Stephanie Burgis
Katie Wildheart
Mit dem Zauberspiegel durch die Wand
Aus dem Englischen
von Sigrid Ruschmeier
FISCHER E-Books
Stephanie Burgis, geboren 1977, ist in den USA aufgewachsen und stammt aus einer großen, lauten und liebevollen Familie. Deshalb handeln so viele ihrer Bücher von Familien der einen oder anderen Art. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann, zwei Söhnen und einem süßen Border-Collie-Mix in Wales.
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Ein wildes Herz und große Magie!
»Ich war zwölf Jahre alt, als ich mir die Haare abschnitt, mich als Junge verkleidete und auszog, meine Familie vor dem drohenden Ruin zu retten. Ich schaffte es bis zum Zaun unseres Vorgartens.«
Katie ist die jüngste, aber auch die einzige von drei Schwestern, die es wagt, sich gegen ihre strenge Stiefmutter aufzulehnen. Als ihre älteste Schwester Elissa mit dem finsteren, aber wohlhabenden Sir Nelville verheiratet werden soll, will Katie das um jeden Preis verhindern. Zum Glück fällt Katie ein magischer Spiegel ihrer verstorbenen Mutter in die Hände. Sie kann es kaum glauben: Offensichtlich hat sie die magischen Kräfte ihrer Mutter geerbt! Mit dem Zauberspiegel kann sie sich in andere Personen verwandeln und sogar durch Wände gehen! Aber auch der unheimliche Sir Neville ist hinter dem Zauberspiegel her. Katie gibt alles, um sich und ihre Schwestern zu retten.
Ein bezauberndes Abenteuer mit einer ungestümen, mutigen Heldin, die man einfach ins Herz schließen muss.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Copyright © 2011 by Stephanie Burgis
Published by Arrangement with Stephanie Burgis Samphire
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5143-5
Für Patrick –
seine Liebe und Treue sind das
Zauberhafteste überhaupt
1803 Ich war zwölf, da schnitt ich mir die Haare ab, verkleidete mich als Junge und zog aus, um meine Familie vor dem drohenden Ruin zu bewahren.
Ich schaffte es bis zum Zaun unseres Vorgartens.
»Katherine Ann Wildheart!« Die empörte Stimme meiner ältesten Schwester Elissa durchstach mich wie ein Dolch. »Was um alles in der Welt machst du da?«, rief sie durch ihr aufgerissenes Zimmerfenster.
Au, verflixt. Mein Bündel über die Schulter geschlungen, blieb ich stocksteif stehen. Nur ich konnte meine Familie retten, aber das verstanden meine beiden älteren Schwestern natürlich nicht. Und hätten sie es verstanden und mir vertraut, hätte ich mich nicht wie ein Dieb in der Nacht davonstehlen müssen.
Das Gartentor war nur einen halben Meter von mir entfernt. Wenn ich jetzt losrannte …
»Ich erzähl es Papa!«, zischte Elissa.
Hinter ihr ertönte ein verstörtes, aber deutlich entrüstetes Stöhnen. Angeline, meine andere Schwester, wachte auf.
Elissa war das sittsamste weibliche Wesen auf Erden. Aber Angeline war schlicht unmöglich. Wenn die beiden das ganze Haus wecken würden und Papa in der kleinen Kutsche hinter mir herfuhr …?
Ich hatte geplant, bis zur nächsten, sechs Meilen entfernten Poststation zu laufen und dort die Frühmorgenpostkutsche nach London zu nehmen. Wenn Papa mich vorher einholte, würden seine traurigen, enttäuschten Blicke kaum zum Aushalten sein. Und wie schadenfroh würde sich meine Stiefmutter an meiner Schmach weiden. Schon wieder ein Kind unserer Mutter, das die Familie so herbe enttäuschte …
Ich biss die Zähne zusammen, drehte mich um und trottete zurück zum Pfarrhaus.
