Judith W. Taschler

Das Geburtstagsfest

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Judith W. Taschler

Judith W. Taschler, 1970 in Linz geboren, ist im Mühlviertel aufgewachsen. Nach einem Auslandsaufenthalt und verschiedenen Jobs studierte sie Germanistik und Geschichte. Die in Innsbruck lebende Autorin schreibt Romane für ein breites Publikum. Auf der Basis berührender, eindringlicher Geschichten mit Identifikationspotential fesselt sie literarisch und belletristisch orientierte Leser gleichermaßen. Das brachte ihr für den Roman Die Deutschlehrerin im Jahr 2014 den Friedrich-Glauser-Preis ein sowie den Einstieg in die Spiegel-Bestsellerliste. Auch mit den nachfolgenden Romanen Roman ohne U, bleiben und David begeisterte sie Publikum wie Kritiker.

Weitere Informationen unter: www.jwtaschler.at

Impressum

© 2019 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2019 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Das Zitat aus Rithy Panh »Auslöschung« erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Hoffmann und Campe Verlags

© Éditions Grasset & Fasquelle, 2011 Für die deutschsprachige Ausgabe © 2013 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Coverabbildung: Metin Demiralay / Trevillion Images

ISBN 978-3-426-45153-3

Wenn ich heute die Augen schließe, kommt alles wieder.

Die vertrockneten Reisfelder. Die Straße, die in der Nähe von Battambang durch das Dorf führt. Männer in Schwarz am glühend heißen Horizont.

Ich bin dreizehn. Ich bin allein.

Wenn ich die Augen geschlossen halte, sehe ich den Weg.

Ich weiß, wo sich das Massengrab befindet, hinter dem Krankenhaus von Mong, ich brauche nur die Hand auszustrecken:

Die Grube liegt vor mir.

 

Rithy Panh: Auslöschung

Prolog

Sehr verehrte Frau Gardiner!

Mein Papa feiert bald seinen fünfzigsten Geburtstag. Er will ihn zwar nicht feiern, aber meine Mama sagt, wir werden. Jeder von uns soll etwas zum Fest beitragen. Ich möchte meinen Papa mit Ihnen überraschen.

Kommen Sie am 17. Juni zu uns? Ich bitte Sie herzlich darum. Das Fest selbst findet am Tag darauf, am Samstag, dem 18. Juni, statt. Sie können gerne über das Wochenende bei uns bleiben. Oder auch länger.

Ich bin sehr neugierig auf Sie!

Herzliche Grüße

Jonas

 

 

 

Lieber Jonas,

kann es sein, dass du die falsche E-Mail-Adresse hast? Ich kenne weder dich noch deinen Vater.

T. Gardiner

Sehr verehrte Frau Gardiner!

Mein Vater ist der, der Sie tagelang durch den Dschungel getragen hat. Das war vor vielen Jahren. Ich habe die Geschichte oft gehört, aber nur von meiner Mutter und Großmutter, die Sie auch gut kennen. Mein Vater redet nicht gern darüber. Das finden meine Geschwister und ich sehr schade. Er sagt, reden über alte Zeiten ist vergeudete Energie. Und auch, dass er sich nicht mehr so gut erinnern kann. Vielleicht beginnt er zu erzählen, wenn Sie da sind. Das wünsche ich mir. Sie können seinen Erinnerungen auf die Sprünge helfen.

Jonas

 

 

 

Lieber Jonas,

bist du denn überzeugt, dass dein Papa sich über deine Überraschung freuen wird?

Liebe Grüße

 

 

 

Liebe Frau Gardiner!

Ich bin mir ganz sicher, dass er sich sehr freuen wird, Sie zu sehen! Auch meine Mama. Für sie ist es auch eine Überraschung.

Bitte kommen Sie!

Jonas

 

 

 

Lieber Jonas,

wie viele Geschwister hast du, und wie alt seid ihr? Wo wohnt ihr?

Liebe Grüße

 

 

 

Liebe Frau Gardiner!

Lea ist zwanzig. Simon ist achtzehn. Ich bin fast zwölf. Das Haus, in dem wir wohnen, steht hinter dem Haus, in dem Sie als Kind zwei Jahre lang gewohnt haben. Wenn Sie wollen, können Sie Ihr altes Zimmer haben.

Werden Sie kommen?

Jonas

 

 

 

Lieber Jonas,

ja, ich werde kommen. Ich teile dir noch mit, wann genau.

Liebste Grüße an deine Geschwister und dich,

T. Gardiner

Freitag, 17. Juni 2016

Es dämmerte, als Kim das Haus verließ und hinüber zur Schlachthütte ging.

Die Tür quietschte leise beim Öffnen. Er überlegte, die Scharniere sofort zu ölen, doch dafür hätte er zurück ins Haus gehen müssen, um aus seiner Werkzeugkiste, die im Keller stand, das Öl zu holen. Er war unschlüssig und hielt, mit einem Fuß in der Hütte, mit dem anderen noch draußen, einen Augenblick inne. In der letzten Zeit passierte ihm das immer öfter, manchmal stand er minutenlang da und konnte nicht reagieren. Sein Kopf fühlte sich leer an in solchen Situationen, nicht fähig, abzuwägen und eine schnelle Entscheidung zu treffen.

Er sah zu den Teichen hinüber und atmete tief durch. Kein Geräusch war zu hören, die Tiere schliefen noch. Vorsichtig schob er die Tür ganz auf, betrat die Hütte und schaltete das Licht ein. Die altmodische hölzerne Hängelampe warf gespenstische Schatten.

In einer Ecke standen ein rechteckiger Tisch, bezogen mit einem Plastiktischtuch, darunter eine Holzkiste mit Deckel und eine Blechwanne. Er hob den Tisch hoch und platzierte ihn in die Mitte des Raumes. Beil, Stock und Balken, welche mittels Schlaufen an Wandhaken hingen, legte er auf den Tisch, die Holzkiste stellte er links vom Tisch auf den Boden, den Deckel öffnete er. Sie war innen mit dem gleichen Plastiktischtuch tapeziert, es zeigte, stark vergilbt und fleckig, verschiedene Obstsorten.

Kim verließ die Hütte wieder und trat an das Teichufer. Den Erpel, den er ein paar Tage zuvor ausgesucht hatte, fand er schlafend vor, er fasste schnell und sachte nach ihm, hielt mit der linken Hand die Beine fest, mit der rechten die Flügel. Er trug das Tier die wenigen Meter zur Hütte, darin angekommen ließ er die Flügel los und drehte das Tier, das nun wie wild mit den Flügeln schlug, um, sodass es nach unten hing. Mit der rechten Hand griff er nach dem Stock und schlug dem Erpel damit auf den Kopf. Das Ganze war eine einzige fließende Bewegung.

