Alex Michaelides
Die stumme Patientin
Psychothriller
Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp
Knaur e-books
Der Brite Alex Michaelides wurde 1977 in Zypern geboren. Er studierte in Cambridge und Los Angeles und schreibt höchst erfolgreiche Drehbücher, u.a. die Vorlagen für die Kinofilme »The devil you know« oder »The Brits are Coming« mit Stars wie Uma Thurman, Tim Roth, Sofia Vergara und Stephen Fry. Nach einer Ausbildung zum Psychotherapeuten hat Alex Michaelides zwei Jahre lang in einer psychiatrischen Klinik für Jugendliche gearbeitet. »Die stumme Patientin« ist sein erster Roman
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Silent Patient« bei Orion, London.
© 2019 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
Copyright © Alex Michaelides 2019
© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Aus folgenden Werken wurde mit freundlicher Genehmigung zitiert:
Euripides: Alkestis. Übersetzt von Johann Adam Hartung. Erstaufführung: 438 v. Chr.
Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Zuerst veröffentlicht 1917.
Jean-Paul Sartre: Der Ekel. Librairie Gallimard; Paris 1938.Éditions Gallimard, Paris 1981.Übersetzt von Uli Aumüller. © Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1981
William Shakespeare: Ein Wintermärchen. Erstdruck in: Shakespeare’s dramatische Werke. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck, Bd. 8, Berlin 1832.
Hiob, 9, 20. Übersetzung der Lutherbibel 2017.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: lüra – Klemt&Mues GbR, Wuppertal
Abbildung im Innenteil: iStock / Getty Images Plus/ Photo2008
Covergestaltung: Sabine Kwauka
Coverabbildung: plainpicture / Hollandse Hoogte / Richard Brocken, shutterstock / OoddySmile Studio
ISBN 978-3-426-45396-4
Aber warum spricht sie nicht?
Euripides, Alkestis
14. Juli
Ich habe keine Ahnung, warum ich das schreibe.
Nein, das stimmt nicht. Vielleicht weiß ich es doch und möchte es mir selbst nur nicht eingestehen.
Allerdings weiß ich nicht einmal, wie ich es nennen soll, das, was ich da schreibe. Es erscheint mir ein wenig übertrieben, es als »Tagebuch« zu bezeichnen. Es ist schließlich nicht so, als hätte ich etwas zu sagen. Anne Frank hat ein Tagebuch geführt, genau wie Samuel Pepys – aber doch nicht jemand wie ich. Es »Protokoll« zu nennen, klingt mir dagegen ein bisschen zu wissenschaftlich. Als müsste ich jeden Tag einen Eintrag machen, und genau das möchte ich nicht tun – denn wenn es zur Pflicht wird, werde ich niemals dranbleiben.
Vielleicht verzichte ich einfach darauf, es zu benennen. Ein unbenanntes Ding, in das ich gelegentlich hineinschreibe. Das gefällt mir schon besser. Ich habe mich nie wohlgefühlt im Umgang mit Worten – ich denke stets in Bildern, drücke mich über Bilder aus –, weshalb ich auch niemals angefangen hätte, das hier zu schreiben, wäre es nicht für Gabriel.
In letzter Zeit haben mich ein paar Dinge ziemlich deprimiert. Ich dachte zwar, es wäre mir gelungen, das gut zu verbergen, aber Gabriel hat es dennoch bemerkt, natürlich, ihm entgeht nichts. Er fragte mich, wie es mit dem Malen laufe, und ich erwiderte, daran liege es nicht. Er holte mir ein Glas Wein, und ich setzte mich damit an den Küchentisch, während er kochte.
Ich mag es, Gabriel in der Küche zuzusehen. Er ist ein begnadeter Koch – geschickt, organisiert. Ganz anders als ich. Ich sorge beim Kochen lediglich für Chaos.
»Sprich mit mir«, forderte er mich auf.
»Da gibt es nichts zu erzählen. Es ist nur so, dass ich mich manchmal in meinem eigenen Kopf gefangen fühle. Es kommt mir vor, als würde ich durch Schlamm waten.«
»Warum versuchst du nicht, alles aufzuschreiben? Eine Art Protokoll anzufertigen? Das könnte helfen.«
»Ja, vermutlich hast du recht. Ich werde es versuchen.«
»Gut, Liebling. Aber nicht bloß reden – tu’s wirklich!«
»In Ordnung.«
Dann überreichte er mir ein paar Tage später dieses kleine Buch, in das ich hineinschreiben sollte. Es hat einen schwarzen Ledereinband und dicke, weiße, leere Seiten. Ich fuhr mit der Hand über das erste Blatt, spürte, wie glatt es war – dann spitzte ich meinen Bleistift und legte los.
Und natürlich sollte er recht behalten.
Ich fühle mich bereits besser – dies niederzuschreiben, verschafft mir Erleichterung, es ist eine Art Ventil, eine Möglichkeit, mich auszudrücken. Ein bisschen wie eine Therapie, nehme ich an.
Ohne dass Gabriel es direkt aussprechen würde, spüre ich, dass er sich Sorgen um mich macht. Wenn ich ehrlich bin – und warum sollte ich das nicht sein? –, war der eigentliche Grund, warum ich eingewilligt habe, dieses Tagebuch zu schreiben, der, dass ich ihm beweisen wollte, dass mit mir alles in Ordnung ist. Ich kann es nicht ertragen, wenn er sich Sorgen um mich macht. Ich möchte ihm kein Leid zufügen oder ihn unglücklich machen oder ihm Schmerz bereiten. Ich liebe Gabriel sehr. Er ist zweifelsohne die Liebe meines Lebens. Ich liebe ihn so unbedingt, so ganz und gar, dass es mich mitunter zu überwältigen droht. Manchmal denke ich …
Nein. Darüber werde ich nicht schreiben.
Das hier wird eine freudige Aufzeichnung von Ideen und Bildern sein, die mich künstlerisch inspirieren, von Dingen, die mir kreativen Input geben. Ich werde nur positive, glückliche, normale Gedanken festhalten.
Verrückte Gedanken sind nicht erlaubt.
Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich,
dass die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen
Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus
allen Poren dringt ihm der Verrat.
Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Alicia Berenson war dreiunddreißig Jahre alt, als sie ihren Ehemann umbrachte.