Angelines Stimme wehte träge durchs offene Fenster. »Warum schreist du so, Elissa?«
»Ich habe nicht geschrien«, blaffte diese zurück. »Damen schreien nicht.«
»Na, da hättest du mich ja eben fast vom Gegenteil überzeugt«, sagte Angeline. »Ich dachte schon, das Haus brennt.«
Ich schob die Seitentür auf und hörte, wie mein Bruder Charles brüllte: »Könnt ihr mal still sein? Manche von uns versuchen zu schlafen!«
»Was? Was ist los?« Die Stimme meines Vaters kam aus dem Schlafzimmer oben an der Treppe. »Was ist denn da draußen los?«
Dann rief meine Stiefmutter noch lauter als er: »Herrschaft nochmal! Bring sie zur Ruhe, George. Es ist nach Mitternacht. Du kannst nicht immer wieder zulassen, dass sie so über die Stränge schlagen. Es sind Mädchen! Sprich endlich mal ein Machtwort.«
Stöhnend schloss ich die Tür hinter mir.
Ob ich wollte oder nicht, ich war zu Hause.
Ich tapste durch die enge Küche und dann auf Zehenspitzen die wackelige Treppe zum ersten Stock hinauf. Als ich klein war und der Einfluss meiner richtigen Mutter im Haus noch überall zu spüren war, hatten alle Stufen meinen Namen geflüstert, wenn ich darauf trat, und ich war nie gestolpert. Jetzt knarzten sie nur verräterisch wie jedes alte Holz, über das man läuft.
Da wurde die Tür zu Papas und Stiefmamas Schlafzimmer aufgerissen. Schicksalsergeben blieb ich stehen.
»Katie?« Papa, eine Kerze in der Hand, lugte zu mir heraus und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. »Ist was?«
»Nein, Papa«, antwortete ich. »Ich wollte mir unten nur ein Glas Milch holen.«
»Na, gut.« Er räusperte sich und fuhr sich mit der Hand über seine verwaschene Nachtmütze. »Äh … deine Stiefmutter hat recht. Ihr solltet um diese Stunde alle im Bett liegen und Ruhe halten.«
»Ja, Papa.« Ich ruckte das schwere Bündel auf meiner Schulter zurecht. »Ich geh auch jetzt wieder ins Bett.«
»Na, schön. Und die anderen?«
»Keine Sorge, ich sage ihnen, dass sie ruhig sein sollen.«
»Brav, mein Mädchen.« Er tätschelte mir die Schulter. Dann runzelte er die Stirn. »Oh … stimmt was nicht, mein Liebes?«
»Papa?«
»Ich möchte nicht mäkeln, ähm, aber deine Kleidung kommt mir … scheint mir … also, sie sieht ein bisschen ungewöhnlich aus.«
Ich blickte an mir herunter; ich trug Jungshosen, Jungshemd und -jacke. »Im Nachthemd war mir zu kalt.«
»Aber …« Er überlegte noch heftiger. »Irgendwas ist mit deinem Haar. Ich weiß nicht genau, was –«
Meine Stiefmutter schnitt ihm das Wort ab. »Würdest du bitte aufhören zu reden, George, und zurück ins Bett kommen? Wie soll ich bei all dem Krach schlafen können?«
»Ah, richtig. Ja, natürlich.« Papa nickte mir kurz zu und drehte sich um. »Schlaf gut, Katie.«
»Sie auch, Sir.«
Auf Zehenspitzen ging ich die letzten fünf Stufen zum Treppenabsatz im ersten Stock. Die Türen zu Charles’ Zimmer und dem meiner Schwestern waren geschlossen. Wenn ich Glück hatte …
Ich eilte zur Leiter, über die ich in meine Kammer unterm Dach kam!
Aber ich hatte kein Glück. Die Tür zum Zimmer meiner Schwestern ging auf.
»Komm sofort hier rein!«, sagte Elissa. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck in der Dunkelheit nicht erkennen, aber ich merkte, dass sie die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
O Gott.
