Isabelle Lehn
Frühlingserwachen
Roman
FISCHER E-Books
Isabelle Lehn schreibt über eine Frau namens Isabelle Lehn – eine Frau im freien Fall: Muss sie alles wollen, was möglich ist? Da scheitert, da kämpft eine junge Frau mit den eigenen Zielen, den Erwartungen der Gesellschaft und mit dem Kinderkriegen. Was, wenn man nicht jede Chance ergreifen will? Isabelle Lehn geht tief hinein in diese Selbstbefragung. Poetisch, selbstironisch, komisch und herrlich offen schildert sie das Leben von Isabelle, ihren Freundeskreis und das Arbeitsumfeld – bis sie an den Grund stößt, dahin kommt, wo es sie existenziell schmerzt. Und da versteht sie: Das Leben ist gut. Wir müssen uns nicht daran messen, wie wir es uns vorgestellt haben.
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Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert. Ermöglicht wurde die Entstehung des Werks zudem durch Arbeitsstipendien der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und des Berliner Senats, durch das Albrecht-Lempp-Stipendium der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und das tschechisch-deutsche Residenzprogramm »Ahoj!« in Brno. Die Autorin dankt dem Goethe-Institut Osaka für die unkomplizierte Bereitstellung eines Arbeitsplatzes zur Fertigstellung des Manuskripts.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Sonja Steven, Büro KLASS
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490914-1
Schenkt uns eure Lumpen, ihr Jahreszeiten.
Wir wollen Landstreicher sein mit regenglänzenden Haaren.
Willst du mit mir unter einer Böschung hausen, Isabelle?
(Violette Leduc)
Mein Lama heißt Gonzales. Wenn ich Glück habe, trottet es friedlich hinter mir her. Dann höre ich es schnaufen, wie zur Erinnerung, dass es mir folgt. Ich spüre seinen Atem in meinem Nacken, und wenn es brav ist und nirgendwo fressen will, gebe ich ihm etwas mehr Leine, die vertrauensvoll zwischen uns baumelt. In diesen Momenten ist alles gut. Der Weg ist sandig und schmal, ich gehe mit federnden Schritten, achte auf die Wurzeln, sauge den harzigen Geruch des Hochwaldes ein und fühle mich wohl in meiner Rolle, in der Gonzales mir folgt, als wüsste ich genau, wo es langgeht.
Wir beide gehen an vorletzter Stelle. Gonzales ist ein ranghohes Tier, weshalb er unruhig wird, wenn er die Herde aus den Augen verliert. Hinter uns geht nur noch Carlos, das Leitlama, das von Tien geführt wird. Carlos ist das vornehmste Tier der Herde. Sein weißes Fell ist lang und seidig, und in meinem Rücken höre ich ihn die ganze Zeit brummen. Tien behauptet, dass Lamas zu summen beginnen, wenn sie sich wohl fühlen. Sie hat sich YouTube-Videos mit Lamas angesehen, um sich auf die Wanderung vorzubereiten. Ich aber finde, Carlos klingt ziemlich unzufrieden.
Wir sind zu sechst. Vorneweg geht der Lama-Peter, wie sich unser Bergführer nennt. Dahinter kommt ein älteres Ehepaar, Erika und Hans, die schon öfter beim Lama-Peter gebucht haben, in der Mitte Marcella mit Calimero, dahinter ich mit Gonzales und schließlich Tien mit dem brummenden Carlos. Marcella wollte ein Lama, das keine Zicken macht. Ihre einzige Bedingung: ein richtiges Dalai Lama! Stress habe sie zu Hause genug, den brauche sie nicht auch noch im Urlaub. Der Lama-Peter gab ihr Calimero, und Marcella ist die Einzige in unserer Gruppe, die sich ihr Lama nicht selbst ausgesucht hat. Erika und Hans nahmen Arturo und Cusco, ihre Lamas vom letzten Mal, und Tien und ich sollten die Herde auf der Koppel beobachten und uns das Tier aussuchen, das zu uns passte. Eigentlich, sagte der Lama-Peter, entschieden sich die Lamas für uns. Seine Tiere könnten unsere Gedanken lesen, sie studierten die Körpersprache und durchschauten uns unmittelbar.
Ich mag es, wenn mir jemand die Zukunft weissagt, meine Aura spürt und mir sagt, wer ich bin. Ich glaube daran, selbst wenn es ein Lama ist, also war ich gespannt, was mein Lama über mich aussagen würde. Ich konzentrierte mich darauf, keinen Fehler zu machen. Vielleicht war das schon der Fehler. Denn als ich zwischen die Tiere trat, die wir auf der Koppel zusammengetrieben hatten, und versuchte, von meinem Lama gefunden zu werden, drehten alle Lamas sich weg. Ich nahm das erstbeste Tier, das ich erwischte. Das war Gonzales. Er stand neben mir, groß und majestätisch, stolz und stur und ignorierte mich. Das gefiel mir. Außerdem musste ich kein schlechtes Gewissen haben, ihn mein ganzes Gepäck durch die Lienzer Dolomiten schleppen zu lassen. Er sah kräftig aus, und schließlich gelang es mir, ihm das Halfter über die Nüstern zu schieben. Braver Junge, sagte ich und tätschelte seinen Hals, wie der Lama-Peter es vorgemacht hatte. Gonzales legte die Ohren an, was bedeutete, dass ich ihm nicht gefiel.