Sie waren seit sieben Jahren verheiratet. Beide waren Künstler – Alicia Malerin, Gabriel ein bekannter Modefotograf. Er hatte einen unverwechselbaren Stil, fotografierte halb verhungerte, halb nackte Frauen aus merkwürdigen, unvorteilhaften Blickwinkeln. Seit seinem Tod waren die Preise für seine Aufnahmen ins Astronomische geschossen. Ich finde sein Zeug ziemlich oberflächlich und seicht, um ehrlich zu sein. Es hat nicht den intuitiven Charakter, der die Qualität von Alicias besten Werken ausmacht. Natürlich habe ich nicht genügend Ahnung von Kunst, um vorherzusagen, ob Alicia Berenson vor dem Wandel der Zeit als Malerin bestehen wird. Ihr Talent wird stets überschattet sein von ihrer traurigen Berühmtheit, deshalb ist es schwer, objektiv zu bleiben. Außerdem könnte man mir sehr wohl Voreingenommenheit unterstellen. Ich kann lediglich meine Meinung anbieten, ob sie nun hilfreich ist oder nicht, und in meinen Augen war Alicia eine Art Genie. Abgesehen von ihrer technischen Fertigkeit, haben ihre Gemälde die verblüffende Fähigkeit, einen zu packen – beinahe hätte ich gesagt, an der Kehle zu packen – und in einem schraubstockähnlichen Griff festzuhalten.
Gabriel Berenson wurde vor sechs Jahren ermordet. Er war vierundvierzig Jahre alt. Er wurde am fünfundzwanzigsten August umgebracht – es war ein außergewöhnlich heißer Sommer, vielleicht erinnern Sie sich daran, mit den höchsten Temperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Der Tag, an dem er starb, war der heißeste des Jahres.
Am letzten Tag seines Lebens stand Gabriel früh auf. Ein Wagen holte ihn um 5:15 Uhr von dem Haus ab, in dem er mit Alicia im Nordwesten von London wohnte, am Rand von Hampstead Heath, um ihn zu einem Shooting in Shoreditch zu fahren. Er verbrachte den Tag damit, Models auf einem Hausdach für die Vogue zu fotografieren.
Über Alicias Tagesablauf ist nicht viel bekannt. Sie sollte in Kürze eine Ausstellung haben und hinkte mit der Arbeit hinterher. Wahrscheinlich verbrachte sie den Tag damit, in der Laube hinten im Garten, die sie erst vor Kurzem in ein Atelier verwandelt hatte, zu malen.
Am Ende dauerte Gabriels Fototermin länger als geplant, sodass er nicht vor dreiundzwanzig Uhr nach Hause gebracht werden konnte. Eine halbe Stunde später hörte Barbie Hellmann, die Nachbarin, mehrere Schüsse. Sie rief die Polizei. Um 23:35 Uhr wurde ein Streifenwagen von der Polizeistation Haverstock Hill losgeschickt, der in weniger als drei Minuten am Haus der Berensons eintraf.
Die Haustür stand offen. Im Haus war es stockdunkel; keiner der Lichtschalter funktionierte. Die Officer gingen durch den Flur ins Wohnzimmer. Mit ihren Taschenlampen leuchteten sie in den Raum, erhellten ihn mit zuckenden Lichtkegeln. Sie entdeckten Alicia neben dem Kamin. Ihr weißes Kleid strahlte gespenstisch. Alicia schien die Anwesenheit der Polizei nicht wahrzunehmen, wirkte unfähig, sich zu bewegen, wie erstarrt – eine Statue aus Eis, mit einem seltsam verängstigten Ausdruck auf dem Gesicht, als wäre sie unsichtbarem Schrecken ausgesetzt.
Ein Gewehr lag auf dem Boden. Daneben, im Dunkeln, saß Gabriel, reglos, an Hand- und Fußknöcheln mit Draht an einen Stuhl gebunden. Zunächst dachten die Officer, er lebe noch. Sein Kopf war leicht zur Seite gekippt, als sei er bewusstlos. Doch dann enthüllte der Strahl einer Taschenlampe, dass Gabriel mehrfach ins Gesicht geschossen worden war. Seine attraktiven Züge waren für immer zerstört, übrig geblieben war nichts als eine verschmorte, geschwärzte, blutige Masse. Die Wand hinter ihm war übersät mit Schädelfragmenten, Gehirnmasse, Haaren – und Blut.
Überall klebte Blut, war auf die Wände gespritzt, lief in dunklen Rinnsalen über den Fußboden und in die Maserung der Holzdielen. Die Officer nahmen an, dass es sich um Gabriels Blut handelte, aber dann gleißte etwas im Schein der Taschenlampe auf – ein Messer lag vor Alicias Füßen auf dem Boden. Ein zweiter Lichtstrahl fiel auf Alicias weißes, blutbeflecktes Kleid. Ein Officer ergriff ihre Arme und hielt sie ins Licht. An Alicias Handgelenken befanden sich tiefe Schnitte – frische Schnitte, die stark bluteten.
Alicia wehrte sich gegen die Bemühungen, ihr Leben zu retten; es brauchte drei Officer, um sie zu überwältigen. Sie wurde ins Royal Free Hospital gebracht, das nur wenige Minuten entfernt lag. Auf dem Weg dorthin brach sie zusammen und verlor das Bewusstsein. Sie hatte viel Blut verloren, aber sie überlebte.
Am folgenden Tag lag Alicia im Bett eines Einzelzimmers im Krankenhaus. Die Polizei wollte sie in Gegenwart ihres Anwalts befragen, doch Alicia schwieg. Ihre Lippen waren blass, blutleer; sie zuckten gelegentlich, aber sie bildeten keine Worte, keine Laute. Alicia beantwortete keine Fragen. Sie konnte nicht, wollte nicht sprechen. Sie sprach auch nicht, als man sie des Mordes an Gabriel anklagte. Sie schwieg, als sie verhaftet und unter Arrest gestellt wurde, weigerte sich, ihre Schuld zu leugnen oder zuzugeben.
Alicia sprach nie wieder.
Ihr anhaltendes Schweigen verwandelte diese Geschichte von einer gewöhnlichen häuslichen Tragödie in etwas weit Größeres: ein Mysterium, ein Rätsel, das die Schlagzeilen bestimmte und die Vorstellungskraft der Öffentlichkeit monatelang gefangen nahm.
Alicia schwieg zwar – aber sie machte dennoch eine Aussage. Ein Gemälde. Sie fing an, es zu malen, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen und unter Hausarrest gestellt worden war, bevor der Fall vor Gericht ging. Laut der vom Gericht bestellten psychiatrischen Betreuerin aß und schlief Alicia kaum – alles, was sie tat, war malen.
Normalerweise mühte sich Alicia wochen-, sogar monatelang, bevor sie mit einem neuen Bild begann, fertigte unendlich viele Skizzen an, gestaltete den Aufbau, verwarf ihn wieder, experimentierte mit Farbe und Form – ein langer Reifeprozess, gefolgt von einer ebenso langwierigen Geburt, bei der jeder Pinselstrich gewissenhaft aufgetragen wurde. Nun dagegen modifizierte sie den kreativen Prozess drastisch, indem sie dieses Gemälde binnen weniger Tage nach dem Mord an ihrem Ehemann fertigstellte.
Für die meisten Leute genügte dies, um sie zu verteufeln – so kurz nach Gabriels Tod ins Atelier zurückzukehren, verriet eine außerordentliche Gefühllosigkeit. Fehlende Reue einer kaltblütigen Mörderin, und zwar in einem monströsen Ausmaß.