»Damen verschränken die Arme nicht vor der Brust wie gemeine Fischweiber«, flüsterte ich und zitierte damit nur eine von Elissas Lieblingsanstandsregeln, als ich an ihr vorbei in ihr Zimmer stolzierte.
Elissa warf die Tür zu.
»Mach eine Kerze an, Angeline«, sagte sie. »Ich will ihr Gesicht sehen.«
Angeline war schon dabei, eine Kerze anzuzünden. Als der Zunder endlich brannte und die Kerze dann auch, schnappten meine Schwestern vor Schreck nach Luft.
Nun allerdings verschränkte ich die Arme vor der Brust und schaute sie böse an.
»Du … du …« Elissa brachte kein Wort heraus. Sie sank auf ihre Seite des Betts, keuchte und presste eine ihrer schlanken Hände aufs Herz.
Angeline schüttelte den Kopf und grinste. »Jetzt ist wohl alles zu spät.«
»Drück dich nicht so grob aus«, sagte Elissa. Dass sie uns wie so oft wegen unseres Benehmens oder unserer Redeweise tadeln konnte, schien ihre Lebensgeister zu wecken. Die Farbe strömte in ihr Gesicht zurück. Sie hatte hellblondes Haar und blasse Haut, und ich konnte ihre Stimmung immer an ihrem Gesicht ablesen. Jetzt war sie so entsetzt, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Sie holte laut und tief Luft. »Katherine«, sagte sie, um Haltung bemüht. »Würdest du so gnädig sein und uns erklären, was das alles zu bedeuten hat?«
»Nein«, sagte ich. »Würde ich nicht.« Ich reckte das Kinn, damit ich größer erschien. Dass ich nämlich kleiner war als meine beiden Schwestern, war in einer Situation wie dieser besonders gemein.
»Was gibt’s da zu erklären?«, sagte Angeline. »Es liegt auf der Hand. Katie wollte endlich weglaufen und zum Zirkus gehen. Wo sie auch hingehört.«
»Quatsch!«
»Ach ja?« Angeline musterte mich, und ihre vollen Lippen verzogen sich spöttisch. »Wo wolltest du denn dann mit der Frisur hingehen? Im Zirkus kannst du dich gut hinter all den anderen Tieren verstecken –«
»Halt den Mund!« Ich stürzte mich auf sie.
Doch das Bett war im Weg. Ich stieß mir die Knie, warf mein Bündel beiseite und kroch übers Bett, um an sie ranzukommen. Ihr höhnisches Gelächter machte mich stinkwütend. Ich landete auf ihr, boxte blindlings auf sie ein und schlug immer noch um mich, als sie mich umwarf, den Arm um meinen Hals schlang und mich fast strangulierte.
»Hört auf!«, kreischte Elissa.
Es wummerte an der Wand: Charles äußerte seinen Unmut. Dann öffnete sich auf der anderen Seite des Treppenabsatzes eine Tür. Schritte näherten sich. Entschlossen wurde an unsere Tür geklopft.
Wir erstarrten. Das Klopfen kannten wir.
»Das hast du prächtig hingekriegt«, flüsterte mir Angeline ins Ohr.
»Blöde Kuh«, flüsterte ich zurück.
»Was ist denn da drin los?«, rief unsere Stiefmutter.
Angeline schob mich vom Bett auf den Boden. Als ich wieder aufstehen wollte, legte sie mir die Hand auf mein neuerdings kurzes Haar und drückte mich nach unten. »Bleib, wo du bist!«, zischte sie. »Sie darf dich jetzt nicht so sehen.« Über das Bett hinweg bat sie Elissa: »Versuch, sie abzuwimmeln.«
Elissa ging schon zur Tür, die Miene plötzlich engelsgleich und heiter. »Ich komme, Stiefmama«, säuselte sie. »Einen Moment, bitte.« Sie blieb kurz vor der Tür stehen und flüsterte: »Mach die Kerze aus, Angeline! Schnell!«
Angeline tat, wie ihr befohlen, legte sich rasch wieder ins Bett und zog die Decke bis zum Kinn über sich hoch.
