Das Spiel des Barden

Kevin Hearne

Das Spiel
des Barden

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Urban Hofstetter

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Kevin Hearne

Kevin Hearne, geboren 1970, lebt in Arizona und unterrichtet Englisch an der High School. »Die Chronik des Eisernen Druiden« machte ihn unter Fantasylesern mit einem Schlag weit über die USA hinaus bekannt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »A Plague of Giants. Book One of The Seven Kennings« bei Orbit

 

© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

Copyright © 2017 by Kevin Hearne

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Hannah Brosch

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Coverabbildung: shutterstock.com / genemollica.com

Illustrationen: Yvonne Gilbert

ISBN 978-3-426-45179-3

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Kimberly,

die Erste, die fand, dass der raelische Barde einige gute Geschichten zu erzählen hätte.

Wie immer danke für deine Liebe und Unterstützung.

Dramatis Personae

Erster Tag

Der Barde beginnt

Wenn wir eine Stimme hören, die uns berührt, die uns im einen Moment die Tränen in die Augen treibt und schon im nächsten so weit hat, dass wir uns vor Lachen die Bäuche halten, dann lässt sich ihre Kraft nur schwer beschreiben. Wir wissen bloß, dass wir ihren Klang mögen und ihr weiter lauschen wollen. Wenn wir dagegen eine Stimme hören, die wir abscheulich finden, können wir normalerweise mühelos sagen, was uns an ihr stört – ob wir sie zu nasal finden, zu weinerlich, zu schrill vor Zorn oder zu triefend vor Melancholie.

Die Stimme des Barden war von der schwer zu beschreibenden Sorte.

Er stellte sich auf die Festungsmauer, die die Halbinsel umgab, wo ein Meer aus Flüchtlingen um unzählige Zelte herumwogte, und hob die Hände, als wollte er alle umarmen, die der Krieg hier angespült hatte. Als er zu sprechen begann, drehte er sich leicht zur Seite, um auch die Bewohner der Stadt in seinen Vortrag mit einzubeziehen. »Ihr guten Leute von Pelemyn, ich bin Fintan, Barde der Dichtergöttin Kaelin.«

Zu allen Seiten hoben sich die Blicke und blieben an seiner Gestalt hängen. Währenddessen reckten die Menschen in den weiter entfernten Winkeln der Stadt die Hälse, um seine körperlose Stimme besser verstehen zu können. Überall verstummten die Gespräche, und ein Zauber schien zu wirken: Wer immer sein strahlendes Gesicht erblickte, fühlte sich ihm verbunden und geriet in freudige Stimmung. Der Krug, den ich in der Hand hatte, enthielt wässriges Bier aus einem namenlosen Fass, aber auf einmal schmeckte es wie das legendäre spritzige Gebräu aus Forn. Die Wohlgerüche frischer Speisen wehten noch duftender im Wind, während sich die weniger angenehmen Aromen von ungewaschenen Körpern und stinkendem Abfall verzogen.

»Geschichten zu erzählen ist meine Lebensaufgabe«, fuhr der Barde fort. Das Lächeln, das gerade noch aus seiner Stimme geklungen hatte, war nun einem ernsten Tonfall gewichen. »Und kein anderer kann euch berichten, was ich gesehen habe. Dieser große Krieg unserer Zeit ist in der Tat fürchterlich verlaufen, und ich bin immer noch erschüttert von seinen Schrecken. Wie oft wache ich nachts schweißgebadet auf und … Nun, das muss ich euch wohl nicht erzählen.«

Nein, das musste er nicht. Die meisten auf dem Feld der Überlebenden trugen immer noch dieselben Kleidungsstücke, in denen sie aus der Heimat geflohen waren. Inzwischen waren sie allesamt dreckig und zerschlissen. Die Leute hatten dunkle Ringe unter den Augen, die von Schlafmangel, verlorenen Angehörigen … kurz und gut, von Verlust zeugten.

