Christine Ferrari

mit Andrea Micus

Die Safranfrau

Die wahre Geschichte einer Frau,
die von Berbern gelernt hat,
einfach glücklich zu sein

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Christine Ferrari

Christine Ferrari, geb. 1960 in Basel, lebt seit zehn Jahren in Marokko. Während der Erntezeit beschäftigt sie bis zu fünfzig Berberinnen und die Qualität ihres »roten Goldes« ist weltweit bekannt. Christine Ferrari, geb. 1960 in Basel, lebt seit zehn Jahren in Marokko. Während der Erntezeit beschäftigt sie bis zu fünfzig Berberinnen und die Qualität ihres »roten Goldes« ist weltweit bekannt. Ihr botanischer Garten fasziniert Touristen aus der ganzen Welt.

Impressum

© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2019 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regina Carstensen

Bildnachweis: Alle Fotos privat;
Safranblüte: Gts/Shutterstock.com

Covergestaltung: Isabella Materne

Coverabbildung: Shutterstock/Gts; Lukiyanova Natalia frenta

ISBN 978-3-426-45474-9

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Glück widerfährt dir nicht –
Glück findet der, der beharrlich danach sucht …

 

Sprichwort der Berber

Eins

 

Durchatmen!« Als ich dieses Wort zufällig im Internet lese, trifft es mich mitten ins Herz. Es ist Herbst 2006, und ich wünsche mir nichts mehr, als einmal durchzuatmen. Ich arbeite in der Gemeindeverwaltung, habe Verantwortung für fünfundvierzig Mitarbeiter. Ein Knochenjob, sowohl zeitlich als auch inhaltlich. Seit Monaten fühle ich mich wie ein gehetztes Tier. Mir sitzt die Verantwortung im Nacken, und ich eile von Termin zu Termin, ohne jemals das Gefühl zu haben, mein Arbeitspensum geschafft zu haben. Es gibt nicht mehr die Gewissheit, fertig zu werden. Es gibt nur die Gewissheit, dass etwas liegen geblieben ist. Nachts schlafe ich schlecht. Meist liege ich nur starr da, und in meinem Kopf drehen sich die Gedanken, ich überlege wieder und wieder, wie ich den nächsten Tag überstehen soll. Wie kann ich sämtliche Termine, Besprechungen und Aufgaben so anordnen und erledigen, dass ich eine Chance habe, alles zu schaffen? Egal wie lange ich im Dunkeln liege und grübele: Das Ergebnis ist immer gleich. Gar nicht! Es geht nicht! Ich kann die unterschiedlichen Bausteine zusammenstellen, wie ich will, heraus kommt nur eins: Ich habe zu wenig Zeit für die Fülle der Aufgaben. Und irgendwann schlafe ich erschöpft über den Wirrwarr in meinem Kopf ein.

»Durchatmen!« Das wär’s. Einfach mal nichts tun, Zeit vertrödeln und die Gedanken Gedanken sein lassen.

Ich lese abermals das verführerische Wort. Es steht auf der Webseite eines Anbieters von Wüstentouren in Marokko, und als ich das Sahara-Foto betrachte, tauchen längst verloren geglaubte Bilder wieder auf.

Als Kind war ich mit meinen Eltern oft in Tunesien gewesen. Seitdem liebe ich den Orient, die Gerüche, die leuchtenden Farben, die so geheimnisvoll und märchenhaft gekleideten Menschen. Neugierig lese ich weiter. Das Reiseunternehmen gehört einer Berberfamilie. Es werden geführte Wüstentouren angeboten. In der Gruppe oder allein. O ja, allein, ohne höflichen Small Talk und ohne Rücksicht auf irgendwelche Erwartungen anderer, das wär’s.

An diesem Abend liege ich im Bett und träume mich weit weg. Die Vorstellung, in die Wüste zu fahren, zieht mich in ihren Bann. Noch in der Nacht treffe ich eine Entscheidung.

Ja! Ich mache das! Ganz spontan. Wie von einem unsichtbaren Band gezogen, buche ich schon am nächsten Tag eine einwöchige Tour, und knapp vier Wochen später geht’s los.

* * *

Ich lande frühmorgens in Marrakesch. Der Taxifahrer fährt mich gekonnt durch die Straßen bis an den Rand der Medina, der Altstadt. Gemeinsam laufen wir durch die verwinkelten Gassen, begleitet vom lauten Poltern meines Rollkoffers. Es bleibt noch Zeit für einen Kaffee auf dem berühmten Djemaa el-Fna, dem riesigen Marktplatz mit dem bunten Treiben, auch Gaukler-Platz genannt, und einen Blick auf die eindrucksvolle Koutoubia-Moschee.

Dann wartet bereits Hassan auf mich, er soll mich in die Wüste bringen. Gut acht Stunden geht es in einem sandfarbenen Land Rover Richtung Zagora, einer Wüstenstadt, nur wenige Kilometer von der algerischen Grenze entfernt.

