Kretische Feindschaft

Nikos Milonás

Kretische Feindschaft

Ein Fall für Michalis Charisteas

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Nikos Milonás

Nikos Milonás alias Frank D. Müller hat sich bereits im jungen Alter von 17 Jahren bei seiner ersten Kreta-Reise in die Mittelmeerinsel verliebt. Aus einem kühlen norddeutschen Sommer kommend, war er überwältigt, als er vom Schiff aus die Küste zu Gesicht bekam und der intensive Duft von wildem Thymian übers Meer zu ihm herüberwehte. Seither verbringt er so viel Zeit wie möglich auf Kreta und hat Land und Leute fest ins Herz geschlossen. In seinem deutschen Leben wohnt der gebürtige Hamburger mittlerweile in München, arbeitet als Regieassistent und Dokumentarfilmer und ist (Co-)Autor diverser TV-Sendungen (u.a. »München 7«). »Kretische Feindschaft« ist sein erster Krimi und der erste Fall für Kommissar Michalis Charisteas.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Wenn Kommissar Michalis Charisteas morgens den Blick auf den malerischen Hafen seiner Heimatstadt Chania genießt, kann er sich nicht vorstellen, an einem anderen Fleck der Erde zu leben. Alles wäre perfekt, könnte in diesem Moment seine Hannah bei ihm sein. Aber Hannah lebt in Berlin und kommt nur alle paar Monate nach Kreta, was für Michalis und seine Familie jedes Mal ein besonderes Ereignis ist. So auch an diesem Tag Ende April. Doch noch vor Hannahs Ankunft steckt Michalis mitten in einem neuen Fall. Der Bürgermeister des Nachbarorts wird vermisst und kurz darauf tot in einem Autowrack an der Felsenküste gefunden. Ein tragischer Unfall, wie es heißt. Aber Michalis gibt sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf alte Feindschaften, die weitere Opfer fordern werden …

 

Der erste Fall für Kommissar Michalis Charisteas

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

 

Redaktion: Ilse Wagner

Covergestaltung und -abbildungen: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491093-2

»Kreta«, murmelte ich, »Kreta«, und mein Herz schlug rascher.

Nikos Kazantzakis, ›Alexis Sorbas‹

 

Ein Kreter sagte zu mir: »Wenn du vor dem Tor des Paradieses erscheinst, und es öffnet sich nicht, so greife nicht nach dem Türklopfer, um anzuklopfen. Nimm dein Gewehr von der Schulter und gib einen Schuss ab.«

Nikos Kazantzakis, ›Rechenschaft vor El Greco‹

Michalis Charisteas, Mitte 30, Kommissar in Chania

Hannah Weingarten, Anfang 30, Kunsthistorikerin

Sotiris Charisteas, Bruder von Michalis, Wirt des Athena

Takis Charisteas, Vater von Michalis, Wirt des Athena

Loukia Charisteas, Mutter von Michalis, Sotiris und Elena

Elena Chourdakis, Schwester von Michalis

Nicola Charisteas, Frau von Sotiris

Sofia Charisteas, Tochter von Sotiris, neun Jahre alt

Markos Chourdakis, Schwager von Elena

Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission von Chania

Pavlos Koronaios, Partner von Michalis

Myrta Diamantakos, Assistentin in der Polizeidirektion

Christos Varobiotis, IT-Spezialist, Schulfreund von Michalis

Ioannis Karagounis, Leitender Kriminaldirektor von Chania

Kostas Zagorakis, Chef der Spurensicherung

Lambros Stournaras, Gerichtsmediziner in Chania

Kalliopi Karathonos, Ehefrau von Stelios Karathonos

Pandelis Karathonos, Sohn von Kalliopi, elf Jahre alt

Stelios Karathonos, bisheriger Bürgermeister von Kolymbari

Vassilia Karathonos, Mutter von Stelios und Dimos

Sideris Katsikaki, Polizist in Kolymbari

Traianos Venizelos, Polizist in Kolymbari

Despina Stamatakis, Sekretärin von Stelios Karathonos

Dimos Karathonos, Geschäftsführer Olivenölmühle

Artemis Karathonos, Frau von Dimos

Alekos Karathonos, Onkel von Dimos und Stelios

Thanassis Delopoulou, Olivenölmühle Marathokefala

Katerina Delopoulou, Frau von Thanassis

Nikolaos Delopoulou, Vater von Thanassis und Antonis

Antonis Delopoulou, Bruder von Thanassis

Tzannis Kaminidis, Bauunternehmer

Karolos Koukolas, Bau-Ausschuss

Metaxia Lirlides, Geliebte von Stelios Karathonos

Polidefkis Flabouraris, Gouverneur von Kreta

Giannis Saringouli, Bestatter in Kolymbari

Alexis, Besitzer Ausflugsboot Chania

Vangelis Alkestis, Bootsbesitzer Kolymbari

Kostas Alkestis, Sohn von Alkestis

u.a.

Plötzlich waren sie wieder da, die grellen Scheinwerfer. Eben noch hatte er gehofft, dem dröhnenden Pick-up entkommen zu sein, aber jetzt näherte sich der Isuzu erneut. Dieser Pástarsos, stöhnte er, dieser verfluchte Bastard, warum können wir das nicht wie erwachsene Menschen regeln?

Er rang nach Luft und raste Richtung Felsenküste. Durch die offenen Wagenfenster zog der Duft von Thymian und Oleander ins Wageninnere. Normalerweise genoss er diese Gerüche, jetzt aber nahm er sie kaum wahr. Zu sehr war er darauf konzentriert, nicht in Panik zu geraten, denn die Lichter im Rückspiegel wurden immer größer.

Er jagte mit seinem silbergrauen SUV auf eine scharfe Linkskurve zu, bremste erst unmittelbar davor ab und beschleunigte sofort wieder. Kurz waren die Lichter des Isuzu verschwunden. Noch hundert Meter, dann die nächste scharfe Kurve und dann ein Feldweg, an dem der Pick-up mit Sicherheit vorbeifahren würde. Dann hätte er es geschafft.

