Graeme Simsion | Anne Buist
Zum Glück gibt es Umwege
Ein Jakobsweg-Roman
Aus dem australischen Englisch
von Annette Hahn
FISCHER E-Books
Bestseller-Autor Graeme Simsion (»Das Rosie-Projekt«), und seine Frau, Psychologin und Autorin Anne Buist, haben »Zum Glück gibt es Umwege« gemeinsam geschrieben, jeder aus seiner Perspektive. Beide haben den Jakobsweg von Cluny bis Santiago begangen, Örtlichkeiten und Wegbeschreibungen gehen auf eigenen Augenschein zurück, und so manche Begegnung auf dem Camino ist, fiktiv abgewandelt, in die Romanhandlung eingeflossen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Völlig überstürzt verlässt Zoe ihr Zuhause in Kalifornien. Vor drei Wochen ist ihr Mann gestorben und sie reist zu ihrer Schulfreundin Camille in Frankreich. Im Schaufenster eines Ladens in Cluny sieht sie einen muschelförmigen Anhänger und entschließt sich spontan, den »Chemin«, den Jakobsweg, zu gehen. Ein alter Freund Camilles, Monsieur Chevalier, verspricht ihr, dass »der Weg sie verändern werde« – eine Idee, die sie anspricht. Beim Aufbruch beobachtet sie einen Mann, den sie für einen französischen Ladendieb hält. Als sie ihm auf dem Weg erneut begegnet, ist sie entsprechend misstrauisch.
Tatsächlich ist der Mann der englische Ingenieur Martin. Er hat einen knie- und rückenschonenden Wanderkarren erfunden und einen Prototyp gebaut. Um die Karrentechnik zu testen, scheint ihm der Jakobsweg gerade passend – es gibt Wegweiser, Herbergen und jede Menge Gelegenheit, an dem Karren herumzubasteln. Nur ärgerlich, dass ihm gleich zum Wanderstart eine schlecht ausgerüstete Kalifornierin die vorgebuchte Unterkunft wegschnappt.
Martin und Zoe kämpfen jeder für sich mit frostigen Temperaturen, schrägen Mitwanderern und den Kapriolen des eher unhandlichen Karrens. Nach und nach revidieren sie ihre jeweiligen ersten Eindrücke, spüren die gegenseitige Anziehung. Aber sie sind eigentlich grundverschiedene Menschen. Und solche Begegnungen führen erfahrungsgemäß doch nie zu etwas. Oder vielleicht doch?
Weitere Romane von Graeme Simsion:
»Das Rosie-Projekt«
»Der Rosie-Effekt«
»Der Mann, der zu träumen wagte«
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel "Two Steps Forward" im Verlag Text Publishing Company, Melbourne, Australien.
© Graeme Simsion 2017
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Illustration der Landkarte: Simon Barnard
Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490681-2
Menschen, die mit uns wanderten,
Menschen, die uns Unterkunft gewährten,
und Menschen, die den Jakobsweg beständig instand halten, haben uns zu diesem Buch inspiriert.
Wir hoffen, es inspiriert andere, ihre eigene Reise anzutreten.
Irgendwann ist es Zeit aufzubrechen,
auch wenn man nicht weiß, wohin.
Tennessee Williams
Midlife bedeutet, dass man das Ende der Leiter
erreicht und erkennt: Sie lehnt an der falschen Wand.
Joseph Campbell
Das Schicksal offenbarte sich mir in Form einer silbernen Muschel, die ich in der mittelalterlichen Stadt Cluny in der Auslage eines Antiquitätengeschäfts entdeckte. Sie lag auf dem Rücken, als warte sie auf Botticellis Venus, die sie wohl mit bunten Edelsteinchen am Rand ihrer weiß emaillierten Innenfläche zu locken versuchte. Aus irgendeinem Grund lockte sie mich.
Vielleicht wollte mir das Universum eine Botschaft übermitteln – da mein Kopf sich noch in einer anderen Zeitzone befand, war das schwer zu ergründen. Seit ich mein Haus in Los Angeles ein allerletztes Mal verlassen hatte, war ich vierundzwanzig Stunden unterwegs gewesen und gleichsam gefühllos. Ich schätze, ich stand noch immer unter Schock.
LAX: »Nur ein Gepäckstück?« Ja, und darin mein gesamter Besitz, abgesehen von den drei Kisten Papierkram, die ich meinen Töchtern zurückgelassen hatte.
Flughafen Charles de Gaulle: unangenehmer Schalterbeamte, der mir vor einer Frau mit Burka den Vorzug geben wollte. Meinen Protest verstand er nicht, was jedoch gut war, weil er sie dann in die Pass-Schlange der Europäischen Union schickte, in der es weitaus schneller voranging als in meiner außereuropäischen Schlange.
Der Einreisebeamte: jung, perfektes Englisch. »Holiday?« Und als ich ihm meinen Pass zeigte: »Vacation?« Jetzt also noch mal mit amerikanischem Vokabular.
»Oui.« Das musste als Antwort erst mal reichen.
»Wo werden Sie wohnen?«
»Avec une amie á Cluny.« Ich meinte Camille, die ich ein Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen, und einen Urlaub, zu dem sie mich seit unserer gemeinsamen College-Zeit in St. Louis immer wieder gedrängt hatte. Und den Keith dreimal gecancelt hatte.
Unterdrücktes Schmunzeln über mein Schulfranzösisch. »Ihr Visum ist neunzig Tage für ganz Kontinentaleuropa gültig und läuft am 13. Mai ab. Wenn Sie länger bleiben, machen Sie sich strafbar.« Das hatte ich nicht vor. Mein Rückflug ginge sogar schon in einem Monat. Falls mein Geld überhaupt so lange reichte.
Im Zug Richtung Zentrum: Paris! Trotz allem, was passiert war, verspürte ich ein freudiges Kribbeln bei der Vorstellung, im Musée d’Orsay vor einem Monet zu stehen, im Centre Pompidou eine Ausstellung zu besuchen oder in einem Café auf dem Montmartre eine elegante Französin zu skizzieren.
Metro-Station Cluny – La Sorbonne, mitten im Quartier Latin: »Hier ist nicht das Cluny, das Sie suchen. Ihre Adresse liegt in der Bourgogne. Das ist nicht weit. Weniger als zwei Stunden mit dem TGV, dem Schnellzug Richtung Mâcon.«
Gare de Lyon: »Einhundertsiebenundvierzig Euro.« Sollte das ein Witz sein? »Der langsame Zug ist billiger. Aber der fährt nicht von hier.«
Gare de Bercy: »Vier Stunden, neunzehn Minuten, dann weiter mit dem autobus. Einhundertfünfunddreißig Euro. Nur für den Zug.«
Als ich Cluny endlich erreichte – südöstlich von Paris, auf halber Strecke Richtung Italien –, ging gerade die Wintersonne unter, und bei leichtem Nieselregen hingen runde Lichthöfe um die Laternen. Ich hatte es nur geschafft, weil völlig Fremde mich von Bahnsteigen zu Fahrkartenschaltern zu Bushaltestellen weitergereicht hatten wie einen Staffelstab. Womit sie gutes Karma gesammelt haben.