Möglich. Aber lassen Sie uns nicht vergessen, dass Alicia Berenson zwar eine Mörderin sein mag, aber gleichzeitig ist sie eine Künstlerin. Es ergibt absolut Sinn – zumindest für mich –, dass sie zu ihren Pinseln und Farben greift und ihre komplizierten Gefühle auf der Leinwand ausdrückt. Kein Wunder, dass dieses Gemälde ausnahmsweise mit einer solchen Leichtigkeit entstand; wenn man denn Schmerz als Leichtigkeit bezeichnen kann.
Bei dem Bild handelte es sich um ein Selbstporträt. Sie betitelte es in der unteren linken Ecke der Leinwand, in hellblauer griechischer Schrift.
Der Titel bestand aus einem einzigen Wort:
Alkestis.
Alkestis ist die Heldin eines griechischen Mythos, einer Liebesgeschichte der traurigsten Art. Alkestis opfert aus freien Stücken ihr Leben für ihren Ehemann Admetos, stirbt an seiner Stelle, da niemand sonst dazu bereit ist. Ein verstörender Mythos der Selbstopferung, zumal es unklar war, in welchem Zusammenhang er mit Alicias Situation stand. Die wahre Bedeutung dieser Anspielung erschloss sich mir eine geraume Weile lang nicht. Bis eines Tages die Wahrheit ans Licht kam …
Aber ich bin zu schnell. Greife vor. Ich muss am Anfang beginnen und die Ereignisse für sich selbst sprechen lassen. Ich darf sie nicht ausschmücken, nicht verdrehen, keine Lügen erzählen. Ich werde Schritt für Schritt vorgehen, langsam und bedächtig. Aber wo soll ich anfangen? Ich sollte mich vorstellen, oder vielleicht doch noch nicht jetzt – schließlich bin nicht ich der Held dieser Geschichte. Es ist die Geschichte von Alicia Berenson, daher muss ich mit ihr beginnen – und mit der Alkestis.
Das Gemälde ist ein Selbstporträt, das Alicia in ihrem Atelier bei sich zu Hause in den Tagen nach dem Mord zeigt; sie steht vor einer Staffelei mit einer Leinwand, einen Pinsel in der Hand. Sie ist nackt. Ihr Körper ist schonungslos genau wiedergegeben: lange, rote Haarsträhnen fallen über knochige Schultern, blaue Adern schimmern unter der durchscheinenden Haut, an beiden Handgelenken sind frische Narben zu erkennen. Von dem Pinsel, den sie zwischen den Fingern hält, tropft rote Farbe – oder ist es Blut? Sie ist gefangen genommen vom Akt des Malens, und trotzdem ist die Leinwand leer, genau wie ihr Gesichtsausdruck. Sie blickt über die Schulter, starrt uns direkt an. Den Mund geöffnet, die Lippen geteilt. Stumm.
Während der Gerichtsverhandlung traf Jean-Felix Martin, der Leiter der kleinen Galerie in Soho, die Alicia vertritt, die umstrittene Entscheidung – von vielen als sensationslüstern und makaber verschrien –, die Alkestis auszustellen. Die Tatsache, dass die Künstlerin zu jener Zeit auf der Anklagebank saß, da sie angeblich ihren Ehemann umgebracht hatte, bescherte der Galerie zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte nennenswerte Schlangen vor dem Eingang.
Ich wartete zusammen mit den anderen sensationslüsternen Kunstliebhabern im Schein der roten Neonlichter eines Sexshops nebenan darauf, dass ich an die Reihe kam. Einer nach dem anderen schoben wir uns hinein. In der Galerie wurden wir zu dem Gemälde getrieben, als seien wir eine aufgeregte Horde von Rummelplatzbesuchern, die durch ein Spukhaus geleitet wurde. Endlich stand ich ganz vorn in der Schlange – und sah mich der Alkestis gegenüber.
Ich starrte das Gemälde an, starrte in Alicias Gesicht, versuchte, den Ausdruck in ihren Augen zu deuten, versuchte zu verstehen – aber das Porträt widersetzte sich mir. Alicia starrte zurück, eine ausdruckslose Maske, unlesbar, undurchschaubar. Ich konnte weder Unschuld noch Schuld in ihrer Miene erkennen.
Andere Leute taten sich da leichter.
»Durch und durch böse«, flüsterte die Frau hinter mir.
»Ja, nicht wahr?«, pflichtete ihre Begleiterin ihr bei. »Kaltblütiges Miststück.«
Ziemlich unfair, dachte ich, in Anbetracht dessen, dass Alicias Schuld erst noch bewiesen werden musste. Aber in Wahrheit war es längst eine ausgemachte Sache. Die Boulevardblätter hatten ihr von Anfang an die Rolle der Verbrecherin zugewiesen: eine Femme fatale, eine Schwarze Witwe. Ein Monster.
Die Tatsachen, soweit bekannt, waren simpel: Alicia wurde allein mit Gabriels Leichnam entdeckt; auf der Waffe, einem Gewehr, befanden sich nur ihre Fingerabdrücke. Es bestand nie ein Zweifel, dass sie Gabriel umgebracht hatte. Warum sie ihn getötet hatte, blieb dagegen ein Rätsel.
Der Mord wurde in den Medien debattiert; Zeitungen, Radio und Morgen-Talkshows vertraten unterschiedliche Theorien. Experten wurden hinzugezogen, um Erklärungen zu liefern und Alicias Handeln zu verurteilen oder zu rechtfertigen. Sie musste ein Opfer häuslicher Gewalt gewesen sein, ganz sicher, hatte zu viel einstecken müssen, bevor sie schließlich explodiert war. Eine andere Theorie besagte, dass ein Sexspiel schiefgegangen war – immerhin war der Mann gefesselt gewesen, oder nicht? Manche vermuteten, es sei schlicht Eifersucht gewesen, die Alicia zum Mord an ihrem Ehemann getrieben habe – vielleicht eine andere Frau? Doch bei der Gerichtsverhandlung wurde Gabriel von seinem Bruder als ergebener Ehemann beschrieben, der seiner Frau mit tiefer Liebe zugetan war. Nun, und was war mit Geld? Aber Alicia schien durch seinen Tod nicht viel zu gewinnen; sie war diejenige, die Geld besaß, geerbt von ihrem Vater.
Und so ging es weiter, endlose Spekulationen, keine Antworten, nur noch mehr Fragen – über Alicias Motive und ihr anschließendes Schweigen. Warum weigerte sie sich zu sprechen? Was hatte das zu bedeuten? Verbarg sie etwas? Schützte sie jemanden? Wenn ja, wen? Und warum?
Ich erinnere mich, dass ich zu jener Zeit, in der alle über Alicia redeten, schrieben und stritten, dachte, dass sich im Herzen dieser krampfhaften, lärmigen Umtriebigkeit eine Leere befand – eine Stille. Eine Sphinx.