Wir fahren durch immer neue Landschaften, mal grüne, satte Täler, mal karge Gerölllandschaften, und immer wieder kleine Ortschaften. Alles untermalt von arabischer Musik, die im Radio gespielt wird. Am Straßenrand bieten Händler ihre Waren an. Wir kommen nach Ouarzazate. »Eine berühmte Filmstadt«, erklärt Hassan und zeigt auf ein Straßenschild, das zu mehreren Studios führt. »Hier wurden der Gladiator und Die Päpstin gedreht.«

Ich bin fasziniert, weil ich mit einer Art Hollywood nicht an diesem Ort gerechnet habe, und nehme mir fest vor, einmal die Studios zu besichtigen. Heute ist keine Zeit, leider, aber wir stärken uns in einem winzigen Lokal mit Fladenbrot und etwas Salat.

Danach geht es über eine kurvige Gebirgsstraße einen Pass hinauf, auf großer Höhe steuert Hassan uns durch die kleine Stadt Agdz und ihre Oasen, anschließend durch die endlosen Palmenhaine des Draa-Tals. Hier wachsen Feigen und Datteln in Hülle und Fülle. So stelle ich mir das Paradies vor.

Wir kommen durch Dörfer, die oft nur aus wenigen Lehmhütten bestehen. Ich sehe Frauen, die ihre Wäsche im Fluss waschen, Männer, die vor den Türen sitzen und eifrig reden, Kinder, die sich in Bewässerungskanälen mit Wasser bespritzen. Die Stimmung ist unbekümmert und entspannt. Ich grüße die Menschen, winke ihnen zu, und genauso freundlich winken sie zurück.

Unterwegs sehe ich zahlreiche Kasbahs, einst kleine Burgen und Festungen, die aus rotem Lehm gebaut sind und vielfach am Rande von Oasen stehen. Meist sind es heute einfache Unterkünfte, und weil ich darum bitte, genießen wir im Garten einer solchen Kasbah einen Pfefferminztee unter Palmen.

Schließlich erreichen wir Zagora, die sagenumwobene Oasenstadt, in der früher die großen Trans-Sahara-Karawanen ins viele Tagesreisen entfernte malische Timbuktu aufbrachen. Die Erde ist an manchen Stellen so trocken, dass die Risse den Boden wie ein Puzzle aufbrechen.

Bei einem Zwischenstopp im Büro des Reiseunternehmens lerne ich Abdou, den ältesten Sohn, kennen. Er wird die Tour mit mir machen. Abdou ist ein groß gewachsener Mann mit einem scharf geschnittenen Gesicht, dunklen, blitzenden Augen und wild ins Gesicht fallenden tiefschwarzen Locken. Er ist zünftig gekleidet, trägt eine leuchtend blaue Djellaba, dazu Sandalen. Zu meiner Überraschung spricht er fließend Deutsch. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin, pendelt aber regelmäßig nach Marokko. Eigentlich hätte einer seiner fünf Brüder die Tour mit mir machen sollen, doch der ist krank geworden. Jetzt springt Abdou ein, und Soufiane, sein jüngster Bruder, hilft ihm bei den Vorbereitungen.

Soufiane, ein kleiner, etwas molliger junger Mann, bringt mich ins nahe gelegene Gästehaus der Familie, einen großen Lehmbau mit einer blauen Metalltür, auf der ein goldfarbenes Familienwappen prangt. Die Inneneinrichtung ist für europäische Vorstellungen karg. Es gibt mehrere Zimmer und einen großzügigen Salon. Keine Sofas, keine Betten, nur Teppiche am Boden, einen Stapel gewebter Matten zum Schlafen. Von den Decken baumeln Glühlampen. Im Salon mache ich einen Gaskocher mit einer Teekanne aus. Das war’s.

Aber das Gebäude liegt inmitten einer grünen Oase mit Hunderten von Palmen. Es ist ein reizvoller Ort. Im Garten blüht es üppig, Hibiskus, duftende Rosen, Bougainvilleen. Die Sonnenstrahlen brechen sich in den gefächerten Blättern der Palmen. Es riecht nach Kräutern, verschiedenen Blüten und trockener Erde. Vögel zwitschern, und Palmwedel rascheln aneinander. Traumhaft schön.

Nach einer kurzen Erfrischungspause serviert mir Hanan, Abdous Mutter, eine rundliche kleine Frau mit buntem Schleier, das Abendessen. Ich bin der einzige Gast, und sie hat viel Zeit für mich. Auf einem Tablett bringt sie mir einen rotbraunen traditionellen Lehmtopf mit spitzem Deckel, aus dem es köstlich duftet.

»Das ist eine Tajine«, erklärt sie mir auf Französisch. »So heißt bei uns das Gericht, aber auch das Gefäß.«

»Und was bereitet man darin zu?«, möchte ich wissen.

»Alles Mögliche, Kartoffeln, Gemüse, Fleisch, Fisch; es gibt unzählige Rezepte. Man schichtet alles aufeinander hinein«, klärt mich Hanan auf. »Und dann stellt man den Topf auf ein Feuer. Die eigenwillige Form sorgt dafür, dass die Hitze gleichmäßig verteilt und lange gehalten wird.«

»Das ist ja wie unser Schmortopf in Europa, nur in einer nordafrikanischen Variante.«

Hanan lacht. »Vermutlich ja, aber ich kenne die europäischen Schmortöpfe nicht so genau. Doch ich weiß, wir machen sogar Süßspeisen in einer Tajine!«

»Das funktioniert?«, frage ich ungläubig.