Das betäubte Tier legte er behutsam auf den Tisch, drapierte den Hals über den Balken und griff nach dem Beil. Mit einem gezielten Schlag trennte er den Kopf ab, der jämmerlich aussehend auf den Tisch fiel und neben einer verblassten Birne liegen blieb. Er legte das Beil zur Seite, nahm das kopflose Tier hoch, hob es in die Kiste und schloss augenblicklich den Deckel. Das Ganze hatte nicht einmal eine halbe Minute gedauert. In der geschlossenen Kiste begann die kopflose Ente zu rumoren.

 

Vor ein paar Jahren hatten seine beiden älteren Kinder gegen seinen Willen beim Schlachten einer Ente zugesehen. Tagelang hatten sie nicht aufgehört zu betteln, doch er, der ansonsten gegenüber seinen Kindern nachgiebig war, war hart geblieben. Er hatte es immer so eingerichtet, dass alles, selbst das Rupfen, Ausnehmen und Zerlegen der Ente, erledigt war, bevor sie von der Schule oder vom Kindergarten nach Hause kamen. Wenn sie Entenfleisch vor sich auf dem Teller liegen hatten, brachten sie es nicht in Zusammenhang mit den Tieren, die sie von den Teichen in ihrem Garten kannten. Alles sollte im Verborgenen geschehen, er allein wollte die Wandlung vom friedlich schwimmenden Tier auf dem Teich zum fertigen Tischgericht vollziehen. Er war es auch, der am Tag nach der Schlachtung in der Küche stand und Entencassoulet, Gebratene Nudeln mit Entenfleisch, Entenbrust mit Orangensoße, Knusprige Ente mit Wokgemüse, Entenkeule mit Apfelrotkraut oder anderes zubereitete, ansonsten fühlte er sich für die Küche nicht zuständig.

Seinen Kindern sollte es nicht wie ihm ergehen: Er hatte als Junge den Gedanken kaum ertragen, dass das Fleisch, welches vor ihm lag, bis vor Kurzem eins seiner geliebten Tiere gewesen war. Außerdem war der Anblick des fallenden Beils und des herunterkullernden Kopfes mit den brechenden Augen ohnehin nichts für Kinder, war seine Meinung.

Lea und Simon hatten ihren Vater überlistet, indem sie den Wecker stellten und wenige Minuten nach ihm aus dem Haus schlichen. Sie standen genau in dem Augenblick im Türrahmen der Schlachthütte, als er die betäubte Ente auf den Tisch legte und das Beil in die Hand nahm. Kurz überlegte er, die Ente – noch ganz – in die Holzkiste zu sperren, die beiden an den Armen zu packen und ins Haus zurückzuzerren. Kim hatte keine Lust auf fruchtlose Diskussionen am Küchentisch über die armen Tiere, und dazu würde es kommen, dessen war er sich sicher. Womöglich erklärten sich die zwei als Konsequenz zu Vegetariern, was in einer Familie, in der viel Fleisch gegessen wurde, früher oder später für Konflikte sorgen würde. Ines, seine Frau, würde die Laune der Kinder zunächst unterstützen, für sie extra kochen, schließlich aber die Motivation verlieren. Schlecht gelaunt würde sie nicht nur an ihnen, sondern auch an ihm – denn er war in ihren Augen der wahre Schuldige – herumnörgeln, anstatt zu sagen: »Entweder ihr esst, was auf den Tisch kommt, oder ihr kocht selbst.« Er mochte keine Spannungen, keine Streitereien, er konnte damit nicht umgehen und ging ihnen aus dem Weg.

Wohl oder übel hatte er sie zusehen lassen müssen, denn er hatte in dem Moment ebenso wenig Lust, zwei Teenager mit Gewalt ins Haus zu zerren und ihr hysterisches Aufbegehren anhören zu müssen, während er mit dem Kopf bei der Ente war, die in der Holzkiste zu sich kam. Adrenalingetränktes Fleisch schmeckte ihm nicht besonders, außerdem war ihm der Gedanke an die Angst des Tieres unerträglich. Verärgert sah er beide an, schüttelte leicht den Kopf, sagte aber nichts.

Sie traten einen Schritt nach vorn. Simon zwinkerte ihm noch verschwörerisch zu, was so viel bedeutete wie »Wir Männer halten das aus, nicht wahr?«, während er spaßhalber Leas Augen verdeckte. Unwirsch zog diese seine Hand aus ihrem Gesicht. Kim atmete tief durch, hob das Beil hoch und ließ es auf den Hals der Ente fallen. Simon grinste, Lea schaute etwas entgeistert auf den abgetrennten Kopf, welchen er sofort mit einem Tuch bedeckte, nachdem er das Beil aus der Hand gelegt hatte. Sehr schnell hob er das tote Tier in die Kiste und schloss den Deckel. Als die Geräusche des sich heftig bewegenden, flügelschlagenden Körpers einsetzten, machte auch Simon große Augen.

»Sie lebt noch«, stammelte er.

»Oh Gott«, flüsterte Lea entsetzt.

»Sie lebt nicht mehr. Das sind nur Muskelkontraktionen. Das Gehirn ist tot«, erklärte Kim.

Die Geräusche wollten nicht enden. Er schob die beiden zur Tür hinaus.

»Wenn du sie nicht in die Kiste sperrst, was wäre dann?«, fragte der Sohn.

Kim zögerte mit der Antwort. »Sie würde herumlaufen, vielleicht auch versuchen zu flattern.«

Die Kinder schauten zwischen der Kiste und ihm hin und her.

»Wollt ihr mir später beim Rupfen helfen?«, fragte er.

»Weiß nicht, vielleicht«, sagte Simon mit den Schultern zuckend und lief Richtung Haus, Lea folgte ihm, bei ihr glich es einer Flucht.

Beim gemeinsamen Frühstück erzählten sie ihrer Mutter, dass die furchtbaren Geräusche, welche die kopflose Ente in der Kiste gemacht hatte, wesentlich schlimmer für sie gewesen waren als das Köpfen selbst. Am nächsten Tag weigerten sie sich, vom Entenfleisch zu essen, woraufhin der Jüngste, Jonas, natürlich ebenfalls keines aß. Alles, was seine großen Geschwister taten, machte er nach. Fast ein Jahr lang schlachtete Kim keine Ente. Er kannte die Inkonsequenz seiner Kinder und wartete ab. Als zu Weihnachten Entenbrust serviert wurde, aßen sie sie kommentarlos.