Was hat Gonzales für einen Charakter?, fragte ich den Lama-Peter noch auf dem Weg zum Parkplatz, wo wir unser Gepäck aufsatteln sollten. Der Gonzales? Ich sage mal so, sagte der Lama-Peter: Alle Tiere haben einen guten Charakter. Schlecht wird ein Tier erst, wenn es der Mensch dazu macht! Aha, sagte ich und fragte mich insgeheim, ob das wohl das Beste war, was es über Gonzales zu berichten gab.
Jeder bekommt das Lama, das er verdient. Gonzales ist nicht das schönste Tier, aber er wirkt elegant und sehr stolz – zumindest, bis man ihn besser kennenlernt. Gonzales ist furchtbar verfressen. Meistens spannt sich die Leine, weil er die Landschaft am Wegrand verkostet. Wenn er wiederkäut, stinkt er wie Biomüll, sein Stoffwechsel bestimmt unseren Rhythmus, und ständig rufe ich nach vorn: Lama kackt!, wie der Peter es uns beigebracht hat. Dann steht die Karawane still, bis Gonzales mit dem Abäppeln fertig ist. Außerdem ist Gonzales stinkfaul. Wenn er keine Lust mehr hat, weiterzugehen, legt er sich einfach auf den Weg. Ich zerre und zerre. Über einen umgekippten Baumstamm mag er nicht springen, obwohl die anderen es ihm vorgemacht haben. Er ist halt a Wiener, sagt der Lama-Peter, der damit meint, dass er Gonzales aus einer Wiener Zucht geholt hat. Gonzales, du Städter, du Flachlandkaninchen! Er schnauft konsterniert, kaum dass es steiler wird, und ich blicke mich um und sehe nur: Fake! Diese Heimatfilmkulisse in ihrer Fünfzigerjahre-Ästhetik, und Gonzales gehört so wenig hierher, wie die Dolomiten die Anden sind, der Gänsegeier ein Kondor und ich ein Kind für draußen, wie meine Großmutter es ausdrücken würde. Trotzdem geben wir zwei unser Bestes. Ich tätschle Gonzales’ Hals, mein Freund, sage ich und zerre ihn weiter. Er ist ein störrischer Bock. Aber morgens, wenn er auf dem Hügel steht, den Kopf ganz aufrecht, und ins erste Sonnenlicht blinzelt, dann fliegen die Herzen der Hüttenwirte ihm zu. Er ist nicht der Schönste, aber fesch ist er schon!
Nur wenn es bergab geht, macht Gonzales mir Angst. Dann wird er unberechenbar. Er schubst und schiebt wie ein Albtraum, er drängelt mich den Abgrund hinab. Meine Schritte werden kopflos, ich stolpere, rutsche und falle. Du musst die Leine kürzer halten! So!, macht der Lama-Peter es vor: Zieh seinen Kopf nach unten, zwing ihn in eine demütige Haltung! Ich bin nicht gut in Disziplinierungsmaßnahmen. Verdammt, denke ich, falscher Gedanke! Schließlich kann Gonzales mich lesen. Mein Freund, sage ich, Freundchen!, und zerre am Halfter. Gonzales ist wenig beeindruckt von meinen Versuchen, ihn zur Demut zu zwingen. Du musst ihm zeigen, wen er da vor sich hat!, brüllt der Lama-Peter von vorn. Alles klar!, rufe ich. Nichts leichter als das.
Im Frühling helfen oft nur noch Zahlen: Statistiker verzeichnen in unseren Breitengraden im Spätfrühling und Frühsommer die meisten Selbsttötungen. Auf der Südhalbkugel, wo die Jahreszeiten um ein halbes Jahr verschoben sind, ereignen sich die meisten Suizide im Dezember. Es tut gut, das zu lesen. Es beruhigt mich, dass ich nicht einmal besonders verrückt, sondern höchstens durchschnittlich durchgedreht bin. Andere bringen sich um. Ich tue das nicht. Das ist doch schon mal was, finde ich.
Frühjahrsmüdigkeit, die; Substantiv, feminin. Des Frühjahrs müde zu sein. Der Müdigkeit müde zu sein, erneut dieses Leben zu führen. Alljährlicher Traum: hinter zugemauerten Fenstern zu wohnen, nicht zu wissen, dass draußen kein Schnee mehr liegt.
Ich wäre gern jemand anderes. An einem anderen Ort, mit neuen Menschen und neuem Gesicht. Im Frühling würde ich gerne verschwinden. Ich wäre gern jemand, der diese Gedanken nicht kennt, ich möchte mich gern von mir trennen, singt Hildegard Knef, und für den Fall, dass es mir diesmal gelingt, verspreche ich, dass ich nicht nach mir suchen werde.