Ich machte mich in der Dunkelheit auf dem Boden klein. Elissa öffnete die Tür.
»Was untersteht ihr euch?«
»Es tut uns schrecklich leid wegen des Krachs, Stiefmama«, murmelte Elissa. »Angeline hat sich erschreckt und ist aus dem Bett gefallen.«
»Aber so viel Geschrei …« Stiefmamas Stimme kam näher. Ich konnte zwar nichts sehen, aber mir lebhaft vorstellen, was ablief. Sie streckte ihre spitze Nase ins Zimmer und spähte überall herum, weil sie hoffte, uns bei irgendeiner Dummheit zu erwischen. Unermüdlich war sie bemüht, Papa zu beweisen, wie unverbesserlich wir alle waren. Eben wie unsere Mutter.
»Angeline hatte einen furchtbaren Albtraum«, sagte Elissa, und ich staunte, wie gut meine heilige Schwester lügen konnte, wenn sie nur einen triftigen Grund hatte.
»Ich sollte vielleicht reinkommen und sehen, ob alles in Ordnung ist«, sagte Stiefmama.
»Oooh«, jammerte Angeline, die es anders als Elissa nie schwer fand zu lügen. »Oh, mein armer Magen …«
Stiefmama seufzte und trat vor. »Falls dir schlecht ist, sollte ich besser –«
»Mir war schlecht«, sagte Angeline. »Überall auf dem Boden –«
»Oh.« Stiefmama blieb abrupt stehen. »Wo –?«
»Pass auf, wo du hintrittst«, flötete Elissa. »Ich konnte es noch nicht aufwischen, deshalb –«
Hastig zog sich Stiefmama zurück. »Na, dann …«, sagte sie. »Na, dann geht es dir bestimmt besser, wenn du dich ordentlich ausgeschlafen hast, Angeline. Aber macht die Schweinerei zuerst weg, ihr beiden. Und leise, bitte!«
Die Tür schloss sich, die Schritte verklangen. Ich rührte mich nicht, bis sich die andere Schlafzimmertür geöffnet und wieder geschlossen hatte. Als ich mich dann hochstemmen wollte, rutschte mir auf dem Holzfußboden die Hand weg und glitt über zwei mir vertraute Bücher in einem eigentümlichen Format, die unter dem Bett versteckt waren.
Die Bücher kannte ich. Und sie sollten nicht hier liegen. Sie sollten mit all den anderen Andenken an unsere Mutter weggeschlossen sein, damit wir, wie Papa und Stiefmama hofften, vergaßen, dass sie je existiert hatten. Ja, am besten sollten wir vergessen, dass Mama selbst existiert hatte.
Ich wollte die Bücher schon aufheben, da fiel mir ein, dass es nicht der rechte Zeitpunkt war, meinen Schwestern Fragen zu stellen, die sie noch mehr gegen mich aufbringen würden.
»Puuuh!« Ich stand auf und streckte mich, um meine verkrampften Muskeln zu entspannen. »Ich geh wohl besser zurück nach oben ins Bett, wie Stiefmama gesagt hat. Deshalb –«
Angeline zündete die Kerze wieder an.
»Von wegen«, sagte sie, packte mich am Kragen und drückte mich an den Rand des Bettes. Dann befahl sie Elissa: »Mach ihr Bündel auf. Wir wollen doch mal sehen, was sie mitnehmen wollte.«
»Ich habe nichts gestohlen«, grummelte ich.
Angeline warf mir einen halb belustigten, halb verächtlichen Blick zu. »Das hab ich auch nicht gedacht, du Einfaltspinsel. Mich interessiert nur, was für praktische Vorkehrungen du für deine Reise getroffen hast.«
»Reise?« Elissa schnappte nach Luft. »Was für eine Reise?«
»Meine Güte, Elissa«, sagte Angeline. »Was hast du denn gedacht, was sie wollte, als Junge verkleidet und mitten in der Nacht am Gartentor? Sie wollte weglaufen, oder etwa nicht, Katie?«
Ich knirschte mit den Zähnen. Rühren konnte ich mich in ihrem festen Griff nicht.
