Aber wie gesagt: Isabelle glaubte nicht an Prophezeiungen. Und was hätte es geholfen? Das Schicksal nimmt seinen Lauf und ist nur schwer zu beeinflussen. Zudem ist es oft gut, wenn man nicht weiß, was auf einen zukommt.
Dass ihr Privatleben trotz der vollzogenen Trennung von Thierry Blès immer noch Überraschungen bereithielt, zeigte sich am nächsten Morgen. Eigentlich sollte Apollinaire sie in Saint-Rémy abholen. Ausdrücklich nicht mit einem blau-weißen Einsatzfahrzeug der Police nationale, sondern mit ihrem privaten Renault. Das war eine begründete Vorsichtsmaßnahme, denn Apollinaire liebte es, völlig grundlos und entgegen allen Vorschriften mit Blaulicht und Sirene durch die Gegend zu kurven. Da war er wie ein kleines Kind.
Dann aber kam es anders, denn es mischte sich ein gewisser Rouven Mardrinac ein, mit dem sie eine Beziehung pflegte, die sich nur schwer in Worte fassen ließ. Liaison traf es vielleicht am besten. Eine Liebesbeziehung, die durch große Pausen und räumliche Distanz charakterisiert war. Diese resultierte daher, dass Rouven Mardrinac ein milliardenschwerer Kunstsammler und Bonvivant war, der ständig auf der Welt umherreiste. Wenn sie sich trafen, dann nicht in Fragolin – schon aus Rücksicht auf Thierry, der zwar von ihrer ménage à trois wusste, sie aber nach Möglichkeit verdrängte. Oft flüchteten sie auf Rouvens Jacht Dora Maar, die mal vor Saint-Tropez vor Anker lag, mal vor Sardinien kreuzte oder vor Saint-Barthélemy in der Karibik.
Was das mit ihrer Abholung in Saint-Rémy zu tun hatte? Rouven Mardrinac hielt sich gerade in Paris auf, wo es im Centre Georges-Pompidou eine Exposition d’art gab, bei der er unabkömmlich war. Aber er hatte ihr mitgeteilt, dass sein Chauffeur unterwegs sei und pünktlich bei der Rehaklinik vorfahren werde. Widerstand zwecklos. Falls sein Fahrer unverrichteter Dinge zurückkäme, würde er fristlos entlassen.
Isabelle hatte lächeln müssen. Rouven konnte sehr überzeugend sein. Und so hatte sie Apollinaire abgesagt und saß jetzt im Fond eines alten Bentley, der nach Leder roch und Rouvens teuren Zigarren, und ließ sich über Landstraßen von Saint-Rémy nach Fragolin kutschieren. Sie kannte den Wagen und auch den Chauffeur. Der hatte nur kurz mit ihr gesprochen, schwieg jetzt aber distinguiert, sodass sie über die Absurdität ihres Daseins nachdenken konnte. In einem Bentley-Oldtimer, der so aussah, als stamme er aus der Garage des Buckingham Palace, war sie ganz sicher fehl am Platz. Entsprechend fühlte sie sich auch nicht wirklich wohl in ihrer Haut. Lieber fuhr sie in ihrem klapprigen Renault, bei dem die Hinterachse polterte und eine Radkappe fehlte. Neben sich ein Korb mit einem frischen Baguette und ihren Badesachen. Mit Sand an den nackten Füßen und Salz in den noch feuchten Haaren. Das war ihre Welt.
Und doch ließ sie sich von Rouven immer wieder in ein anderes Universum entführen. Für Stunden, für Tage, manchmal für Wochen. War sie schizophren? Sie musste lachen. Und wenn schon, dann war sie halt ein wenig verhaltensgestört. Es konnte einem Schlimmeres passieren. Man durfte nur nicht seine Wurzeln vergessen und was einem wirklich wichtig war im Leben. Darauf kam es an. Wenn man das schaffte, durfte man sich auch mal kleine Extravaganzen erlauben. So wie diese Fahrt in einem dahingleitenden Bentley.
Im Innenspiegel sah Isabelle, dass der Fahrer ihr einen verwunderten Blick zuwarf. Ach so, sie hatte gerade laut gelacht. Er sah, dass es ihr gut ging, und stellte keine Fragen.
Platanen und Pinien zogen vorbei. Olivenhaine und Weinberge. Und blauviolette Lavendelfelder. Das Klischee der Provence gab es wirklich. Natürlich war die Szenerie nicht durchgängig von makelloser Harmonie. Aber es lag an einem selbst, was man zu sehen bevorzugte. Am heutigen Tag hatte sich Isabelle entschieden, nur die schönen Seiten der Provence wahrzunehmen.
Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Kleine Staus waren obligatorisch und nicht der Rede wert. Es kam vor, dass sie kurz wegnickte. Sie nahm einen Anruf von Rouven entgegen, der sich nach ihrem Wohlergehen erkundigte und für sein Fernbleiben entschuldigte. Er hoffe, es sei alles zu ihrer Zufriedenheit. Der Fahrer habe Anweisung, bei einem Restaurant ihrer Wahl zu halten und die Rechnung zu begleichen.
Isabelle lehnte lachend ab. Erstens könne sie ihr Essen gerade noch selber bezahlen, und zweitens habe sie keinen Hunger.
Rouven machte sie amüsiert darauf aufmerksam, dass man Hunger nicht mit Appetit verwechseln dürfe – und dass es im Fond des Bentley eine Bar mit alkoholischen Getränken gebe. Bei diesen sei es ähnlich: Man könne von ihnen trinken, ohne dass man Durst verspüre.