 

Zwei- bis dreimal im Jahr schlachtete er eine Ente oder einen Erpel, vor Weihnachten, vor seinem Geburtstag oder dem Geburtstag seiner Frau und manchmal aus irgendeinem anderen Grund, zum Beispiel, weil Freunde zum Essen eingeladen waren. Er hätte die Tiere auch von jemand anderem schlachten lassen können, dazu hätte er aber das zu tötende Tier entweder transportieren oder einen Fremden an es heranlassen müssen, und das widerstrebte ihm, er wollte es keinem unnötigen Stress aussetzen, bevor es von der einen Welt in die andere hinübertrat. Es sollte nichts spüren, einfach nur aus dem Schlaf nicht mehr erwachen.

Das war auch der Grund gewesen, warum er vor vielen Jahren die Hütte direkt hinter den Teichen gebaut hatte, er wollte das Tier nicht weit tragen müssen, bevor er es betäubte.

Auch wollte er nicht jedes Mal von Neuem eine Schlachtstätte vorbereiten und wegräumen. Den letzten Anstoß zum Bau der Hütte hatte die Entrümpelungsaktion seiner Schwiegermutter Monika gegeben. Als er die alten Möbel, die seine Jugend begleitet hatten und die letzten Jahre oder gar Jahrzehnte auf dem Dachboden gestanden waren, vor dem Haus erblickte, fand er es schade, dass sie beim Sperrmüll landen sollten.

Vor allem um den Küchentisch und das Plastiktischtuch hätte es ihm leidgetan. Der Tisch war das Zentrum des Hauses gewesen, das Wichtigste hatte sich an ihm abgespielt, dort wurde gegessen, wurden Hausaufgaben gemacht, gelernt, gespielt, geredet. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie seltsam er es gefunden hatte, dass kein Mensch jemals den Tisch zu Gesicht bekam, weil er von einem Plastikbezug bis vierzig Zentimeter über den Boden bedeckt war. Wenn man eine kurze Hose trug, spürte man das kalte, klebrige Material an den Knien, es fühlte sich grauenhaft an. Metallene Klammern befestigten alle zwanzig Zentimeter das hellgelbe Tuch, welches linienförmig, immer in der gleichen Reihenfolge, Äpfel, Birnen, Kirschen, Marillen und Zwetschgen zeigte. Keine einzige Obstsorte hatte er gekannt. Auch die Hängeleuchte aus Holz, an dem jeder Antiquitätenhändler seine Freude gehabt hätte, war damals im Wohnzimmer gehangen. Vier geschnitzte Figuren, zwei Männer, zwei Frauen, saßen zwischen den Glühbirnen, ließen die Füße baumeln und schauten streng hinunter. Wo auch immer man im Raum gestanden war, man hatte das Gefühl gehabt, von ihnen beobachtet zu werden. Ihm hatten sie Angst eingejagt, er hatte sich deshalb nie gern im Wohnzimmer aufgehalten.

»Schenkst du mir den Tisch, die Lampe und das Tischtuch?«, fragte er seine Schwiegermutter.

»Wozu brauchst du das alte Zeug?«, fragte Monika.

»Ich werde hinter den Teichen eine kleine Hütte bauen, damit ich in der Gartenhütte nicht immer alles ausräumen muss, bevor ich eine Ente schlachte.«

Innerhalb einer Woche hatte er die kleine Hütte gebaut. Den Küchentisch überzog er mit dem alten, vergilbten Plastiktischtuch, er sollte das Zentrum der Schlachthütte darstellen. Auf ihm sollten seine Tiere ihr Leben aushauchen. Kim wusste im Vorhinein, dass er bei jeder Schlachtung daran denken würde, wie er als Vierzehnjähriger an dem Tisch gesessen war, ihm gegenüber Monika, ihn freundlich anlächelnd, neben ihm die beiden Mädchen, eine ihn neugierig anstarrend, die andere ihm verzweifelte Blicke zuwerfend, weil sie es nicht schaffte, das fremde Essen hinunterzuwürgen.

Kambodscha,
Familie Mey

Ich habe unvorstellbare Dinge getan.

Mit niemandem habe ich je darüber geredet. Nicht einmal mit den Menschen, die ich liebe und die mir nahestehen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie schlecht über mich denken oder gar ein Monster in mir sehen. Ich habe Angst, dass meine Frau und meine Kinder von meiner Vergangenheit erfahren, ich weiß nicht, was ich täte, ich will gar nicht daran denken. Meine Scham ist ohnehin so groß, und die Reue und der Hass auf mich selbst lassen mich in vielen Nächten nicht schlafen. Sie drücken mir die Kehle zu, sodass ich kaum atmen kann. In solchen Nächten muss ich das Haus verlassen und meine Ruhe bei einem Spaziergang wiederfinden.

Wenn jemand nach der Zeit der Roten Khmer fragte, antwortete ich jedes Mal, dass ich das Glück gehabt hatte, nach dem Tod des Vaters auf einer Entenfarm eingesetzt worden zu sein. Alleine – das war mein zweites Glück, betonte ich immer wieder –, keiner war da, der mich bespitzelte. Ich musste die Tiere betreuen, schlachten und in das nahe Arbeitslager bringen, wo sie gebraten wurden, um das Essen der Wachmannschaft aufzubessern. Sie liebten meine Enten, sagte ich abschließend immer, lachte dabei und schämte mich innerlich. Mittlerweile fragt schon lange keiner mehr. Ohnehin hatten nur Kinder gefragt, Erwachsene und ältere Menschen hatten sich von Anfang an davor gehütet, über diese schreckliche Zeit zu reden, sie waren nur darauf bedacht gewesen, ein bisschen Normalität in ihren Alltag zurückkehren zu lassen.

Viele machten das, dass sie einfach schwiegen oder sich eine andere Geschichte zurechtlegten. Was hätten wir auch tun sollen? Irgendwie musste das Leben weitergehen.

Freitag, 17. Juni 2016

Nachdem der Erpel ausgeblutet war, hob ihn Kim aus der Kiste und hängte ihn mit den Beinen an die Leine, die von einer Ecke zur anderen gespannt war, darunter platzierte er die Blechwanne. Er ging zum Teich und holte den zweiten. Ines hatte ihn gebeten, zwei Tiere zu schlachten, man könne ja immer noch einfrieren, hatte sie gemeint. Er vermutete, dass sie zum geplanten Geburtstagsfest am nächsten Tag doch mehr Leute als vereinbart eingeladen hatte.

Am liebsten hätte er das Wochenende einfach übersprungen.

Bereits im Winter hatte es Diskussionen über seinen bevorstehenden fünfzigsten Geburtstag gegeben, Ines hatte sich einfach nicht damit zufriedengeben können, dass er diesen Tag nicht anders feiern wollte als in den Jahren zuvor, nämlich mit einem Abendessen im Kreis der Familie, seine Schwiegermutter Monika und deren Freund Alexander natürlich eingeschlossen. Er wusste, für sie gehörte es zum Aufrechterhalten des Scheins einer guten Ehe, einen runden Geburtstag gemeinsam mit Freunden zu feiern. Sie hatte nicht lockergelassen und auf sechs Gästen, zusätzlich zur Familie, bestanden, nach langem Ringen hatte er sich geschlagen gegeben, immerhin waren die sechs, die sie aufgezählt hatte, Menschen, die er mochte und denen er einiges zu verdanken hatte. Sie hatte geschickt gewählt, das musste er ihr lassen.