An diesem Feldweg hatte er letzte Woche mit der Frau, neben der er jetzt eigentlich liegen wollte, gehalten. Sie hatten weit unten das Meer im Mondlicht glitzern und die Lichter am Ende der Bucht gesehen und sich auf der Rückbank seines Wagens geliebt. Heute wurde der Mond von schweren Wolken verdeckt, das Meer lag in tiefer Dunkelheit, und es war Regen vorhergesagt. Letzte Woche, wie lange war das her? Eine Ewigkeit, unglaublich, was seitdem passiert war. Vor einer Woche hatte er noch nicht gewusst, was er jetzt wusste.

Nach fünfzig Metern schaltete er die Scheinwerfer aus und wendete im Dunkeln. Falls der andere ihn entdecken würde, könnte er sofort wieder die Straße erreichen. Er machte den Motor aus und lauschte in die Nacht. Sein Herz raste, sein Mund war trocken vor Wut, er zitterte, und das hohe Pfeifen in seinen Ohren übertönte sogar das Meer, das weit unten gegen die Felsen der Küste brandete. Trotz der angenehm kühlen Frühlingsnacht schwitzte er.

Irgendwo auf dem Rücksitz unter dem Aktenordner mussten seine Karelia-Zigaretten liegen. Einige Unterlagen und eine Illustrierte hatte er vorhin, als der andere plötzlich aufgetaucht war, hektisch in den Fußraum geworfen. Vielleicht waren ja auch seine Karelia dort, aber er konnte sie jetzt nicht suchen. Er musste die Straße im Blick behalten.

 

Es hatte zu regnen begonnen. Mit der Feuchtigkeit mischte sich in den würzigen Thymian und den bitteren Salbei der herbe Duft der Macchia sowie der Erde, die so lange kein Wasser mehr aufgenommen hatte. Der Wind frischte vom Meer her auf, und als die ersten Regentropfen die Ledersitze trafen und der Staub auf der Windschutzscheibe erst zu runden Kratern und dann zu schmutzigen Rinnsalen wurde, fuhr er die Fenster des Wagens hoch und wartete.

 

Der Isuzu hätte längst an dem Feldweg vorbeigefahren sein müssen. Wo blieb dieser Téras, diese Missgeburt? Hatte er umgedreht? Oder ahnte der Kerl, dass er sich hier versteckte?

Der Regen prasselte auf die Scheiben und hörte abrupt wieder auf. Ein kurzer Schauer, viel zu wenig für die ausgetrockneten Böden. Den ganzen Winter über hatte es kaum geregnet und oben in den Bergen, in den Lefka Ori, auch kaum geschneit. Für die Olivenblüte waren die Böden jetzt im April noch feucht genug, aber demnächst, wenn die Oliven wachsen sollten, würden die Olivenbauern ihre Bäume stärker bewässern müssen als in den vergangenen Jahren.

 

Er wollte nicht länger warten, obwohl ihm ein Gefühl sagte, der andere könnte darauf lauern, dass er wieder auftauchte. Doch er ignorierte diese Befürchtung und fuhr ohne Licht langsam zur Straße zurück. Bevor er einbog, zögerte er kurz, dann gab er Gas, seine Reifen drehten auf dem staubigen Weg durch, fanden auf der Straße aber sofort wieder Halt. Er schaltete das Licht ein, bremste erst vor der nächsten Kurve und bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass sein Wagen auf dem nassen Asphalt ins Schleudern geriet.

Im Rückspiegel tauchten die grellen Scheinwerfer auf. Ilísios, fluchte er über sich selbst, Trottel, und spürte, dass ihm der kalte Schweiß in den Augen brannte. Der Fahrer des Isuzu musste ihn von oben beobachtet haben, als er in den Feldweg eingebogen war.

 

Die Scheinwerfer kamen immer näher. Wie konnte der andere so schnell sein? Rechts Felsen, links die Steilküste, er musste ihn abhängen, aber der massige, immer größer werdende

Vor ihnen lag eine extrem scharfe Rechtskurve, das wusste er, und das wusste offenbar auch sein Verfolger, denn der wurde langsamer. Er aber blieb auf dem Gaspedal. Erst im allerletzten Moment würde er bremsen.

Noch mit geschlossenen Augen spürte Michalis Charisteas, dass ein leichter, vom Hafen kommender Wind die Vorhänge am Fenster bewegte. Von unten aus der Taverne waren das Lachen seiner Mutter und die Rufe seines Bruders und seines Vaters zu hören, die sich jeden Morgen aufs Neue lautstark darüber unterhielten, was auf die Speisekarte kommen sollte.

Michalis war vor dem Klingeln des Weckers aufgewacht. Das kam nicht oft vor, nur an besonderen Tagen, und heute war der Tag, auf den er sich seit Wochen freute. Am Nachmittag würde Hannah landen, und wenn im Kommissariat nichts Ungewöhnliches passierte, dann würde er sich freinehmen und die Frau, die er seit zwei Monaten jeden Tag vermisste, am Flughafen von Chania abholen. Und im Kommissariat passierte im Moment nur selten etwas Ungewöhnliches.

 

Schon als Kind war Michalis morgens nie sofort aus dem Bett gesprungen, sondern hatte immer erst gelauscht, welche Geräusche vom Hafen kamen. Elena, seine Schwester, war schon zwölf Jahre alt, als Michalis in dieses Zimmer zog, und auch Sotiris war mit seinen zehn Jahren viel zu groß, um sein schmales Bett mit dem kleinen Brüderchen zu teilen. Also war mit Michalis ein winziges drittes Bett in das enge Kinderzimmer eingezogen und hatte bis zu Elenas Auszug verhindert, dass sich die Zimmertür ganz öffnen ließ.

Die Eltern hatten erwartet, dass vor allem Elena in den

»Theokratis?«, hatte Michalis oft mit seiner hellen Kinderstimme geflüstert und Sotiris erwartungsvoll angesehen.

»Nein. Anastas«, hatte Sotiris dann mit Bestimmtheit geantwortet. Elena hatte dieses morgendliche Ritual ihrer Brüder meistens nur spöttisch belächelt.