Isabelle vergegenwärtigte sich, dass die Reha vorbei war. Also war der Vorschlag mit der Bar gar nicht mal so abwegig.
Rouven hatte noch eine schlechte Nachricht: Er könne sie leider in den nächsten Tagen nicht sehen, weil er bereits heute Abend nach New York fliegen müsse. Dort gebe es bei Sotheby’s eine herausragende Auktion mit Bildern von Cézanne, Chagall und Matisse. Da dürfe er nicht fehlen.
Die Nachricht, dachte Isabelle, war entgegen seiner Annahme alles andere als schlecht. Sie wollte sich ganz entspannt wieder in Fragolin einleben. Sie sehnte sich nach dem dörflichen Trott, nach den vertrauten Gesichtern und ihrer kleinen Dachterrasse. Nach dem plat du jour auf der Schiefertafel vor Jacques’ Bistro. Nach einem petit vin mit ihrer Freundin Clodine im Café des Arts. Und sie freute sich auf ihren Assistenten Apollinaire und seine skurrilen Einfälle.
Isabelle erteilte Rouven Absolution und wünschte ihm eine erfolgreiche Reise. Er solle sich bei der Auktion nicht ruinieren, sagte sie scherzhaft, wohl wissend, dass das nur schwer möglich war. Sie dankte ihm erneut für den Chauffeur-Service. Und sie sagte, dass er sich nach seiner Rückkehr melden solle.
Das sei selbstverständlich, erwiderte er, denn er müsse sie persönlich in Augenschein nehmen und sich von ihrer Genesung überzeugen. Es gebe einige Bewegungsübungen, die er zur Kontrolle gerne mit ihr durchführen würde.
Isabelle lachte und meinte, dass er jetzt besser nicht weiterreden solle.
»Pourquoi pas, ma chérie? Warum nicht?«
»Weil ich dich schon verstanden habe. Pass auf dich auf. Noch einen schönen Tag, mein lieber Rouven. Bonne journée!«
Vor Fragolin ging es über viele Kilometer auf enger und kurviger Straße durch die Wälder des Massif des Maures. Entsprechend langsam waren sie unterwegs. Wenn ein anderes Auto entgegenkam, passten sie mit dem schweren Bentley kaum vorbei. Mit ihrem kleinen Renault könnte sie doppelt so schnell fahren, aber sie hatte keine Eile. In Gedanken war sie ohnehin schon in Fragolin angelangt. Sie wusste, dass sie dort Thierry begegnen würde. Wahrscheinlich schneller, als ihr lieb war, denn ihr Kommissariat war im Hôtel de ville untergebracht, im Rathaus, wo naturgemäß auch Thierry als Bürgermeister residierte. Obwohl sie augenblicklich keinen Fall zu bearbeiten hatten, hielt sich ihr Assistent Apollinaire ganz sicher an seine Arbeitszeiten. Er vertrat die Auffassung, dass gerade in Phasen des Nichtstuns ein Höchstmaß an Disziplin gefordert war. Alternativ sei eine totale Verlotterung zu befürchten und ein Niedergang der kognitiven Fähigkeiten. So oder so ähnlich pflegte er sich auszudrücken. Weshalb er ganz bestimmt im Büro war, wo sie sich von ihm auf den neuesten Stand bringen lassen wollte. Isabelle musste lächeln. Auf den neuesten Stand wovon? Ihr Kommissariat hatte keinen definierten Verantwortungsbereich und war vom Tagesgeschäft schon deshalb befreit, weil für alle Delikte in Fragolin die örtliche Gendarmerie zuständig war. Isabelle bekam ihre Aufträge von höherer Stelle, meist unmittelbar von Maurice Balancourt in Paris, der als graue Eminenz der Police nationale direkt dem Innenminister unterstellt war. An der Tür hatte Apollinaire ein Schild befestigt: Commission spéciale. Das traf es ganz gut. Ihre commission war so speziell, dass keiner wusste, wofür sie zuständig war – nicht einmal sie selbst. Das war ein besonderes und hoch einzuschätzendes Privileg.
Die Begegnung mit Thierry erfolgte noch früher als von ihr erwartet. Er kam gerade aus Clodines Laden Aux saveurs de Provence und stolperte ihr direkt vor die Füße. Sie hatte sich zuvor vom Chauffeur am Ortsrand an der Place Général de Gaulle absetzen lassen, aus Gründen der Diskretion. Es musste ja nicht jeder Rouvens Bentley sehen. Mit dem Rucksack über den Schultern war sie unterwegs zu ihrer Wohnung, wo sie sich erst mal frisch machen wollte, um anschließend im Kommissariat nach dem Rechten zu sehen. Na ja, und da passierte es. Thierry verhielt sich ganz normal. Er begrüßte sie mit zwei Küsschen auf die Wangen. So, wie er es mit jeder Freundin und guten Bekannten im Ort tun würde. Aber eben nicht auf den Mund – das war der Unterschied.
»Schön, dass du wieder da bist«, sagte er mit leicht belegter Stimme.
Ihrem Gefühl nach meinte er es ehrlich. Er mochte sie offenbar noch immer.
Sie ihn ja auch. Halt nur anders als früher.