Meinen Koffer im Schlepptau, folgte ich den Schildern ins Centre-Ville. Eines der Räder rappelte mittlerweile ganz entsetzlich, und ich hoffte, Camilles langatmige Beschreibung würde sich in einen kurzen Weg übersetzen. Gleichzeitig mit Strom und Wasser hatte ich auch mein Handy abgemeldet.
Irgendwann stieß ich auf einen großen Platz, der auf einer Seite von einem gigantischen Kloster beherrscht wurde.
Eine Gruppe junger Männer und eine Frau trudelten aus einer Bar. Sie trugen lange graue Mäntel mit handgemalten Mustern darauf. Vom Mantel der Frau war ich besonders angetan: der Künstler oder die Künstlerin hatte sehr gelungen die Farben und Schnörkel japanischer Anime übertragen.
Ich schaffte ein Excusez-moi, ehe mich mein Französisch verließ. »Kunststudentin?«
»Maschinenbau«, erwiderte sie auf Englisch.
Ich zeigte ihnen Camilles Wegbeschreibung. »Geh über den Platz« hatte sie auf Französisch geschrieben, aber nicht, in welche Richtung.
»Wir kennen uns hier auch nicht so gut aus«, sagte die Studentin. »Besser, Sie fragen in einem Geschäft nach.«
So landete ich dann vor der Antiquitätenhandlung, die ich wegen der Gans aus dunklem Metall, die sich vor der Tür reckte, zunächst für eine Fleischerei gehalten hatte. Ich hatte schon immer eine Affinität zu Gänsen gehabt. Sie arbeiten als Team, kümmern sich umeinander und sind lebenslang monogam. Außerdem ist die Gans das Symbol für Suche oder Richtung – und ich suchte gerade den richtigen Weg zu meiner dusseligen College-Freundin.
Der Sog der steinverzierten Muschel im Fenster war stark, fast schon unheimlich. Nach den jüngsten Ereignissen hatte ich mich gefragt, ob ich mit dem Universum überhaupt noch in Einklang lebte – es schien also klug, einem so klaren Signal zu folgen. Mit meinem Koffer polterte ich die Stufen hinauf.
Ein gepflegter Mann um die Fünfzig mit schmalem Oberlippenbärtchen lächelte leicht verkrampft. »Bonjour, Madame.«
»Bonjour, Monsieur. Äh … das da.« Ich zeigte mit dem Finger. »S’il vous plaît.«
»Madame ist Amerikanerin?«
»Ja.« War das so offensichtlich? Er reichte mir den Talisman, und als ich ihn in Händen hielt, überkam mich das Gefühl, auf das ich mich bei allen wichtigen Entscheidungen meines Lebens verlassen hatte: So soll es sein.
»Madame will den Chemin gehen?«
»Pardon …?«
»Der Camino Francés. Nach Santiago de Compostela.«
Zu diesem Pilgerweg durch Spanien hatte ich vage Assoziationen – beim Blättern in Shirley MacLaines Autobiographie war ich vor einiger Zeit darauf gestoßen. Was dieser Muschel-Talisman, der mich mitten in Frankreich angelockt hatte, damit zu tun haben sollte, war mir jedoch schleierhaft.
Mein verständiges Nicken wertete der Antiquitätenhändler wohl als Bestätigung, dass ich wortwörtlich auf Shirley MacLaines Spuren wandeln wollte.
»Diese Muschel wird Madame sicher nach Santiago bringen.«
»Ich will nicht nach … Warum diese Muschel?«
»Das ist ein Jakobsmuschel, der Symbol von Pilgerweg. Zum Grab von Apostel Jakobus. In Santiago.«
»Okay …«
»Der Schiff von Heilige Jakobus war voll mit diese Muscheln …«
Das stand allerdings in keiner der Bibeln, die ich bisher gelesen hatte. Ich drehte die Muschel in meiner Hand, schloss die Augen und versank einen Moment in den Gedanken und Gefühlen, für die ich bislang zu abgelenkt gewesen war. Der Antiquitätenhändler hüstelte.
»Wie viel?«, wollte ich wissen.
»Zweihundertfünfzehn Euro.«
Dollar und Euro: in etwa gleich. Ich hatte noch nie mehr als hundert Dollar für ein Schmuckstück ausgegeben.
»Die ist aus später neunzehnter Jahrhundert«, erklärte er. »Vergoldete Silber und Emaille. Möglicherweise gehörte jemand aus Österreichisch-Ungarische Monarchie.«
»Ich bin sicher, sie ist es wert.« Nun ja, nicht allzu sicher. »Aber das kann ich mir nicht leisten.« Das wäre so gewesen, als hätte der gute Jack in dem Märchen sein ganzes Geld für die Bohnen ausgegeben.
»Der Chemin kostet nicht viele Geld. Pilger bekommen viele umsonst.«
»Nein … merci«, sagte ich und legte die Muschel wieder hin.
Madame hatte nicht vor, weiter als bis zu Camille zu gehen. Der Antiquitätenhändler wirkte enttäuscht, wies mir jedoch in einem Mischmasch aus Englisch und Französisch den Weg.
Ich zog meinen Koffer eine Anhöhe hinauf und hoffte, ich hätte à droite nicht mit tout droit verwechselt – nicht rechts mit geradeaus. Der Talisman ging mir nicht aus dem Sinn. Das Schicksal spricht zu jenen, die zu hören bereit sind.
Als ich den alten Stadtkern hinter mir gelassen hatte, sah ich nach oben. Auf dem Hügel lag ein Friedhof, und auf der Kuppe zeichnete sich gegen den langsam dunkler werdenden Himmel eine riesige Ulme ab. Ein großer schlanker Mann lief darauf zu und zog etwas hinter sich her, das wie eine kleine Schubkarre aussah. Es war ein seltsamer Anblick, aber das einzelne Rad seines Fahrzeugs lief weitaus runder als meine Kofferrolle, die sich genau diesen Moment aussuchte, um kaputtzugehen.
Meine letzte Probefahrt mit dem Karren, rauf zum Friedhof und wieder runter, setzte den Schlusspunkt unter ein Projekt, das sechs Monate zuvor begonnen hatte: an einem sonnigen Tag, an dem jede Menge Touristen durch Cluny spazierten und ich meinen Morgenkaffee im Café du Centre trank.
So mancher könnte es für Glück halten, dass ich ausgerechnet in dem Moment, als der Holländer die Straße entlangtaumelte, an einem der Außentische saß. Es gibt nun mal Menschen, die eher an das Zufällige glauben als an gute Vorbereitung und was man aus gebotenen Gelegenheiten macht.
»Taumeln« war übertrieben. Er hielt sich erstaunlich gut, wenn man bedenkt, dass er wahrscheinlich Ende fünfzig und leicht übergewichtig war und einen Golf-Trolley auf dem Rücken trug. Unter dem Ding hingen zwei große Räder, und als er vorbeikam, sah man, warum er sie nicht nutzte: eines davon war fast rechtwinklig abgespreizt. Ich sprang auf und stützte ihn.
»Excusez-moi«, sagte ich. »Vous avez un problème avec la roue?« – Haben Sie ein Problem mit dem Rad?