Während der Gerichtsverhandlung äußerte der Richter seine Missbilligung bezüglich Alicias beharrlicher Weigerung zu sprechen. Unschuldige Menschen, betonte Mr. Justice Alverstone, neigten dazu, ihre Unschuld laut und wiederholt zu beteuern. Alicia blieb nicht nur weiterhin stumm, sie zeigte auch keine sichtbaren Anzeichen von Reue. Sie weinte nicht während der Gerichtsverhandlung – eine Tatsache, die für viel Wirbel bei der Presse sorgte –, ihr Gesicht blieb unbewegt, kalt.
Der Verteidigung blieb kaum eine andere Wahl, als auf verminderte Schuldfähigkeit zu plädieren: Alicias Vorgeschichte beinhaltete eine Reihe von psychischen Problemen, die angeblich bis in ihre Kindheit zurückreichten. Der Richter wies vieles davon als Hörensagen zurück – aber am Ende ließ er sich von Professor Lazarus Diomedes, Professor für Forensische Psychiatrie am Imperial College und Direktor des Grove, einer psychiatrischen Klinik mit forensischer Sicherheitsstation in North London, umstimmen und dazu bewegen, Alicia nicht zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen, sondern in psychiatrische Sicherheitsverwahrung zu geben. Professor Diomedes argumentierte, Alicias Weigerung zu sprechen sei ein Hinweis auf eine ausgeprägte psychische Fehlbelastung – und sie solle entsprechend behandelt werden.
Das war eine ziemlich umständliche Art, etwas zu formulieren, was Psychiater für gewöhnlich nicht rundheraus aussprechen wollten: Diomedes behauptete, Alicia sei verrückt.
Es war die einzige Erklärung, die Sinn ergab. Warum sonst fesselte man den Mann, den man liebte, an einen Stuhl und schoss ihm aus nächster Nähe ins Gesicht? Und zeigte anschließend keinerlei Reue, gab keine Erklärung ab, sagte kein Wort? Sie musste verrückt sein.
Etwas anderes kam nicht infrage.
Am Ende akzeptierte Justice Alverstone den Antrag auf verminderte Schuldfähigkeit und riet den Geschworenen, seinem Beispiel zu folgen. Alicia wurde daraufhin ins Grove eingewiesen und unter Aufsicht ebenjenes Professors gestellt, dessen Gutachten einen solchen Einfluss auf den Richter gehabt hatte.
Die Wahrheit ist, wenn Alicia nicht verrückt war – das heißt, wenn ihr Schweigen lediglich eine Show war, eine schauspielerische Darbietung, um die Jury zu ihren Gunsten zu beeinflussen –, dann hatte es funktioniert. Ihr blieb ein langer Gefängnisaufenthalt erspart, und wenn sie Fortschritte machte, sich ganz erholte, konnte sie gut und gern in ein paar Jahren entlassen werden.
Aber wäre es dann nicht langsam an der Zeit, den Beginn des Genesungsprozesses vorzutäuschen? Hier und da ein paar Worte zu stammeln, nach einer Weile ein paar mehr, einen Ansatz von Reue zu vermitteln? Aber nein. Eine Woche nach der anderen verging, ein Monat nach dem anderen, und dann verstrichen die Jahre – und Alicia sprach immer noch nicht.
Blieb schlichtweg stumm.
Als nicht länger mit weiteren Enthüllungen zu rechnen war, verloren die enttäuschten Medien das Interesse an Alicia Berenson. Sie fügte sich ein in die lange Reihe der anderen kurzzeitig berühmten Mörder; Gesichter, an die wir uns erinnern, auch wenn wir die dazugehörigen Namen vergessen haben.
Nicht alle von uns vergaßen sie, das muss gesagt sein. Manche Menschen – ich selbst eingeschlossen – blieben weiterhin fasziniert von dem Mythos der Alicia Berenson und ihrem anhaltenden Schweigen. Als Psychotherapeut lag es für mich auf der Hand, dass sie ein schweres Trauma im Zusammenhang mit Gabriels Tod erlitten hatte und dass dieses Schweigen eine Manifestation ebenjenes Traumas darstellte. Unfähig, zu verarbeiten, was sie getan hatte, geriet Alicia ins Stottern, bevor sie zum Stillstand kam, wie ein kaputtes Auto. Ich wollte helfen, sie wieder zum Laufen zu bringen, wollte Alicia helfen, ihre Geschichte zu erzählen, zu gesunden und sich zu erholen. Wollte sie reparieren.
Ohne überheblich klingen zu wollen – ich fühlte mich in einzigartiger Weise dazu befähigt, Alicia Berenson zu unterstützen. Ich bin forensischer Psychotherapeut und daran gewöhnt, mit einigen der beschädigtsten, verletzlichsten Mitgliedern der Gesellschaft zu arbeiten. Und etwas an Alicias Geschichte berührte mich persönlich, von Anfang an empfand ich tiefes Mitgefühl mit ihr. Leider arbeitete ich zu jener Zeit noch in Broadmoor, weshalb die Behandlung von Alicia ein müßiges Hirngespinst hätte bleiben müssen, wäre nicht unerwartet das Schicksal dazwischengefahren.
Fast sechs Jahre nachdem Alicia in die Sicherheitsabteilung eingewiesen worden war, wurde im Grove die Stelle eines forensischen Psychotherapeuten frei. Sobald ich die Annonce sah, wusste ich, dass mir keine Wahl blieb. Ich folgte meinem Bauchgefühl und bewarb mich für den Job.
Mein Name ist Theo Faber. Ich bin zweiundvierzig Jahre alt. Und ich wurde Psychotherapeut, weil ich ein ernstes Problem hatte. Das ist die Wahrheit – obwohl ich das natürlich nicht beim Bewerbungsgespräch antwortete, als mir die entsprechende Frage gestellt wurde.
»Was hat Sie dazu bewogen, Psychotherapeut zu werden?«, erkundigte sich Indira Sharma und sah mich über den Rand ihrer eulenhaften Brille hinweg durchdringend an.
Indira arbeitete als leitende Psychotherapeutin im Grove. Sie war Ende fünfzig, hatte ein rundes, attraktives Gesicht und lange, pechschwarze Haare, durchzogen von grauen Strähnen. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln, als wollte sie mir versichern, dass es sich um eine leichte Frage handelte, eine Aufwärmübung, die Vorstufe des heikleren Bombardements, das darauf folgen sollte.
Ich zögerte. Spürte, wie mich die anderen Mitglieder des Ausschusses ansahen. Ich hielt bewusst Augenkontakt, als ich eine einstudierte Antwort von mir gab – ein Wohlwollen erregendes Märchen, dass ich als Teenager Teilzeit in einem Pflegeheim gearbeitet hatte und wie das mein Interesse für Psychologie geweckt habe, was wiederum nach beendetem Studium zu einem anerkannten Abschluss der Psychotherapie führte und so weiter.