»Ich freue mich auch. Vier Wochen sind eine lange Zeit.«
»Du hast keine Krücken mehr? C’est merveilleux.«
»Ja, das ist großartig. Morgen fange ich wieder mit dem Joggen an.«
»Wirklich? So gut geht’s dir schon?«
War sie, dachte sie, da nicht gerade etwas vorlaut gewesen. Ob das mit dem Joggen wirklich klappte, müsste sich erst noch herausstellen. Aber über eine kürzere Strecke sollte es funktionieren.
»Hätte ich gewusst, dass du schon so fit bist, hätte ich dich für heute Nachmittag beim Boule eingeplant«, sagte er.
Hätte er wirklich? Oder flunkerte er sie gerade an? Das Boule-Spiel auf dem Platz vor dem Rathaus war eine Besonderheit, denn daran durfte nur teilnehmen, wer in Fragolin geboren war. Zudem waren in der Partie mit dem Bürgermeister traditionell keine Frauen zugelassen. Mit einer Ausnahme: Madame le Commissaire zählte zur Stammmannschaft. Dieses erkämpfte Sonderrecht würde sie nicht aufgeben, Thierry hin oder her. Ob er sie eingeplant hatte, interessierte sie nicht.
»Ich spiele mit«, entschied sie.
»Aber wir sind … Was ich sagen will …«, stammelte er. »Also, das ist jetzt ganz schlecht, weil wir schon …«
»Du willst sagen, ihr seid schon komplett?« Isabelle zuckte mit den Schultern. »Kein Problem, dann spielen wir halt keine klassische Triplette, sondern ausnahmsweise mit zwei Mannschaften zu je vier Spielern.«
Thierry sah sie fassungslos an. Normalerweise war er es, der in Fragolin bestimmte, wo es langging.
»Dann wären wir ja zu acht?«, stellte er stockend fest.
Na bitte, mit dem Rechnen klappte es noch.
»Falls uns dann ein Spieler fehlen sollte, spiele ich für zwei«, machte Isabelle einen konstruktiven Vorschlag. Es ging ums Prinzip. Das hier war eine kleine Machtprobe, und sie würde nicht nachgeben, so viel stand fest. Das war eine Frage der Ehre. »Ach, noch was«, sagte sie. »In Zukunft spielen wir beide nicht mehr in einem Team, sondern gegeneinander. D’accord?«
Sie hatte Thierry noch selten so konsterniert dreinblicken sehen. Eigentlich noch nie. Isabelle unterdrückte ein Grinsen. Fast tat er ihr leid. Aber er hatte es sich selber zuzuschreiben. Er hatte in der Vergangenheit einige Fehler gemacht, darunter einen gravierenden, und diesen gleich mehrfach.
»Äh, natürlich bin ich einverstanden«, sagte er.
»Wunderbar. Jetzt muss ich heim. Wir sehen uns später auf dem Bouleplatz. Au revoir.«
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sie ihm den Rücken zu und setzte ihren Weg fort. Dabei bemühte sie sich um einen möglichst dynamischen Schritt. Sie konnte förmlich spüren, wie er ihr verdattert hinterhersah. Ob er zurück in Clodines Laden ging, um sich von ihr trösten zu lassen? Nein, das wohl nicht. Thierry legte großen Wert auf ein souveränes Auftreten. Schließlich war er der Bürgermeister, da gab man sich keine Blöße. Aber gerade eben hatte sie ihn überrumpelt. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Das kurze Geplänkel hatte ihr eine klammheimliche Freude bereitet. Jedenfalls war ihre erste Begegnung mit Thierry entschieden besser verlaufen als befürchtet. Fast schon beschwingt eilte sie mit ihrem Rucksack über das holprige Kopfsteinpflaster durch die Altstadt. Sie hatte Sneakers an. Für Fragolin war das das richtige Schuhwerk. Dennoch sah man fast täglich Touristinnen, die mit hochhackigen Schuhen umherstaksten. Im günstigsten Fall brach ihnen nur ein Absatz ab. Wenn es dumm lief, brachen sie sich den Knöchel.
In ihrer Dachwohnung angekommen, öffnete sie erst mal alle Läden und Fenster. Sie zog sich aus und warf ihre Klamotten aufs Bett. Dann nahm sie eine lange Dusche. Am Schluss drehte sie auf kalt. Eine Minute hielt sie es aus. Ohne sich abzutrocknen und nackt, wie sie war, lief sie die Wendeltreppe hinauf zu ihrer kleinen Terrasse. Diese war nicht einsehbar. Und selbst wenn, wäre es ihr egal. Sie lebte in Südfrankreich – da war man nicht prüde. Isabelle fuhr sich durch die nassen Haare. Sie hob die Arme in den azurblauen Himmel und streckte sich. Je suis de retour, je suis là …, juchzte sie. Ich bin wieder da!
Eine knappe Stunde später betrat Isabelle das Rathaus von Fragolin, wo im Erdgeschoss ihr Kommissariat untergebracht war. Die Büros von Thierry Blès befanden sich in den Stockwerken darüber. In der Eingangshalle des Hôtel de ville gab es eine kleine Gemäldegalerie mit den früheren Bürgermeistern. Vor einem Porträt blieb sie stehen. Sie entbot dem streng dreinblickenden Herrn einen stillen Gruß. Auf einem Messingschild stand sein Name: Maire Frédéric Bonnet. Sie konnte sich an ihren Vater kaum mehr erinnern. Er war ums Leben gekommen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Aber das war eine andere Geschichte, daran wollte sie heute nicht denken. Sie hauchte ihrem Vater einen Kuss zu, dann setzte sie ihren Weg fort. Am Ende des Gangs hörte sie aufgeregte Stimmen. Als sie näher kam, sah sie die hoch aufgeschossene Gestalt Apollinaires, der sie wie so häufig an eine hagere Vogelscheuche erinnerte – allerdings eine mit gebügelter Uniform. Er befand sich in einer hitzigen Diskussion mit Madeleine, die im Rathaus putzte. Apollinaire standen die Haare wirr zu Berge, was bei ihm freilich der Normalfall war. Madeleine hatte vor Empörung einen roten Kopf. Dann rauschte sie davon. Er sah ihr feixend hinterher. Sich Isabelle zuwendend, deutete er einen militärischen Gruß an und hieß sie herzlich willkommen.