Er schüttelte den Kopf, womit er aus mir unerfindlichen Gründen das Offenkundige leugnete, denn er war außer Atem und schwitzte, obwohl es am frühen Morgen dieses Augusttags noch kühl war.
»Sind Sie Engländer?«, fragte er – nicht gerade taktvoll, da ich intensiv an meinem Akzent gearbeitet hatte.
Ich streckte die Hand vor. »Martin.«
»Martin«, wiederholte er. Der Sprachwechsel trug nicht unbedingt zur Verbesserung der Kommunikation bei.
»Und Sie?«, wollte ich wissen.
»Holländer. Ich habe kein Problem mit der Straße. Das Problem ist der Trolley.«
Er musste roue, Rad, als rue, Straße, verstanden haben. Wir setzten die Unterhaltung auf Englisch fort, und ich erfuhr, dass er Maarten hieß. Er ging nicht golfen, sondern wandern, und im Trolley befanden sich seine Kleidung und sonstige Utensilien. Er hatte am Stadtrand gezeltet und hoffte nun jemanden zu finden, der das Rad reparierte.
Die Chancen dafür schätzte ich ziemlich gering. Er würde problemlos Schokolade, überteuerten Burgunderwein und Souvenirs vom Kloster finden, aber so was wie eine Werkstatt war mir nicht bekannt. Vielleicht gäbe es eine im Industriegebiet, aber dann würde er frustrierend lange brauchen, sie zu finden, und sich möglicherweise wegen irgendeiner Vorschrift oder eines Streiks oder fehlender Mitarbeiter die Beine in den Bauch stehen, bis ein Monteur sich irgendwann herabließe, ihm zu helfen.
»Ich könnte das für Sie reparieren«, bot ich an.
Wie sich herausstellte, brauchte ich dafür den ganzen Tag minus der Zeit für meine Vorlesung. Damals arbeitete ich erst seit wenigen Monaten an der renommierten Ingenieur-Hochschule ENSAM, konnte dort jedoch alle Räume und Materialien nutzen.
Das Rad war nicht mehr zu retten und wohl von Anfang an recht instabil gewesen. Unser Problem weckte die Neugier einiger Studenten, woraus sich bald ein improvisierter Design-Workshop ergab. Ganz im Sinne von Bildung und Gemeinschaftsarbeit demontierten wir die aufblasbaren Räder einer alten Sackkarre und schweißten sie an Maartens Trolley. Der Gummibezug des Handgriffs war auch irgendwann schon abgefallen, also fertigten wir einen Ersatz aus geriffeltem Metall. Das Ergebnis war definitiv eine Verbesserung. Natürlich wurden Maarten, sein Trolley und die gesamte Konstruktionsgruppe in ihren bemalten Mänteln ordnungsgemäß für unsere Schul-Webseite abgelichtet.
Irgendwann im Verlauf unserer Arbeit stellte ich Maarten die offenkundige Frage. »Wohin geht eigentlich deine Reise?«
»Nach Santiago de Compostela. Ich gehe den Jakobsweg.«
»Von hier aus?«
Eine frühere Kollegin in England, Emma, hatte den Weg bereits »absolviert« und war mehr als ein bisschen stolz darauf. Ich meinte mich jedoch zu erinnern, dass sie von einem Ort an der französisch-spanischen Grenze aus gestartet war.
Maarten klärte mich auf. »Logischerweise stammten früher nicht alle Pilger aus diesem einen Ort. Und im zehnten Jahrhundert konnte man nicht einfach in ein Flugzeug oder einen Zug steigen, nach Saint-Jean-Pied-de-Port reisen und dort bequem von einem Hotel aus starten. Man begann den Jakobsweg vor seiner eigenen Haustür, so wie ich.« Tja, Emma, hör dir das gut an – und geh das nächste Mal von Sheffield aus los.
In ganz Europa gab es Zuführwege, so auch den Chemin de Cluny, auf dem Maarten unterwegs war. Die meisten trafen dann an der spanischen Grenze in Saint-Jean-Pied-de-Port zusammen, wo die letzte, achthundert Kilometer lange Etappe begann: der Camino Francés oder »Französischer Weg«, den Emma gegangen war. Maarten hatte jetzt schon 790 Kilometer hinter sich, von Maastricht aus.
»Warum dieser Wagen?«, fragte ich.
Er tippte sich an die Knie. »Die meisten nehmen einen Rucksack, aber das geht ganz schön auf die Gelenke und den Rücken. Und viele Pilger sind nicht mehr die Jüngsten.«
Das konnte ich gut nachvollziehen. Mein altersreifer Versuch, den Londoner Marathon zu bewältigen, hatte zu einer Knie-OP geführt sowie dem Rat, derartige Belastungen in Zukunft zu meiden.
»Und wo haben Sie den her?«
»Den hat ein Amerikaner konstruiert.«
»Sind Sie damit zufrieden? Abgesehen von den Rädern?«
»Das Ding ist Mist«, sagte er.
Als wir um acht Uhr abends fertig waren, bot ich Maarten einen Platz auf dem Fußboden meines Wohnzimmers an.
»Und ich lade dich zum Essen ein«, fügte ich hinzu, »aber ich will alles über deinen Rollwagen wissen.«
»Hast du doch gesehen. Ist ganz simpel.«
»Nein, ich meine Details aus der Praxis. Wie lässt er sich manövrieren, wo liegen die Probleme, was würdest du ändern?«
Mir war eine Idee gekommen: Ich war überzeugt, ein besseres Design entwickeln zu können. Bevor ich allerdings mit den Entwürfen dazu beginnen könnte, gäbe es noch einige Fragen zu klären, aber das Wichtigste wäre zu verstehen, welche Anforderungen er erfüllen musste. Und wie ich meinen Studenten immer sagte, erfuhr man nichts über Anforderungen, indem man auf dem Hintern saß und eine Wunschliste verfasste. Man musste raus ins Feld, idealerweise mit einem Prototyp, und herausfinden, worauf es ankam. Genau das hatte Maarten 780 Kilometer lang mit dem Produkt getan, mit dem ich konkurrieren würde.
Wir diagnostizierten, dass der Trolley auf unebenem Terrain schwer zu ziehen und auf engen Wegen unbequem zu manövrieren war, weil sich der Griff ständig in der Hand drehte. Aus diesem Grund hatte Maarten der Fahrradroute folgen müssen, die häufig an unschönen Hauptverkehrsstraßen entlangführte.
Beim Käse fragte ich ihn über das Pilgern aus. Ich bin nicht religiös, mich interessierte die Logistik. Auch Maarten war nicht religiös. Er war aus einer Beamtenstellung wegrationalisiert worden und rechnete nicht damit, noch einmal einen Job zu bekommen. Die Gründe für seine Reise waren eher vage, doch die Wahl der Route ergab durchaus einen Sinn.