Kim machte sich ans Rupfen, Ausnehmen und Abflämmen der Tiere. Er hoffte, um sieben damit fertig zu sein, Ines hatte auf einem Familienfrühstück zu fünft bestanden. Er bezweifelte, dass Simon und Lea rechtzeitig aufstehen würden. Vor zwei Wochen hatte Simon die Matura bestanden und schlief seither jeden Tag bis zum Mittag, Lea war erst gegen ein Uhr nachts von Wien nach Hause gekommen, er hatte ihre Schritte auf der Treppe gehört.

Kim tauchte den ersten Erpel kurz in das heiße, mit etwas Spülmittel versetzte Wasser, setzte sich auf den Stuhl und begann ihn zu rupfen.

Kurz vor sieben war er mit dem Putzen der Schlachthütte fertig und betrat mit den gerupften und ausgenommenen Tieren das Haus. In der Küche stand die Glastür offen, und Kim sah auf der Terrasse zwischen vorwitzigen Amseln eine Ente herumspazieren. Es war Polly, immer wieder verließ sie die Teiche und kam ohne Scheu in die Nähe des Hauses. Kim liebte den Anblick, es ging etwas Friedliches davon aus. Von allen Räumen im Haus mochte er die Küche am meisten, besonders in den frühen Morgenstunden, wenn er sich alleine und ungestört dort aufhalten konnte. Der Frühstückstisch war bereits gedeckt, festlicher als üblich, mit Orangensaft, weich gekochten Eiern, frischen Semmeln, einer Schüssel Obstsalat.

Als er sich im Badezimmer die Hände wusch, kam Lea verschlafen hereingeschlichen und umarmte ihn.

»Happy birthday, Papa«, flüsterte sie an seinem Hals.

Ihre zerzausten Haare kitzelten ihn an Wange und Kinn, ihr Körper fühlte sich sehnig und anschmiegsam zugleich an. Am liebsten hätte er sie nicht mehr losgelassen, sie war die einzige Person, von der er sich gerne umarmen ließ. Viel zu schnell löste sie sich.

»Wie fühlt man sich mit fünfzig?«, fragte sie.

»Nicht anders als mit neunundvierzig.« Er betrachtete sie voller Stolz. Es gab niemanden auf der Welt, den er so sehr liebte wie sie. Jedes Mal, wenn sie ein Wochenende zu Hause verbrachte, schien es, als ginge die Sonne auf.

»Bist du beleidigt, wenn ich nicht zum Frühstück auftauche?«, fragte sie. »Gestern ist es spät geworden, ich möchte noch eine Runde schlafen. Mama soll nicht böse sein.«

»Schlaf dich gut aus«, sagte er lächelnd.

Sie gab ihm einen Kuss und huschte aus dem Badezimmer, in der Tür winkte sie ihm noch einmal zu.

In der Küche gratulierte ihm Ines zum Geburtstag, umarmte und küsste ihn, sie wirkte dabei leicht angespannt. Sie beschwerte sich darüber, dass Lea und Simon noch immer tief und fest schliefen, obwohl vereinbart gewesen war, dass sie an seinem runden Geburtstag gemeinsam frühstückten.

»Lass sie schlafen«, sagte Kim. »Wir essen ja am Abend gemeinsam.«

Die Haustür fiel ins Schloss, und Jonas kam atemlos herein.

»Wo warst du denn schon so früh?«, fragte Ines.

»Nur schnell im Garten etwas nachschauen.«

»Was denn?«, fragte sie weiter.

Jonas machte eine abwehrende Handbewegung, die er sich vermutlich bei seinem älteren Bruder abgeschaut hatte, setzte sich und schmierte sich ein Nutellabrot.

»Junger Mann«, sagte Ines, »könntest du höflicherweise deinem Vater zum Geburtstag gratulieren?«

»Alles Gute, alter Mann«, sagte Jonas und biss in sein Brot.

»Da will heute einer besonders cool sein, hm?«, fragte Ines.

»Jep«, machte Jonas, und zu Kim gewandt sagte er kauend: »Apropos cool, ich habe eine Megaüberraschung für dich, Papa! Du wirst Augen machen. Bist du neugierig?«

Obwohl er es nicht war, gab Kim ein ähnliches Jep wie sein Sohn von sich, und dieser nickte zufrieden.

Kim tippte auf etwas Selbstgebasteltes als Geschenk.

»Nur damit du’s weißt: Es war meine Idee. Auch wenn Lea jetzt so tut, als wäre es ihre gewesen«, sagte Jonas stolz. »Eigentlich wollte ich alles alleine organisieren, aber ich habe ein Auto gebraucht.«

»Muss Lea das Geschenk heute abholen?«, fragte Ines, die im Gegensatz zu ihm offenbar sehr neugierig auf dieses Geschenk war.

»Nein«, sagte Jonas mit vollem Mund, »sie hat es gestern aus Wien mitgebracht und …« Er stockte und wurde rot. Dem Zwölfjährigen fiel es immer noch schwer, Geheimnisse für sich zu behalten.

Ines lachte. »Und wo ist es jetzt? In ihrem Zimmer?«

»Nein«, sagte Jonas verärgert, »wir haben es versteckt, ihr findet es nie. Hört auf, mich zu löchern.«

»Keine Sorge, wir haben nicht vor, danach zu suchen«, beschwichtigte Ines ihn und tätschelte dabei seine Hand.

Kim wusste, dass sie sich würde zurückhalten müssen, nicht in Leas Zimmer nachzusehen, was es denn sein könnte, dieses geheimnisvolle Geschenk, das Jonas seit Wochen beschäftigte und offensichtlich aufwühlte. Sie war irritiert darüber gewesen, dass sie von den Kindern nicht eingeweiht worden war, für gewöhnlich war sie es, die alles lenkte und kontrollierte.

Eine halbe Stunde später brachen Ines und Jonas auf. Jonas lief zur Bushaltestelle, um den Schulbus zu erreichen, er besuchte das Gymnasium in der benachbarten Kleinstadt. Ines fuhr mit dem Rad zur Volksschule, an der sie unterrichtete.