»Ich wollte immer schon Menschen helfen«, endete ich achselzuckend. »Mehr steckt nicht dahinter.«
Was Unsinn war.
Ich meine, natürlich wollte ich Menschen helfen. Aber das war ein zweitrangiges Ziel, vor allem zu der Zeit, in der ich mit meiner Ausbildung begann. Die wahre Motivation war rein egoistisch. Ich war darauf aus, mir selbst zu helfen. Ich glaube, das gilt für die meisten Menschen, die sich mit der geistigen Gesundheit anderer befassen. Wir fühlen uns zu diesem speziellen Beruf hingezogen, weil wir beschädigt sind – wir studieren Psychologie, um uns selbst zu heilen. Ob wir bereit sind, das zuzugeben, ist eine andere Frage.
Bei uns Menschen liegen die ersten Lebensjahre in einem Land vor der Erinnerung. Wir denken gern, dass wir mit zunehmender Bildung unseres Charakters aus diesem primordialen Nebel hervorgegangen sind wie Aphrodite in ihrer Perfektion aus dem Schaum des Meeres. Doch dank der wachsenden Forschung im Bereich der Gehirnentwicklung wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Wir werden mit einem halb ausgebildeten Gehirn geboren – einem Gehirn, das eher an einen matschigen Lehmklumpen erinnert als an eine olympische Göttin. Wie es der Psychoanalytiker Donald Winnicott formulierte: »So etwas wie ein Baby gibt es nicht.« Die Entwicklung unserer Persönlichkeiten findet nicht isoliert statt, sondern ausschließlich in der Beziehung miteinander. Wir sind geformt und vervollständigt durch unbemerkte, nicht erinnerte Kräfte: unsere Eltern.
Das ist beängstigend, und zwar aus offensichtlichen Gründen: Wer weiß schon, welche Demütigungen wir erlitten haben, welche Qualen und Misshandlungen in diesem Land vor der Erinnerung? Unser Charakter wurde geformt, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst waren. Ich zum Beispiel wuchs auf mit einem permanenten Gefühl der Unruhe, Sorge, Angst. Diese Angst schien mich zu vereinnahmen und unabhängig von mir zu existieren. Allerdings vermute ich, dass sie in meiner Beziehung zu meinem Vater begründet war, in dessen Nähe ich mich nie sicher fühlte.
Seine unvorhersehbaren und unbegründeten Wutausbrüche verwandelten jede Situation, ganz gleich, wie harmlos, in ein potenzielles Minenfeld. Eine unschuldige Bemerkung oder eine abweichende Meinung konnten seinen Zorn auslösen und eine Reihe von Explosionen freisetzen, vor denen es kein Entrinnen gab. Das Haus bebte, wenn er schrie und mich die Treppe hinauf in mein Zimmer jagte. Ich tauchte unter das Bett ab und drückte mich gegen die Wand, atmete die fedrige Luft ein, flehte die Steine an, mich zu verschlucken. Aber seine Hand bekam mich stets zu fassen und zerrte mich hervor, konfrontierte mich mit meinem Schicksal. Der Gürtel wurde aus den Schlaufen gezogen und sauste pfeifend durch die Luft, bevor er traf; jeder Schlag, einer nach dem anderen, warf mich zur Seite, brannte sich in mein Fleisch. Dann war das Auspeitschen vorbei, genauso abrupt, wie es begonnen hatte. Ich wurde zu Boden gestoßen, wo ich liegen blieb, ein verkrumpelter Haufen Elend. Eine Lumpenpuppe, weggeworfen von einem zornigen Kleinkind.
Ich wusste nie, was ich getan hatte, um diese Wut auszulösen, war mir nie sicher, oder ob ich sie verdient hatte oder nicht. Ich fragte meine Mutter, warum mein Vater stets so zornig auf mich war – und sie zuckte jedes Mal verzweifelt die Achseln und erwiderte: »Woher soll ich das wissen? Dein Vater ist komplett verrückt.«
Wenn sie sagte, er sei verrückt, scherzte sie nicht. Würde er heutzutage einem Psychiater vorgestellt, so gehe ich davon aus, dass dieser bei meinem Vater eine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren würde – eine Erkrankung, die zu seinen Lebzeiten nicht behandelt wurde. Das Resultat war, dass meine Kindheit und Jugend von Hysterie und körperlicher Gewalt bestimmt wurden; von Drohungen, Tränen und zerbrochenem Glas.
Es gab auch Momente des Glücks, natürlich; für gewöhnlich wenn mein Vater nicht zu Hause war. Ich erinnere mich an einen Winter, in dem er sich auf einer einmonatigen Geschäftsreise in Amerika befand. Für dreißig Tage konnten meine Mutter und ich in Haus und Garten schalten und walten, wie wir wollten – ohne seinen wachsamen Blick. In jenem Dezember schneite es, und unser Garten wurde unter einem dicken, harschen weißen Teppich begraben. Mum und ich bauten einen Schneemann. Unbewusst oder nicht, stand er stellvertretend für unseren abwesenden Herrn: Ich taufte ihn Dad, und durch seinen dicken Bauch, die schwarzen Steine für die Augen sowie zwei schräg abwärts zeigende kleine Zweige für die strengen Augenbrauen bestand tatsächlich eine frappierende Ähnlichkeit zwischen den beiden. Wir komplettierten die Illusion, indem wir ihm die Handschuhe meines Vaters gaben, seinen Hut und Regenschirm. Anschließend bombardierten wir ihn aufs Heftigste mit Schneebällen, kichernd wie ungezogene Kinder.
In jener Nacht gab es einen schweren Schneesturm. Meine Mutter ging zu Bett, und ich tat so, als würde ich schlafen, doch dann stahl ich mich hinaus in den Garten und stand dort inmitten der fallenden Schneeflocken. Ich streckte meine Hände aus, fing die Schneeflocken, sah zu, wie sie auf meinen Fingerspitzen verschwanden. Es fühlte sich beglückend und frustrierend zugleich an und brachte eine Wahrheit zum Ausdruck, die ich nicht formulieren konnte – mein Vokabular war noch zu begrenzt, meine Worte ein zu lockeres Netz, um sie damit einzufangen. Irgendwie ist nach sich auflösenden Schneeflocken zu greifen genauso, wie nach Glück zu greifen – ein Akt der Inbesitznahme, der sofort zu nichts zerfällt. Es erinnerte mich daran, dass es eine Welt außerhalb dieses Hauses und Gartens gab, eine Welt von ungeheurer Ausdehnung und unvorstellbarer Schönheit, eine Welt, die mir fürs Erste verwehrt blieb.
Die Erinnerung kehrte über die Jahre immer wieder zurück. Es ist, als habe das Elend, das sie umgab, die Erinnerung an den kurzen Augenblick der Freiheit nur noch leuchtender gemacht; ein winziges Licht, umgeben von Dunkelheit.