»O ja, mit Nüssen, Obst und Zucker zaubern wir die herrlichsten Dinge. Du musst mal privat zu uns kommen. Ich zeige dir dann alles.« Hanan ist eine herzliche, offene Frau, die geduldig alle meine Fragen beantwortet.

Während mir Tariq, einer der Mitarbeiter, Tee einschenkt, hebt sie schwungvoll den Deckel. Ich bediene mich direkt aus der Tajine, und als Besteck verwende ich das wunderbar duftende Fladenbrot.

Ich sitze auf dem Boden, bequem gekleidet in einer himmelblauen Djellaba, die ich mir gleich nach der Ankunft in einem benachbarten Souk gekauft habe. Der Eintopf schmeckt sehr aromatisch, nach Sonne und Orient. Ich fühle mich nur wohl, genieße die Wärme, die fremden Gerüche, das Flair von Tausendundeiner Nacht. In der Ferne knattern Mopeds, ich höre einen Esel schreien, dazwischen Stimmen. Es ist schon spät, als ich in mein Zimmer gehe, und ich schlafe auf den dicken Decken wohlig warm und so tief wie seit Jahren nicht mehr.

* * *

Am nächsten Morgen geht’s hinaus ins Basislager für das Wüstentrekking, noch einmal liegt eine zweistündige Autofahrt im Jeep vor uns.

»Hier, nimm das!« Abdou drückt mir vor der Abreise ein Stück einer Ingwerwurzel in die Hand. »Das musst du kauen. Es hilft gegen Übelkeit.«

»Weil die Kamele so schwanken?«, scherze ich.

Abdou lacht. »Ja klar. Hilft aber auch im Auto.«

Wir sind jetzt zu acht. Abdou, Soufiane, Tariq und weitere Mitarbeiter. Ich höre zum ersten Mal marokkanisches Tamazight, die Berbersprache in dieser Gegend. Ich spreche fließend Französisch, das neben Arabisch die Amtssprache in Marokko ist. Aber Tamazight hat nichts damit zu tun. Ich verstehe kein Wort.

Früher hatte ich nie darüber nachgedacht, was Berber und Araber voneinander unterscheidet. Aber jetzt sind zwei Berber mit im Trekkingteam, zusammen ziehen wir in die Wüste. Deshalb habe ich schon zu Hause einiges über sie gelesen.

Die Berber zählen zu den indigenen Ethnien Nordafrikas. Sie waren in diesem Landstrich, bevor die Römer kamen und die Araber, die Franzosen und viele andere Eroberer. Berber und Araber verbindet der Islam, ansonsten haben sie eine völlig andere Kultur, ihre Sprachen, ihre Feste, ihre Tänze haben nichts Gemeinsames. Berber leben nach wie vor in Stämmen, unterteilt in Sippen und Großfamilien, viele nach wie vor als Nomaden. Die Tuareg gehören dazu, bei denen die Männer ihr Gesicht verschleiern.

Im Königreich Marokko leben mehrheitlich Berber. Die meisten siedeln im Süden des Landes und haben einen Alltag, der sich kaum von demjenigen ihrer Vorfahren unterscheidet. Es gibt zwar Antennen, Sonnenkollektoren, Autos und Wasserpumpen, doch die Felder werden häufig noch mit einem Hakenpflug bearbeitet, auch das Handwerk ist noch sehr traditionell. Die Wüste ist die ursprüngliche Heimat der Berber, und zwei von ihnen nehmen mich mit in diese.

Aber ganz gleich, ob ich mit Arabern oder Berbern die Wüste erobere, das Lachen ist international. Und steckt an. Wir haben viel Spaß auf der Fahrt.

Die Straße ist allerdings holprig, zu holprig. Mir wird übel, obwohl ich genau nach Anweisung ständig auf dem Stück Ingwer herumkaue. Ich bin erleichtert, als wir endlich vor einem großen, dunkelbraunen, aus Kamelwolle gewobenen Berberzelt stehen bleiben.

Als ich aus dem Jeep steige, fühle ich mich wie nach einem Schlag auf den Kopf; die Hitze steht hier wie eine Wand. Ich bekomme Angst. Wie soll man sich denn bei diesen Temperaturen bewegen? Plötzlich wimmelt es von helfenden Händen. Das Gepäck wird ausgeladen, Kisten, Säcke, Kanister, Seile, Lebensmittel. Zur Erfrischung bekomme ich Pfefferminztee, was sonst.

»Hier, das steck bitte in die Tasche.« Abdou hat dieses Mal keinen Ingwer, sondern ein Wermutkraut in der Hand. Es soll bei Magenschmerzen helfen.