»Gute Beschilderung, überall Wasser, Herbergen mit Dusche und warmer Mahlzeit. Bricht man sich ein Bein oder kriegt einen Herzinfarkt, wird man von anderen Pilgern gefunden.«
Meine Wohnung lag einen kurzen Spaziergang vom Zentrum entfernt. Ich hatte sie über Jim Hanna bekommen, einen ausgewanderten New Yorker, der in Cluny eine Französin geheiratet hatte, mit der er in den Staaten zusammengekommen war. Die Ehe war mittlerweile gescheitert, hatte zuvor allerdings eine Tochter hervorgebracht, die ihn für die nächste Zukunft an Frankreich band.
Jim hatte mir zwei alte Lehnsessel organisiert, in denen Maarten und ich es uns nun gemütlich machten und Eau de Vie de Prune tranken, Pflaumengeist. Der Schnaps war meine erste Anschaffung in Cluny gewesen, aber nachdem ich einen Abend lang ausgiebig meine Sorgen darin ertränkt hatte, war ich mit dem Ausschenken zurückhaltender geworden.
»Keine Familie?«, erkundigte ich mich.
Er schüttelte den Kopf. »Meine Partnerin ist gestorben. Und bei dir?«
»Eine Tochter in Sheffield. Siebzehn.«
Sarah und ich schickten uns sporadische Textnachrichten. Sie hätte lieber gehabt, ich wäre geblieben, aber dann wäre sie unweigerlich in den Schuldzuweisungsstreit zwischen Julia und mir geraten, bis sie die Hälfte ihres Lebens damit verbracht hätte, zu überlegen, was sie wem erzählt, wann sie bei wem wohnt und auf wessen Seite sie sich vermeintlich schlägt. Ich wusste nur zu gut, welchen Schaden voneinander entfremdete Eltern einem Teenager zufügen konnten.
»Was willst du machen, wenn du den Weg hinter dir hast?«, fragte ich Maarten.
»Deshalb gehe ich ihn ja. Um darüber nachzudenken.«
»Und bis jetzt hast du keine Idee?«
»Ich habe noch viel Zeit. Wenn mir bis Santiago nichts eingefallen ist, kann ich auf dem Heimweg weiter überlegen.«
Am Morgen sah ich Maarten hinterher, wie er von der ENSAM aus seinen Weg mit dem reparierten Trolley fortsetzte. Das Ding kam kaum mit den Pflastersteinen zurecht, und ich hatte schon die Radaufhängung eines verbesserten Modells vor Augen, das von kniekranken Wanderern über den Penninenweg in England, über den Appalachenweg in Nordamerika und von Tausenden von Pilgern über den Jakobsweg nach Santiago de Compostela gezogen würde.
Einen brauchbareren Gepäckwagen zu entwickeln wäre denkbar einfach gewesen. Allein die Räder zu verbreitern hätte einen Unterschied bewirkt, und mit einer Federung wäre das Fahrverhalten abseits befestigter Wege deutlich besser geworden. Allerdings war ich auf der Suche nach einer dramatischeren Innovation.
Die ausschlaggebende Idee dazu kam durch genau die Technik zustande, für deren Unterrichtung ich bezahlt wurde.
»Also«, meinte ich zu den vier Studenten, die nach der Vorlesung noch geblieben waren, »wir stecken fest. Wie schaffen wir es, unser kreatives Potential zu fördern?«
»Mit Bier.«
»Manchmal, ja. Aber petzt euren Eltern bloß nicht, dass ich das gesagt habe. Wie noch?«
Pascale, die Studentin mit dem à la Anime bemalten Mantel, hob die Hand. »Wir könnten die Grenzbereiche austesten, Dr. Eden … die Parameter bis zu den Randwerten hin ausweiten.«
»Gut, weiter … Mit welchen Parametern können wir spielen?«
»Dem Achsabstand?«
»Und die Extremwerte wären?«
»Unendlich – und null: beide Räder zu einem einzigen zusammengeschoben. Aber …«
»Was hat sie gesagt?«
»Ein einzelnes Rad.«
»Nein, danach?«
»Aber.« Gelächter.
»Richtig, Leute. Wir sollen nicht Gründe finden, um eine Idee zu verwerfen, sondern nach Möglichkeiten suchen, sie umzusetzen.«
»Wenn das Problem in der Stabilität liegt, bauen wir einfach einen zweiten Griff dran. Ganz einfach.«
Das endgültige Design erinnerte nach sechs Monaten Entwicklungsarbeit mehr an Rikschas oder Sulkies als an Golf-Trolleys und war erheblich wendiger als Maartens Gefährt. Durch das einzelne Rad war ein ausgefeiltes Federungssystem möglich, das in beeindruckender Weise auf verschiedene Untergründe reagierte.
Der mit Halteclips versehene Hüftgurt erinnerte ein wenig an das Geschirr eines Pferdewagens, aber so hatte man die Hände frei und konnte Wanderstöcke einsetzen, wie sie viele Pilger zur Entlastung und Unterstützung benutzten. Maarten hatte angemerkt, durch Flüsse und über Zäune sei der Trolley schwer zu manövrieren, also hatte ich meinen Karren mit Riemen versehen, mit denen er – zumindest kurzzeitig – auf dem Rücken getragen werden konnte.
Von Anfang an hatte ich versucht, einen Investor zu finden, und konnte nach vielen E-Mails das Interesse eines chinesischen Herstellers und zweier Händler für Outdoor-Equipment wecken, einer davon in Deutschland, einer in Frankreich. Sie alle wären im Mai auf einer Pariser Fachmesse zugegen, wollten sich jedoch nicht mit einem Prototyp zufriedengeben, sondern forderten den Nachweis, dass mein Gepäckwagen ausgedehnte Wanderungen überstehen konnte. Insbesondere die Franzosen verlangten Beweise, dass er mit den – natürlich einzigartigen – landschaftlichen Bedingungen ihrer Heimat zurechtkäme. Eine solch umfangreiche Testphase hätte ich allerdings nicht finanzieren können.
Etwa eine Woche lang grübelte ich hin und her und kam immer wieder zu demselben Ergebnis. Mein Dozentenvertrag endete Mitte Februar. Danach müsste ich etwas Neues und vor allem Lohnenderes finden, um meine Finanzen aufzustocken, und dafür wäre der Gepäckwagen meine beste Chance. Und die Person, die am besten geeignet wäre, das Ding zu testen, Reparaturen und Verbesserungen vorzunehmen und im Anschluss den potentiellen Investoren die Ergebnisse zu präsentieren, war ich selbst.
Ich würde von Cluny aus den Chemin gehen, den Karren also tausendneunhundert Kilometer über französischen und spanischen Boden ziehen, Fotos und Videoaufnahmen machen und einen Blog erstellen, um die Neugier potentieller Käufer zu wecken. Am 11. Mai müsste ich Santiago erreichen, dann blieben mir zwei Tage, um zur Pariser Messe zu reisen. Wenn ich gleich nach Vertragsende aufbrach und jeden Tag fünfundzwanzig Kilometer zurücklegte, könnte ich es sogar mit einer Woche Reservezeit schaffen.
Allerdings war ein Start im Winter nicht gerade ideal. Die Herbergen auf der zweiwöchigen Strecke von Cluny nach Le Puy waren vermutlich geschlossen und der Wanderweg über das Zentralmassiv zugeschneit, so dass ich die Straße nehmen müsste.