Geradezu galant öffnete er ihr die Tür zum Kommissariat und bat sie, einzutreten. Eine nette Geste. Sie kam sich vor wie eine Besucherin, dabei war das ihr Arbeitsplatz. Nun ja, wenn es irgend ging, arbeitete sie woanders. Und momentan gab es gar nichts zu tun.
Mitten im Büro stand Apollinaires Flipchart, auf dem er üblicherweise mit großer Begeisterung Grafiken anlegte, die bei der Aufklärung von Kriminalfällen helfen sollten, die jedoch mit fortschreitender Entwicklung so kryptisch wurden, dass nur noch er sie verstand, wenn überhaupt.
Heute aber hatte er das Flipchart mit Blumengirlanden dekoriert und mit dickem Filzstift einen Willkommensgruß draufgeschrieben: Une cordiale bienvenue! Vous m’avez manqué!
Isabelle war gerührt. Apollinaire hieß sie also nicht nur herzlich willkommen, sondern er hatte sie auch vermisst. Schriftlich niedergelegt in großen, fetten Lettern auf seinem heiß geliebten Flipchart. Sie nahm einen roten Filzstift und schrieb darunter: Merci, mon Apollinaire. Je suis heureuse de vous revoir! Ja, sie war tatsächlich froh, ihn wiederzusehen. Schon aus egoistischen Erwägungen, denn hätte es damit nicht geklappt, wäre sie wohl bei der Operation draufgegangen. Keine erstrebenswerte Alternative.
Apollinaire strahlte. Isabelle warf routinemäßig einen Blick auf seine verschiedenfarbigen Strümpfe. Rot und blau. Für seine Verhältnisse geradezu konservativ. Doch in Kombination mit einer Uniform der Police nationale völlig indiskutabel – aber von ihr toleriert. Das Farbenspiel seiner Strümpfe gehörte zu seiner Persönlichkeit.
An der Wand hing ein großes Bild von Charles de Gaulle. Apollinaire hatte es in den ersten Tagen ihrer Zusammenarbeit aufgehängt. Sie erinnerte sich noch an ihren Hinweis, dass de Gaulle schon lange tot sei und an dessen Stelle laut Dienstanweisung ein Porträt des aktuellen Präsidenten der Republik gehöre. Was hatte Apollinaire geantwortet? Auch das wusste sie noch genau. Dass de Gaulle den Räumen Autorität verleihe, hatte er gesagt, und dass er nie das Bild eines amtierenden Präsidenten aufhängen würde, das provoziere nur Widerspruch. Außerdem müsse man es häufig auswechseln.
Isabelle ließ den Blick weiter durchs Kommissariat schweifen. Auf der Fensterbank stand ihr Kaktus, den sie von der Forstbehörde übernommen hatten, die vorher in diesen Räumen ihren Sitz hatte. Der Kaktus sah aus wie immer. An ihm schien die Zeit vorüberzugehen. Seine stoische Gelassenheit war bewundernswert.
»Gab’s ein Problem mit Madeleine?«, fragte Isabelle, auf das Streitgespräch im Flur zurückkommend.
»Nein, nicht wirklich. Die Diskussion führen wir jede Woche. Irgendwann wird sie nachgeben und es richtig machen.«
Isabelle zog fragend eine Augenbraue nach oben.
»Es geht um das Toilettenpapier«, erläuterte Apollinaire. »Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Klopapierrolle nicht zur Wand, sondern mit der Abreißkante zum Nutzer zeigen muss. Begründen lässt sich das mit der Rotationsenergie und dem Drehmoment. Sie hat also vorwärts zu hängen. Madeleine legt auf unserer Toilette das Klopapier immer umgekehrt ein. Nur um mich zu ärgern. Und wenn ich es ändere, macht sie es wieder rückgängig. Diese Impertinenz macht mich rasend.«
Isabelle schüttelte lachend den Kopf. »Ist nicht Ihr Ernst? Über so was können Sie sich aufregen?«
Apollinaire grinste. »Nicht wirklich. Das ist eher ein Spiel.«
»Ich fürchte, Sie sind beruflich nicht ausgelastet. Was haben Sie eigentlich die letzten Wochen gemacht?«
»Ich habe mich bei Commandant Richeloin eingeschleimt«, antwortete Apollinaire.
Richeloin war der Chef der Police nationale für das Département Var und hatte seinen Sitz in Toulon. Vor Kurzem hatte man ihn vom Capitaine zum Commandant befördert. Theoretisch war er ihr vorgesetzt, praktisch hatte er ihr nichts zu sagen, weil sie einen Sonderstatus genoss und ihre Anweisungen direkt aus Paris erhielt. Das wurmte ihn gewaltig. Aber er hatte sich damit abgefunden – nicht zuletzt deshalb, weil sie ihm bereitwillig die Bühne überließ, wenn es darum ging, Ermittlungserfolge der Presse zu präsentieren.