»Meinst du, ich brauche es?«, frage ich herausfordernd. »Was wird denn gekocht, dass ich so etwas nötig habe?«

»Lass dich überraschen!«, kontert Abdou und zwinkert mir verschmitzt zu.

Ich mag ihn. Er wirkt auf mich sympathisch und trifft bei mir, der Touristin, immer den richtigen Ton. Locker, aufmunternd, vertraut, dabei respektvoll und distanziert. Es passt!

Ich muss schmunzeln. Irgendwie ist es schon komisch. Ich habe mir die ganze Zeit über keine Gedanken gemacht, wie es sein wird, mit zwei unbekannten Männern allein in der Wüste zu sein, sieben Tage, vierundzwanzig Stunden. Aber vom ersten Moment an ist alles völlig unkompliziert. Abdou und Tariq, der höchstens Anfang zwanzig ist, sind so, wie ich mir Berber vorgestellt habe: sehr stolz, sehr präsent, aber auch freundlich, höflich, hilfsbereit.

Anfangs wandern wir schweigend durch den Sand, die beiden Lastkamele und das dritte Reitkamel (für mich) trotten friedlich neben uns her. Ab und zu tauschen sich die beiden Männer in ihrer Sprache aus. Es klingt, als würden sie scherzen, und ich beginne die Melodie ihrer Sätze zu lieben, weil sie so wohlklingend und melodisch ist.

Erwartungsgemäß macht mir die Gluthitze zu schaffen. Die Hälfte der Zeit sitze ich auf meinem Reitkamel. Anders halte ich die Tour nicht durch. Nach drei Stunden machen wir Pause an einem von Tariq ausgesuchten schattenspendenden Baum.

Es gibt zuerst eine Orange, dann Tee, danach döse ich ein wenig vor mich hin, während uns Tariq Brot backen will. Gebacken im heißen Wüstensand. Ich hätte nie gedacht, dass es das gibt. Tariq gräbt dafür eine Kuhle in den Sand und macht darin ein Holzfeuer an. Anschließend knetet er aus Mehl, Wasser und Salz einen dicken Brotfladen. Aufmerksam sehe ihm zu.

»Für ein solches Aschebrot braucht man Zeit. In der Wüste hat man die«, ruft Abdou zu mir hinüber, während er ein paar Küchenutensilien auspackt.

Ich lehne mich entspannt an den Baum und tauche tief hinein in das Hier und Jetzt. Die Luft flirrt, nichts lenkt mich ab. Ich habe Zeit, viel Zeit.

Als die Holzscheite verbrannt sind und nur noch Glut übrig ist, bedeckt Tariq alles vorsichtig mit Sand, legt den Fladen darauf und gibt noch eine weitere Schicht Sand mit heißer Asche dazu. Nach einer Weile wendet er den Fladen. Als das Brot gar ist, klopft er mit einem Ästchen Sand und Asche ab, und fertig ist das frisch gebackene Brot.

»Das muss ja gleich furchtbar zwischen den Zähnen knirschen«, versuche ich einen Witz.

Abdou schüttelt den Kopf. »Abwarten!«, meint er lächelnd.

Tariq lässt mich probieren, und ich bin überrascht, wie köstlich es schmeckt. Es gibt dazu Olivenöl, etwas Konfitüre sowie den obligatorischen Pfefferminztee.

Abdou bringt ein Tablett mit Teegläsern und einer Zinnkanne, und ich beobachte das so wichtige Teeritual zum ersten Mal bewusst. Zuerst gibt er grünen Tee in die Kanne und gießt etwas kochendes Wasser darauf. Danach fügt er einen Brocken Zucker und einige Blätter Minze hinzu, dann noch mehr Wasser, bis die Kanne voll ist. Im nächsten Schritt kommt ein wenig Tee in ein Glas, und er probiert, ob der ausreichend Zucker enthält. Zum Schluss füllt er alle Gläser in einem hohen Bogen.

»Besaha! Auf die Gesundheit!« Abdou reicht mir das Glas.

Ich habe gar keine Lust auf Tee, aber ich habe gelernt: Ein Glas Tee abzulehnen gilt als unhöflich. Tee wird als Symbol für Gastfreundschaft gewertet. Deshalb greife ich mit einem freundlichen »Shukran. Danke« zu.

Irgendwann gibt Abdou das Zeichen zum Aufbruch, und mich erwartet abermals Sand, Sand, Sand. Ausgeleuchtet von der gnadenlos brennenden Sonne. Die Sanddünen sind in Wirklichkeit viel beeindruckender und atemberaubender, als ich es aus Büchern oder Filmen kenne. Die Farbe des Sandes wechselt ständig, von beige-golden bis rötlich braun. Die Höhe der Dünen verändert sich nicht augenfällig, aber faszinierend ist, wie der Wind über sie weht und den Sand wie feine Wirbel in die Unendlichkeit verteilt.

Und in dieser Kulisse setze ich, ohne nachzudenken, einen Fuß nach den anderen, wieder und wieder. Ich schweige, spüre, genieße, bin einfach nur da.