Mit meinen Ersparnissen könnte ich pro Tag auf hundert Euro zurückgreifen, genug für eine einfache Unterkunft und Essen. Darüber, dass ich bei meiner Ankunft in Paris wieder pleite wäre, machte ich mir erst einmal keine Gedanken.
Es tat mir leid, Cluny zu verlassen. Die Studenten und die Akademie hatten mich herzlich aufgenommen, obwohl sie mich nicht gerade in der besten Zeit meines Lebens kennengelernt hatten.
Ich erreichte den Friedhof oben am Hügel. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass in Frankreich jeder Friedhof per Gesetz Trinkwasser bereitstellen musste. Und tatsächlich befand sich direkt hinter dem Eingangstor ein Wasserhahn mit dem Hinweis eau potable, aus dem mir beim Aufdrehen eiskaltes Wasser über die bloßen Beine spritzte.
Der Friedhof bot die schönste Aussicht auf die Stadt und ihre Umgebung. Ich blieb ein paar Minuten stehen, ließ meinen Blick über die Felder schweifen und versuchte, in der einsetzenden Dämmerung durch den Nieselregen hindurch den Wanderweg auszumachen.
Als ich mit meinem kaputten Koffer Camilles Adresse am Ortsrand erreichte, regnete es mittlerweile kräftig. Ein Minivan bog in die Hauseinfahrt, eine Frau stieg aus und knallte die Tür hinter sich zu. Sie trug leuchtend blauen Lidschatten und dazu passenden Nagellack. Mit der engen Jeans, den hochhackigen Stiefeln und nackter Taille trotz der Kälte sah sie aus wie Camille – allerdings eine jüngere Camille als die, die ich damals gekannt hatte. Es musste also ihre Tochter Océane sein. Der Eindruck der Reife ließ nach, als sie den Mund öffnete und den Mann ankeifte, der mit einem Bein aus dem Wagen gestiegen war.
Ich verstand kein Wort, doch das brauchte ich auch nicht. Océane fuhr herum und stürmte den Weg zur Haustür hinauf.
Der Mann sah mich an und zuckte die Achseln. Ihr Vater? Ich konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Bevor er wieder einsteigen konnte, marschierte eine ältere Océane-Version den Weg hinunter und stieß weitere Verwünschungen aus. Diesmal war sie in meinem Alter, schlank auf jene verhärmte Weise, wie man sie von Frauen in französischen Filmen kennt, mit stachlig kurzen schwarzen Haaren, einer Zigarette zwischen den Fingern und Mokassins an den Füßen. Camille. Als der Mann rückwärts rausfuhr, schlug sie einmal auf die Motorhaube, drehte sich dann mit derselben Präzision um wie zuvor ihre Tochter und stürmte an mir vorbei Richtung Haus. Eine Sekunde später blieb sie wie angewurzelt stehen, drehte sich um, öffnete den Mund und stemmte eine Hand in die Hüfte.
»Camille. Ich bin’s, Zoe«, sagte ich.
Sie sah mich an, als wäre ich eine Fremde. Das war ich vermutlich auch. Und außerdem völlig durchnässt. Vielleicht hätte ich vorher anrufen sollen.
»O mein Gott! Wolltest du nicht erst morgen anreisen? Du musst sofort mit reinkommen.«
Camille umarmte und küsste mich, dann hakte sie sich bei mir ein und führte mich und meinen Koffer ins Haus.
Irgendwo lief ziemlich laut ein Fernseher. Ein Golden Retriever kam in den Flur galoppiert und begann zu bellen, als Camille mich in die Küche zog. »Ich kann nicht glauben, dass du endlich da bist! Wir haben so viel zu bequatschen! So viel Zeit, und so viel ist passiert!«
Damit hatte sie vollkommen recht. Ich hatte mir eingeredet, ich müsse sie von Angesicht zu Angesicht treffen, weil die letzten Ereignisse zu einschneidend gewesen waren, um sie nur zu schreiben. Aber vielleicht hatte ich auch Angst gehabt, dass mein neues Leben, wenn es schwarz auf weiß vor mir stünde, plötzlich Realität annähme.
Camille fing an, Sachen aus dem Kühlschrank zu räumen. Die Küche war unordentlich, Kataloge und Zeitschriften lagen überall herum. Ihr Sohn – Bastien, acht – saß in der Ecke auf dem Boden in ein Videospiel vertieft, das Schussgeräusche von sich gab.
»Bist du allein?«, fragte Camille über die Schulter.
»Ja, ich schätze, ich …«
»Ich meine, in deinem Leben. Deshalb bist du hier, non?« Sie schnappte sich das Telefon. Als sie wieder auflegte, grinste sie spitzbübisch. »Jim. Ich hatte ihn für morgen eingeladen, aber jetzt kommt er heute. Amerikaner. Geschieden. Immobilienmakler aus New York.« Sie rieb Daumen und Zeigefinger zusammen. »Wie lautet dein Plan?« Auch jetzt wartete sie meine Antwort nicht ab.
»Morgen kommst du mit uns mittagessen, d’accord? Du besichtigst das berühmte Kloster, und am Montag gehen wir in Lyon shoppen.«
Océane kam dazu und fing sofort an, mit Camille zu streiten, möglicherweise über dasselbe Thema wie mit ihrem Vater. Die Situation kam mir bekannt vor. Ich hatte jede nur erdenkliche Diskussion mit halbwüchsigen Mädchen geführt.
Camille riss den Kühlschrank auf und griff nach einer Flasche Wein.
»Océane wollte, dass ihr Freund mit bei ihrem Vater übernachtet. Das geht natürlich nicht, sie ist erst vierzehn. Aber sie hat ihm gesagt, dass sie die Pille nimmt, und jetzt beschwert er sich bei mir.«
Diese Diskussion hatte ich dann wohl doch nicht geführt. Als dieses Thema aufkam, waren meine Mädchen schon auf dem College gewesen.
Camille schenkte zwei Gläser ein und reichte mir eines. »Ihr Vater ist eine poule mouillée.«
Ein nasses Huhn? Ach nein, eher unser Hasenfuß. Ein Weichei, Loser, Würstchen also. Nun, so einen hatte es vor ihm schon mal gegeben. Nach dem crétin in St. Louis.
»Du führst wohl immer noch ein sehr … umtriebiges Leben.«
Camille machte eine große Armbewegung. »Nein, nein, das ist alles vorbei. Jetzt bin ich Ehefrau und Mutter. Cluny ist nicht Paris. Aber du bist ja völlig durchnässt. Océane, zeig Zoe ihr Zimmer. Dein Zimmer.«
Bis zum Abendessen war ich geduscht und umgezogen und eher benommen als müde.
»Machst du hier Urlaub?«, wollte Gilbert wissen, den Camille als ihren »momentanen Ehemann« vorstellte.
»Nicht unbedingt …«
Die Türglocke unterbrach unser Gespräch. Jim war vielleicht fünf Jahre älter als ich, trug eine schwarze Stoffhose und einen teuer wirkenden Blazer. Sah ein bisschen wie George Clooney aus. Er küsste Camille auf die Wangen, begrüßte Gilbert in perfekt klingendem Französisch und sah mich an. Ich hoffte, er wäre kein Republikaner. Eine politische Diskussion wäre das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.