»Aber ebenso bewegt bin ich von dem unerwarteten Heldenmut der Leute überall. Denn ihr müsst wissen, ich komme von der anderen Seite des Kontinents, von der Westfront, wo ich an der großen Schlacht unter den Götterzähnen teilgenommen habe.« Seinen Worten folgte vielstimmiges Rufen, das, wie ich staunend bemerkte, sowohl in den Straßen der Stadt erklang als auch weit draußen auf der Halbinsel. Der Barde sprach nur so laut, als brächte er bei einer größeren Abendgesellschaft einen Trinkspruch aus. Doch jedermann schien ihn problemlos hören zu können.

»Ja, all das habe ich erlebt – und noch einiges mehr. Ich kann euch schildern, was im Granittunnel geschehen ist …« Erneuter Jubel. »Und ich kann euch von einem friedliebenden Bürger aus Kauria berichten. Auf Geheiß von Mistral Kira – möge sie noch lange regieren – hatte er in diesem Krieg eine geheime Rolle zu spielen. Vielleicht hat er sogar eine Möglichkeit gefunden, ihn zu beenden. Deswegen bin ich jetzt hier.« Dafür erntete er das bislang lauteste Gebrüll, und er nickte zum Feld der Überlebenden hinüber, um ihnen zu versichern, dass er die Wahrheit sagte. »Freunde, der Pelenaut hat mir gestattet, euch mitzuteilen, dass sich in diesem Moment eine Flotte aus Kauria auf dem Weg hierher befindet. Unterwegs werden sich ihr noch zwei weitere verbündete Armeen anschließen, die über die Berge zu uns marschieren – eine aus Rael und eine aus Forn. Gemeinsam mit euren eigenen Streitkräften werden sie über das Meer segeln und dem Feind angemessen vergelten, was er uns angetan hat!«

Daraufhin schrien die Versammelten ihre Gefühle so laut heraus, dass sie sogar das mächtige Kenning des Barden übertönten. Zuerst war es Zorn, der sich jedoch nicht gegen ihn, sondern gegen weit entfernte Küsten richtete. Diese zahllosen Menschen hatten fast alles verloren und sehnten sich nun nach ausgleichender Gerechtigkeit. Ein paar Augenblicke später brachen sie jedoch in Jubel aus, weil sie zum ersten Mal seit Monaten wieder Hoffnung schöpften. Die Leute fielen einander in die Arme und tanzten im Schlamm herum. Mit tränenüberströmten Gesichtern reckten sie die Fäuste gen Himmel. Das waren endlich mal wieder gute Neuigkeiten, anstelle der andauernden Schreckensmeldungen.

Auch ich war nicht immun gegen diese Gefühle. Ein paar Minuten lang ließ ich den Barden aus den Augen, während ich das Feld der Überlebenden betrachtete und dann den Blick auf die andere Seite der Mauer wandern ließ, wo sich in den Straßen der Stadt die gleichen Freudenszenen abspielten.

Die Menschen stürmten aus den Gebäuden, um sich zu umarmen, und genossen es, lächelnde Gesichter zu sehen anstatt immer nur vor Wut und Trauer gebleckte Zähne. Mein eigenes Haus konnte ich von der Stadtmauer aus zwar nicht erkennen, aber ich stellte mir das Grinsen vor, das in diesem Moment auf Elyneas Gesicht liegen musste, und bedauerte, es zu verpassen. Seit sie mit ihren Kindern zu mir gezogen war, hatte ich sie nur bedrückt erlebt.