 

Lange Zeit waren es nur diese beiden gewesen, Theokratis und Anastas, die so früh am Morgen mit ihren kleinen weiß-blauen Booten vom Meer zurück in den alten Fischerhafen fuhren. Die beiden hatten ihre Liegeplätze direkt vor der Fischtaverne, und mit ihnen wehte der Geruch von Salz, Meerestieren und Algen in die Häuser.

Der alte Theokratis hatte oft über Nacht einige Meeräschen und Calamari gefangen, und er trank morgens als Erstes mit dem Großvater von Michalis einen griechischen Mokka, seinen Elliniko. Erst danach knetete er seine Calamari so lange behutsam auf der Kaimauer, bis ihr Fleisch weich genug geworden war, um den Gästen serviert zu werden.

Anastas hingegen hatte früh das kleine Boot seines Vaters übernehmen müssen und brachte jeden Tag Touristen zu einem der Strände westlich von Chania. Auf ein Plakat, mit dem er am Hafen für seine Ausfahrten warb und das er ungelenk selbst gestaltet hatte, hatte er ein Foto mit Delphinen geklebt. Viele Urlauber fuhren nur deshalb mit ihm, weil sie hofften, auf der Fahrt durch die Bucht von Chania Delphine zu sehen. Tatsächlich aber hatte Anastas in seinem Leben erst

 

Michalis stand mit einem Lächeln auf, duschte und ging über die enge Holztreppe nach unten. Groß, wie er war, musste er auf der Treppe immer den Kopf ein wenig einziehen, und er fragte sich oft, ob die Menschen früher wirklich so viel kleiner gewesen waren. Wie alle Männer der Familie waren auch sein Vater und sein Großvater, die als Kinder ebenfalls in dem kleinen Zimmer im ersten Stock gewohnt hatten, nicht nur über einen Meter neunzig groß, sondern sie hatten auch wie Michalis volles, leicht gewelltes dunkles und später graues Haar und behielten es bis ins hohe Alter. Und wie alle Männer der Familie Charisteas trugen sie einen Vollbart, über den sie sich beim Nachdenken gern strichen.

 

Michalis wollte sich in der Küche der Taverne schnell selbst einen Elliniko machen, aber seine Mutter, die morgens sehr energisch war, weil sie alles für den Tag vorbereiten wollte, schob ihn lächelnd, aber entschlossen zur Seite. Er gab ihr einen Kuss und setzte sich draußen zu seinem Vater an einen der Holztische, die später von Einheimischen und Urlaubern bevölkert werden würden. Noch waren die großen Sonnenschirme zusammengeklappt, und viele der in hellem Blau und Gelb gestrichenen Holzstühle mit Bastgeflecht standen noch auf den Tischen.

Sein Vater hatte seine Füße auf die Streben eines Stuhls gestützt und saß mit angestrengtem Gesichtsausdruck vor seinem Tablet-PC, studierte Aktienkurse und kratzte sich den Bart. Seit er die Fischtaverne nicht mehr allein führte und mehr freie Zeit hatte, wollte er allen beweisen, dass er mit dieser Zeit auch etwas anfangen konnte. Deshalb hatte er sich

»Und? Schon wieder gestiegen?« Michalis legte seine graue Lederjacke über die Stuhllehne und setzte sich. Sein Vater richtete sich auf und schob die Ärmel seines dunkelbraunen Hemdes hoch.

»4,2 Prozent! Seit letzter Woche!«, sagte er triumphierend.

»Nicht schlecht.«

»Irgendwann verdien ich damit mehr als du mit deinen Verbrechern«, sagte der Vater, lehnte sich zurück und blickte zum Leuchtturm am Ende der Hafenmole, auf dessen helle, einfarbige Steine die ersten warmen Strahlen der Morgensonne fielen.

»Ich verdiene immer das Gleiche. Ob es viele Verbrecher gibt oder wenig.«

»Ja! Solang er zahlt, der Staat.«

»Das Schlimmste ist doch vorbei«, erwiderte Michalis und wusste, wie froh vor allem seine Mutter war, dass die Finanzkrise den Tourismus auf Kreta nicht ruiniert hatte.

Der Vater musterte Michalis mit seinen braunen Augen, die sich seit einigen Jahren immer stärker von seinen grau werdenden Haaren abhoben.

»Ich trau denen aus Athen nicht«, erwiderte er.

Michalis verkniff es sich zu sagen, dass sein Vater sowieso niemandem traute, der nicht von Kreta kam. Und im Grunde traute er sogar auch nur denen, die direkt aus Chania stammten

 

Der Vater legte sein Tablet zur Seite und schaute zu Sotiris hinüber, der in fast dem gleichen braunen Hemd, wie es der Vater trug, aus dem Lagerraum kam und sich Notizen machte. Michalis kannte diesen etwas wehmütigen Blick seines Vaters. Früher hatte er all das, was jetzt Sotiris machte, selbst erledigt. Aber vor drei Jahren hatte er nach einem Autounfall zwei Monate im Krankenhaus gelegen, und Sotiris hatte in dieser Zeit das Athena, das seit über hundert Jahren in Familienbesitz war, allein geführt, und das sehr erfolgreich. Als der Vater wieder gesund war, waren er und Sotiris plötzlich gleichberechtigt, auch wenn der Vater das lange nicht zugeben wollte. Aber spätestens, als Sotiris behutsam begann, die Speisekarte und den Service gegen den Willen des Vaters nach und nach zu modernisieren, war nicht mehr zu übersehen, wer hier in Zukunft das Sagen haben würde. Zumal die Mutter eher zu ihrem Sohn hielt. Für Takis Charisteas, Familienoberhaupt und Wirt der Fischtaverne Athena, in der fast jeder Bewohner Chanias schon mal gegessen hatte, wie Takis gern behauptete, war das nicht einfach. Er kannte hier jeden, jeder kannte ihn – und plötzlich war er nicht mehr der Chef?

 

»Wann fährst du uns endlich mal im Polizeiauto zur Schule?« Sofia, Michalis’ jüngste Nichte, stellte ihre rosa Schultasche auf den Tisch und sah Michalis herausfordernd an.