 

Kim zog sich um und stieg gegen acht in sein Auto. Die kühle, sterile Atmosphäre umgab ihn wohlig, und er verspürte Vorfreude auf die Fahrt. Er lenkte das Auto aus der Garage, fuhr die schmale Einfahrtstraße hinunter, durch P. hindurch und weiter bis zur Bundesstraße. Im Gegensatz zu Ines, die es bevorzugte, längere Strecken mit dem Zug zurückzulegen, war er gerne mit dem Auto unterwegs. Er hatte dabei das Gefühl, sich in einem eigenen, kleinen, sehr vertrauten Kosmos zu befinden und damit die Welt beobachtend diese durchschiffen zu können, ohne mit ihr in Kontakt treten zu müssen. Selten hörte er Musik, manchmal legte er ein Hörbuch ein, wobei historische Fachbücher seine Favoriten waren, aber am liebsten hatte er es still um sich. Er konzentrierte sich auf das Fahren, auf die Landschaft und hing seinen Gedanken nach, die sich zumeist um seine Arbeit drehten. Viele Dinge erschienen ihm klarer, nachdem er sie während einer längeren Autofahrt durchgekaut hatte.

Wenn wenig Verkehr war, würde er in zwei Stunden den Bauernhof erreichen, den er bezüglich eines Umbaus besichtigen sollte. Thomas Weiß, sein Büropartner, war bei der Geschäftsanbahnung erfolgreich gewesen, und er sollte nun das Bauprojekt in Augenschein nehmen, um ein Angebot erstellen zu können. Soviel Kim wusste, war auch ein zweites Architekturbüro im Rennen, doch er machte sich darüber keine Sorgen. Nach Thomas’ Einschätzung – »Das ist so gut wie in trockenen Tüchern« – würden sie den Auftrag an Land ziehen, und er vertraute ihm, Thomas hatte ein gutes Gespür für Menschen.

Kim hatte bewusst den Termin dieser Erstbesichtigung auf seinen Geburtstag gelegt, damit beschenkte er sich quasi selbst. Seit einundzwanzig Jahren arbeitete er als Architekt, seit zehn Jahren war er selbstständig, und von Anfang an hatte er das Ausloten eines neuen Projekts und das Kennenlernen eines möglichen neuen Kunden als das Spannendste in seinem Beruf empfunden. Am Anfang war alles machbar. Träume flogen durch die Luft, sprudelten euphorisch aus dem Mund des angehenden Bauherrn. Die Stimmung änderte sich meistens während der Realisierung. Lästige Behördengänge, unvorhergesehene Schwierigkeiten, Konflikte mit der Baufirma, Diskussionen mit den Handwerkern, zittrige Knie angesichts der Kosten zermürbten fast alle über kurz oder lang. Die Stimmung auf der Baustelle hing von den Nerven des Bauherrn ab und, falls diese schwach waren, von Thomas’ Einsatz. Das war sein Job: Kim den Rücken für die Entwürfe – vom Vorentwurf über den Genehmigungsentwurf bis hin zur detaillierten Zeichnung – und Überwachung der Bauausführung freizuhalten. Thomas fungierte als Vermittler, Verkäufer, Marketingfachmann, technischer Zeichner, Sekretär, Buchhalter, Kundenbetreuer, Computerfachmann.

Jahrelang hatten sie in einem großen Architekturbüro in Linz nebeneinanderher gearbeitet, ohne viel Notiz voneinander zu nehmen. Thomas, sechs Jahre jünger als Kim, war Mädchen für alles, da er sein Studium nie abgeschlossen hatte, Kim betreute kleine Projekte wie Einfamilienhäuser und Sanierungen von Altbauten, die von den Chefs als »uninteressant« eingestuft worden waren. All die Aufträge, um die sich niemand riss, da sie kein Prestige einbrachten, bekam er ab. Er war ein mittelmäßiger Student gewesen und fühlte sich nun in seinem Berufsleben ebenso mittelmäßig und unbedeutend, war aber zufrieden damit. Er wollte kein Stararchitekt sein, er war nicht der Typ dafür, er wollte lediglich seine Familie ernähren können, und das konnte er. Er schätzte sich glücklich, sein Studium, das er nur dank Ines’ und Monikas Überzeugungskunst nicht abgebrochen hatte, überhaupt geschafft zu haben. Aufgrund seines Fleißes, seiner Bescheidenheit und der Gabe, selbst mit dem kompliziertesten und knausrigsten Bauherrn gut zurechtzukommen, wurde er im Büro entweder gemocht oder übersehen.

Bei einer Weihnachtsfeier fanden Kim und Thomas heraus, dass sie nicht weit entfernt voneinander wohnten, Thomas wohnte mit Frau und Tochter in einem Nachbarort von P. Von da an fuhren sie ab und zu gemeinsam in die Arbeit.

»Lass uns zusammen etwas aufziehen«, hatte Thomas nach einer Weile vorgeschlagen. »Wir wären ein gutes Team. Du brütest über den Plänen, ich mache Außendienst und alles andere.«

Vier Monate später feierten sie ihr Einstandsfest in einem gemieteten Büro, das sich in einer stillgelegten Mühle in P. befand. Der Besitzer, Arthur Bergmüller, war ein pensionierter Architekt, Kim kannte ihn, er hatte während des Studiums zwei Sommer lang bei ihm gearbeitet. Schon damals hatte ihm die Vorstellung gefallen, in Räumen zu arbeiten, in denen vor Jahrzehnten Getreide gemahlen worden war. Vor der Bergmühle, die ihren Namen der Tatsache verdankte, dass sie am Fuße eines bewaldeten Berghangs stand, floss ein Bach, der früher das Mühlenrad betrieben hatte, nun bot der Baum- und Strauchbewuchs am Ufer schattige Plätzchen für heiße Tage, oft war er hier mit Arthur gesessen und hatte über die Sinnhaftigkeit bestimmter Studienfächer diskutiert.

Thomas und Kim richteten das Büro neu ein. Im Mai 2006 starteten sie in die Selbstständigkeit. Diesen Schritt hatte sich Kim schwieriger vorgestellt, doch von Anfang an lief die kleine Firma gut, die Konkurrenz auf dem Land war nicht so groß wie in der Stadt. Sie spezialisierten sich zunächst auf Einfamilienhäuser, Generalsanierung von Altbauten, vor allem Bauernhöfe, und machten sich so einen Namen, später folgten größere Projekte wie Kindergärten, Gasthöfe, Freizeitanlagen. Auch die Zusammenarbeit mit Thomas funktionierte entgegen Kims anfänglichen Bedenken einwandfrei, Thomas war ein ganz anderer Mensch als er, offen, extrovertiert, überschwänglich. Jeder hatte, neben einer kleinen Küche und dem großen Atelier mit dem Besprechungstisch, sein eigenes helles, geräumiges Büro, seines war nach vorne ausgerichtet, er sah den Bach, wenn er aus den Fenstern schaute. Kim hielt sich gerne im Büro auf.