Eine Liste der Dinge, auf die ich im Frühjahr lieber verzichten will:
meine Medikamente absetzen
ein Aufenthaltsstipendium annehmen
auf Verlagssuche gehen
mich einer Hormontherapie unterziehen
Anstelle des Kurzgeschichtenbandes, den ich online bestellt habe, bekomme ich ein anderes Buch zugeschickt: Do it yourself in Stall und Weide. Ich will das Buch behalten, es riecht alt, nach Telekolleg und Hobbythek, es listet auf, welches Werkzeug man braucht, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Es geht um Notfallpläne, wenn alles zusammenbricht, und ich blättere mich durch das Kapitel Selbst ist die Frau, das einen Wegweiser durch das Chaos verspricht.
Eine halbe Cipralex fällt auf den Küchenfußboden. Ich suche danach, bevor die Katze sie findet. Sie findet alles, was auf den Fußboden fällt, und nur zu diesem Zweck folgt sie mir in die Küche. Es gibt nichts, was sie nicht fressen würde. Ich habe gelesen, dass Katzen, die Alkohol trinken, nie wieder ganz nüchtern werden. Ihnen fehlt ein Enzym, über das Menschen nur durch Mutation verfügen, und später googele ich: Besoffene Katzen. Und: Katzen auf Cipralex. Den Rest des Vormittags sehe ich mir Videos an.
Ich ging, schreibt Max Frisch in Bin oder die Reise nach Peking: Ich ging in der Richtung einer Sehnsucht, die weiter nicht nennenswert ist, da sie doch, wir wissen es und lächeln, alljährlich wiederkommt, eine Sache der Jahreszeit, ein märzliches Heimweh nach neuen Menschen, denen man selber noch einmal neu wäre, so dass es sich auf eine wohlige Weise lohnte, zu reden, zu denken über viele Dinge, ja sich zu begeistern, Heimweh nach ersten langen Gesprächen mit einer fremden Frau. Oh, so hinauszuwandern in eine Nacht, um keine Grenzen bekümmert! Wir werden schon keine, die in uns liegt, je überspringen …
Mein Therapeut sagt: Sie entkommen sich nicht. Wir wissen es und lächeln. Er kennt sich aus mit Frisch, er hat Rilkes Malte gelesen und weiß, was ich meine, wenn ich fürchte, dass mein Gesicht sich ablöst. Ich bin mir nicht sicher, ob darunter ein Neues nachwächst, und solange man mich noch ansehen kann, habe ich Sex. Oh, so hinauszuwandern in eine Nacht, um keine Grenze bekümmert. Er will mit mir über Alkohol sprechen, über Substanzmissbrauch, und wieso es nicht hilft, bloß den Partner zu wechseln, um sich selbst nicht begegnen zu müssen. Wir sprechen über Heimwegsex, Sex, der den Heimweg ersetzt, Sex aufgrund von märzlichem Heimweh, der eigentlich Fernwehsex ist. Es ist phantastischer Sex, behaupte ich, weil er sich vor allem im Kopf abspielt. Der Körper ist kaum beteiligt daran. Ich spüre ihn kaum, auch wenn ich mich dabei sehr lebendig fühle. Mein Therapeut nennt das dissoziativ, aber ich finde: immer noch besser als Suizid, bloß im kleinen Tod das Sterben zu üben.
Während in der dunklen Jahreszeit der Botenstoff Melatonin vorherrscht, wird mit zunehmendem Tageslicht das Serotonin hochgefahren. Durch wärmere Temperaturen weiten sich außerdem die Blutgefäße der Haut, so dass der Blutdruck leicht sinkt. Diese Umstellungen können dem Körper zu schaffen machen. Der Betroffene ist abgeschlagen, vielleicht auch gereizt, und leidet eventuell unter Schwindel und Kreislaufproblemen. Der Frühling, der Faktor des sich verändernden Lebens, kann eine tiefe Verunsicherung auslösen. Generell kommt im Frühjahr eine gewisse Unruhe in alle Systeme. Das kann eine Rolle spielen bei der Auslösung von Symptomen. Alle möglichen Formen von psychischen Störungen können in dieser Zeit begünstigt auftreten.
Es tut gut, das zu lesen. Der Mann, mit dem ich mich treffe, ist bloß ein Symptom. Er kommt jedes Jahr im Frühling, er ist ein Buchmessenmann, und mich beruhigt der Gedanke, dass meine Sehnsucht nach ihm rein enzymatisch ist. Eine Störung im System, ein Missverhältnis von Neurotransmittern. Ich glaube gern an Biochemie.
Thomas Stearns Eliot begann während eines Kuraufenthalts in der Schweiz an The Waste Land zu schreiben. Er befand sich in einer schweren Lebenskrise und war völlig unzufrieden mit seinem Dasein.
April is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.
Es ist bloß Cortisol, sage ich mir, das Brennen, die Rastlosigkeit, die in den trägen Schutzraum des Winters einbricht. Um wie vieles wahrer klingt Eliots Gedicht.