Als der Barde erneut die Stimme erhob und den Freudenlärm der Menschen übertönte, stand er nicht mehr halb verborgen hinter den Zinnen auf der Mauer, sondern auf einer improvisierten Bühne, die ein paar Matrosen rasch aus Kisten zusammengezimmert hatten. »Aber rechnet nicht schon morgen mit unserer Befreiung und dem Sieg über unsere Feinde, und auch übermorgen wird es noch nicht so weit sein. Es wird eine Weile dauern, bis unsere Verbündeten hier eintreffen, und noch etwas länger, bis die Fahrt über das Meer beginnen kann. Bis zu sechzig Tage, hat man mir gesagt. In der Zwischenzeit wünscht der Pelenaut in seiner Weisheit, dass ihr erfahrt, was andernorts geschehen ist. Denn es ist zweifelhaft, dass ihr bislang mehr als nur Gerüchte gehört habt. Er hat mich gebeten, euch mitzuteilen, was ich weiß, und er selbst hört auch zu. So stehe ich jetzt in euren Diensten. Ich werde euch die Geschichte auf die althergebrachte Weise erzählen und jeden Nachmittag bis Sonnenuntergang vor euch auftreten. Ich hoffe, die kleinen Siege, die wir allen Widrigkeiten zum Trotz erringen konnten, werden euch ebenso ermutigen, wie sie mich ermutigt haben. Denn sie sind der Grund, warum wir heute noch hier sind und warum wir auch morgen noch da sein werden. Und wenn es den Göttern gefällt, werden wir diese Geschichten noch an viele nachfolgende Generationen weitergeben können.«

An dieser Stelle musste der Barde erneut innehalten und abwarten, bis der tosende Applaus der Menge verklang. Währenddessen stieg eine junge Frau auf die Kistenbühne und hielt ihm einen riesigen Krug hin. Dabei sagte sie ihm ein paar Worte ins Ohr, doch ihre Stimme trug nicht so weit wie die des Barden. Fintan nickte ihr dankbar zu, ehe er wieder zu sprechen begann.

»Anscheinend wird Brynlön seinem Ruf, gastfreundlich zu sein, vollauf gerecht! Meister Yöndyr, der Eigentümer und Braumeister eines hiesigen Gasthauses namens Sirenengesang, überlässt mir einen Krug voll Nebelmaid-Bier – sicherlich aus rein medizinischen Gründen. Außerdem gewährt er mir für die Dauer meines Aufenthalts Unterkunft! Ich danke Euch, mein Herr!«

Aus der Menge ertönten Beifallsrufe für Yöndyrs hervorragenden Einfall, und ich konnte mir vorstellen, dass sich andere Gastwirte derweil Vorwürfe machten, weil sie nicht selbst darauf gekommen waren. Das Gasthaus mit dem Namen Sirenengesang war gerade auf die bestmögliche Weise beworben worden.

Lächelnd ergriff Fintan die Gelegenheit und trank einen Schluck. Anschließend wischte er sich den Schaum von der Oberlippe. Dann reichte er der Frau den Krug zurück, nahm eine düster-dramatische Pose ein und sagte: »Hört mir zu.«

Zu beiden Seiten der Stadtmauer standen, soweit ich sehen konnte, alle in gespannter Erwartung da, und viele grinsten aufgeregt. Zwar hatte Fintan uns nur weitere Einzelheiten über einen Krieg versprochen, von dem wir ohnehin schon viel zu viel wussten. Aber das machte nichts, weil wir alle wie Kinder waren, die darauf warteten, dass man ihnen eine Geschichte erzählte. Und jetzt durften wir sogar hoffen, dass sie gut ausgehen würde.

»Wie alle Geschichten, die es wert sind, gehört zu werden, erzähle ich auch diese von Anfang an. Doch es ist euer Anfang, nicht der von Kauria oder Forn oder von irgendeinem anderen Ort. Zu denen kommen wir später noch. Zuallererst werden wir uns mit eurer Tidenhüterin beschäftigen, denn ihr allein haben wir es zu verdanken, dass diese Stadt noch steht! Also, meine lieben Freunde, wo immer ihr seid, füllt eure Becher und geht zum Abort. Nehmt euch die Zeit und tut alles, was nötig ist, damit ihr meiner Geschichte in ein paar Minuten eure volle Aufmerksamkeit schenken könnt. Wenn ihr zu weit von der Mauer entfernt seid, dann rückt ein Stück näher, damit ihr mich besser seht! Und wenn ihr Durst habt, dann seid versichert, dass nichts ihn so gut löschen wird wie Yöndyrs Nebelmaid-Bier! Ich beginne in Kürze!«