 

Er hatte mehr erreicht, als er jemals zu träumen gewagt hatte. Er übte seinen Traumberuf aus, war sein eigener Chef, lebte ein erfülltes Familienleben, hatte drei gesunde Kinder, besaß ein schönes, geräumiges Haus, das er selbst geplant hatte, und seit Kurzem eine Wohnung in Wien, in der seine Tochter wohnte. Ihm war bewusst, dass ihm diese materiellen Dinge – sie gaben ihm eine gewisse Sicherheit – wichtig waren.

Und doch sehnte er sich nach dem berauschenden Hochgefühl, das er früher, vor zwanzig, fünfzehn, auch noch vor zehn Jahren während längerer Autofahrten verspürt hatte, als alles neu und aufregend gewesen war, die Arbeit, die Firma, als sich alles im Aufbau befunden hatte, die Kinder klein gewesen waren, ständig im und um das Haus herum etwas zu richten gewesen war. Es wollte sich nicht einstellen, obwohl er sich sagte – sogar laut –, dass alles gut war, wie es war. Das tat er in letzter Zeit öfter: sich laut vorsagen, dass alles gut war.

Das Hochgefühl wollte sich auch nicht einstellen, als er aus dem Auto stieg, obwohl ihm das, was er sah, auf den ersten Blick ausnehmend gut gefiel: ein alter Bauernhof, dahinter Wiesen, Wälder, Berge, und am Horizont das Gebirge, beeindruckend in klarer Schärfe zu sehen. Auch den jungen Besitzer fand er äußerst sympathisch, dieser schritt mit ihm das Grundstück ab und erzählte vom geplanten Projekt. Die Vermessungen gingen zügig vor sich, drei Stunden später stieg er ins Auto und trat bei strahlendem Sonnenschein den Rückweg an, am Nachmittag parkte er vor seinem Büro, und Arthur Bergmüller, der gerade dabei war, den Rasen vor dem Haus zu mähen, winkte ihm freundlich zu.

»Das war ein perfekter Arbeitstag«, sagte Kim zu sich selbst, als er nach zwei Stunden wieder ins Auto stieg, um nach Hause zu fahren. »Und jetzt freue ich mich auf das Abendessen mit meiner Familie.«

Kambodscha,
Siebzigerjahre, Familie Mey

Im Februar 1979 sah ich im Flüchtlingslager in Thailand einen Mann wieder, der wie ich ein Roter Khmer gewesen war, wir hatten in derselben Gruppe gedient. Sein Name war Son. Ich war ihm tagelang durch den Dschungel bis nach Thailand gefolgt.

Im Büro, in dem man Anträge auf ein Visum für Australien, Neuseeland, für die USA und für manche europäischen Länder stellen konnte, stand er nur wenige Meter entfernt mit dem Rücken zu mir. Ich war neugierig auf die Geschichte, die er der Frau, welche die Anträge austeilte, erzählen würde, denn auch ich hatte in den letzten Tagen an meiner Geschichte gefeilt. Er nannte seine Hüttennummer im Lager, Name und Alter und berichtete kurz: »Ich war der Sohn eines Lehrers, meine Eltern und Geschwister wurden von den Roten Khmer ermordet, ich habe die letzten vier Jahre in einer Kommune in der Nähe der Stadt Pursat auf Reisfeldern gearbeitet.«

Ich wusste, dass nichts von dem, was er sagte, der Wahrheit entsprach, er war keine zwanzig Jahre alt, sondern drei Jahre älter, noch hatte er je auf einem Reisfeld gearbeitet, er war wie ich neben dem Reisfeld gestanden und hatte mit dem Gewehr in der Hand darauf geachtet, dass die Leute wie Tiere in der prallen Sonne arbeiteten, fortwährend gebückt, ohne jede Pause. Wenn er jemanden dabei erwischte, wie er Reiskörner in seiner Kleidung verschwinden ließ, lag es an ihm, wie er mit ihm verfuhr, es gab kein Gericht, welches Recht von Unrecht unterschied, es gab einzig und allein seine Willkür. Er konnte gnädig sein und ihn mit einer geringen Strafe – einigen oder auch mehreren Schlägen – davonkommen lassen, doch wenn er ein paarmal hintereinander gnädig war, machte ihn das selbst verdächtig.

Abgesehen davon war Son aus Prinzip nicht gern gnädig, er hatte Lust am Quälen, und er tötete gern. Er ließ die Menschen niederknien, den Kopf beugen und zertrümmerte mit der Hinterseite der Axt ihre Schädel. Niederknien bedeutete, sterben zu müssen. Von der obersten Führungsschicht war strikt verboten worden, Munition für Hinrichtungen zu verschwenden. Diesen Befehl hatte Son in den ersten Wochen des Regimes von seinem Vorgesetzten auf demütigende Art und Weise eingebläut bekommen. Daraufhin spezialisierte er sich auf das Töten mit der Axt, sein Talent bestand darin, mit nur einem einzigen Schlag die richtige Stelle zu treffen. Der Kniende starb, ohne leiden zu müssen. Damit gab Son stets an: Bei mir muss keiner leiden! Andere mussten oft ein zweites Mal ausholen, und nicht selten passierte es, dass ich Menschen in die Grube hinunterstieß – das war meine Aufgabe –, die noch nicht tot waren und die mich von unten herauf verfluchten. Er bekam den Namen »Genosse Axtkünstler« verpasst.

Auch ich hatte einen Spitznamen, das war so üblich unter den Kameraden, denn alles, was an unser altes Leben erinnerte, an das Leben vor den Roten Khmer, war verpönt. In den ersten Jahren verpasste man mir scherzhalber den Namen »Genosse Oktopus«, da ich wie mein Vater hervorragenden gegrillten Oktopus zubereiten konnte, im letzten Jahr nannte man mich hinter vorgehaltener Hand »Genosse Schlächter«, da ich die Tötungsbefehle lieber mit dem Fischmesser meines Vaters als mit der Axt ausgeführt hatte, denn die Axt war ein plumpes Werkzeug.

Als sich Son in jenem Büro umdrehte, erblickte er mich und wirkte zunächst fassungslos, dann schlug er beschämt die Augen nieder. Und noch etwas erkannte ich in seinem Gesicht: Er hatte Angst. Wir sprachen kein Wort miteinander. Er ging zu dem Tisch, an dem er den Antrag auszufüllen hatte, und setzte sich schwerfällig auf den Stuhl. In seinen Händen, die so geschickt die Axt geschwungen hatten, hielt er zitternd den Stift und das Blatt Papier. Ich wusste, dass er nicht schreiben konnte. Fluchtartig verließ ich das Büro, ich hatte keine Zeit zu verlieren.