Die Unruhe verfolgt mich auch nachts. Vadim und ich haben die Decke geteilt. Wir schlafen getrennt, seit es wärmer geworden ist, jeder auf seiner Seite des Bettes. Die Nächte sind anstrengend, weil ich so schwitze, und selbst die halbe Decke ist noch zu dick. Ich wache auf, weil ich friere, ich bin nass und habe das Bett durchgeschwitzt. Jede Nacht verliere ich drei Liter Schweiß, eine Nebenwirkung von Cipralex, und am Morgen kann ich mich selbst nicht mehr riechen. Ich stinke wie Abfall. Selbst die Katze weicht vor mir zurück. Ich bleibe im Bett liegen, bis Vadim die Wohnung verlassen hat, renne zur Dusche und habe das Gefühl, zu ersticken. Tagsüber lagere ich Wasser ein.
Der Buchmessenmann hat ein wenig Übergewicht. Selbst seine Ohrläppchen sind fleischig, seine Nase ist groß, und ich stelle mir vor, wie Ohren und Nase im Alter noch wachsen. Er hat jetzt silbernes Haar an den Schläfen, und ich sage zu ihm, dass er ein schöner alter Mann werden wird. Meinst du das ernst?, fragt er, und ich nicke: Er kann werden, was er will, in meiner Vorstellung von unserer Liebesgeschichte, er kann werden, was ich will, weil unsere Liebesgeschichte nur eine Vorstellung ist. Einmal im Jahr treffen wir uns. Dann wird er real, und das hilft mir dabei, mich daran zu erinnern, dass ich ihn in Wirklichkeit gar nicht will.
Mein Therapeut fragt: Waren Sie jemals glücklich mit ihm? Ich muss kurz nachdenken. Glücklich war ich immer erst hinterher. Wenn er wieder gefahren war und schrieb, er wäre gern noch geblieben.
Ich gehe zum Arzt, ich brauche ein neues Medikament. Es gibt nichts, was ich nicht schlucken würde, aber wir bleiben bei Cipralex, weil es nicht fruchtschädigend ist. Oder verhüten Sie wieder?, fragt der Arzt und schlägt vor, dass wir die Dosis erhöhen. Dann sehen wir weiter. In sechs Wochen soll ich wiederkommen, heute ist der achte Mai, es ist immer der achte Mai, wenn ich in der Akutsprechstunde sitze, und langsam glaube ich nicht mehr an Zufälle. Ich glaube an Statistiken: dass auch der achte Mai bloß ein Mittelwert ist, ein berechenbares Datum ohne Symbolik, an dem der Durchschnittsirre kapituliert.
Mein Therapeut denkt, dass meine Krise auch eine Schreibkrise ist. Wer schreibt, muss seinen Körper nicht spüren, auch Schreiben sei dissoziativ, und ich behaupte, dass ich längst weiterarbeite: an einer Art Liebesgeschichte, die allerdings nie veröffentlich wird. Es geht um schlechten Sex mit einem hässlichen Mann, den ich mir hässlich und schlecht schreibe, um es etwas besser zu machen, dass er bloß eine Vorstellung ist, die nie real werden wird. Ich schreibe in der ersten Person, aber auch »ich« ist nur ein zweckmäßiges Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt (schreibt Virginia Woolf), und wenn ich die Kontrolle verliert (schreibe ich), dann geschieht das bloß, weil ich es so will.
Ich soll auf meine Bedürfnisse achten, sagt mein Therapeut. Nicht nur in Routinen verharren. Aber dann sitze ich doch wieder am Schreibtisch, sehe mir Katzenvideos an und gucke in mein E-Mailpostfach. Der Mann, den ich mir vorstelle, meldet sich nicht. Alle drei Minuten klicke ich auf Posteingang, und schließlich rufe ich Suska an und erzähle ihr von ihm. Ich liste die Dinge auf, die ich an ihm abstoßend finde. Dinge, an die ich mich zu denken zwinge, wenn ich ihn zu sehr vermisse: Wie er die Hüften kreisen lässt und sein Becken an mir reibt, kaum dass er vor mir steht. Das gelbe Zeug, das morgens in seinen Augen klebt, die Geräusche, die er im Bad macht, seine mintfarbenen Shorts, wie er mir die Beine spreizt und mich untersucht, als wäre ich beim TÜV. Wie sein unrasiertes Kinn an mir scheuert, wie zufrieden er mit sich ist und wie ich ihn für all das verachte und trotzdem fürchte, dass er mich nicht will. Es hilft nichts. Das alte Spiel. Der eine entzieht sich, der andere sehnt sich. Er ist ein Arschloch, sagt Suska, und ich finde: Das macht doch nichts. Als sie aufgelegt hat, googele ich seinen Namen plus Arschloch und bin überrascht, wie viele Treffer es gibt.