Ein unterhaltsamer Nachmittag, bei dem eine von uns als Heldin präsentiert werden würde? Und dazu noch etwas zu essen und Bier? Wir konnten kaum erwarten, dass es losging! Alle setzten sich gleichzeitig in Bewegung und begannen, sich auszutauschen. Diesseits und jenseits der Stadtmauer waren sämtliche anderen Erledigungen vergessen. Stattdessen kam es zu einem regelrechten Ansturm auf Speisen und Getränke. Meister Yöndyr war zweifellos entzückt.

 

»Lasst uns anfangen«, sagte Fintan ein paar Minuten später. Seine Stimme erfüllte mühelos die Stadt und die gesamte Halbinsel. »Ich möchte jemand ganz Besonderen zu mir auf die Bühne bitten, Pelemyns Tidenhüterin, Tallynd du Böll. Tallynd, kommt bitte hoch zu mir.«

Unter donnerndem Applaus stieg eine Frau in Militäruniform zu Fintan auf die improvisierte Bühne. Dabei schonte sie merklich das linke Bein. Sie trug Abzeichen, die ich noch nie gesehen hatte. Zuerst dachte ich, sie hätten mit ihrer Segnung zu tun, später fand ich jedoch heraus, dass sie für einen neu eingeführten militärischen Rang standen. Tallynd hatte freundliche Augen, ein zurückhaltendes Lächeln und kurz geschorene Haare, die an den Schläfen zu ergrauen begannen.

Während sie den Flüchtlingen auf dem Feld der Überlebenden zuwinkte, sagte Fintan: »Sprecht ein paar Worte. Ich sorge dafür, dass sie Euch hören können.«

»Oh. Also dann … Hallo?« Dank Fintans Kenning war sie noch in drei Meilen Entfernung zu verstehen und erntete erneut Beifall. »So was! Na gut. Nur damit ihr’s wisst: Ich habe Fintan zur Vorbereitung mein Dienstbuch zu lesen gegeben und ihm alles erzählt, woran ich mich erinnere. Ich bin sicher, dass er das alles viel besser in Worte fasst, als ich es je könnte. Aber das Wichtigste ist: Es ist alles wahr, und ich bin froh, dass er es euch berichten wird. Die Geschichte verlief nicht ganz so, wie ihr glaubt. Und ihr solltet die Wahrheit kennen.«

Während sie sprach, zog Fintan aus einem Beutel an seinem Gürtel einen Gegenstand, der wie ein kleines schwarzes Ei aussah. Er hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe und warf ihn dann zu Boden, worauf eine schwarze Rauchsäule aufstieg und seinen Körper vollständig einhüllte. Als seine Gestalt kurz danach wieder zum Vorschein kam, war er mit der Uniform und auch in allem anderen das exakte Ebenbild von Tallynd du Böll. Bei der Verwandlung war er sogar um ein paar Zoll gewachsen.

Fintan war ein relativ kleiner, dunkelhäutiger Mann – wenn auch nicht so dunkel wie wir Brynter – mit einem schmalen Gesicht, einer auffällig großen Nase und vollen Lippen. Daher war es ein ziemlicher Schock, als er sich vor aller Augen in die hoch angesehene Retterin unserer Stadt verwandelt hatte. »Ich danke Euch, Tidenhüterin«, sagte er zu ihr, mit ihrer eigenen Stimme.

Tallynd du Böll rang wie alle anderen nach Luft. »Da ertränk mich doch einer«, brachte sie schließlich heraus. »Sehe ich wirklich so aus? Und das soll meine Stimme sein?« Die Menge lachte. »Na, egal. Ich habe Euch zu danken, Fintan.«

Nachdem sie uns noch einmal zugewunken hatte und von der Bühne gestiegen war, erzählte uns der Barde in Gestalt von Tallynd, was wirklich in jener Nacht geschehen war, als die Giganten kamen.

Tallynd