»Du weißt, dass das nicht erlaubt ist.«

»Aber dann wissen alle, dass sie mich nicht ärgern dürfen. Weil sonst die Polizei kommt.«

Michalis lächelte. Sofia war mit ihren neun Jahren die frechste der Töchter seines Bruders, und sie wollte unbedingt

 

Hinter Sofia tauchte Nicola auf, seine Schwägerin, die Frau von Sotiris und Mutter seiner drei Töchter. Eine tatkräftige, immer gutgekleidete Frau mit langen braunen Haaren, die genauso war, wie die Mutter von Michalis sich eine Schwiegertochter vorstellte.

»Sofia! Wir kommen zu spät!«, rief sie energisch.

»Aber morgen!« Sofia hob den Zeigefinger, als wollte sie Michalis drohen, gab ihrem Opa einen Kuss, grinste und rannte los, um vor ihrer Mutter am Auto zu sein.

Michalis’ Vater sah ihr nach.

»Sie mag dich.«

»Ich sie auch.«

»Du solltest selbst Kinder haben. Das würde auch deine Mutter freuen.«

Michalis verzog das Gesicht. Ob und wann Hannah und er Kinder bekommen würden, das ging nur sie beide etwas an. Zumal Sotiris drei Töchter hatte, und Elena, ihre Schwester, zwei Söhne. Enkelkinder gab es also genug.

Auch darüber, ob Michalis und Hannah irgendwann heiraten würden, wollte er nicht reden. Nicht mit seinen Eltern. Aber sie waren der Meinung, dass sie das durchaus etwas anging, und gerade Takis – obwohl er Hannah sehr mochte – fragte Michalis manchmal, wenn sie allein waren: »Bist du sicher, dass du mit einer deutschen Frau glücklich wirst?« Er

Vielleicht stimmte davon sogar etwas. Aber er und Hannah waren glücklich, und es war Michalis völlig egal, ob sie Deutsche war, Engländerin, vom Nordpol oder sonst woher. Oder ob sie von Kreta kam, was seinem Vater natürlich am liebsten gewesen wäre.

 

Sotiris brachte Michalis den Elliniko, balancierte gleichzeitig auf seinen kräftigen Unterarmen zwei Teller mit Kourabiedes und setzte sich zu ihnen.

»Hier. Noch warm«, sagte er und deutete auf das Mandelgebäck auf dem Teller.

Der Stuhl knarrte, als Sotiris sich zurücklehnte, und der Vater sah den Stuhl verärgert an.

»Den bring ich gleich zu Nikos, er soll ihn reparieren«, sagte Takis und stand auf.

»Wann genau landet Hannah denn?«, fragte Sotiris, während der Vater mit dem Stuhl im Lager verschwand.

»Um drei. Kurz nach drei«, antwortete Michalis und nahm sich von dem Gebäck, das Sotiris ihm hingestellt und das ihre Mutter bereits heute früh gebacken hatte.

»Schaffst du das?«

»Ja … wenn nichts ist.«

»Was soll denn sein?«

 

Ja, was sollte schon sein? Der letzte Mord in der Präfektur Chania war zwei Monate her, und Michalis und seine Kollegen von der Mordkommission halfen zurzeit oft bei den anderen Abteilungen der Kripo aus und kümmerten sich um Betrügereien oder Handgreiflichkeiten unter Touristen.

»Aber du weißt« – Sotiris beugte sich vor –, »letztes Mal war Hannah enttäuscht, weil du nicht am Flughafen warst.«

Ja, das wusste Michalis noch gut, und er hatte Hannah fest versprochen, sie diesmal selbst abzuholen, und zwar pünktlich.

»Ich werd es schaffen, ganz sicher. Wird schon nicht ausgerechnet heute in Chania jemand durchdrehen«, meinte Michalis zuversichtlich.

»Hoffentlich.« Sotiris seufzte, denn er wusste, dass Michalis seine Fälle manchmal zu ernst nahm. »Falls doch was ist, dann meld dich. Dann fahr ich und hol Hannah ab.«

»Danke«, sagte Michalis. Es war großartig, sich auf seinen großen Bruder verlassen zu können, auch wenn man schon über dreißig war.

Der Vater kam vom Lager zurück, blieb neben dem Tisch stehen und blickte zur Hafeneinfahrt, wo sich das blaue Wasser kräuselte.

»Heute kommt Wind.« Er lächelte. »Das ist gut. Mit dem Wind kommen die Fische.«

Sotiris stand grinsend auf. »Als ob du jemals zum Fischen rausgefahren wärst.«

»Natürlich!«, antwortete der Vater mit leichter Empörung. »Früher. Mit eurem Großvater!«

Michalis und Sotiris sahen sich an und sagten lieber nichts. Ihr Vater behauptete gern, dass er früher mit seinem Vater, der tatsächlich ein winziges blaues Fischerboot gehabt hatte, zum Fischen rausgefahren war. Sotiris war es aber vor einigen Jahren gelungen, dem Großvater nach vielen Gläsern Raki die Wahrheit zu entlocken: Ihr Vater war als Zehnjähriger genau zweimal mit aufs Meer gefahren und jedes Mal seekrank geworden.

»Was Besonderes heute?«, wollte Michalis wissen.

»Meeräschen, Brassen, Anchovis … und unsere Mutter will Lachanodolmades machen.«

Die mit Fenchel, Reis und Minze gefüllten Weißkohlblätter waren eine Spezialität ihrer Mutter. Manche Gäste des Athena kamen tatsächlich nur deshalb, weil die Lachanodolmades hier so gut waren wie nirgends sonst.

 

Michalis blickte Sotiris nach, als der in seinen Pick-up stieg und zur Markthalle fuhr. Schon als Kind hatte Michalis seinen älteren Bruder bewundert, und er tat es immer noch. Der großgewachsene, kräftige Sotiris mit dem fein geschnittenen Gesicht war der heiterste und ausgeglichenste Mensch, den er kannte. Sotiris hatte nie etwas anderes gewollt, als sein Leben mit seiner Familie in Chania und im Athena zu verbringen, und genau das tat er. Beneidenswert.

 

Die Mutter kam aus der Küche, und Michalis und auch Takis grinsten: Loukia hatte wie jeden Tag für ihren Sohn ein kleines Lunchpaket gemacht. Auch wenn Michalis mittlerweile erwachsen war, so sollte er doch immer etwas Gutes zu essen dabeihaben und nicht in die Kantine der Polizeidirektion gehen müssen.