»Du wolltest … Warum denn?« Elissa sank aufs Bett. »Warum um alles in der Welt wolltest du weglaufen? Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Ich hatte keine Wahl!«, sagte ich gepresst. »Wie sonst hätte ich dich davon abhalten können, etwas vollkommen Idiotisches zu tun?«
»Ich?« Elissa starrte mich an.
»Wenn du uns mit einer deiner abenteuerlichen Geschichten zum Besten halten willst –«, begann Angeline.
Ich funkelte sie wütend an. »Und du? Du hättest sie gewähren lassen!«
»Wie gewähren?«, fragte Elissa. »Was redet sie da?«
»Ich habe Stiefmama gehört«, erwiderte ich. »Sie hat sich Papa gegenüber damit gebrüstet, dass sie es geschafft hätte, die ganze Familie zu retten, weil sie dich an einen schrecklichen alten Mann verheiraten würde. Und du hast es mir nicht mal erzählt. Ihr beide erzählt mir nie was! Und ich wusste, wenn ich etwas dagegen gesagt hätte, hättet ihr nicht darauf gehört.«
»Ach, herrje«, sagte Angeline. »Ich wusste, wenn sie es herausfinden würde –«
»Wenigstens wollte ich etwas dagegen unternehmen.« Ich drehte mich zu Angeline um. »Du hättest ja einfach zugelassen, dass sie sich opfert.«
»Und was genau sind deine Pläne?«, fragte Angeline. »Ausstaffiert wie ein Affe.«
»Ich wollte nach London«, sagte ich. »Ich wusste, wenn ich weglaufen würde, gäbe es einen solchen Skandal, dass Stiefmama Elissa nicht mehr hätte verschachern können. Und wenn ich erst mal in London wäre …« Ich schloss die Augen ein wenig, um nicht das skeptische Gesicht meiner Schwester, sondern meinen Traum vor mir zu sehen. »In London gibt es für Jungs jede Menge Arbeit. Ich hätte mir also nur was suchen müssen. Dann hätte ich Geld verdient und euch davon was geschickt, und ihr beide hättet eine richtige Mitgift gehabt und dann –«
»Ach, du kleines Dummerchen«, sagte Elissa und schluchzte fast. »Komm her, Katie.« Angeline ließ mich los, und ich kroch übers Bett in Elissas liebevolle Arme. Als sie mich umschlang, spürte ich ihre Tränen auf mein kurzes Haar tropfen. »Versprich mir, dass du nie wieder so etwas Unbedachtes und Unnötiges tust.«
»Aber …« Ich war eng an sie gedrückt, und meine Stimme klang gedämpft.
»Wie lange meinst du, hättest du ganz auf dich allein gestellt in London wohl überlebt, du Dämlack?«, sagte Angeline. »Und wer, meinst du, hätte dich angestellt? Ein Landei ohne Empfehlungsschreiben, keiner kennt dich, und niemand legt ein gutes Wort für dich ein, du kannst nichts, hast keine Erfahrung –«
»Ich kann doch was!«, rief ich.
»Aber nicht das, was junge Männer können müssen, wenn sie eine Anstellung finden wollen«, sagte Angeline gnadenlos. »Und wenn sie herausgefunden hätten, dass du gar kein Junge bist …«
Elissa erbebte und nahm mich fester in den Arm. »Gar nicht auszudenken«, sagte sie. »In welche Gefahren du dich begeben hättest –«
»In die Gefahren, in die sie, offenen Auges und ohne auch nur einmal ihren Verstand zu gebrauchen, hineingerannt wäre«, korrigierte Angeline sie.