»Ich habe seine Datenbank, die den Professionalisierungsgrad einer Sumpfschnecke hatte und entsprechend langsam war, auf Vordermann gebracht. Das konnte ich online von hier erledigen. Ich bin gestern damit fertig geworden.«
Isabelle nickte zustimmend. Damit hatte er sich in der Tat bei Richeloin »eingeschleimt«. Apollinaire war zwar ein erklärter Gegner jeglicher Computertechnik, er verfluchte sie und hielt sie für eine Ausgeburt des Teufels, aber gleichzeitig verstand er es meisterhaft, mit ihr umzugehen. Ein scheinbarer Widerspruch, über den er nur lachen konnte. Es sei eine alte Samurai-Weisheit, dass man die Listen seines Gegners kennen müsse, um sie zum eigenen Vorteil zu nutzen. Was er genau damit meinte, war ihr nicht klar. Ihr reichte es völlig zu wissen, dass ihn mit der Informations- und Datenverarbeitung eine Hassliebe verband. In diesem Fall hatte Richeloin seinen Nutzen daraus gezogen. Das war sicher besser, als wenn sich Apollinaire weiter in so gravierende Menschheitsfragen wie der Rollrichtung von Toilettenpapier hineingesteigert hätte.
Auf ihrem Schreibtisch entdeckte sie einige Briefumschläge, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatten. Viele waren es nicht. Wer schickte ihr schon Post? Außerdem sortierte Apollinaire alles aus, was ihm überflüssig erschien. Sie würde die Korrespondenz später durchsehen – und vermutlich das meiste gleich in den Papierkorb entsorgen. Der oberste Briefumschlag fiel ihr dennoch ins Auge. Und zwar deshalb, weil jemand bei ihrer Anschrift mit dickem Rotstift eine Korrektur vorgenommen hatte. Der Brief war an »Madame la Commissaire Isabelle Bonnet« adressiert. Das la war durchgestrichen und durch le ersetzt. Jetzt hieß es »Madame le Commissaire«.
Sie zeigte Apollinaire den Umschlag und sah ihn fragend an. »Waren Sie das?«
»Naturellement, Madame. Wie Sie wissen, habe ich sehr fortschrittliche Ansichten …«
Sie musste lächeln. Das Gegenteil war wohl eher richtig.
»… aber mit der Geschlechtergleichstellung kann man es wirklich übertreiben. Seit ich mich erinnern kann, heißt es zum Beispiel Madame le Président oder Madame le Ministre. Logischerweise auch Madame le Commissaire. Ich halte das für keine Diskriminierung, sondern im Gegenteil für eine Respektsbekundung. C’est comme ça!«
Sie lächelte amüsiert. »Das wird aber heute mehrheitlich anders gesehen. Nicht nur Feministinnen kritisieren, dass die französische Sprache stark männlich geprägt ist.«
»Ich weiß. Es gibt sogar eine Dienstanweisung, die dazu anhält, in der Anrede bei Frauen in früheren Männerpositionen das le durch la zu ersetzen.« Apollinaire tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Die haben doch alle einen Vogel. Als ob wir sonst keine Probleme hätten.«
Isabelle fand es witzig, dass er sich bei diesem Thema so in Rage reden konnte. Weshalb sie ihm auch nicht widersprach, wenngleich sie seine Ansicht nicht teilte.
Apollinaire deutete auf das Bild von Charles de Gaulle an der Wand. »Mon Général hätte sich über so etwas nie den Kopf zerbrochen.«
Vermutlich nicht, dachte sie, aber de Gaulle war schon vor einem halben Jahrhundert gestorben.
»Madame, darf ich Sie was fragen?«
»Na klar.«
»Für mich und für jeden hier in Fragolin und soviel ich weiß bei der gesamten Police nationale bis hinauf nach Paris sind Sie als Madame le Commissaire bekannt. Dabei würde ich es gerne belassen. Sind Sie damit einverstanden?«
Tatsächlich hatte er recht. Isabelle konnte sich nicht erinnern, dass sie je jemand als Madame la Commissaire angesprochen hatte. Nun könnte sie sich die Frage stellen, warum das so war. Sie hielt sich für eine durchaus weibliche Erscheinung, was keine Einbildung war, sondern ihr von balzenden Männern ebenso regelmäßig wie überflüssigerweise bestätigt wurde. Also konnte es nur an ihrem selbstbewussten, oft als dominant empfundenen Auftreten liegen. Sie zeigte gerne klare Kante. Daran würde sie auch in Zukunft nichts ändern.
»Ich hab kein Problem damit«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Mit Madame le Commissaire kann ich mich durchaus identifizieren. Dennoch müssen Sie anders adressierte Briefe nicht korrigieren.«
»Sehr wohl, Madame. Da bin ich erleichtert.«
Isabelle überlegte, womit sie ihren Assistenten in den nächsten Tagen beschäftigen sollte, damit er auf keine weiteren dummen Gedanken kam. Sie würde sich nach einem neuen Fall umsehen müssen. Zur Abwechslung musste es ja nichts Schlimmes sein. Irgendein schnuckliges kleines Verbrechen, bei dem die lieben Kollegen nicht weiterkamen und die Aufklärung deshalb gerne ihr überließen. Oder Maurice Balancourt in Paris hatte mal wieder einen Sonderauftrag für sie. Man würde sehen. On verra!