»Bitte sehr«, sagte Loukia und stellte eine liebevoll verschlossene Papiertüte auf den Tisch. »Und sei heute ja pünktlich am Flughafen! Lass Hannah nicht wieder warten! Frauen warten nämlich nicht gern. Und schon gar nicht deutsche Frauen!«

»Nein, kein Problem, das schaff ich heute«, sagte Michalis und sah seine Mutter amüsiert an. Noch trug die große, schlanke Loukia das, was sie beim Arbeiten in der Küche meistens

Einige Verwandte von Loukia lebten in Athen, und manchmal träumte sie davon, elegant gekleidet über die Boulevards und den Syntagma-Platz zu schlendern und abends ins Theater zu gehen. Und alle ein, zwei Jahre besuchte sie tatsächlich für eine Woche ihre Verwandten in Athen, hatte es aber noch nie geschafft, Takis zum Mitkommen zu überreden. Und nach einer Woche war die Mutter dann auch jedes Mal wieder froh, zurück am Fischerhafen von Chania bei ihrer Familie und dem Athena zu sein.

Loukia betrachtete ihren jüngsten Sohn prüfend. »Hättest dich ruhig mal wieder rasieren können, bevor Hannah kommt«, sagte sie vorwurfsvoll.

Michalis fuhr sich über seinen dunklen Vollbart, den er wegen Hannah vor einer Woche tatsächlich etwas gestutzt hatte. Hannah nannte ihn wegen des Barts manchmal »Mein Zeus«, und eigentlich mochte sie den Vollbart auch – aber nicht, wenn er zu lang wurde.

Loukia fuhr ihrem Mann kurz durch die Haare und ging wieder Richtung Küche. Takis stand auf und folgte ihr. Michalis sah den beiden nach und lächelte. Über vierzig Jahre waren sie verheiratet und unübersehbar glücklich. Und seit der Zeit, als der Vater im Krankenhaus gewesen war, war ihnen noch stärker bewusst, dass sie dieses Glück genießen wollten.

 

Michalis trank seinen Elliniko und sah über den Fischerhafen hinüber zum alten venezianischen Hafen. Links die ehemaligen

 

Michalis ging vor zur Kaimauer, schaute zu den Fischen im klaren Wasser des Hafenbeckens und warf einen Blick in den strahlend blauen Himmel. Eigentlich sprach alles dafür, dass es ein großartiger Tag werden würde, aber ein Gefühl sagte Michalis, dass dieser Tag anders verlaufen könnte, als er dachte. Woher diese Ahnung kam, wusste er nicht.

 

Michalis ging zu seinem Motorroller, der in der kleinen Gasse neben dem Athena stand, und zog die dunkelgraue Lederjacke an, die Hannah vor einem Jahr in Berlin für ihn gekauft hatte. Später würde er sie wohl nicht mehr brauchen, aber so früh am Morgen war es jetzt im April noch kühl. Er stellte das Lunchpaket zu seinem Helm in den kleinen Koffer hinter den Sitz und fuhr los. Eigentlich sollte wenigstens er als Polizist einen Helm tragen, aber in Chania machte das fast niemand, und Michalis wäre sich damit lächerlich vorgekommen. Er setzte den Helm immer erst einige hundert Meter vor der Polizeidirektion auf, damit er dort wenigstens vorschriftsmäßig ankam.

 

An der Markou Botsari musste Michalis wieder halten und sah, dass einige Autos, die in die Apokoronou einbogen, auf der Kreuzung um etwas herumzufahren schienen. Er bemerkte ein zerfleddertes gelbes Schulbuch, das auf der Straße lag, am Straßenrand gegenüber ein zweites, und auf dem Bürgersteig ein roteingeschlagenes Schulheft. Michalis stellte seinen Roller ab, sammelte die beiden Schulbücher und das Schulheft ein und sah sich um. An einer Hauswand ganz in der Nähe lagen mehrere bunte Stifte auf den hellen Platten des Gehwegs.

Dreißig Meter weiter stand vor einem Zaun ein noch geschlossener Kiosk, und Michalis glaubte, von dort aufgeregte Stimmen zu hören. Er näherte sich, blickte vorsichtig hinter den Kiosk und entdeckte drei etwa elfjährige Jungs, die einen größeren, vielleicht vierzehnjährigen Jungen in die Enge getrieben hatten und ihn beschimpften. Der Ältere konnte wegen des Zauns und einiger Mülltonnen nicht weiter zurückweichen, hielt seine offene Schultasche umklammert und wirkte ziemlich eingeschüchtert. Auf dem Boden lagen noch mehr Schulsachen.

Plötzlich versuchte dieser Junge wegzurennen und wurde dabei von den anderen zu Fall gebracht. Als einer der Jüngeren nach dem am Boden Liegenden trat, reichte es Michalis.

Die Jungs drehten sich nach ihm um. Der Ältere rappelte sich auf und drückte sich an den Zaun, die Jüngeren sahen sich an und liefen los, mussten dabei aber an Michalis vorbei. Michalis ließ die Schulsachen fallen und packte zwei der Jungs am Arm.

»Hiergeblieben!«

Der dritte Junge rannte an Michalis vorbei und wandte sich in sicherer Entfernung um.

»Lassen Sie uns los!«, rief einer der beiden Jungs, darum bemüht, entschlossen zu klingen. Michalis sah, dass er Angst hatte und seine blonden Haare schweißnass an seiner Stirn klebten.

»Sagt mir erst, was hier los war«, erwiderte Michalis.

»Lassen Sie uns los!«, bettelte der zweite, dunkelhaarige Junge und klang dabei ziemlich verzweifelt.

Die beiden Jungs versuchten, sich loszureißen, aber Michalis hatte nicht vor, sie gehen zu lassen. Als sie anfingen, nach ihm zu treten, kam ihm seine Größe zugute: Er hielt die Jungs so weit von sich weg, dass sie ihn nicht erreichen konnten. Sie zappelten, und als sie sich ein wenig beruhigt hatten, schob Michalis sie gegen den Zaun. Die beiden waren, ebenso wie der Ältere, von Michalis’ Größe und Kraft eingeschüchtert.