Woran haben Sie sonst noch Freude?, fragt mein Therapeut. Ich soll eine Umfrage unter meinen Freunden machen, wie sie den Frühling verbringen, und als Erstes treffe ich mich mit Aenne. Wir trinken zusammen, und Aenne sagt, ihr sei jetzt alles egal. Das sei nicht der schlechteste Zustand, ein bisschen wie noch mal Pubertät, und dann überlegen wir, was uns noch bliebe, wenn wir wieder zu Teenagern würden: ausgehen und trinken, kiffen und schlafen, Musik hören, Filme ansehen. Vielleicht noch essen, sagt Aenne, sie lebt jetzt vegan. Wir verabreden uns für die folgende Woche. Wir wollen was Erwachsenes tun, am Mittwoch ist Yoga im Park.
Ich versuche es mit Pornos. Es gehe um Lustgewinn, sagt mein Therapeut, der sicherlich etwas anderes meint. Meistens ahne ich schon nach ein paar Szenen, dass ich nicht bis zum Cumshot durchhalten werde. Ich schalte den Ton aus, spule zu den Stellungswechseln vor, sehe mir an, wie er an ihr zu spielen beginnt. Ihr Geschlechtsteil ist ledrig, schmallippig, kein bisschen rot, kein bisschen erregt. Nur das Intimpiercing glänzt.
Das Telefon klingelt, und meine Mutter ist dran. Sie haben einen neuen Trockner gekauft. Der letzte hat zweiundzwanzig Jahre gehalten. Es könne sein, sagt sie, dass dieser Trockner sie überlebt. Ich rechne nach, und vielleicht hat sie recht: Sie könnten vor einem Trockner sterben. Ich bin wütend: Wieso kauft ihr nichts Billiges? Ich will diesen Trockner nicht erben.
Als ich fünfzehn war, nahm meine Mutter mich mit zu ihrer Frauenärztin. Sie war kaum älter als ich heute, damals sollte ich die Pille bekommen, und auf dem Weg zur Praxis erzählte sie mir, dass sie langsam graue Schamhaare kriege. Das sei ein Schock für sie gewesen: zu realisieren, dass auch die Körperhaare sich grau färbten. Ich hielt mir die Ohren zu, ich wollte nichts davon hören, und meine Mutter schwärmte von ihrer Frauenärztin, die ihr den Tipp gegeben habe, es wie die jungen Mädchen zu machen und sich das Schamhaar einfach abzurasieren.
Der Nachbar hält mir die Tür auf. Er ist nicht höflich, er will bloß hinter mir die Treppe hochgehen. In fünf Minuten geht er bereits wieder hinunter. Ständig rennt er durchs Treppenhaus, er markiert sein Revier, in dem er früher Hausmeister war. Ich höre ihn durch die geschlossene Tür. Sein würgendes Geräusch. Er ist ein widerlicher alter Sack, der seinen Rotz abhustet, jedes Mal auf unserem Treppenabsatz.
Im »Lexikon der Filmbegriffe« steht zum Lemma cumshot: Da das normal produzierte Sperma des Mannes in der Regel nicht in der gewünschten Menge zur Verfügung steht, wird häufig mit technisch hergestelltem Ejakulat (aus Eiweiß) nachgeholfen, so dass einerseits dramaturgisch die Ejakulation (sexualphysiologisch durchaus korrekt) als das für den Mann ultimative erregungslösende Moment beim Sexualakt zusätzlich fetischistisch überhöht wird, der Betrachter aber andererseits schon angesichts der bloßen Menge an extrakorporal produziertem ›Sperma‹ auf seine eigene Unzulänglichkeit in dieser Hinsicht zurückgeworfen wird.
Ich bekomme auch graue Schamhaare. Es sieht wie angeschimmelt aus, es muss ein Irrtum sein, und ich fühle mich von meinem Körper betrogen. Es ist bloß Melanin, sage ich mir, und trotzdem fühlt es sich falsch an: der Gedanke, vielleicht doch noch ein Kind zu kriegen, irgendwann später, wenn das erste, was dieses Kind von der Welt sehen wird, das graue Schamhaar seiner schimmelnden Mutter ist.
Wann ist man zu alt, um Kinder zu bekommen?, fragt GMX. In einer intimen Sprechstunde stellen wir die Fragen, die Sie vielleicht nicht laut formulieren möchten. Haben auch Sie intime Fragen, die wir unseren Experten stellen sollen?
Liebes GMX, bitte frag mal für mich: Wann ist man zu alt, um sich zu jung für ein Kind zu fühlen?
Mein Therapeut findet nicht, dass ich manisch bin. Den Begriff der Enthemmung hält er für übertrieben. Er sagt: Sie pathologisieren sich selbst! Sie verhalten sich unreif, bloß um sich unreif fühlen zu dürfen, und er behauptet, dass ich gar kein Kind will. Ich ziehe mein T-Shirt hoch, damit er die Narbe sieht, die durch den Bauchnabel läuft, ich schiebe den Hosenbund runter und zeige ihm den Schnitt über dem Schambein: Ich tue erwachsene Dinge. Ich pathologisiere mich nicht.