»Ich hätte schon auf mich aufgepasst«, protestierte ich. »Ich kann boxen und fechten. Jetzt, wo Charles zu Hause ist, weil er wegen schlechten Betragens von der Uni in Oxford geflogen ist, hat er es mir beigebracht.«
»Charles ist ein Idiot«, sagte Angeline. »Und es würde mich gar nicht überraschen, wenn er im Boxen oder Fechten nicht halb so gut ist, wie er behauptet.«
Einen Moment lang saßen wir drei niedergeschlagen da und schwiegen. Angelines Worte waren nur allzu wahr.
Elissa seufzte. »Katie, mein Schatz, du musst mich doch gar nicht retten«, meinte sie dann.
»Aber wer denn sonst?« Ich befreite mich aus ihren Armen. »Ich lasse nicht zu, dass du dich verscherbeln lässt, damit Stiefmama uns Dutzende neuer Kleider kaufen und auf Bälle in London schleppen kann –«
»– damit unser Bruder vor dem Schuldgefängnis bewahrt wird«, ergänzte Angeline kühl.
»Du solltest es besser wissen, als auf Stiefmamas Gejammer zu hören«, schnaubte ich. »Sie spinnt nur rum –«
»Es stimmt aber leider«, sagte Elissa. »Den Beweis dafür habe ich selbst gesehen. Papa hat sich zwar so viel Geld geborgt, wie er nur konnte, um Charles’ gewaltige Spielschulden zu bezahlen. Aber es hat nicht gereicht, und wenn wir in den nächsten zwei Monaten die restliche Summe nicht zusammenkriegen, muss der arme Charles in den Schuldturm.«
»›Der arme Charles‹? Dass ich nicht lache!«, sagte Angeline. »Den Schuldturm, genau den verdient er doch.«
Ich schaute von Angeline zu Elissa. »Aber gewiss –«
»Wenn Charles ins Schuldgefängnis kommt, sind wir alle ruiniert«, sagte Elissa. »Danach würde keine von uns mehr die Möglichkeit bekommen zu heiraten. Wie ihr wisst, wird unsere Familie schon jetzt … hm …« Sie biss sich auf die Lippe.
»Ich weiß«, sagte ich. Für den Fall, dass wir es vergaßen, erinnerte uns Stiefmama sowieso nur allzu oft und gern daran, dass es in der guten Gesellschaft nicht wenige Leute gab, die uns wegen unserer Mutter immer noch schief ansahen, einerlei, wie sittsam wir selbst uns benahmen oder wie hoch unsere Mitgift war. Genau deshalb hatte ich ja auch schon längst beschlossen, mich um gutes Benehmen nicht mehr zu scheren. »Aber das kann doch kein ausreichender Grund sein, dass du einen alten Mann heiratest! Egal, was für einen.«
»Sir Neville Collingwood«, sagte Angeline, »ist einer der reichsten Männer Englands. Da verstehst sicher auch du, warum Stiefmama ein Auge auf ihn geworfen hat.«
»So alt ist er gar nicht, Katie«, sagte Elissa. Sie legte ihre Hände ineinander und betrachtete sie. »Ich glaube, nicht älter als vierzig, und angeblich –«
»Vierzig!«
»Und Stiefmama sagt, angeblich auch recht gutaussehend.«
»Angeblich? Sie hat ihn nicht mal selbst getroffen?«
»Wir können uns schon glücklich schätzen, dass wir diese Gelegenheit bekommen.« Elissas Stimme klang angestrengt. »Stiefmama hat nämlich gute Beziehungen.«
»Ha!«, stieß ich aus.