Meine einzige Hoffnung zu überleben, so wurde mir klar, bestand im Rückzug – und zwar sowohl im körperlichen als auch im geistigen. Ich musste fort, weit fort. Nur dann wäre ich in Sicherheit. Und endlich, mit achtzehn, hatte ich die Noten, die ich brauchte, um mir einen Platz an einer Universität zu sichern. Ich verließ das Doppelhaushälfte-Gefängnis in Surrey und dachte, ich sei frei.
Ich täuschte mich.
Damals wusste ich das nicht, aber es war zu spät – ich hatte meinen Vater verinnerlicht, ihn introjiziert, ihn tief in meinem Unbewussten begraben. Ganz gleich, wie weit ich weglaufen würde, ich trug ihn in mir, wohin auch immer ich ging. Ich wurde verfolgt von einem infernalischen, erbarmungslosen Chor von Furien, alle mit seiner Stimme ausgestattet. Sie kreischten, ich sei wertlos, eine Schande, ein Versager.
Während meines ersten Semesters an der Universität, in jenem ersten kalten Winter, wurden die Stimmen so schrecklich, so paralysierend, dass sie mein ganzes Leben kontrollierten. Gelähmt vor Angst, war ich nicht in der Lage, auszugehen, mich unter die Leute zu mischen oder Freundschaften zu schließen. Es war, als wäre ich nie von zu Hause fortgegangen. Ich war geschlagen, gefangen, hoffnungslos. In die Ecke getrieben. Es gab keinen Ausweg.
Mir bot sich nur eine einzige Lösung.
Ich ging von Apotheke zu Apotheke und kaufte jede Menge Paracetamol, jeweils nur ein paar Schachteln, um keinen Verdacht zu erregen – aber ich hätte mir ohnehin keine Sorgen machen müssen. Niemand schenkte mir auch nur ansatzweise Aufmerksamkeit; ich war definitiv so unsichtbar, wie ich mich fühlte.
Es war kalt in meinem Zimmer, und meine Finger waren taub und unbeholfen, als ich die Packungen aufriss. Es kostete mich immense Mühe, die vielen Tabletten zu schlucken. Aber ich zwang sie hinunter, alle, Pille um bittere Pille. Anschließend kroch ich auf mein unbequemes, schmales Bett, schloss die Augen und wartete auf den Tod.
Aber der Tod kam nicht.
Stattdessen zerriss ein ätzender, qualvoller Schmerz meine Eingeweide. Ich krümmte mich zusammen und übergab mich, besudelte mich mit Galle und halb verdauten Tabletten. Da lag ich nun in der Dunkelheit, und mein Magen brannte wie Feuer. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Und dann, langsam, im Morgengrauen, dämmerte es mir.
Ich wollte nicht sterben. Noch nicht. Ich hatte doch noch gar nicht gelebt.
Und das verlieh mir so etwas wie Hoffnung, wenngleich unscharf und kaum umrissen. Trotzdem führte es mich zumindest zu der Erkenntnis, dass ich es nicht allein schaffen würde: Ich brauchte Hilfe.
Und ich fand Hilfe – in Form von Ruth, einer Psychotherapeutin, die mir vom Beratungsdienst der Universität empfohlen wurde. Ruth hatte weiße Haare, war mollig und wirkte irgendwie großmütterlich. Ihr Lächeln war mitfühlend, ein Lächeln, dem ich Glauben schenken wollte. Anfangs sagte sie nicht viel. Sie hörte nur zu, während ich redete. Ich sprach über meine Kindheit, mein Zuhause, meine Eltern. Und währenddessen stellte ich fest, dass ich nichts empfinden konnte, ganz gleich, wie erschütternd die Details waren, die ich ihr unterbreitete. Ich war abgeschnitten von meinen Emotionen, wie eine Hand, die man vom Gelenk abgetrennt hatte. Ich redete über schmerzvolle Erinnerungen und Suizidabsichten – aber ich konnte nichts davon spüren.
Gelegentlich blickte ich auf und sah Ruth ins Gesicht. Zu meiner Überraschung sammelten sich Tränen in ihren Augen. Das mag vielleicht schwer nachvollziehbar sein, aber jene Tränen waren nicht ihre.
Es waren meine.
Zur damaligen Zeit verstand ich das nicht. Aber genauso funktioniert eine Therapie: Ein Patient überträgt seine inakzeptablen Gefühle auf seinen Therapeuten, und der nimmt alles auf, was der Patient zu empfinden fürchtet, und empfindet es für ihn. Und dann, ganz langsam, leitet er seine Gefühle zum Patienten zurück. Genau wie Ruth bei mir.
Wir kamen regelmäßig über mehrere Jahre hinweg zusammen, Ruth und ich. Sie blieb die einzige Konstante in meinem Leben. Durch sie verinnerlichte ich eine neue Form von Beziehung zu einem anderen Menschen: eine Beziehung basierend auf gegenseitigem Respekt, Ehrlichkeit und Freundlichkeit – anstatt auf Schuldzuweisungen, Zorn und Gewalt. Langsam änderten sich auch meine Emotionen, mich selbst betreffend – ich fühlte mich weniger leer, fähiger, etwas zu empfinden, weniger verängstigt. Der hasserfüllte innere Chor verließ mich nie ganz – aber jetzt, da es Ruths Stimme gab, um ihm entgegenzuwirken, schenkte ich ihm weniger Aufmerksamkeit. Daraus resultierte, dass die Stimmen in meinem Kopf leiser wurden und vorübergehend ganz verschwanden. Ich fühlte mich befriedet – sogar glücklich, manchmal.
Es war offensichtlich, dass mir die Psychotherapie im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet hatte. Außerdem, und das war weit wichtiger, hatte sie meine Lebensqualität entscheidend verändert. Die Sprechkur war von zentraler Bedeutung für den Menschen, der aus mir wurde – in einem sehr profunden Sinne definierte sie mich.
Sie war, das wusste ich, meine Berufung.
Nach der Universität absolvierte ich eine Ausbildung zum Psychotherapeuten an der Tavistock-Klinik in London. Während dieser Zeit setzte ich meine Treffen mit Ruth fort. Sie unterstützte und ermutigte mich weiterhin, auch wenn sie mich ermahnte, den von mir eingeschlagenen Weg realistisch zu betrachten. »Das ist kein Spaziergang«, lauteten ihre Worte. Sie hatte recht. Mit Patienten zu arbeiten, mir die Hände schmutzig zu machen – nun, das war alles andere als angenehm.
Ich erinnere mich gut an meinen ersten Besuch in einer psychiatrischen Sicherheitsabteilung. Nur wenige Minuten nach meiner Ankunft hatte sich ein Patient die Hose heruntergezogen, sich hingehockt und vor mir seine Notdurft verrichtet. Einen stinkenden Scheißhaufen. Es folgten weitere Zwischenfälle, weniger magenaufwühlend, aber genauso dramatisch – unschöne, stümpferhafte Selbstmorde, versuchte Selbstverletzungen, unkontrollierbare Hysterie und Trauer –, alles mehr, als ich ertragen konnte. Doch mit jedem Mal näherte ich mich mehr einer bis dato nicht gekannten Resilienz. Es wurde leichter.