Die Partie Boule brachte sie ohne Zwischenfälle hinter sich. Um genau zu sein, spielten sie Pétanque, das war die südfranzösische Variante des traditionsreichen Kugelspiels. Auf diese Unterscheidung wurde in Fragolin viel Wert gelegt. Thierry hatte mit Lucas, dem früheren Friedhofsgärtner von Fragolin, einen Ersatzmann aufgegabelt, sodass sie statt der üblichen Triplette eine Quadrette spielten. Lucas war nicht mehr der Jüngste und etwas aus der Übung. Außerdem hatte er seine Brille vergessen. Thierrys Pech, dass er in seiner Mannschaft spielte. Weshalb Isabelle mit ihrem Team locker gewann. Sie selbst trug nicht viel zum Erfolg bei, aber das machte nichts. Viel wichtiger war ihr, dass sie überhaupt wieder spielen konnte und dass sie mit von der Partie war. Mit Thierry gab es keinen Stress. Anfänglich waren sie wohl beide etwas verkrampft, aber diese Anspannung legte sich schnell im weiteren Verlauf. Und gegen Ende wurden wieder die üblichen Späße gemacht. Das Spiel stimmte Isabelle hoffnungsvoll. Sowohl, was ihre gesundheitliche Wiederherstellung betraf, denn sie hatte keine Schmerzen, als auch im Hinblick auf ihr zukünftiges Leben in Fragolin – mit einem Thierry, der sich mit der neuen Situation zumindest nach außen abgefunden hatte und sich um ein entspanntes Miteinander bemühte. Ihr war klar, dass es schwierig war, eine Liebesbeziehung in eine Freundschaft zu transformieren. In der Vergangenheit hatte das bei ihr nie funktioniert. Allerdings hatte sie es auch nie versucht. Warum auch? Eine Trennung war eine Trennung. Punkt. Es waren nach ihrer Beobachtung ohnehin eher die Männer, die von einer Freundschaft mit einer Ex träumten. Sie selbst hatte dieses Bedürfnis nie verspürt. Aber mit Thierry Blès war es etwas anderes. In einer Millionenmetropole wie Paris konnte man sich aus dem Weg gehen, in Fragolin war das unmöglich. Sie würden sich tagtäglich begegnen. Folglich war es überlebensnotwendig, nett zueinander zu sein. Und wenn sich daraus entgegen aller Lebenserfahrung eine Freundschaft entwickeln sollte – nun denn, sie hatte nichts dagegen.
Am Abend saß Isabelle mit ihrer Freundin Clodine auf der Terrasse von Jacques’ Bistro. Vorneweg aßen sie eine soupe au pistou, eine provenzalische Gemüsesuppe. Danach gab es als Tagesgericht lapin farci à la tapenade, Kaninchen mit Tapenade gefüllt. Köstlich. Im Glas einen kühlen Rosé. Isabelle lächelte beglückt. Spätestens jetzt war ihre Reha vorbei. Definitiv. Weil Clodine, wie es ihre Art war, fast ohne Unterlass redete, konnte sich Isabelle zurücklehnen und die provenzalische Leichtigkeit des Seins genießen. Gleichzeitig erfuhr sie alles, was sich in den letzten Wochen in Fragolin zugetragen hatte. Im Detail und fantasievoll ausgeschmückt. Clodine war eine Meisterin des gepflegten Tratsches. Sie konnte auch dann viel erzählen, wenn im Grunde überhaupt nichts vorgefallen war. Isabelle hörte nur mit halbem Ohr zu. Dass mit Michou die Katze der alten Apothekerin verschwunden war, fand sie zwar betrüblich, weckte aber ihr Interesse nicht wirklich. Der Dorfpfarrer habe sich einen Knöchel verstaucht, könne aber weiter die Beichte abnehmen. Und in der alten Bastide am Waldrand, die so lange leer gestanden hatte, sei ein durchaus interessanter, aber etwas verlotterter Typ eingezogen. Ein Maler, dessen Bilder offenbar keiner kaufen wolle. Also leider eine gescheiterte Existenz, die sich die Miete wahrscheinlich nicht lange werde leisten können. Ab und zu komme er in den Ort, um Lebensmittel zu kaufen und im Café des Arts eine noisette zu trinken, einen Espresso mit einem Kännchen warmer Milch. Es sei ihr noch nicht gelungen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er sei wohl etwas introvertiert. Oder schwul? Clodine zuckte mit den Schultern. Selber schuld. Dabei könne sie ihm anbieten, für ihn als Aktmodell zu posieren. Das habe sie zwar noch nie gemacht, aber ganz bestimmt habe sie Talent dafür.
Isabelle winkte lachend ab. Das könne sie gleich vergessen. Clodine könne doch nicht länger als eine Minute ruhig sitzen. Ihr fehle also eine entscheidende Voraussetzung für die Arbeit eines Kunstmodells.
Sie kamen nicht dazu, das Thema zu vertiefen, denn Jasmin gesellte sich zu ihnen. Eine ehemalige Novizin, die im Verkauf von Clodines Laden half. Sie war von dunkler Hautfarbe und konnte Männern den Kopf verdrehen, obwohl sie aufgrund schlimmer Erlebnisse genau das zu vermeiden versuchte.