»Also.« Michalis sah die Jungs drohend an. »Was ist das Problem? Drei gegen einen?«

Er musterte die Jungs. Ihm fiel auf, dass die Jüngeren teure und neue Sachen anhatten, während der Ältere schmächtig wirkte und ein abgetragenes, schmutziges Hemd trug, das ihm aus der Hose hing. Keiner von ihnen schien reden zu wollen.

»Also? Ich kann auch die Polizei holen.«

Noch einmal versuchte der Blonde mit den schweißnassen

»Wie heißt du?«

»Der hat mein Handy geklaut!«

»Stimmt das?«

Michalis sah den Älteren an, dessen kurzrasierte dunkelblonden Haare, zusammen mit einem scheuen, nervösen Blick, das Schmächtige noch betonten.

»Die lügen! Ich muss zur Schule!«

»Er hat’s gestern aus meiner Tasche gestohlen! Ich hab ihn gesehen, und dann ist er weggerannt!«, rief der Blonde aufgebracht.

Michalis blickte zwischen dem Blonden und dem Älteren hin und her.

»Okay. Aber jetzt sagst du mir erst mal, wie du heißt.«

Michalis sah den Jungen, der behauptete, sein Handy sei gestohlen worden, aufmerksam an und wartete. Der Ältere machte Anstalten, an ihm vorbei abhauen zu wollen. Michalis warf ihm verärgert einen Blick zu.

»Du bleibst hier«, sagte er streng. Der schmächtige Junge zuckte zusammen und gehorchte. Michalis sah wieder den Blonden an. Dem war klar, dass er hier nicht wegkommen würde.

»Also. Wie heißt du?«

»Philippos«, sagte der Blonde leise.

»Und du?«, fragte er den Älteren.

»Kyriakos.«

Michalis sah die beiden Jüngeren, die er immer noch festhielt, streng an.

»Ich werde jetzt mit Kyriakos reden. Und ihr beide bewegt euch hier nicht einen Meter weg.«

»Wir müssen aber zur Schule!«, rief der Dritte, der

»Du kommst mit. Glaub ja nicht, dass du abhauen kannst«, sagte er zu Kyriakos.

Kyriakos ging langsam an den beiden Jüngeren vorbei und folgte Michalis. Der drehte sich noch einmal zu den Jüngeren um.

»Wann fängt die Schule an?«

Der blonde Philippos sah auf die Uhr.

»In dreißig Minuten.«

»Wie lang braucht ihr da hin?«, fragte Michalis.

»’ne Viertelstunde«, sagte er und klang etwas vorwurfsvoll.

Michalis ging weiter, gefolgt von Kyriakos. Als die anderen sie nicht mehr hören konnten, blieb Michalis stehen.

»Kyriakos. Hast du sein Handy?«

»Nein!«

Michalis sah ihn aufmerksam an.

»Was war eben los?«

»Haben Sie doch gesehen! Die waren zu dritt!« Kyriakos klang aggressiv.

»Wo ist sein Handy?«

Kyriakos senkte den Blick, dann sah er zu den drei Jungs.

»Weiß ich doch nicht!«

»Wenn jetzt die Polizei hier wäre, würdest du dann dasselbe sagen?«

Der Blick des Jungen wurde unruhig. Michalis sah ihn einfach nur an.

»Was ist? Ich muss zur Schule!«, sagte Kyriakos.

Michalis wartete. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, dass die Jüngeren unruhig wurden. Kyriakos biss sich auf die Lippe.

»Kyriakos. Wir können das so regeln. Unter uns. Oder die Polizei regelt es.«

»Okay.« Michalis griff in seine graue Lederjacke und zeigte Kyriakos seine Polizeimarke. Kyriakos wischte sich nervös übers Gesicht und hinterließ dabei schmutzige Flecken. Michalis sah, wie dreckig seine Finger waren.

»Ich bin noch nicht im Dienst. Noch können wir das ohne Polizei regeln.«

Kyriakos überlegte. »Woher weiß ich, dass ich Ihnen trauen kann?«

»Wenn ich du wäre, würde ich mir trauen. Alles andere wäre schlechter.«

Der ältere Junge sah schuldbewusst zu Boden.

»Kyriakos. Sieh mich an. Ich mach dir ’nen Vorschlag.«

Der Junge hob langsam den Kopf.

»Hast du sein Handy bei dir zu Hause?«, fragte Michalis.

Kyriakos sagte nichts, aber Michalis nahm ein kurzes Nicken wahr.

»Die drei Jungs.« Michalis sah zu ihnen rüber. »Die wissen nicht, dass ich Polizist bin. Da drüben steht mein Roller. Wir fahren zu dir, holen das Handy, du gibst es zurück, und die Sache ist aus der Welt. Okay?«

»Und wenn die mich dann wieder …?«

Michalis sah den schmächtigen Jungen fragend an. Der senkte erneut den Blick.

»Die haben mehr Freunde als ich …« Kyriakos hatte das sehr traurig gesagt. Michalis musste nicht weiter nachfragen, um zu wissen, dass er der Außenseiter war.

»Das werden die nicht. Sonst rufst du mich an.«

Kyriakos sah Michalis kurz ungläubig an. Dann nickte er.

 

Michalis trat zu den drei Jungs und forderte sie auf, vor dem Haupteingang ihrer Schule auf ihn zu warten, und ging mit

»Hier. Schultasche kannst du da rein tun.« Er deutete auf den kleinen Koffer.

»Und Sie?« Kyriakos sah den Helm unsicher an.

»Ich hab nur einen. Du bist wichtiger.«

Der Junge setzte den Helm auf.

 

Kyriakos wohnte mit seinen Eltern außerhalb des Zentrums in einem ziemlich heruntergekommenen Betonbau, der nie Farbe gesehen hatte. Vor dem Gebäude standen zahlreiche große Mülltonnen, auf denen streunende Katzen lagen und an Essensresten nagten. Michalis parkte so weit entfernt, dass Kyriakos’ Eltern ihn auch bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster nicht hätten sehen können.

»Übrigens«, sagte er, als der schmächtige Junge losgehen wollte. »Denk gar nicht erst daran, abzuhauen oder so was. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Kyriakos nickte, die Lippen zusammengepresst, ging auf das Haus zu und verschwand im Eingang.