* * *

Ich schlafe in einem Zelt aus bunt gewebter Wolle. Auf dem Sandboden legt Abdou erst Sisalmatten aus, darauf dicke Decken. Zuletzt kommt mein Schlafsack. In einem weiteren Zelt werden die beiden Männer nächtigen. Nebenan wird die Kochstelle aufgebaut. Es gibt einen Gaskocher, eine Arbeitsplatte, eine Matte mit Tabletts und Geschirr. Das ganze Areal wird mit einem Zaun von einem halben Meter Höhe abgesteckt. Er dient als Schutz gegen den Sand.

Tariq legt nun eine blau-weiß karierte Plastiktischdecke in den Sand, darauf stellt er ein Silbertablett mit Salznuss-Snacks, Boobou genannt, später kommen Couscous und Gemüse hinzu. Ich staune, wie wenig man braucht, um für drei Personen richtig gut und schmackhaft zu kochen. Ich habe aufgepasst: zwei Pfannen, ein Schneidebrett, zwei Messer, ein paar Keramikschüsseln, drei Gabeln, drei Teelöffel. Das reicht.

Meine Küche zu Hause hat eine Größe von dreißig Quadratmetern und ist vollgestopft mit Haushaltsgeräten für viele Tausend Euro. Aber das, was dann auf dem Teller liegt, schmeckt nicht annähernd so gut wie das Gemüse, das ich jetzt genieße.

Statt Besteck gibt es übrigens wie am ersten Abend nur Fladenbrot. Zur Beleuchtung flackern Kerzen in zwei leeren, auseinandergeschnittenen Plastikwasserflaschen, die sich in den Sand bohren und uns als stimmungsvolle Windlichter dienen. Mittlerweile hat Tariq unser Lagerfeuer angezündet.

Wir reden wenig. Ich lerne ein paar Brocken Berbersprache, nippe am Kräutertee und lausche der Stille. Wie lange? Keine Ahnung. Es ist auch nicht wichtig. Ich warte einfach darauf, dass mir bei gefühlten fünf Grad irgendwann die Augen zufallen.

Hinter dem Horizont, rund 450 Kilometer Richtung Westen, liegt der Atlantik, wenige Kilometer Richtung Osten verläuft die algerische Grenze. Aber auch das spielt keine Rolle.

* * *

Ist heute Montag, Dienstag oder Mittwoch? Ist es elf Uhr oder fünfzehn Uhr? Ich weiß es nicht. Seit einer gefühlten Ewigkeit liege ich im Schatten einer Tamariske, ausgestreckt auf zwei übereinandergelegten Berberteppichen, und beobachte, wie der heiße Wüstenwind mit ein paar Weizengräsern spielt. Sanft drängt er sie zur Seite, mal berühren sie sich, mal lösen sie sich, um wenige Augenblicke später wieder zueinanderzufinden. Ein Wüstenkäfer krabbelt jetzt auf einen der Halme, hangelt sich gekonnt bis zur Spitze, um dann mit einem beherzten Sprung auf den benachbarten Stängel zu springen.

Der Wind bläst plötzlich ungewohnt heftig und gräbt eine tiefe Spur in den Sand. Ich greife hinein und lasse den Sand durch meine Finger rieseln, beobachte, wie der Wind die Körner zerstäubt.

Perfekt geschützt durch mein himmelblaues Tuch, den Tagelmust, das ich allmählich auch allein binden kann, schaue ich weiter gebannt auf den Schauplatz, der so fesselnd erscheint wie nichts anderes auf der Welt.

Ich atme tief durch, rieche jedoch nichts. Sand ist geruchlos. Und dann ist da wieder diese unvorstellbare Stille. Ich kenne sie von Bergtouren in den Alpen und war schon immer vor ihr angetan. Aber hier in der Wüste hat diese Stille noch eine andere Dimension. Sie umfängt mich warm wie der Wüstenwind. Und sie nimmt mir Vergangenheit und Zukunft. In der Wüste lebe ich im Hier und Jetzt. Ich bin einfach nur da. Höre, sehe, fühle, spüre. Es ist unvergleichlich.

Zum ersten Mal in meinem Leben erfahre ich, was es bedeutet, ein paar Tage nur mit mir allein zu sein, zu lauschen, zu beobachten, zu schweigen, und ich habe das Gefühl, mich hier ganz neu zu entdecken.

Meine Güte, kann das Leben entspannt sein. Zum ersten Mal seit Langem nehme ich mich als selbstbestimmt, als fokussiert wahr, irgendwie ganz und gar bei mir. Nichts zerrt und reißt an mir, niemand setzt mich unter Druck oder schiebt mich irgendwohin. Ich muss nichts tun, nicht funktionieren, nichts entscheiden, nicht handeln. Ich muss nichts, aber ich kann, in diesem Fall: einfach liegen bleiben, Tee trinken und dorthin sehen, wo mich das Auge haben will. Wie lange? Egal.

Ich weiß nicht, ob es mit dem Moment zu tun hat, aber gerade denke ich, dass ich in meinem bisherigen Leben noch nie so ruhig war wie in diesem Augenblick. Es fühlt sich alles anders an.