Im Krankenhaus prüft eine Ärztin meine Behaarung. Sie gibt mir einen Einwegrasierer, und unter der Dusche enthaare ich mich. Danach bin ich wie neu, bis auf ein paar blutende Schnitte. Ich halte mir den Duschkopf zwischen die Beine, wenigstens das, aber die Schwester hämmert bereits gegen die Tür, um endlich den Einlauf zu machen. Ich liege auf dem Bett, strecke ihr den Hintern entgegen, das Wasser läuft in meinen Anus, und ich bin nackt wie ein Mädchen vor der Pubertät. Doch nach der OP wird es heißen, ich sei eine Frau mit einem intakten Gebärapparat.
Um das herauszufinden, pumpen sie mir CO2 in den Bauchraum. Sie stechen eine Kamerasonde durch meine Bauchdecke, machen einen Schnitt durch den Nabel, einen zweiten über dem Schambein, und in das Loch zwischen den Beinen, das schon vorher da war und hinterher wie eine Wunde schmerzt, führen sie die Schneidegeräte ein. Sie finden nichts, was sie wegschneiden könnten. Weder Endometriose, Wucherungen von Gebärmutterschleimhaut, noch Zysten. Ich trage eine Windel, gebäre Blut, das nach Jod riecht, und mein Brustkorb fühlt sich an, als wäre ein Lkw darüber gefahren. Die Laparoskopie ist eine schonende und wenig belastende Operationstechnik. In den nächsten Tagen versuche ich, das Gas abzuatmen. Die Schmerzen lassen nach, und der Befund spricht mich völlig gesund. Das Ergebnis der OP: Die OP wäre nicht nötig gewesen. Ich versuche, mich ein bisschen zu freuen: Ein Hoch auf die Reproduktionsmedizin!
Rein dramaturgisch gelingen uns erwachsene Dinge: Wir lassen uns untersuchen, über Behandlungsverfahren aufklären, Vadim muss in ein Becherchen wichsen, rein sexualphysiologisch kriegt er das hin. Es gebe Möglichkeiten, das Sperma technisch aufzubereiten und mich vorab zu stimulieren, doch was wie im Porno klingt, meint nur die täglichen Spritzen. Sie legen uns Verträge vor, die wir mitnehmen, um sie zu unterschreiben, und dann rufen wir nicht mehr zurück. Stattdessen verreisen wir. Wir lassen uns impfen, ich kreuze an, dass ich nicht schwanger sein kann, wir fliegen nach Asien, verpassen den Winter, und erst zur Buchmesse sind wir zurück.
Es ist das Frühjahr, in dem der Nachbar sich im Keller erhängt. Eine Zahl in der Statistik, die plötzlich nicht mehr nur aus Zahlen besteht. Nach dem Putzplan im Hausflur wäre ich an der Reihe gewesen, im Mai den Keller zu fegen. Die Eisheiligen sind gerade vorbei, und es folgt der erste Sommer, in dem die Nachbarin die Kästen auf dem Balkon nicht bepflanzt. Ich fühle mich schuldig. Wir fragen uns, wer ihn gefunden hat, Vadim und ich kondolieren, und in der Zeitung steht, dass die EU plant, die Schleuserboote an der Küste Libyens zu zerstören. Wenigstens die Flüchtlingskrise wird jetzt gelöst! Mein Therapeut sagt: Versuchen Sie, nicht zynisch zu werden.
Ian Curtis starb am 18. Mai, Flaubert schon am achten. Es ist fast Juni, und dann blute ich wieder. Ich stecke mir Schwämmchen in den Geburtskanal, die selbst beim Sex nicht zu spüren sein sollen, wenn man sie richtig platziert. Vadim stößt trotzdem dagegen. Was soll das?, fragt er. Menstruierst du jetzt heimlich? Die Firma, die die Dinger vertreibt, heißt Joy Division – geteilte Freude ist halbes Leid, und hinterher schließe ich mich im Bad ein und versuche, den Schwamm wieder herauszukriegen. Es gibt keinen Faden, damit man nichts spürt, und ich sitze auf der Kloschüssel und presse, she’s lost control again, she’s lost control, Ian Curtis hat sich in seiner Küche erhängt, und ich versuche, einen Schwamm zu gebären. Love will tear us apart. Schließlich bekomme ich etwas zu fassen, ein Schwall Blut spült es aus mir heraus: einen formlosen Klumpen, der vorher rosa und herzförmig war.
Als Flauberts Debütroman erschien, war er ein reifer Mann im Alter von 36 Jahren. Emma Bovary, schrieb der Kritiker Sainte-Beuve über Flauberts Titelheldin, habe nie gelernt, daß die Grundbedingung eines ordentlichen Lebens die Fähigkeit ist, Langeweile ertragen zu können, dieses ungewisse Entbehren, diesen Mangel an einem angenehmeren, inneren Neigungen besser entsprechendem Dasein. Flaubert erklärte: Madame Bovary, c’est moi! Und ich bin sechsunddreißig Jahre alt, im gleichen Alter wie er, in Zahlen schon zweimal erwachsen, eine unreife Frau, deren Eileiter sich durchspülen lassen. Madame Bovary, c’est moi, aussi.