Michalis sah sich in der Straße um, in der er noch nie gewesen war, was ihm in Chania mit seinen knapp sechzigtausend Einwohnern nicht oft passierte. Er zog sein Smartphone aus der Tasche und wählte eine Nummer. Ein Foto von Hannah erschien, und er lächelte. Hannah ging ran und rief nur hektisch, sie sei noch am Packen und würde sich später melden. Michalis legte auf und schmunzelte. Er wusste, dass seine Familie Hannah für gutorganisiert und pragmatisch hielt, aber die hatten Hannah auch noch nie erlebt, wenn sie für eine Reise packen musste.

Michalis wunderte sich, wo Kyriakos so lange blieb. Da

»Ja?«, fragte er nur und wusste genau, warum Elena anrief.

»Du denkst dran, pünktlich am Flughafen zu sein?«, hörte er Elena rufen. »Und du hast Hannah gesagt, dass sie nicht wieder Geschenke mitbringen soll, ja? Und wenn sie noch etwas braucht, dann …«

Michalis sah, dass Kyriakos wieder aus dem Haus kam. »Elena, ich bin schon bei der Arbeit und werde nachher pünktlich am Flughafen sein. Danke!« Damit legte er schnell auf, bevor seine große Schwester ihn mit weiteren guten Ratschlägen und Anweisungen bombardieren konnte.

 

Kyriakos kam auf Michalis zu. Er hatte ein sauberes blaues Hemd angezogen und sich offenbar auch das Gesicht gewaschen.

»Und?«

Der Junge holte ein Handy aus seiner Tasche und hielt es hoch.

»Okay. Haben deine Eltern was gesagt?«

»Die sind nicht da.« Kyriakos warf einen leeren Blick zu dem Haus. »Die sind fast nie da.« Er zögerte. »Mein Vater sowieso nicht mehr.«

Entschlossen nahm er den Helm und setzte sich hinter Michalis auf die Sitzbank des Rollers.

 

Als sie sich der Venizelos-Schule näherten, standen Philippos und seine zwei Freunde nervös vor dem Eingang. Nachdem sie Michalis und Kyriakos auf dem Roller entdeckt hatten, gingen sie ihnen entgegen, so als wollten sie nicht mit ihnen gesehen werden. Michalis bremste am Bordstein einige Meter

»Haben Sie eigentlich auch ’ne Uniform? Oder ziehen Sie die erst an, wenn Sie im Dienst sind?«, fragte Kyriakos.

Michalis warf kurz einen Blick auf seine dunkelgraue Lederjacke, sein weißes Hemd und die schwarze Hose, die er im Dienst fast immer trug. Für ihn war das wie eine Uniform.

»Ich bin bei der Kripo. Bei der Mordkommission. Wir sind immer in Zivil.«

»Ah.« Kyriakos nickte. Das Wort Mordkommission beeindruckte ihn erkennbar. »Mordkommission? So richtig mit Mördern?«

»Auch. Ja. Manchmal. Auf Kreta zum Glück nur selten.«

»Wow.« Kyriakos musterte Michalis und sah ihn zum ersten Mal direkt an. »Dafür sind Sie ganz schön jung. So mit Mördern und so.«

»Ich versuch, auch eher zu verhindern, dass jemand zum Mörder wird.«

»Ah.« Der schmale Junge nickte nachdenklich.

Die anderen Jungs waren bei ihnen angekommen. Michalis sah Philippos an, dessen blonde Haare wieder trocken und gekämmt waren.

»Du bekommst jetzt gleich dein Handy zurück.«

Philippos lächelte ein wenig überheblich.

Michalis sah ihn streng an.

»Vorher reicht ihr euch die Hand. Und versöhnt euch. Klar?«

Philippos blickte kurz zu seinen Freunden und musterte dann Kyriakos und sein frisches Hemd abfällig von oben bis unten.

»Ob das klar ist?«, wiederholte Michalis.

»Ja …«

Philippos zögerte, dann reichte er Kyriakos die Hand. Der ergriff sie, aber beide ließen so schnell wie möglich wieder los.

»Okay. Das Handy.«

Kyriakos nahm das Handy aus seiner Tasche. Ein edles iPhone, offenbar neu.

»Ist das deins?«

Philippos gab den Code ein und nickte.

»Ja. Meins. Ist noch alles drauf. Geknackt hat er es also nicht.«

Michalis holte aus dem kleinen Koffer zwei Visitenkarten der Polizei von Chania und reichte Philippos und Kyriakos jeweils eine.

»Da steht meine Nummer. Also kein Stress mehr. Und wenn doch, ruft mich einer von euch an. Dann komm ich, und es gibt Ärger. Gilt für alle hier.«

Michalis sah, dass Philippos überrascht und beeindruckt war. Von der Schule war die Glocke für den Schulbeginn zu hören. Michalis setzte den Helm auf und stieg auf den Roller.

»Rein mit euch. Und ich will nie wieder was von euch hören.«

Philippos und seine Freunde rannten sofort los. Kyriakos zögerte noch.

»Du kommst zu spät«, sagte Michalis eindringlich und bemerkte, dass der Junge ihn unsicher musterte. »Ist noch was?«

»Darf ich Sie was fragen?«, sagte Kyriakos leise.

»Ja. Klar.«

»Warum machen Sie das? Warum haben Sie mich nicht einfach mit zur Polizei genommen, damit ich eine Anzeige kriege?«

»Weil …« Michalis überlegte, was er sagen sollte. »Als ich in deinem Alter war, ein paar Jahre älter, da hatte ich einen

Michalis stockte. Kyriakos sah ihn überrascht an.

»Und? Hat ihm jemand geholfen«, fragte er.

»Nein«, sagte Michalis schnell. »Zumindest nicht genug.«

Die Schulglocke erklang wieder. Kyriakos nickte. Michalis ebenfalls.

»Aber jetzt rein mit dir. Und wie gesagt, ich will nie wieder was von euch hören. Wäre ein gutes Zeichen.«

»Danke«, sagte Kyriakos nachdenklich und lief schnell zur Schule.