Abdou hockt vor mir, streckt mir lächelnd einen Becher mit Wasser entgegen.

»Hier, trinke das bitte. Du hast heute nicht genug Wasser zu dir genommen.«

»Danke, ich vergesse sogar das Trinken«, sage ich und lächle ihn dabei an. Abdou ist sehr, sehr fürsorglich. Er hat die Verantwortung, muss mich wohlbehalten ins Basislager zurückbringen. Es fehlt mir an nichts.

»Das Mittagessen braucht noch eine Weile«, fährt er fort und weist mit dem Kopf zu Tariq. »Lass dir Zeit zum Träumen.«

Die Uhr habe ich bereits im Gästehaus zurückgelassen. Die Vorstellung von Zeit hat sich seitdem verändert.

»Sag mal, wie spät ist es eigentlich?«, will Abdou jetzt wissen und zieht mich zum wiederholten Mal mit dieser Frage auf. Ich spiele mit, bombardiere ihn mit willkürlichen Uhrzeiten, und er schüttelt wiederholt den Kopf, erklärt mir aber, wie man anhand des Sonnenstands die Zeit fast punktgenau bestimmen kann. Oder besser: nicht wie man das kann, sondern wie man das als Berber kann. Ich werde das nie verstehen. Aber ich lerne viele andere Dinge. Zum Beispiel, wie man Kamelspuren liest und feststellen kann, wie weit entfernt die Tiere sind. Ich lerne, wie man sich orientieren kann. Für alle, die in der Wüste überleben wollen, ist das unerlässlich. Ich lerne, mit wenig Wasser zurechtzukommen und doch genau so viel zu trinken, dass es meinem Körper guttut. Ich lerne auch, wie hilflos ich ohne meine modernen Gerätschaften bin. Allein, ohne Technik, ausgesetzt in der Natur, bin ich absolut verloren. Ich kann nur noch eins perfekt: von Termin zu Termin hetzen.

Aber jetzt möchte ich wissen, wie es ist, wenn ich gar kein Zeitgefühl mehr habe. Ich möchte mich in der Zeitlosigkeit verlieren.

Ich schließe die Augen und kann die Stille förmlich atmen, die Hitze auf der Haut spüren. Die Wärme der Sonne ist beruhigend, und der Wind, Augen wieder auf, bewegt die Halme des Weizens und singt so ein sanftes Lied.

Was ist das? Vor mir krabbelt eine Wüstenameise, und in sicherer Entfernung steckt ein winziger Wüstenfuchs, ein Fennek, seinen Kopf aus seinem sandigen Bau. Er putzt sich mit seinen Pfötchen über das Gesicht, und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass er mich beobachtet. Wir haben uns beide im Visier, und vermutlich hat er noch nie eine Schweizerin so faul im Schatten liegen sehen. Ich nenne meinen kleinen Freund Timmy und sehe ihn so lange an, bis er sich plötzlich umdreht und zurück in den Bau huscht. Eine Stunde? Zwei Stunden? Wen interessiert das?

* * *

In der Wüste geht langsam die Sonne unter. Es ist meine letzte Nacht. Mir sind in den sieben Tagen exakt drei Menschen begegnet: ein Nomade, der uns eine Flasche köstlicher Ziegenmilch schenkte, und zwei Nomadenfrauen, die an einer Wasserstelle ihre Esel tränkten. Das war’s. In einer Woche habe ich in fünf Gesichter geblickt, verrückt. Und wir sind 150 Kilometer durch Sand gewandert. Auch das ist umwerfend.

Diese Nacht schlafen wir nicht im Zelt, sondern unter freiem Himmel. Es war Abdous Vorschlag.

»Hier, wickle dich ein«, sagt er und legt mir eine grob gewebte Decke über die Schultern.

Ich nehme sie dankbar an. Mir ist bereits kalt, und ich habe mich daran gewöhnt, umsorgt zu werden.

Der Himmel ist rabenschwarz, und die Sterne leuchten fast schon grell. Ein unfassbares Spektakel, und ich kann mich nicht daran sattsehen. Das Firmament – so habe ich es noch nie wahrgenommen. Das Licht ist klarer, brillanter, alles wirkt wie durch perfekt geschliffene Brillengläser. Und es ist wieder die Stille, die diese außergewöhnliche Schönheit hervorhebt. Ich kann mein Glück kaum fassen.

Tariq stellt mir einen Teller hin. Es gibt sein wunderbares Fladenbrot, einen Eintopf aus Gemüse, etwas Obst. Ich tunke das Brot in den Gemüsesud, schmecke, genieße, sehe in den glasklaren, wolkenlosen Abendhimmel und träume mich weiter in die Nacht.

Ich habe so viel Zeit hier, Zeit für Timmy, die Wüstenameise, für das Weizengras und jetzt für die Sterne. Nach dem leckeren Brot zurre ich mich fest in meinen Schlafsack und spüre, wie mich das Himmelsgewölbe wie eine leuchtende Decke umspannt. Huch, was war das nun wieder? Eine Sternschnuppe rast doch tatsächlich mit großer Geschwindigkeit über den Nachthimmel. Man darf sich etwas wünschen. Ich wünsche mir ein anderes Leben. Ob mein Wunsch in Erfüllung geht?