Als kurz darauf Thierry vorbeikam, hatte Clodine den idiotischen Einfall, ihn zu fragen, ob er sich dazusetzen wolle. Isabelle hätte sie dafür erwürgen können. Denn natürlich folgte er Clodines Einladung. Drei »einsame« Frauen übten auf ihn eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Isabelle fragte sich, ob es Clodine schon geschafft hatte, ihn zu verführen? Jetzt, wo er wieder verfügbar war? Sie hatte den Eindruck, dass er sich mehr für Jasmin interessierte. Egal, es machte ihr nichts aus.
Mit dem Mistral verbinden sich in der Provence viele Redensarten. So fürchtet der Volksmund, dass Kinder, die beim Sturmwind gezeugt wurden, dem Schwachsinn anheimfallen könnten. Mit le calme avant la tempête ist die Ruhe vor dem Sturm gemeint, die gerade beim Mistral trügerisch sein kann. Bei wolkenlosem tiefblauem Himmel und glasklarer Sicht setzt plötzlich ein aus dem Rhônetal kommender Wind ein, der sich rasch zu einem Orkan steigert, der über Tage an den Fensterläden rüttelt und auf der See die Wellen peitscht, der Kopfschmerzen und Schlafstörungen verursacht und empfindliche Gemüter schier in den Wahnsinn treibt. Weshalb der Mistral in der Provence auch vent du fada genannt wird, der Wind, der einen verrückt macht. Zu napoleonischen Zeiten konnte einem Mörder die Todesstrafe erlassen werden, wenn ihm der Mistral den Geist verwirrt hatte. So abwegig war das nicht.
Beim Mistral verhielt es sich wie im Leben: Ein ruhiger Tag von ausgesuchter Schönheit konnte heuchlerisch sein und falsche Erwartungen wecken. Seltsamerweise musste Isabelle genau daran denken, als sie an ihrem Lieblingsstrand auf einer Bastmatte lag und sich nach dem Schwimmen von der Sonne trocknen ließ. Mit dem Mistral hatte sie schon schlimme Erfahrungen gemacht. Für die nächsten Tage aber war keiner angekündigt. Warum kam ihr dann die Ruhe vor dem Sturm in den Sinn – le calme avant la tempête? Dafür gab es keinen Grund. In der vorangegangenen Nacht hatte sie tief und traumlos geschlafen. Am Morgen war sie auf ihrer üblichen Laufstrecke zur Chartreuse gejoggt. Nicht weit, aber ohne Probleme und voller Zuversicht. Apollinaire hatte sie für heute freigegeben. Er konnte also auch nichts anstellen. Ihr Auto war auf Anhieb angesprungen. Und sie hatte einen Parkplatz gleich in der Nähe der Treppe gefunden, die hinunter an den versteckten Strand führte.
Isabelle drehte sich auf den Bauch, schloss die Augen und machte den Versuch, an nichts zu denken. An nichts Gutes, an nichts Schlechtes, an rein gar nichts. Das war alles andere als leicht, aber irgendwann schaffte sie es – dann schlief sie ein.
Am frühen Abend fuhr sie zurück nach Fragolin. Mit heruntergedrehten Scheiben, salzverkrusteten Haaren – und einem Sonnenbrand auf dem Rücken. Ihre finsteren Gedanken an einen aufziehenden Sturm hatte sie verscheucht. Isabelle hatte keine spirituelle Ader, und an Vorahnungen glaubte sie schon gleich gar nicht. Sie zögerte. Oder doch? Vor dem Bombenattentat am Arc de Triomphe hatte sie eine innere Unruhe verspürt. Ganz so wie heute Vormittag. Unsinn, das war Einbildung.
Isabelle schaltete das Autoradio ein. Gerade lief ein Chanson, das sie kannte. Sie sang laut mit. Vor ihr bummelte ein Kleintransporter. Bei nächster Gelegenheit hupte sie und setzte zum Überholen an. Gerade noch rechtzeitig erkannte sie, dass ein Auto entgegenkam. Viel zu schnell. Sie brach den Überholvorgang ab. Was war denn das für ein Idiot?
Sekunden später wusste sie, wer der Idiot war. Niemand anders als Thierry. Ihre überraschten Blicke trafen sich. Dann war er vorbei.
Sie atmete tief durch. Ihr schoss durch den Kopf, dass das ein schlagzeilenträchtiger Unfall geworden wäre. Der ehrenwerte Bürgermeister von Fragolin rammt den Wagen einer Kommissarin der Police nationale. Frontalzusammenstoß von zwei frisch Getrennten. Mon Dieu. Gott sei Dank war alles gut gegangen.
Als sie erneut zum Überholen ansetzen wollte, kam schon wieder ein Raser entgegen. Diesmal handelte es sich um ein Motorrad. Waren denn heute Abend lauter Verrückte unterwegs?
Wo hatte Thierry so schnell hingewollt? Zu dieser Zeit? Am Abend pflegte er sich normalerweise nicht mehr zu hetzen. Wenn irgend möglich ließ er es gemütlich ausklingen. Na egal, heute hatte er es jedenfalls eilig. Der Grund ging sie nichts an. Thierry konnte tun und lassen, was er wollte. Nur sollte er nicht andere Verkehrsteilnehmer gefährden.
Nach einer unruhigen Nacht, in der sie lange keinen Schlaf gefunden hatte, erwachte Isabelle am nächsten Morgen schweißgebadet. Sie wühlte sich aus dem Bett und riss die Fenster auf. Nein, kein Mistral. Draußen wehte nur ein leises Lüftchen. Alles war still und friedlich. Warum war sie dann so gerädert? Hatte sie von gestern einen Sonnenstich? Quatsch, natürlich nicht.