Es ist seltsam, wie schnell man sich an die fremdartige neue Welt einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung anpasst. Man wird zunehmend ungezwungener im Umgang mit Wahnsinn – und zwar nicht nur mit dem Wahnsinn der anderen, sondern auch mit dem eigenen. Wir sind alle verrückt, glaube ich, nur auf unterschiedliche Weise.
Das ist der Grund, warum ich mich in Alicia Berenson hineinversetzen konnte. Ich war einer der Glücklichen. Dank erfolgreichen therapeutischen Eingreifens in jungen Jahren war ich in der Lage, mich vom Abgrund psychischer Finsternis zurückzuziehen. Meiner Meinung nach blieb die andere Geschichte, Alicias, jedoch immer eine denkbare Alternative: Ich hätte auch verrückt werden können – und wäre womöglich für den Rest meiner Tage in einer Anstalt eingesperrt gewesen, wie sie. Doch dank Gottes Gnade …
Natürlich konnte ich nichts davon Indira Sharma erzählen, als sie mich fragte, warum ich Psychotherapeut geworden sei. Immerhin befand ich mich bei einem Einstellungsgespräch, und ich wusste genau, wie der Hase lief.
»Letztendlich«, sagte ich, »glaube ich, dass einen die Ausbildung und später die Übung, die Erfahrung zum Psychotherapeuten macht. Unabhängig von den eigentlichen Absichten.«
Indira nickte weise. »Ja, ganz richtig. Sehr richtig sogar.«
Das Gespräch lief gut. Die Erfahrung, die ich während meiner Arbeit in Broadmoor gesammelt hatte, verschaffe mir einen Vorteil, behauptete Indira – sie zeige, dass ich mit extremer psychischer Belastung umgehen könne. Man bot mir noch an Ort und Stelle den Job an, und ich sagte zu.
Einen Monat später war ich auf dem Weg zum Grove.
Ich traf am Grove ein, verfolgt von einem eisigen Januarwind. Die kahlen Bäume reihten sich wie Skelette entlang der Straße auf. Der Himmel war weiß und schwer von Schnee, der erst noch fallen musste.
Ich stand draußen vor dem Eingang und griff nach den Zigaretten in meiner Tasche. Seit über einer Woche hatte ich nicht mehr geraucht – ich hatte mir selbst versprochen, dass ich es diesmal ernst meinte. Ich würde endgültig aufhören. Trotzdem wurde ich jetzt bereits weich. Ich steckte mir eine an, sauer auf mich selbst. Psychotherapeuten neigen dazu, das Rauchen als eine ungelöste Abhängigkeit zu betrachten – eine Abhängigkeit, die jeder anständige Therapeut durchgekaut und überwunden haben sollte. Ich wollte nicht hineingehen und nach Zigaretten stinken, also warf ich mir zwei Pfefferminzbonbons in den Mund und kaute sie, während ich rauchte und dabei von einem Fuß auf den anderen zappelte.
Ich bibberte – aber wenn ich ehrlich bin, kam das eher von den Nerven als von der Kälte. Ich hatte Zweifel. Der leitende Oberarzt in Broadmoor hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass ich in seinen Augen einen Fehler beging. Er deutete an, dass ich mit diesem Wechsel eine vielversprechende Karriere an den Nagel hängte, und äußerte sich ziemlich verächtlich über das Grove und insbesondere über Professor Diomedes.
»Ein unorthodoxer Mann. Arbeitet viel mit Gruppenanalyse – eine Zeit lang hat er sich stark auf Foulkes gestützt. Hat in den Achtzigern eine Art alternative therapeutische Gemeinschaft in Hertfordshire geleitet. Nicht gerade ökonomisch rentabel, solche Therapiemodelle, schon gar nicht heute …« Er zögerte, dann fuhr er mit gesenkter Stimme fort: »Ich versuche nicht, Sie abzuschrecken, Theo. Aber ich habe Gerüchte gehört, dass das Grove dichtgemacht wird. Gut möglich, dass Sie in sechs Monaten ohne Job dastehen. Sind Sie sicher, dass Sie es sich nicht noch einmal überlegen wollen?«
Ich zögerte, doch bloß aus Höflichkeit.
»Ziemlich sicher«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Das macht auf mich den Eindruck von Karriereselbstmord. Aber wenn Sie Ihre Entscheidung getroffen haben …«
Ich erzählte ihm nicht von Alicia Berenson und meinem Wunsch, sie zu behandeln, auch wenn ich mich so hätte ausdrücken können, dass er womöglich Verständnis aufbrachte: dass ich mit ihr arbeiten wolle, um anschließend ein Buch oder sonst was zu veröffentlichen. Aber auch dann wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass er seine Meinung änderte; er hätte immer noch behauptet, dass ich einen Fehler machte. Vielleicht hatte er recht. Das würde ich bald herausfinden.
Ich drückte meine Zigarette aus, zwang meine Nerven zur Ruhe und ging hinein.
Die Psychiatrie war im ältesten Teil des Edgware Hospital untergebracht. Das ursprüngliche viktorianische Gebäude aus rotem Backstein war schon seit Langem von größeren, höheren und überwiegend hässlicheren Anbauten und Nebengebäuden umgeben. Das Grove lag im Herzen dieses Komplexes. Der einzige Hinweis auf seine gefährlichen Insassen war die Reihe von Überwachungskameras, die oben auf den Zäunen thronten wie wachsame Raubvögel. Am Empfang hatte man sich große Mühe gegeben, ein freundliches Umfeld zu schaffen – große, blaue Sofas; krude, kindliche Kunstwerke der Patienten an den Wänden. Es sah mehr aus wie in einem Kindergarten denn wie in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung.
Ein großer Mann tauchte an meiner Seite auf. Er grinste mich an, streckte mir die Hand entgegen und stellte sich als Yuri vor, der psychiatrische Oberpfleger.
»Willkommen im Grove«, sagte er. »Nicht gerade ein Empfangskommitee, tut mir leid. Nur ich.«
Yuri sah gut aus, war kräftig gebaut und Ende dreißig. Er hatte dunkles Haar und ein Tribal Tattoo, das sich aus seinem Kragen hinaus am Hals hochschlängelte. Er roch nach Tabak und zu viel süßlichem Aftershave. Obwohl er mit Akzent sprach, war sein Englisch perfekt.
»Ich bin vor sieben Jahren aus Lettland hierhergezogen«, sagte er. »Ich konnte kein Wort Englisch, aber nach einem Jahr sprach ich es fließend.«
»Das ist sehr beeindruckend.«
»Eigentlich nicht. Englisch ist eine einfache Sprache. Sie sollten mal Lettisch lernen!« Yuri lachte und griff nach dem klimpernden Schlüsselbund an seinem Gürtel, dann nahm er einen Schlüsselsatz ab und reichte ihn mir.