»Kannst du nicht schlafen?«, fragt Abdou in die Stille hinein.

Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung. Er hockt entspannt auf einer Berberdecke, und trotz der Dunkelheit erkenne ich, dass mich seine warmen Augen anstrahlen.

»Es muss komisch sein für dich, hier mitten in der Wüste zu liegen, heute sogar ohne Zeltdach. Bestimmt waren es die ersten Nächte, die du im Freien verbracht hast. Ihr Europäer seid es nicht gewohnt, unter dem Himmel zu schlafen!«

»Stimmt«, gebe ich ihm recht. »Ich glaube, ich habe wirklich noch nie draußen geschlafen.«

»Ist es aufregend?«

»Und wie! Ich werde diese Tage mein Leben lang nicht vergessen.«

»Du solltest wiederkommen«, meint Abdou.

Ich sage nichts dazu. Denn eigentlich möchte ich gar nicht mehr weg. Aber ich traue mich nicht, ihm das zu sagen. Er würde mich für verrückt halten.

»Kannst du dir vorstellen, diese Tour noch einmal mit mir zu machen?«, frage ich Abdou.

Er nickt. »Sehr gern. Ich führe viele Europäer durch die Wüste, und alle sind glücklich. Aber du lebst das hier.«

»Was meinst du mit du lebst das?«, hake ich nach.

»Du bist authentisch. Ich sehe, dass du das wirklich liebst, was du hier tust, und ich vermute mal, dass du wirklich überlegst, ob du hier leben möchtest. Du bist anders, Christine.«

»Anders? Inwiefern?«

»Du fühlst dich in uns Menschen ein, versuchst, uns zu verstehen, und du bist offen für Menschen, die so leben wie wir. Das macht dich besonders.«

»Wie wird man denn Berberin?«, frage ich und habe Lust, mit ihm herumzualbern.

»Berberin? Das schaffst du nicht mehr. Da fehlen dir ein paar Nomadengenerationen. Aber du würdest eine gute Berberschülerin werden.«

Ich lache laut auf. »Weißt du, in den letzten Tagen habe ich tatsächlich oft gedacht, dass ich hier leben möchte, für immer.«

»Das ist nicht ungewöhnlich. Einer Menge meiner Gäste gefällt es so gut bei uns, dass sie bleiben möchten. Aber es fehlt ihnen der Mut.«

»Mir nicht. Mir fehlt vielmehr eine Idee, wovon ich hier leben könnte.«

»Eine Idee? Das ist leicht. Wir haben so viele Gäste und nie genug Übernachtungsmöglichkeiten, zumindest keine, die einen europäischen Standard haben. Wenn du dir das vorstellen kannst, nur zu.«

»Gästehaus? Ich bin gelernte Hotelkauffrau!«, sage ich und sehe, dass Abdou sich aufrecht hinsetzt.

»Ach ja, wirklich? Da bin ich aber überrascht. Das passt ja hervorragend. Also, wenn du Mut und Know-how hast, dann ist es leicht. Ein gut geführtes Haus mit europäischem Standard wird ein voller Erfolg. Traust du dir das zu?«

»Und ob«, sage ich selbstbewusst.

»Also, wir könnten das zusammen machen. Wir haben ja ein Gästehaus, aber das ist nicht so exklusiv. Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam ein kleines Reiseunternehmen führen? Wir könnten Partner werden. Überlege dir das!«

Nachdenklich schaue ich ihn an. »Meinst du das ehrlich?«

»Natürlich!«

»Du musst wissen, ich habe den Mut und die Kraft, meine Träume umzusetzen. Also, ich denke darüber nach, ganz ernsthaft.«

Nach diesem Gespräch schlafe ich schnell ein. Ich weiß jetzt, dass mein Abschied nicht für immer ist. Das Leben in der Wüste, es tut mir gut.

* * *

Am nächsten Tag, unserem letzten, hat Abdou noch ein Highlight für mich bereit. Denn mitten in der Wüste stehe ich plötzlich und für mich völlig unerwartet vor der Verehrungsstätte eines Heiligen, eines Marabouts. Äußerlich wirkt es wie ein kleines orientalisches Märchenschloss und ein bisschen wie vom Himmel gefallen; unwirklich, fast kitschig, grotesk, wunderschön und in sanften Farben.

Ich darf nicht ins Innerste, das ist nur gläubigen Moslems vorbehalten. Aber ich darf mich im Schatten der kalkweißen Mauern ausruhen, und als dann Tariq in der Ferne ein melodisches Lied singt, lasse ich mich von dieser irrealen Stimmung mitreißen. Ich schließe die Augen und weiß genau, dass ich diesen Moment nie mehr vergessen werde. Ich hocke im heißen Sand, rücklings an die Mauer des geheiligten Orts gelehnt, und sehe in die Weite dieser mich atemlos machenden Landschaft, und ich weiß: Das hier wird mein Leben verändern, wird es auf den Kopf stellen. Nach diesem Moment in der Wüste ist nichts mehr, wie es einmal war. Er hat etwas mit mir gemacht, aber noch weiß ich nicht, was das ist.