Die Unruhe als Strafe und Stigma. Tien sagt: Wenn du jetzt kein Kind bekommst, musst du später mit dir alleine klarkommen. Ich lese über Satyriasis, Nymphomanie, Erotomanie, Hypersexualität, verursacht durch Müßiggang, Masturbation und eine sitzende Lebensweise. Psychologischer Typus, der aus Bindungsangst häufig den Sexualpartner wechselt, während der Beziehungssüchtige über Sexualität nach Zuneigung und Zuwendung strebt. Der Buchmessenmann sagt: Du musst lernen, mit dir allein zu leben.
Mein Therapeut glaubt: Sie entkommen sich nicht, auch wenn der Andere Sie penetriert. Hypersexualität korreliert mit hypomanischem Zustand. Ich wäre so gern manisch gewesen.
Meine Haut beginnt zu jucken, ein rotes Muster blüht auf meinem Hals. Wir haben die Dosis erhöht, und ich schlafe fast zehn Stunden am Tag. Ich schreibe ein bisschen, dann koche ich, und nach dem Essen muss ich Mittagsschlaf machen. Ich rufe beim Hautarzt an, der in acht Wochen einen Termin für mich hat.
Meine Mutter findet, dass ich doch ein sehr gutes Leben führe. Sie schickt mir jeden Artikel, den sie zum Thema Regretting Motherhood finden kann. Überleg dir das gut, sagt sie und meint das Leben, das sie geführt hat, meinen Bruder und mich, und natürlich bereut sie uns nicht. Sie beteuert es jedes Mal, obwohl ich sie nie danach frage. Du pathologisierst mich!, werfe ich ihr vor. Dabei glaubt sie bloß an Schicksal und meine Gesundheit. Das deutlichste Zeichen dafür: Mein Unterleib sei schlauer als ich.
Wir sind bei Aenne zum Geburtstagskaffee eingeladen. Es kommen: ihre Single-Freunde und die Familien, die mit ihr im Haus wohnen, wir sind das einzige Paar ohne Kinder. Ein Mann mit grauweißem Bart und Jungengesicht fällt mir auf. Als hätte er über Nacht seine Jugend verloren. Wir sehen uns kurz an, aber auch er hat ein Kind vor den Bauch geschnallt. Es gibt vegane Kuchen, Vadim und ich setzen uns auf die Krabbeldecke im Gras, und wieder zu Hause sagt Vadim, dass sie ihm irgendwie verwahrlost vorkamen. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass er nicht von den Kindern gesprochen hat.
»Üblicherweise«, wurde Deborah Feldman vor ihrer Hormonstimulation als Eizellenspenderin mitgeteilt, »überschreiten menschliche Eierstöcke im Leben einer Frau niemals die Größe von Walnüssen. Bei den Ihren dürften wir nun davon ausgehen, dass sie die Größe von – sagen wir – einer Orange annehmen werden.« Wenn Eierstöcke naturgemäß niemals die Größe einer Orange erreichen konnten, so fragte sich Feldman daraufhin, war es nicht sinnvoll anzunehmen, dass sie dies besser auch nicht tun sollten?
Die Kamerasonden und das Einführen des Ultraschallstabs. Das Durchstechen der Eileiter, die täglichen Spritzen, die Narkose, die Kanülen im Arm. Wenn wir heiraten würden, sagt Vadim, müssten wir nicht dafür bezahlen. Stattdessen gehen wir zum Notar. Wir tun ein paar erwachsene Dinge, wir legen fest, dass wir Auskunft erhalten wollen, wenn einem von uns etwas passiert, wir versprechen uns, einander den Stecker zu ziehen. Vadim soll meine Rentenversicherung kriegen, und ich erbe seine Trompete. Darf ich sie verkaufen?, frage ich, als wir wieder draußen sind. Vadim nickt, und dann essen wir Pizza.
Bei Edeka läuft REM. Ein Kerl mit einer Haarpalme auf dem Kopf räumt die Regale ein. Er pfeift mit, guten Morgen, sagt er, als er mich sieht. Ich grinse zurück. Seit ein paar Tagen ist Kurze-Hosen-Wetter. Meine Beine sind weiß und etwas schwabbelig, ich bin die schönste Frau im ganzen Edeka, die Palme auf seinem Kopf wippt, vom Himmel schweben Sylphiden herab, und alles singt und pulsiert wie verrückt: shiny happy people laughing.
Mein Therapeut findet, ich sei auf einem ganz guten Weg. Noch fünf Sitzungen, sagt er. Ich bin überrascht, wie wenig Zeit wir noch haben. Zu Hause erzähle ich Vadim davon: nur noch fünf Sitzungen! Das macht mir Angst. Doch Vadim nickt bloß und versucht, nicht zu lachen: Dann bist du also geheilt.