»Die brauchen Sie für die Einzelzimmer. Außerdem benötigen Sie Zugangscodes für die Stationen.«
»Das sind aber viele! In Broadmoor hatte ich weniger Schlüssel.«
»Nun, wir haben die Sicherheitsvorkehrungen in letzter Zeit ganz schön erhöht – seit Stephanie bei uns ist.«
»Wer ist Stephanie?«
Yuri antwortete nicht, aber er nickte der Frau zu, die aus dem Büro hinter dem Empfangstisch kam. Sie war Karibin, Mitte vierzig und trug einen akkurat geschnittenen Bob. »Ich bin Stephanie Clarke«, stellte sie sich vor. »Leiterin der psychiatrischen Abteilung.«
Stephanie schenkte mir ein nicht überzeugendes Lächeln. Als ich ihre Hand schüttelte, stellte ich fest, dass ihr Griff fester war als der von Yuri und um einiges weniger einladend.
»Als Leiterin der geschlossenen Psychiatrie«, sagte sie, »steht Sicherheit für mich an oberster Stelle. Sowohl die Sicherheit der Patienten als auch die der Angestellten. Wenn Sie nicht sicher sind, sind es Ihre Patienten erst recht nicht.« Sie reichte mir ein kleines Gerät, einen Personenalarm. »Das hier tragen Sie die ganze Zeit über bei sich. Lassen Sie den Alarm auf keinen Fall in Ihrem Büro liegen.«
Ich widerstand dem Drang zu erwidern: »Jawohl, Ma’am.« Es war besser, ich stellte mich auf ihre Seite, wenn ich ein leichtes Leben haben wollte. Diese Taktik hatte bereits bei vorherigen Vorgesetzten funktioniert – vermeide jegliche Konfrontation und halte dich unter dem Radar.
»Schön, Sie kennenzulernen, Stephanie«, sagte ich lächelnd.
Stephanie nickte, aber sie erwiderte mein Lächeln nicht. »Yuri wird Ihnen Ihr Büro zeigen.«
Sie drehte sich um und marschierte davon, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
»Kommen Sie mit«, sagte Yuri.
Ich folgte ihm zum Eingang der Station, die mit einer großen, verstärkten Stahltür gesichert war. Daneben befand sich ein Metalldetektor, überwacht von einem Sicherheitsmann.
»Ich gehe davon aus, Sie kennen die Vorschriften«, sagte Yuri. »Keine spitzen Gegenstände – nichts, was man als Waffe benutzen könnte.«
»Keine Feuerzeuge«, fügte der Sicherheitsmann hinzu, als er mich filzte, und zog mit einem entschuldigenden Blick mein Feuerzeug aus meiner Tasche.
»Verzeihung«, sagte ich. »Das hatte ich ganz vergessen.«
Yuri bedeutete mir, ihm zu folgen. »Alle sind bei der Gruppentherapie, deshalb ist es im Augenblick ziemlich still hier«, sagte er.
»Darf ich teilnehmen?«
»An der Gruppensitzung?« Yuri wirkte überrascht. »Wollen Sie sich nicht erst einmal einleben?«
»Das kann ich später auch noch. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern mitmachen.«
»Wie Sie wollen. Hier entlang.«
Er führte mich durch Verbindungsgänge, voneinander abgetrennt durch verschlossene Türen – ein Rhythmus aus Türenknallen, Riegelvorschieben, Schlüssel-in-Schlössern-Drehen. Wir kamen nur langsam voran.
Es war nicht zu übersehen, dass über die Jahre nicht viel investiert worden war, um das Gebäude zu erhalten: Farbe blätterte von den Wänden, in den Fluren hing ein schwacher, modriger Geruch nach Schimmel und Verfall.
Yuri blieb vor einer verschlossenen Tür stehen und wies darauf. »Da sind sie drin«, sagte er. »Nach Ihnen!«
»Danke.«
Ich zögerte, wappnete mich. Dann öffnete ich die Tür und ging hinein.
Die Gruppensitzung wurde in einem lang gezogenen Raum mit hohen, vergitterten Fenstern abgehalten, aus denen man über eine rote Backsteinmauer hinwegsehen konnte. Es roch nach Kaffee, vermischt mit Spuren von Yuris Aftershave. Etwa dreißig Leute saßen in einem Kreis. Die meisten hielten Pappbecher mit Tee oder Kaffee in den Händen, gähnten und gaben ihr Bestes, um wach zu bleiben. Manche von denen, die ihren Kaffee schon ausgetrunken hatten, spielten mit den leeren Bechern, zerknüllten sie, strichen sie wieder glatt oder rissen sie in Fetzen.
Die Gruppensitzungen fanden ein- bis zweimal täglich statt; eine Art Zwischending zwischen einer Verwaltungskonferenz und einer Therapiestunde. Auf der Tagesordnung standen der Betrieb und die Leitung der Abteilung oder die Pflege der Patienten. Es war, wie Professor Diomedes gern betonte, ein Versuch, die Patienten in ihre Behandlung mit einzubeziehen und sie dazu zu ermutigen, Verantwortung für ihr Wohlbefinden zu übernehmen – überflüssig zu erwähnen, dass dieser Versuch nicht immer von Erfolg gekrönt war. Diomedes’ Vorgeschichte, die Gruppenanalyse betreffend, bedeutete, dass er ein Faible für Versammlungen aller Art hatte, und er förderte Gruppenarbeit so viel wie möglich. Man könnte sagen, dass er mit einem Publikum am glücklichsten war. Ihn umgab die Aura eines Theaterdirektors, dachte ich, als er aufstand, um mich zu begrüßen. Die Hände einladend ausgestreckt, bedeutete er mir, zu ihm zu kommen.
»Theo! Da sind Sie ja. Setzen Sie sich zu uns, setzen Sie sich zu uns!«
Er sprach mit einem leichten griechischen Akzent, der nur herauszuhören war, wenn man ganz genau achtgab, da Diomedes mittlerweile seit über dreißig Jahren in England lebte. Der Professor war ein gut aussehender Mann, der die sechzig bereits überschritten hatte, wenngleich er um einiges jünger wirkte. Seine jugendliche, schelmische Art erinnerte eher an einen respektlosen Onkel als an einen Psychiater. Was nicht bedeutete, dass er sich nicht hingebungsvoll den Patienten in seiner Obhut widmete – er traf morgens schon vor den Putzleuten ein und blieb noch lange, nachdem der Nachtdienst das Tagespersonal abgelöst hatte. Manchmal verbrachte er sogar die Nacht auf der Couch in seinem Sprechzimmer. Diomedes, der zweimal geschieden war, beteuerte gern, er habe seine dritte und erfolgreichste Ehe mit dem Grove geschlossen.
»Setzen Sie sich hierher«, sagte er und deutete auf einen leeren Stuhl an seiner Seite.