Ich stattete seiner Hütte einen Besuch ab und kramte in seinen wenigen Habseligkeiten herum. Ich brauchte nicht lange, um zu finden, was ich gesucht hatte. In einem Kleiderbündel hatte er das Messer meines Vaters versteckt, ich nahm es an mich. Als ich Schritte hörte, versteckte ich mich hinter der Tür. Sie wurde aufgerissen, ich wartete, bis Son eingetreten war und die Tür wieder geschlossen hatte, er stand vor mir und schaute mich überrascht an. Ich trat vor ihn hin und schnitt ihm die Kehle durch. Ich setzte den Schnitt nicht allzu tief an, sodass er langsam verbluten musste. Ich schaute ihm die ganze Zeit in die Augen, während er auf den Boden sank und nach Luft röchelte.

»Das ist für meine Familie und die des Franzosen«, sagte ich.

Als es zu Ende war, verließ ich die Hütte, das Messer versteckte ich unter meinem Hemd. Später warf ich es in den Fluss.

Son war der erste und einzige Mensch, den ich getötet hatte, ohne dass es mir befohlen worden war.

Freitag, 17. Juni 2016

Es war also Tevi, welche die Kinder eingeladen hatten. Sie war die große Überraschung. Darauf wäre Ines nie gekommen.

Einen kurzen Augenblick lang war sie sprachlos, als die ehemalige Freundin auf der Terrasse auftauchte, neben ihr der übers ganze Gesicht strahlende Jonas, hinter ihr Lea, Simon und ihre Mutter, die eine Erdbeertorte trug. Sie zwang sich, nach außen hin ruhig zu bleiben, und es gelang ihr, schnell hatte sie sich wieder unter Kontrolle, ihre Fassungslosigkeit hatte nur wenige Sekunden gedauert.

Ines streckte die Hände nach Tevi aus. »Tevi!«, rief sie. »Ich glaube es einfach nicht!«

Sie hielten sich an den Händen fest und strahlten einander an.

»Ich freue mich so, dich zu sehen«, sagte Tevi mit starkem amerikanischen Akzent. Sie war es, die zuerst die Hände losließ, um Ines heftig an sich zu drücken.

Jonas, der in die Küche gelaufen war, zog seinen Vater gerade in dem Moment an der Hand auf die Terrasse, als die zwei Frauen sich fest umarmt hielten. Ines, der Terrassentür zugewandt, hatte ihren Mann im Blickfeld, in seinem Gesicht entdeckte sie zunächst nur Verwunderung. Sie war sich sicher, dass Kim die Frau, deren Rücken und Haare er sah, nicht sofort wiedererkannte. Als ihm bewusst wurde, dass es Tevi sein musste, da sie den Kopf etwas zur Seite neigte, stand er da wie angewurzelt. Ines sah in den Augen ihres Sohnes Triumph, in den Augen ihres Mannes bestürzte Hilflosigkeit, und beides rührte sie so sehr, dass auch ihr die Tränen kamen.

Sie sehnte sich danach, das Wochenende überspringen zu können.

Tevi löste sich von Ines und drehte sich langsam um. Monika, Lea und Simon hatten die mitgebrachten Sachen auf den gedeckten Tisch gestellt und blickten erwartungsvoll auf Kim. Jonas griff nach seinem Oberarm und sagte aufgeregt: »Das ist mein Geschenk. Es war meine Idee, Tevi Gardiner einzuladen. Freust du dich, Papa? Freust du dich?«

Kim nickte mechanisch. Er machte einen Schritt auf Tevi zu, sagte: »Meine Güte, wie lang ist es her?«, wollte ihre Hand ergreifen, schien es sich anders zu überlegen und umarmte sie schließlich steif. Ebenso steif erwiderte sie die Umarmung. Nachdem er sich gelöst hatte, sagte er zu Jonas: »Die Überraschung ist dir wirklich gelungen. Das ist, ja, unglaublich ist das.«

 

Monika übernahm die Führung, wofür Ines ihr dankbar war. Sie forderte alle auf, sich zu setzen, schenkte jedem Wein ein, sogar Jonas bekam ein Schlückchen, sprach einen kurzen, liebevollen Toast aus, worauf sich alle zuprosteten, und erzählte unbeirrt und freundlich, während sie die Steaks auf den Grill legte, wie Jonas sie vor wenigen Wochen in das Geheimnis eingeweiht hatte, dass Lea Tevi vom Flughafen in Wien abgeholt und spät in der Nacht mit ihr in P. angekommen war.

Ines saß Tevi gegenüber und betrachtete sie verstohlen. Sie war unbestritten eine Schönheit, nicht älter als vierzig wirkte sie, das glatte und faltenfreie Gesicht konnte nur das Ergebnis von Botoxbehandlungen sein. Die schwarze Bluse, die helle, elegante Hose, die Kreolen, das Armband sahen teuer aus. Ines kam sich fast schäbig vor in ihrem olivgrünen Cordrock und der ärmellosen, cremefarbenen Bluse, die ihre Haut sicher teigig und ihre Oberarme schwabbelig aussehen ließ. Wenn sie gewusst hätte, dass ein Gast erwartet wurde, hätte sie etwas anderes angezogen. Sie war auf ein Abendessen im Familienkreis eingestellt gewesen, das Geburtstagsfest fand erst am nächsten Tag statt, man hatte sich für den Samstagabend entschieden. Lea trug ein elegantes, grünes Sommerkleid, welches Ines noch nie an ihr gesehen hatte, sie hatte die Haare aufgesteckt und war geschminkt. Fast spürte sie Verärgerung über ihre Tochter in sich hochkriechen. Hätte diese ihr nicht fairerweise einen kleinen Hinweis geben können?

»Hey, Mama, heute Abend musst du dich wirklich schick machen«, hätte sie augenzwinkernd sagen können, aber nein, man ließ sie ins offene Messer laufen.

Dass etwas im Busch war, hatte sie schon vor Wochen mitbekommen, doch sie hatte auf einen umgetexteten Song oder ein Gedicht oder ein kleines Theaterstück gehofft. Im letzten Sommer hatten auf der Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin deren Kinder ein selbst geschriebenes Stück aufgeführt, das so humorvoll und gleichzeitig rührend gewesen war, dass ihr die Tränen gekommen waren. In den Semesterferien hatte sie ihren Kindern gegenüber eine Andeutung gemacht: »Euer Papa wird am 17. Juni fünfzig, und wir überraschen ihn mit einem kleinen Fest, und ich wünsche mir – ich verlange von euch, dass ihr euren Beitrag dazu leistet. Lasst euch etwas Nettes einfallen, zum Beispiel ein Lied, ein Gedicht oder einen Sketch.« Simon hatte augenrollend das Gesicht verzogen, Leas Kommentar hatte gelautet: »Come on, Mama, Papa hat sicher keine Lust auf eine Überraschungsparty, du kennst ihn ja«, nur ihr Nesthäkchen Jonas hatte motiviert und fröhlich gesagt: »Ich überleg mir etwas.«

Als Lea in den Osterferien zu Besuch war, zog Jonas sie am ersten Abend in sein Zimmer, wenige Minuten darauf holte Lea auch Simon in das Zimmer des kleinen Bruders, wo sie bis spät in die Nacht hinein beisammensaßen und diskutierten. Am darauffolgenden Tag verkündete Jonas: »Wir haben das perfekte Geburtstagsgeschenk für Papa, und für dich wird es auch eine Überraschung!«

Ines schöpfte Hoffnung, sie vertraute auf Jonas’ Talent, andere, in diesem Fall seine älteren Geschwister, die ihm ohnehin kaum etwas abschlagen konnten, mitreißen zu können. Obendrein stand er gerne auf der Bühne, besuchte einen Theaterkurs in der Schule. Ines war stolz auf ihre drei Kinder, präsentierte sie gerne und hatte im Geiste bereits die Partygäste angesichts der Aufführung dahinschmelzen sehen.