»Na, auf jeden Fall Beziehungen«, sagte Elissa. »Dadurch hat sie ja auch herausgefunden, dass Sir Neville nach Yorkshire kommt, und konnte es einrichten, dass wir ihn kennenlernen.«
»Sir Neville nimmt an einer mehrwöchigen Hausgesellschaft in Grantham Abbey teil, dreißig Meilen von hier«, beeilte sich Angeline mir zu erklären, »und Stiefmama hat erreicht, dass wir eingeladen werden. Alle wissen, dass Sir Neville eine neue Frau sucht.«
»Eine neue?«, wiederholte ich. »Was ist mit der alten?«
»Das tut nichts zur Sache«, sagte Elissa und verschränkte ihre Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Es ist eine wunderbare Gelegenheit für mich. Für uns alle. Sir Neville ist … er ist …«
»Er ist so reich, dass er Charles’ Schulden jetzt und bis zu seinem Lebensende begleichen könnte und es nicht einmal merken würde«, sagte Angeline. »Und da Papa und Stiefmama Charles nicht ewig im Haus einsperren können, um ihn vom Spielen abzuhalten, ist es sicher höchst sinnvoll, wenn wenigstens eine von uns einen solchen Ehemann findet.«
»Mich stört es wirklich nicht, Katie«, sagte Elissa. »Ich wollte immer einen Mann heiraten, der meiner Familie helfen kann. Sir Neville ist ein bedeutender Mann in der guten Gesellschaft.«
Ich schaute sie böse an. »Und warum siehst du dann so unglücklich aus?«
»Das lass mal ihre Sache sein.« Angeline legte die Hand auf Elissas verknotete Finger, und als meine Schwestern sich voller Mitgefühl und Verständnis anschauten, fühlte ich mich sofort ausgeschlossen.
»Was ist?«, fragte ich. »Was erzählt ihr mir dieses Mal nicht?«
»Nichts, Schatz«, sagte Elissa. »Jetzt geh rauf ins Bett. Wir sind alle zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Komm morgen früh vor dem Frühstück, und ich versuche, was mit deinem Haar zu machen. Und bitte, mach dir meinetwegen keine Sorgen mehr. Mir geht es rundum gut. Wirklich.«
»Aber …« Ich stand langsam auf, schaute sie und Angeline immer noch böse an und versuchte, hinter das Geheimnis zu kommen, das sie – wie ich deutlich spürte – miteinander teilten. »Wenn du Sir Neville heiratest, meinst du, dann gibt er Angeline eine Mitgift?«
»Das hoffe ich«, sagte Elissa.
»Es spielt keine Rolle, ob ja oder nein«, sagte Angeline und blitzte mich gefährlich lächelnd an. »Ich habe meine eigenen Pläne.«
Ha! Ein Anhaltspunkt für mich!
Angeline und Elissa mochten sich weiter daran erfreuen, Geheimnisse vor mir zu haben, aber es gab – jede Wette! – eines, das Angeline nicht mit unserer grundgütigen, braven Schwester teilte. Das würde sie nämlich nicht wagen.
Unter Angelines Seite des Bettes lagen Mamas alte Zauberbücher. Das fiel mir in diesem Moment ein.
Jetzt musste ich nur noch herausfinden, was Angeline mit ihnen vorhatte.
Wenn alles, wie geplant, geklappt hätte, wäre ich am nächsten Morgen in einer Postkutsche nach London aufgewacht und hätte ein vollkommen neues Leben begonnen. Ich hätte mit den anderen Fahrgästen gefrühstückt – ich hatte Äpfel und Käse mit –, alle ihre Geschichten gehört und wäre bei der Ankunft in London als Neffe ehrenhalber schon halb von ihren Familien adoptiert worden.
Nun aber musste ich meiner eigenen Familie gegenübertreten.
Als ich um acht Uhr das Frühstückszimmer betrat, klappte Stiefmama der Kiefer so weit herunter, dass man den zerkauten Toast in ihrem Mund sah.
»Katherine Ann Wildheart!«, rief sie in furchterregendem Ton. »Was um Himmels willen hast du mit deinem Haar angestellt?«
Ich machte einen kleinen Knicks vor Papa und ging zur Anrichte, wo Brot, Marmelade, Bücklinge und alles mögliche andere aufgetischt waren. »Mir gefällt es«, sagte ich. Das stimmte sogar, besonders jetzt, da Elissa mir die stufigen Ränder gerade geschnitten hatte und ich mich nicht mehr mit unzähligen Haarnadeln herumplagen musste. Von mir aus würde ich die kurzen Haare mein Leben lang behalten.