Als ich mich wenige Stunden später von Abdou verabschiede, versuche ich es in seiner Sprache.

»Tenermird, anäschkirh, dor yadni, inschallah. Danke, ich komme wieder. So Gott will.«

Zwei

 

Die Maschine ist startbereit!« In wenigen Minuten hebt das Flugzeug ab, und ich verlasse Marrakesch. Es ist schon dunkel, und ich sehe die gelblichen Lichter der Stadt. Mein Herz ist schwer. Ich will nicht zurück. Gut, mir ist klar, dass ich in zwei Tagen im Büro erwartet werde. Bestimmt liegt ein Stapel Post auf meinem Schreibtisch. Garantiert sind auch bereits reichlich Termine in meinem Kalender vermerkt. Normalerweise habe ich sie selbst im Urlaub abrufbereit im Kopf. Aber dieses Mal ist alles anders. Ich habe verdrängt, was mich in der Heimat erwartet. Ich wollte nicht daran denken. Eine Woche lang habe ich im Hier und Jetzt gelebt und nicht in der Vergangenheit und auch nicht in der Zukunft. Ich wollte den Moment leben, und das war eine wunderbare Erfahrung. Aber diese sieben Tage haben mich verändert. Das, was immer so wichtig war in meinem Leben, spielt plötzlich keine Rolle mehr. Die Position, das Ansehen, meine Kleidung, die Wohnung. Ich habe all das nicht vermisst. Ich glaube sogar, dass ich all das gar nicht mehr brauche, vielleicht sogar nie gebraucht habe. Vielleicht bin ich mein ganzes Leben lang immer den falschen Wünschen und Zielen hinterhergelaufen und habe nie bemerkt, was wirklich wichtig ist, um glücklich zu sein. Während das Flugzeug startet, denke ich: Ich will ein Leben in der Natur, unter freiem Himmel, mit Menschen, die sich für mehr interessieren als den schönen Schein.

Marrakesch liegt jetzt tief unter mir. Es ist ein unwirkliches Bild. Man kann nur die Konturen der Häuser sehen, die milchige Beleuchtung. Der größte Teil des Landes unter mir ist stockfinster, weil niemand in dieser Weite lebt. Man sieht schon von hier oben, dass dieses Land Ruhe und Besinnung verspricht. Ich komme wieder, ganz bestimmt.

Und mit jedem Kilometer Richtung Heimat legt sich ein dumpfer Schleier auf mein Herz. Ich freue mich nicht auf zu Hause, nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, ich fliege in ein Leben, das zwar bislang gut war, mit viel Zufriedenheit, Liebe und Erfolg, aber das nicht mehr zu mir passt. Es ist ein falsches Leben.

* * *

Ich bin Schweizerin und wohne in einem Vorort von Basel. Mein Vater ist Laborant, meine Mutter Bankkauffrau und später Hausfrau. Mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Gabrielle, einfach nur Gaby genannt, werde ich umsorgt und wachse behütet auf. Vater macht viel Sport mit uns, meistens spielen wir Fußball, zumindest im Sommer. Im Winter sitzen wir häufig vor einer Modelleisenbahn und lassen zu dritt die Züge über die Schienen sausen. Mutter bastelt viel mit uns. Sie ist handwerklich geschickt, und unsere »Werke« stellt sie in der ganzen Wohnung aus. Wir sind immer mächtig stolz, und Mama lobt uns, als wären wir aufstrebende kleine Künstlerinnen. Es fehlt uns Mädchen wirklich an nichts.

Nach dem Schulabschluss mache ich eine Ausbildung zur Hotelfachfrau. Ich weiß noch genau, warum ich mich für diesen Weg entschieden habe: Ich habe Freude an fremden Sprachen, an fremden Menschen, am anderen. Vermutlich habe ich es von meinen Eltern.

Beide reisen gern. Mein Vater hat sich als junger Mann die halbe Welt angesehen, meine Mutter ist mit uns nach Tunesien gereist, als wir noch recht klein waren. Wir haben jedes Jahr Badeurlaub an den Küsten gemacht, in Hotels geschlafen und im Sand gespielt. Aber das war es nicht, was uns fasziniert hat. Unsere Mutter mochte den Orient und ist mit uns durch die geheimnisvoll duftenden und lebendigen Souks gestreift, hat uns an Kräutern und Essenzen schnuppern lassen. Sie hat uns farbenfrohe Turbane gebunden, und wir durften uns bemaltes Geschirr aussuchen. Wir mochten das Quirlige und Bunte und konnten nie genug bekommen von den herrlichen Stoffen mit den eingewebten Goldfäden. Aber ich mochte auch die herzlichen Menschen in ihren für mich märchenhaften Gewändern.

Ich mochte die dunklen Gesichter, aus denen mich schwarze Augen freundlich ansahen. Die Blicke berührten mein Herz. Ich fühlte mich wohl und weinte bittere Tränen, wenn es zurück nach Hause ging.