Sie musste sich nun eingestehen, dass sie von dieser Überraschung enttäuscht war, und schenkte sich ein zweites Glas Rotwein ein. Der Wein zeigte seine Wirkung, allmählich legte sich ihre Aufgewühltheit, und sie wurde ruhiger. Sie musste sich auf die neue Situation einstellen. Lange wird sie ja nicht bleiben, dachte sie, vermutlich übers Wochenende, und eigentlich bin ich neugierig, wie ihr Leben verlaufen ist. Tevi trug einen Ehering, sie war also verheiratet. Hatte sie Kinder? Was machte sie beruflich?

Im Augenblick war Jonas der Star am Tisch. Er erzählte ausführlich, wie er Tevis E-Mail-Adresse ausfindig gemacht hatte.

»Eigentlich war es gar nicht so schwierig. Ich habe bei Google nur ›Kambodscha‹ und ›Tevi‹ eingegeben, und schon hat es einiges ausgespuckt, aber nur Sachen von früher. Dass sie mit diesem Fotografen Jake Edwards zusammengearbeitet hat. Dem schreibe ich auf Englisch, ob er mir die E-Mail-Adresse weiterleiten kann, aber er antwortet nicht. Ich schreibe also nach zwei Wochen noch einmal eine längere E-Mail – ich sag’s euch, Leute, Gott sei Dank gibt es den Google-Übersetzer! –, erkläre ihm, wer ich bin und wozu ich die E-Mail-Adresse brauche. Und er antwortet sofort. Ich schreibe also Tevi«, er grinst sie an, sie lächelt zurück, »eine E-Mail, dass ich sie zum Geburtstagsfest meines Papas einladen will, und sie schreibt so etwas Ähnliches zurück wie: Wer zum Teufel bist du?«

Alle lachen.

»So habe ich das nicht formuliert«, sagte Tevi.

»Ich erkläre das Ganze wieder, und sie sagt zu!«, erzählte Jonas weiter. »Erst danach habe ich es Lea und Simon erzählt.«

»Ich war ziemlich beeindruckt von deiner guten Idee, kleiner Bruder«, sagte Lea, beugte sich zu ihm und drückte ihm einen Schmatz auf die Wange, er verzog das Gesicht.

»Und ich war ziemlich überrascht von der E-Mail«, sagte Tevi, »ich stehe gerade im Starbucks, und während ich warte, checke ich am Handy meine Mails. Da finde ich eine Nachricht von einem Jonas vor, ohne irgendeinen Nachnamen, und fühle mich ein bisschen veräppelt, auch weil die E-Mail-Adresse auf jonasmachtfaxen lautet.«

Wieder lachen alle.

»Du hast immer noch diese blöde Adresse?«, fragte Ines, Jonas zuckte lässig mit den Schultern.

»In der zweiten E-Mail habe ich erfahren, dass er euer Sohn ist«, sagte Tevi, »und da musste ich zusagen. Ich war neugierig auf euch und eure Kinder. Dass ihr geheiratet habt, habe ich noch mitbekommen, weil Monika nach der Hochzeit eine Anzeige mit Fotos an Tante Marie geschickt hat, aber dass ihr Kinder habt, wusste ich nicht. Außerdem verbinde ich das Ganze mit einem Besuch bei einer guten Freundin in Berlin.«

 

Die Steaks waren fertig, Monika brachte sie an den Tisch, und sie begannen zu essen.

»Und du arbeitest also tatsächlich als Architekt«, sagte Tevi zu Kim. »Ich hätte nie gedacht, dass du dein Studium zu Ende bringst. Gratuliere zu deiner Konsequenz, ich habe sie nicht aufgebracht.«

Mit einem anerkennenden Blick zum Haus fuhr sie fort: »Lea hat mir heute Vormittag erzählt, dass du alles selbst geplant hast. Es ist wunderbar hier, auch der Garten mit den Teichen, ihr wohnt wirklich sehr schön. Idyllisch – und fast beneidenswert.«

»Lea und ich haben Tevi heute Vormittag alles gezeigt«, erklärte Monika.

Die Vorstellung, dass die ehemalige Freundin ohne sie durch ihr Haus spaziert, vermutlich sogar in ihrem Schlafzimmer gestanden war, widerstrebte Ines plötzlich.

Tevi war ein angenehmer und aufmerksamer Gast. Sie zeigte sich interessiert an Kims Beruf, fragte, wann er sich selbstständig gemacht habe und mit wem, welche Projekte er bisher realisiert habe, welche davon seine Favoriten gewesen waren. Auch über seine Enten fragte sie ihn aus, wie viele er habe und ob es schwierig sei, die zwei Teiche sauber zu halten. Kim stand Rede und Antwort und schien etwas aufzutauen, Ines atmete auf.

Anschließend wandte sich Tevi ihr zu, und sie unterhielten sich über ihre Arbeit in der Schule.

»Du wolltest damals schon Lehrerin werden«, sagte Tevi.

»Nein, das stimmt nicht!«, lachte Ines. »Mit zehn wollte ich Schauspielerin werden.«

»Aber ein Jahr später hast du gesagt: Ich werde Volksschullehrerin«, sagte Tevi.

»Mama wird bald Direktorin«, sagte Jonas stolz.

»Gratulation«, sagte Tevi lächelnd.

Ines merkte, dass sie einen Schwips hatte, und schenkte sich Wasser ein. Sie konnte sich keinen verkaterten Tag leisten, da sie noch einiges für das Fest vorbereiten musste. Mittlerweile waren sie beim Dessert angelangt, Kim schnitt die Erdbeertorte an, während alle »Happy Birthday« sangen, und verteilte die Stücke auf die Teller.

Weil Kim es nicht tat – worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte – und es ihr unhöflich vorgekommen wäre, es nicht zu tun, und weil sie neugierig war, fragte schließlich Ines nach Tevis Leben.