Wir stellten uns vor und nahmen Platz.
»Lapin.« Camille stellte eine Servierplatte in die Mitte. »Ich weiß noch, dass du kein rotes Fleisch isst, und habe zwei Kaninchen im Gefrierschrank.« Sie kannte die Geschichte, wie mein Vater und meine Brüder in meinem Beisein ein Reh erschossen hatten, als ich acht war. Ich wäre sowieso Vegetarierin geworden, allerdings wohl nicht so früh. Camille hatte das nie verstanden.
»Und? Was bringt dich nach Cluny?«, erkundigte sich Jim.
Zum ersten Mal wurde es am Tisch vollkommen still. Unter dem Blick fünfer Augenpaare war all das, was unmöglich in geschriebene Worte zu fassen gewesen war, unmöglich auszusprechen.
»Camilles Einladung steht schon fünfundzwanzig Jahre.«
Jim lächelte. »Du wirst also eine Weile bleiben? Wir sollten mal ausgehen.«
Als er sich, das leere Weinglas in der Hand, zum Nachschenken an Gilbert wandte, fuchtelte ich Camille ein heftiges Auf keinen Fall zu.
»Fliegt da eine Mücke?«, wollte Gilbert wissen.
»Ich kann dir eine Insider-Stadtführung anbieten.«
»Lapin?« Camille reichte mir erneut den Teller.
Während sie in der Küche verschwand und Gilbert eine weitere Flasche Wein holte, fragte Jim: »Bist du das erste Mal in Frankreich?«
»Ja. Ich bin viel gereist. Aber nie außerhalb der USA.«
Er lächelte. Hätte ich einen Fremdenführer gesucht, hätte ich es schlechter treffen können.
»Fromage aus der Region«, verkündete Camille. In der letzten Woche hatte ich vegan gelebt und über einen endgültigen Wechsel nachgedacht, aber nach all dem Brot und Chicorée fühlte ich mich jetzt wie ausgehungert. Und der Käse war köstlich. Drei Sorten, alle cremig, einer aus Ziegenmilch, einer mit Blauschimmel.
Jim erhob sich und küsste mich auf beide Wangen.
»Mittwoch dann? Zum Mittagessen?«
»Äh …« Doch die Frage war rein rhetorisch gewesen. Wenn man wie George Clooney aussah, war das wohl normal.
»Ich kann nicht«, sagte ich zu Camille, sobald die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
»Aber er ist doch … perfekt.«
»Ich bin noch nicht bereit.«
»Man muss immer bereit sein«, sagte Camille.
Endlich sagte ich, was ich den ganzen Abend über hatte sagen wollen. Gedämpft bahnte es sich seinen Weg, wie eine unfertige Geschichte, ohne Herz und Seele, eine Tatsache ohne Substanz.
»Keith ist tot.«
»Mon Dieu! Du hast mir gar nichts gesagt.« Camille drückte mich an sich. »Männer! Das Herz, ja? Unvorhersehbar.«
Gilbert runzelte die Stirn. »Das ist sehr traurig. Wann?«
Zumindest hörte hier einer zu.
»Vor drei Wochen.«
Ich fiel in Océanes Bett. Ich dachte, ich würde zehn Stunden schlafen, doch nach zweien war ich schon wieder hellwach.
Camille war … genau so, wie ich es hätte erwarten können. Damals auf dem College hatte ich ihr durch eine schwere Zeit geholfen und gewusst, sie würde dasselbe für mich tun, aber mich mit den ortsansässigen Junggesellen zu verkuppeln war nicht die Art von Hilfe, die ich brauchte. Was ich brauchte, war Luft: eine Auszeit, um meine Wunden zu lecken, meine aufgewühlten Gefühle zu sortieren und Balance in meine Chakren zu bringen. Nichts in meinem neuen Leben fühlte sich real an; es war, als hätte man all meine Emotionen in eine Kiste geworfen, den Deckel zugeklappt und ein Schloss davorgehängt.
Gedanken an die Muschel hielten mich lange wach. Was wollte sie mir sagen? Am Morgen hatte ich eine Antwort. Die Gans war der Schlüssel: Ich brauchte eine neue Richtung, einen Neuanfang. Beim Frühstück teilte ich Camille mit, ich wolle einen Spaziergang machen, um den Kopf freizubekommen. Einen sehr langen Spaziergang.
Ich hatte meine Abreise für den nächsten Tag geplant, Sonntag, erfuhr dann aber zu spät, dass mein credencial – der Pilgerausweis, den man für eine Unterkunft in den Herbergen vorweisen musste – nicht im Touristenbüro erhältlich war. Die Frau schimpfte, ich würde zur falschen Jahreszeit wandern, in der niemand erwarten könne, dass sie die nötigen Unterlagen parat habe, telefonierte grummelnd mit dem hiesigen Vertreter der Jakobus-Gesellschaft und vereinbarte einen Termin für Sonntagnachmittag. »Tut mir leid, aber vorher hat er keine Zeit. Monsieur.«
Dann wollte ich eine neue Landkarte für mein britisches Militär-GPS-Gerät abholen. Da sie nur per Einschreiben geliefert wurde, hatte ich sie zu einem der Outdoor-Läden in Cluny schicken lassen. Das Versandteam in London hatte die Auslieferung per E-Mail bereits bestätigt, aber bis ich die Sache im Touristenbüro geklärt und mit Jim die Miete beglichen hatte, war das Geschäft geschlossen.
Am Sonntag lag es dann auch ein wenig an Jim, dass nicht alles nach Plan verlief. Er fing mich an der Tür ab und lud mich zu einem ausgiebigen Frühstück ein, möglicherweise getrieben von dem Gefühl, seinen einzigen Freund hier in Cluny zu verlieren. Sein Französisch war passabel, aber trotzdem haben Ausländer immer mit gewissen gesellschaftlichen Barrieren zu kämpfen.
Wir tranken Kaffee, aßen Croissants und redeten lang und breit über nichts Besonderes, abgesehen davon, dass die verheiratete Französin, die Anfang des Jahres mal hinter ihm her gewesen war, eine Kalifornierin namens Zoe zu Besuch hatte. Jim hatte sie mit Hilfe seines Charmes zu einem Date überredet.
Fünfzehn Minuten vor der Mittagspause betrat ich den Outdoor-Laden. Der Inhaber selbst war nicht da, und die hakennasige ältere Dame, die mich bediente, deutete auf einen Stand mit Landkarten aus Papier.
»Un USB«, erklärte ich. »Une livraison.« Eine Lieferung.
Sie tat, als verstehe sie nicht, und als ich meine Anfrage in langsamem, präzisem Französisch wiederholte, schüttelte sie den Kopf. Man könne ja wohl nicht erwarten, dass sie über persönliche Vereinbarungen des Inhabers Bescheid wisse.
Unser Dilemma wurde unterbrochen, als eine Frau von etwa vierzig Jahren das Geschäft betrat. Sie trug konventionelle Kleidung – Jeans, langer Wollpullover und Turnschuhe –, hatte jedoch etwas an sich, das mich spontan auf die Idee brachte, sie könnte aus der christlichen Gemeinschaft im nahe gelegenen Taizé stammen. Mit unverhohlener Abscheu musterte sie die Jagdausrüstungen.