Isabelle ging ins Bad und duschte. Danach fühlte sie sich besser. In einer gläsernen Pressstempelkanne brühte sie einen Kaffee auf. Der Duft weckte ihre Lebensgeister. Dazu ein Glas frisch ausgepresster Orangensaft. Und ein aufgebackenes Croissant. Das Ganze auf einem Tablett hinauf auf ihre kleine Dachterrasse balanciert. Am blauen Himmel segelten kleine Wolken wie Wattebäusche in Richtung Meer. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. Eine Postkartenidylle. Oder eine Illusion? Aber das, dachte Isabelle, war kein Widerspruch, denn jede scheinbare Idylle war eine beschauliche Verklärung, bei der störende Elemente einfach ausgeblendet wurden. Wie zum Beispiel der Karren, der gerade unten durch die Gasse geschoben wurde. Es lag an ihr, das rumpelnde Geräusch zu überhören. Oder der angetrocknete Vogelschiss auf ihrem Frühstückstisch. Oder die Farbe, die von ihrem schmiedeeisernen Geländer blätterte. War das eine Beeinträchtigung? Nein, es gehörte dazu. Und so war es schön. All das hatte sie während ihrer Reha in Saint-Rémy vermisst. Das Croissant, das nicht frisch aus der Boulangerie kam und trotzdem lecker schmeckte. Der Kaffee, der heute zu stark war. Das Glas mit dem Orangensaft, das schon leer war. Vivre le moment présent! Den Augenblick genießen – und zwar so, wie er war. Das hatte sie von Thierry gelernt. Wie er ihr überhaupt die provenzalische Lebensart und die Leichtigkeit des Seins nähergebracht hatte. Dafür schuldete sie ihm Dank. Er hatte einer gehetzten und traumatisierten Karrierepolizistin aus Paris gezeigt, was unter l’art de vivre zu verstehen war. Und dass es sich lohnte, diese gelassene Kunst des Lebens zu erlernen. Was nicht bedeutete, dass man keine ehrgeizigen Ziele verfolgte und im Beruf erfolglos war. Thierry demonstrierte, dass beides zur selben Zeit möglich war. Er war ein viel beschäftigter Anwalt und ein respektierter Bürgermeister.
Ihr fiel auf, dass sie schon wieder an Thierry dachte. Sie musste lächeln. Offenbar war es gar nicht so leicht, diesen Schwerenöter aus ihrem Gefühlsleben zu verdrängen. Vielleicht sollte sie mehr an seine Schattenseiten denken, dann würde es ihr nicht so schwerfallen? Schattenseiten? Viele waren es nicht, aber manche eben doch, die sie zu tolerieren nicht bereit war. Vielleicht gab es sogar einige mehr, von denen sie nichts wusste? Wie auch immer, es interessierte sie nicht mehr. Sollte er damit glücklich werden.
Als sie das Haus verließ, hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt weder Radio gehört noch die Nachrichten im Frühstücksfernsehen gesehen. Ihr Handy war noch im Offline-Modus. Sie erwartete keine Anrufe, daher hatte sie sich den Luxus gegönnt, während der Nacht und am Morgen nicht erreichbar zu sein. Sie hatte vergessen, es wieder zu aktivieren. Also machte sie sich völlig unbeschwert auf den Weg durch die Altstadt von Fragolin zum Kommissariat im Hôtel de ville. Schon bald spürte sie, dass irgendwas nicht stimmte. Eine undefinierbare bleierne Stille lag über dem Ort. Die Bewohner bewegten sich wie in Zeitlupe, oder sie standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und ernsten Gesichtern. Isabelle schritt an ihnen vorbei und wunderte sich, dass keiner grüßte. Stattdessen wurden ihr verstohlene Blicke zugeworfen. Obwohl sie also merkte, dass etwas in der Luft lag, kam sie nicht auf die Idee, jemanden zu fragen. Spätestens im Büro würde sie von Apollinaire ins Bild gesetzt, wenn denn wirklich etwas vorgefallen war. Vielleicht bildete sie sich das gerade nur ein?
Doch sie musste nicht so lange warten. Clodine hatte sie durch das Schaufenster ihres Ladens gesehen und kam herbeigestürzt. Sie hatte ein verheultes Gesicht und umklammerte Isabelle.
»O wie schrecklich«, stammelte sie unter Tränen. »Ich kann es noch gar nicht glauben.«
Isabelle schob sie behutsam zurück. »Was kannst du nicht glauben?«, fragte sie.
Clodine schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. »O mein Gott, du weißt es noch nicht, oder?«
Isabelle hatte Clodine schon häufig im Zustand völliger Auflösung erlebt, auch bei nichtigen Anlässen. Aber das heute war was anderes. Es musste was wirklich Schlimmes passiert sein.
»Sag schon, was ist los?«
»Thierry, unser Thierry …«, fing sie an. Dann musste sie so heftig schluchzen, dass sie nicht weiterreden konnte.
Isabelle, die gelernt hatte, schlechte Nachrichten gefasst aufzunehmen, spürte, wie sie blass wurde. Spontan dachte sie an gestern Abend, als ihr Thierry mit dem Auto viel zu schnell entgegengekommen war.
»Hatte Thierry einen Verkehrsunfall?«, fragte sie.
»Nein, keinen Verkehrsunfall … aber er ist tot.«