Michalis sah ihm nach. Philippos und seine Freunde standen noch an der Eingangstür. Kyriakos ging an ihnen vorbei, und es wirkte, als würden sie einfach nur zur Schule gehen.

Auf dem Weg zur Polizeidirektion hielt Michalis am kleinen Kafenion von Lefteris und holte drei Frappé: zwei metrios, mittelsüß, für sich und die Assistentin Myrta, und einen sketos, ohne Zucker, für seinen Partner Pavlos Koronaios. Bis vor einigen Wochen hatte Koronaios seinen Frappé glykos genommen, sehr süß, aber dann hatte ihm seine siebzehnjährige Tochter Galatía gesagt, er würde zu dick werden, und seitdem verbot er sich Zucker. Die drei Frappés stellte Michalis in dem Koffer des Rollers in eine Halterung, die er extra hatte einbauen lassen, und rollte an die Schranke vor der Polizeidirektion. Er wechselte ein paar Worte mit dem Wachmann, bevor der die Schranke öffnete.

Es hatte Michalis einige Wochen Hartnäckigkeit gekostet, bis dieser Wachmann morgens überhaupt mit ihm geredet hatte. Als Michalis sich vor einem Jahr von Athen nach Chania hatte versetzen lassen, waren viele Kollegen misstrauisch gewesen. Konnten sie einem vertrauen, der Neffe des Chefs der Mordkommission und obendrein noch vier Jahre bei der Athener Polizei gewesen war? Oder war er eine Art Spitzel, der die stolzen und eigenwilligen kretischen Polizisten aushorchen und dann an die oberste Polizeiführung in Athen berichten sollte? Und was wollte der Sohn einer Fischtavernen-Familie, der jeden Morgen mit Blick auf den alten venezianischen Hafen aufwachte, überhaupt bei der Polizei?

Aber nach einigen Monaten hatten die meisten seiner Kollegen begriffen, wie ernst Michalis seine Arbeit nahm. Und

 

Als Michalis am Wachmann vorbei auf die kleine Rampe vor der Polizeidirektion rollte, kamen ihm einige mürrisch blickende Kollegen in ihren dunkelblauen Uniformen entgegen. Die wenigsten trauten sich, die steifen Uniformjacken auszuziehen und nur in den hellblauen Hemden Dienst zu machen. Jetzt im April konnte Michalis das noch verstehen, aber spätestens im August war er bei der Hitze heilfroh, ohne Uniform und manchmal sogar in leichten Turnschuhen seinen Dienst tun zu können.

Nach diesem ersten Jahr in der Polizeidirektion von Chania kannte Michalis zwar halbwegs alle Gesichter, aber noch lange nicht die Namen aller gut zweihundert Kollegen. Er grüßte diejenigen, die an ihm vorbeigingen, aber die wenigsten grüßten zurück, sondern stiegen nur wortlos in einen Kleinbus. Vermutlich mussten sie zu einem Einsatz, der wenig Freude versprach. Einen Politiker, der aus Athen am Flughafen ankam, bewachen oder eine Razzia durchführen. Razzien waren für die Kollegen immer eine gefürchtete Angelegenheit, weil in Chania letztlich jeder jeden kannte und man immer auf Verbindungen stoßen konnte, die unangenehme Konsequenzen nach sich zogen.

 

Michalis parkte seinen Roller auf dem Vorplatz der Polizeidirektion und wollte gerade die Frappés und das Lunchpaket nehmen, als sein Smartphone eine Nachricht meldete. Bin unterwegs hatte Hannah geschrieben und ein Selfie mit ihrem Gepäck vor dem Flughafen in Berlin geschickt. Unübersehbar hatte sie einen Rollkoffer, zwei große Reisetaschen, einen riesigen Rucksack und Handgepäck dabei. Michalis freute sich

 

Das vierstöckige graue Haus der Polizeidirektion bestand eigentlich aus zwei einzelnen Gebäuden mit einem Verbindungstrakt. Gebaut worden war es Mitte der 1970er Jahre, als Chania noch hoffte, das ungeliebte Heraklion ausstechen und wieder Kretas Inselhauptstadt werden zu können. Diese Hoffnung war längst begraben, und wohl auch deshalb war das Gebäude nie modernisiert worden, obwohl dies dringend nötig wäre. Michalis’ Büro lag im zweiten Stock, und er nahm, obwohl er Treppensteigen hasste, seit einigen Wochen sicherheitshalber die Treppe – der Fahrstuhl war einfach ein zu großes Risiko. Sein Vorgesetzter Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission, war erst vor drei Wochen auf dem Weg zum Polizeidirektor zwei Stunden lang mit dem Aufzug stecken geblieben. Seitdem wurde immerhin etwas getan, was die Zuverlässigkeit aber nicht erhöht, sondern lediglich dazu geführt hatte, dass die Fahrstühle nun abwechselnd gesperrt waren. Manche Kollegen fuhren mittlerweile im Südgebäude in den vierten Stock, um dann durch den Zwischentrakt in den dritten Stock des Nordgebäudes zu laufen. Etwas, worüber Michalis nur den Kopf schütteln konnte. Da ging er wirklich lieber gleich zu Fuß.

 

Michalis kam die Treppe herauf und sah, dass die Tür zu seinem Büro offen stand. Normalerweise machte sein Partner Koronaios die Tür zu, damit ihn keiner der Kollegen unnötig mit Fragen oder gar Arbeit behelligen konnte. Michalis schlich

Michalis wollte Myrta nur ihren Frappé hinstellen und musste grinsen, als er ins Büro kam, denn Christos saß ebenfalls hier.

»Hi«, sagte Michalis, »ich bin spät dran.«

»Ich weiß«, sagte Myrta. »Koronaios hat schon gefragt, wo du bleibst.«

»Ich habe gearbeitet«, erwiderte Michalis schnell.

»Mir könntest du langsam morgens auch einen Frappé mitbringen«, sagte Christos etwas schnippisch.

»Kann ja niemand ahnen, dass du neuerdings so oft hier oben bist«, erwiderte Michalis. Christos Varobiotis war wie Michalis Anfang dreißig, und sie kannten sich noch aus der Schulzeit, hatten sich danach aber aus den Augen verloren.