»Bonjour, excusez-moi«, wandte sie sich an Madame mit einem Akzent, der mich mit meinem wie den Präsidenten der französischen Akademie für Spracherhaltung klingen ließ und zudem deutlich über ihre Herkunft Aufschluss gab: Amerika – und wie ich hätte wetten mögen: Kalifornien. Angesichts der Tatsache, dass sich zu dieser Jahreszeit nur wenige Touristen nach Cluny verirrten, musste sie Jims neue Flamme sein. Sie war sein Typ: attraktiv, blaue Augen, schulterlanges kastanienbraunes Haar, offenes Lächeln, englischsprachig und dazu bestimmt, ihn sitzenzulassen, sobald ihr Urlaub beendet wäre.
»Je non parle français très bien«, fuhr sie fort. Ich hätte nicht widersprochen.
Sie imitierte das Aufsetzen eines Rucksacks. »Une … Rucksack.«
Bevor ich eingreifen und übersetzen konnte, erwiderte Madame in hinreichend verständlichem Englisch: »Natürlich. Welche Größe brauchen Sie?«
Zoe – wer sollte es sonst sein? – beschrieb mit den Händen eine Kastenform, und Madame verschwand ins Lager, was mir Gelegenheit bot, hinter der Theke nach meinem USB-Stick zu suchen. Ich stöberte zwischen Briefumschlägen und kleinen Päckchen, und als ich aufblickte, sah ich, dass Zoe mich mit verschränkten Armen beobachtete. Als Madame zurückkehrte, zog Zoe sie beiseite und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Madame sah mich böse an, obwohl ich mittlerweile mit Unschuldsblick die Landkarten begutachtete.
Der Rucksack, den sie mitgebracht hatte, fasste mindestens siebzig Liter, was in etwa der von Zoe angezeigten Größe entsprach. Perfekt, falls sie plante, ihn mit Designerklamotten zu füllen und nicht weiter als vom Taxi bis zur Gepäckaufgabe eines Flughafens zu transportieren. Als Madame sich erneut zu mir umwandte, spähte Zoe verstohlen auf das angehängte Schild. Ich hätte ihr sagen können, dass es unwahrscheinlich war, einen Preis darauf zu finden.
»Wie viel?«, wollte sie wissen.
»Einhundertachtundfünfzig Euro.«
»Oh. Haben Sie etwas Billigeres? Ein Modell aus dem letzten Jahr vielleicht?« Sie lachte, und zu meiner Überraschung stimmte Madame mit ein. Nach einer kurzen, gedämpften Unterhaltung verschwand Madame erneut nach hinten. Zoe blieb stehen, offenkundig, um ein Auge auf mich zu haben.
Ich wollte mich gerade vorstellen – »Ich glaube, wir haben einen gemeinsamen Freund« –, als ich die eindeutige Missbilligung in ihrem Blick bemerkte.
Stattdessen nahm ich also einen Kompass von seinem Verkaufsständer und tat, als würde ich ihn in die Tasche schieben. Ich sah, wie Zoe schwankte, ob sie mich anblaffen oder Madame rufen solle, und gerade, als sie zu Letzterem anhob, legte ich den Kompass – den ich nur in meiner anderen Hand versteckt hatte – auf den Ständer zurück.
Sie brauchte einen Moment, um zu durchschauen, dass ich mich mit einem Taschenspielertrick, wie man ihn einer Siebenjährigen vorführt, über sie lustig gemacht hatte. Einem Trick, den ich vor zehn Jahren tatsächlich – und mehr als einmal – meiner siebenjährigen Sarah vorgeführt hatte.
Sie schüttelte bedächtig den Kopf, deutete auf das Hinterzimmer, in das Madame verschwunden war, und tat, als würde sie mich – zweihändig, in amerikanischer Polizeimanier – mit einer Pistole bedrohen. Die Botschaft war klar: Welcher Idiot klaut in einem Waffenladen? Allerdings war die Aussicht, dass Madame mit einer 45er in der Hand zurückkehrte, gleichermaßen unwahrscheinlich wie lächerlich. Ich grinste, Zoe grinste zurück und hielt sich dann sogar die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten.
Ich dachte noch: Hoffentlich stellt Jim uns irgendwann einmal einander vor, aber dann fiel mir ein, dass ich ab morgen ja auf dem Weg nach Santiago wäre, nur in Gesellschaft meiner selbst. Ich spürte spontan Bedauern. Es war lange her, dass ich einen spielerischen Moment wie diesen – vielleicht sogar den Anflug einer Verbindung – mit einer Frau erlebt hatte. Wahrscheinlich hatte ich es überhaupt nur zugelassen, weil diese Zoe für Jim reserviert war.
Madame kehrte zurück und schüttelte den Staub von einem kleineren Rucksack. »Den hier können Sie geschenkt haben«, sagte sie. Der Grund war auf den ersten Blick erkennbar, wenn auch vielleicht nicht für eine Amerikanerin. Es handelte sich um eine édition spéciale für die Fußballweltmeisterschaft 2010 mit Bildern vom französischen Team samt Trainer. Anders als bei ihrem Titelgewinn acht Jahre später hatten sich die Franzosen damals auf höchst peinliche Weise blamiert und jede Menge öffentlichen Spott über sich ergehen lassen müssen, bis hin zu einer parlamentarischen Untersuchung. Es war lange her, aber in Frankreich klang diese Blamage immer noch nach.
Zoe verließ das Geschäft mit ihrem Schnäppchen, jedoch nicht ohne vorher ein letztes Lächeln in meine Richtung geschickt zu haben. Madame winkte mit ihrem Schlüsselbund. »Fermé.«
»Attendez«, sagte ich – warten Sie –, doch es hatte keinen Zweck zu streiten. Mit etwas Glück würde nach der Mittagspause der Inhaber wieder da sein. Als ich ging, kontrollierte ich die Öffnungszeiten: Sonntagnachmittag geschlossen. Und den ganzen Montag auch.
In der Touristeninformation drehte eine junge Frau das Schild gerade auf Fermé.
»Könnten Sie noch eine Minute warten?«, bat ich. »Ich brauche Informationen über den Jakobsweg – den Chemin. S’il vous plaît.«
Sie bat mich einzutreten. »Schon okay. Wir haben noch fünf Minuten.«
Es dauerte ein wenig länger. Sie hatte einige Broschüren, aber mehr über Geschichte und Sehenswürdigkeiten als zu praktischen Hinweisen. Überraschenderweise schienen alle Franzosen Englisch zu sprechen und gern Auskunft zu geben. Der Typ im Antiquitätenladen hatte mir einen viertelstündigen geschichtlichen Vortrag gehalten, bevor er mir die Muschel verkaufte, und versichert, die meisten Pilger seien eher spirituell denn religiös unterwegs.
»Haben Sie einen Reiseführer?«, fragte ich die Frau.
»Der kommt im Februar raus.«
Aha. Ich hatte L.A. am 13. Februar verlassen.