In der Zeitung steht, dass man – statistisch betrachtet – mit siebenunddreißig am glücklichsten ist. Ich bin kurz davor, der glücklichste Mensch meines Lebens zu werden. In einem Jahr soll ich wissen, wohin ich noch will, ich werde das Wesentliche erreicht haben und eine Zeit verbringen, mit der ich im Rückblick am zufriedensten bin. Es wird das beste Leben von allen sein, aber ich fürchte, ich werde es nicht führen. Ich mache mir Sorgen um meine Retrospektive, und wer mit siebenunddreißig noch immer nicht glücklich ist, wird es – statistisch gesehen – auch nicht mehr werden. Danach geht es nur noch bergab. Mein Therapeut schüttelt den Kopf. Er glaubt nicht, dass das Unglück so berechenbar ist, er glaubt an willkürliches Glück und an mich. Ich frage ihn trotzdem: Wohin soll der Abstieg führen, wenn schon das Gipfelkreuz in einer Ebene steht? Es gibt nur eine logische Antwort: ins Wasser oder unter die Erde. Jetzt lacht er nicht mehr, endlich verstehen wir uns: Ich bin nicht suizidal. Ich bin bloß gut in Metaphysik.
Die Katze atmet so laut. Sie atmet viel zu laut. In Menschenjahren wäre sie über siebzig. Sie sieht wie ein Baby aus, und manchmal vergesse ich, dass sie schon eine Rentnerin ist. Wie geht es der Katze?, fragen mich Menschen, die mich nicht nach einem Kind fragen können. Ich würde lieber nach einem Kind gefragt werden, weil ich mir vorstelle, dass es etwas weniger lächerlich klingt. Es ist bloß eine Katze, sage ich dann. Sie ist alt, und ich weiß nicht, wie lange sie noch lebt. Außerdem fürchte ich, sie ist medikamentenabhängig.
Bei Sloterdijk steht: So antwortete die Metaphysik auf die Krankheit des Lebens mit einer geistvollen Selbsteinäscherung. Sie stellte dem kränklichen Fleisch das heitere Skelett entgegen, der brennenden Wunde den kühlen Stein. Die geistvolle Selbsteinäscherung. Das klingt nach einem gangbaren Weg.
Fürs Erste betrinke ich mich. Das kränkliche, hinfällige Fleisch liegt am Boden, der Geist aber ist immer noch heiter. Ich feiere mit Tien. Ein großer Verlag will ihren Erzählband herausbringen, sie hat einen Vertrag unterschrieben, bekommt einen Vorschuss, das volle Programm. Wir feiern im Besser Leben, und ich trinke auf Tien. Sie war die Einzige, für die ich noch schwärzer als für mich gesehen habe – wer will schon einen Erzählband herausbringen? Tiens Unglück war meine sichere Bank. Sie weiß es und beobachtet mich: Fühle ich mich von ihr verraten? Betrügt sie mich mit ihrem Glück? Es macht mir nichts aus. Es ist mir gleichgültig, ob meine Freundinnen schwanger werden oder ihre Bücher zur Welt bringen. Es macht fast keinen Unterschied. Aber eben nur fast, denn immerhin trinkt Tien noch mit mir. Sie hebt ihr Glas, später bezahlt sie die Rechnung, und ich bleibe noch, bis niemand mehr übrig ist. Nur einer ist noch da, der irgendwann aufsteht und mir ein Glas Wasser holt. Danach stehen wir zusammen auf der Straße und halten uns fest aneinander. Ich will bei ihm übernachten. Ich bin zu wackelig, um noch Fahrrad zu fahren, und es wird enden wie immer – bei ihm, um nicht wie immer sonst enden zu müssen: mit dem Gesicht auf dem Asphalt, weil ich das Rad in die Tramschienen lenke.
Mein Schamhaar wächst nach. Es juckt, und ich rasiere mich wieder. Vadim und ich rechnen aus, wann ein Kind kommen müsste, damit wir noch Elterngeld kriegen. Mein Uni-Vertrag läuft bald aus, allzu lange dürften wir nicht mehr warten, die Behandlung würde dauern, und mein Businessplan ist, dass es Elterngeld gibt. Ein anderes Konzept habe ich nicht.
Tien nimmt mir diese Abgeklärtheit nicht ab. Willst du jetzt ein Kind oder nicht? Ich finde die Frage falsch. Die Frage lautet, um welchen Preis ich ein Kind wollen würde. Und was der Preis dafür wäre, auf ein Kind zu verzichten, ohne diese Abgeklärtheit. Verzweiflung? Darauf lasse ich mich nicht mehr ein. Tien findet, ich müsse eine Entscheidung treffen. Und dann meinen Frieden machen, das Gegenteil von Abgeklärtheit. Ich hasse meine Wahlmöglichkeiten. Meine Großtante gab mir einmal einen guten Rat mit auf den Weg: Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann tu einfach: nichts. Wenn du nichts tust, sagt Tien, dann ist das auch eine Entscheidung. Nein, behaupte ich, dann ist es Schicksal! Dann ist die Zeit verantwortlich, die Biologie, und wie gern würde ich auf meinen Körper vertrauen, von dem meine Mutter behauptet, er wisse genau, was er tut, wenn er mir keine Kinder gebiert. Um es kurz zu machen: Ich habe keine Antwort auf Tiens Frage. Mein Körper antwortet an meiner Stelle: Er will keine Spritzen und vermutlich kein Kind. Obwohl wir uns da manchmal nicht einig sind.