»Wohin wollen Sie?«, erkundigte sie sich. »Gehen Sie ganz bis nach Santiago oder nur bis zur spanischen Grenze?«
»Wie weit ist es? Bis zur Grenze?«
»Tausendeinhundert Kilometer. Etwa siebenhundert Meilen.«
Einen Moment lang überwältigte mich das Entsetzen. Es war ein vertrautes Gefühl, und ich wusste, wie ich damit umgehen musste – in diesem Fall passte mein Mantra allerdings so gut, dass ich fast aufgelacht hätte. Ein Tag nach dem anderen.
Mein Rückflug war für den 16. März gebucht … in dreißig Tagen. Ich rechnete zwei Tage, um von der Grenze nach Paris zu kommen. Also achtundzwanzig Tage für siebenhundert Meilen …
»Haben Sie einen Taschenrechner?« Ich imitierte das Drücken von Rechentasten.
Sie zog einen unter der Theke hervor.
Genau fünfundzwanzig Meilen pro Tag. Wie schnell konnte ich gehen? Vier Meilen pro Stunde? Dann wären es etwa sechs Stunden am Tag. Wenn ich früh losging, könnte ich mittags damit durch sein und hätte am Nachmittag Zeit, einen Schlafplatz zu finden und die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Bei zwanzig Euro pro Tag bliebe mir gerade genug übrig, um nach Paris zurückzukommen. Wenn der Typ im Antiquitätenladen recht hatte und alles auf dem Weg billig oder umsonst wäre, würde es reichen.
Ich gab ihr den Taschenrechner zurück. »Bis zur spanischen Grenze, denke ich.«
»Wunderbar. Der Abschnitt in Frankreich ist schwieriger, aber nicht so überlaufen, die Landschaft ist schöner, und es gibt besseres Essen und besseren Wein.« Bessere Menschen schwang zwischen ihren Worten mit. »In Spanien ist es eine autoroute der Pilger; für die Herberge muss man sich jeden Tag beeilen, und es gibt …« Sie machte eine Geste fürs Schlafen und dann hektische Kratzbewegungen. Bettwanzen.
»Haben Sie eine Landkarte?«, fragte ich.
»Die Karte ist im Reiseführer.«
Aha.
»Sie brauchen keine. Folgen Sie einfach den Muscheln. Hinweiszeichen. An Bäumen und an Pfählen. Der Heilige Jakobus weist Ihnen den Weg.«
Ein idyllischer Spaziergang auf uralter Route durch französische Landschaft. Einfaches Leben, Zeit für Achtsamkeit und Erneuerung. Vielleicht geschah es jetzt schon. In diesem Jagdgeschäft hatte ich mich selbst überrascht, als ich das vielleicht erste Mal seit Keith’ Tod gelacht hatte. Aber Witze über Waffen?
»Wann wollen Sie los?«
»Heute.« Ich antwortete, ohne nachzudenken, und wusste sofort, es war richtig. Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht du? Ich musste mit mir allein sein und mich mit Keith’ Tod auseinandersetzen, bevor ich auch nur daran denken konnte, mit Camille shoppen zu gehen. Sie hatte es nicht verdient, dass eine Freundin aus ferner Vergangenheit sie mit ihrem Schmerz belastete. Und Océane hätte ihr Zimmer wieder für sich.
»Aber es ist Winter.«
»Ich bin in Minnesota aufgewachsen.« Dort war es kalt. Hier hatte es vier oder fünf Grad. Beim Gehen würde mir warm werden. »Und Spanien liegt im Süden, richtig?«
Sie schrieb mir den Namen eines Cafés auf. »Monsieur Chevalier trifft sich dort mit einem anderen pèlerin – Pilger. Um vierzehn Uhr.« Sie verdrehte die Augen, vielleicht weil noch jemand so dumm war, im Winter zu pilgern. »Für wenig Geld bekommen Sie von ihm den Ausweis für die Herbergen. Und gute Ratschläge.«
Ich aß bei Camille zu Mittag, was viel entspannter war als das Abendessen. Gilbert war mit Freunden unterwegs, Bastien aß mit seinem Videospiel vor Augen, und falls Océane im Haus war, sah ich sie nicht.
»Du musst bleiben!«, sagte Camille. »Wie willst du da genügend Kleider mitkriegen? Gesichtscreme?«
»Ich muss ein paar Sachen hierlassen, falls das für dich okay ist.«
»Viel zu viel Zeit zum Nachdenken!«
Sie stopfte mir Proviant in den Rucksack, nahm mich lange in den Arm, gab mir ihre Telefonnummer für meinen Moment der Erkenntnis, dass das alles eine verrückte Idee sei, und wünschte mir schließlich viel Glück und courage.
Das Café lag am anderen Ende der Stadt. Der Barkeeper deutete auf einen Tisch in der Ecke, an dem ein Mann um die sechzig saß, freundliches Gesicht, Brille und ein Pflasterkreuz auf dem halbkahlen Kopf. Hautkrebs, mutmaßte ich. Vom vielen Wandern in der Sonne.
»Bonjour«, sagte ich. »Monsieur Chevalier?«
Der Franzose musterte mich über seine Brille hinweg. Er hatte braune Augen mit langen Wimpern und Grübchen in den Wangen.
»Oui. Und Sie sind …?« Sein Englisch mit französischem Akzent erinnerte mich an seinen Namensvetter – ich rechnete schon halb damit, dass er anfing zu singen.
»Zoe Witt.« Ich erklärte, die Dame aus dem Touristenbüro habe mich geschickt, und streckte die Hand aus. Monsieur Chevalier ergriff sie, beugte sich dann aber vor und küsste mich auf beide Wangen.
»Trinken Sie einen Kaffee?«
Mein Blick musste mich verraten haben. »Sie sind eingeladen«, sagte er und hob drei Finger, nicht zum Barkeeper sondern zu einem großen Mann in vertrauter Karojacke, der an der Theke wartete. Der Ladendieb aus dem Jagdgeschäft.
Monsieur zog ein Leporello in Reisepassgröße hervor, in dem lauter freie Felder für Stempel waren, wie bei einem Abzeichenheft der Pfadfinder. In das erste Feld »Cluny« stempelte er eine Jakobsmuschel und etwas, das wie ein Lamm aussah. Meinen ersten Stempel hatte ich mir also allein damit verdient, dass ich aufbrechen wollte.
»Wie viel?«, erkundigte ich mich.
»Das kostet nichts.«
»Aber die Frau in der Touristeninformation …«
»Dies ist Ihre erste Lektion des Chemin: Nimm, was dir angeboten wird. Sie werden Gelegenheit bekommen, anderen zu helfen, und diese werden Sie dann ebenfalls nutzen.«
Der Ladendieb kam mit drei Kaffee an den Tisch: zwei kleinen Espressi und einer größeren Tasse mit einem Milchkännchen samt zwei Päckchen Zucker. »Merci.« Noch eine gute Tat, die ich weitergeben würde. Der Ladendieb redete in schnellem Französisch auf Monsieur Chevalier ein. Seiner Körpersprache nach zu urteilen, beschwerte er sich wohl halbherzig, dass er die Rechnung hatte begleichen müssen.