»Ich dachte schon, dass etwas anders war«, sagte Papa und freute sich, dass er es gemerkt hatte. »Guten Morgen, Liebes.«
»George!« Stiefmama warf ihre Serviette hin. »Herrjemine! Deine Tochter hat sich gerade das ganze Haar abgeschnitten, und du hast nicht mehr dazu zu sagen als ›Ich dachte schon, dass etwas anders war‹?«, äffte sie ihn nach.
»Das ganze Haar nicht.« Papa lugte hinter seinem Buch hervor. »Schau doch, ein bisschen ist noch übrig. Es ist nur …« Nachdenklich zog er die Stirn in Falten. »Es ist nur ziemlich jungenhaft.«
»Wohl wahr«, sagte Stiefmama. »Genau darum geht es mir. Willst du sie nicht fragen, wie sie so etwas machen konnte, ohne dich um Erlaubnis zu bitten?«
»Hast du mich nicht um Erlaubnis gebeten, Katie?«, fragte Papa zögernd.
»Katies neue Frisur ist ganz flott, finden Sie nicht?«, schaltete Elissa sich leise ein. »Jetzt sieht sie genauso aus wie das Modell im Modespiegel.«
»Nur das Décolleté ist nicht so großzügig«, sagte Angeline trocken. In ihren Augen funkelte es ein wenig boshaft, als sie zu unserer Stiefmutter hinübersah. »Was halten Sie von der neuen Mode, Madam?«
»Furchtbar!« Stiefmama schüttelte den Kopf. »Von meinen Stieftöchtern wird keine mit einem so tief ausgeschnittenen Kleid in der Öffentlichkeit erscheinen, wie ich es in dem Heft gesehen habe. Empörend, was die jungen Damen in London sich erlauben. Als ich so alt war …«
»Ja, wirklich empörend«, murmelte Angeline und zwinkerte mir zu.
Wenn man meine Schwestern nicht gekannt hätte, hätte man gemeint, ich hätte Angeline ganz offen nach Mamas Zauberbüchern fragen können.
Aber ich wusste es besser. Wenn Angeline auch nur den leisesten Verdacht geschöpft hätte, dass ich wusste, wo die Bücher waren, hätte sie ein neues und besseres Versteck für sie gefunden, bevor ich die Frage ganz über die Lippen gebracht hätte. Außerdem hätte sie, weil ich so neugierig war, eine ihrer teuflisch raffinierten Strafen für mich erdacht, und das wollte ich als Allerletztes. Nein, ich musste das Geheimnis selbst entschlüsseln.
Zum Glück ging Stiefmama nach dem Frühstück mit Elissa und Angeline in den Ort einkaufen. Neue Kleider, um Sir Neville zu beeindrucken, vermutete ich. Und da in Papas Zweispänner nur Platz für höchstens drei Personen war, fragte niemand, ob ich mitkommen wollte. Sie wussten sowieso, dass ich keinen Wert darauf legte.
Kaum waren sie außer Sicht, rannte ich, mit hochgeschürzten Röcken, zwei knarzende Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Charles meckerte müde aus seinem Zimmer, ich solle nicht so laut sein, aber das störte mich nicht weiter. Ich lief sofort in Angelines und Elissas Zimmer.
Sie sollten zwar mindestens zwei Stunden weg sein, aber wenn etwas schiefging … Schon bei der bloßen Vorstellung von Angelines Miene, wenn sie mich ertappte, wie ich in den Büchern las, schauderte es mich.
Ich musste mich beeilen.
Wie der Blitz war ich in ihrem Zimmer. Doch als ich mit den Händen unter Angelines Seite des Bettes herumtastete, berührte ich nur nackten Holzboden. Wo waren die Bücher?
Ich legte mich auf den Bauch und lugte unters Bett. Aha. Sie hatte sie nur weiter an die Wand geschoben. Beim Hinrobben erstickte ich zwar fast an dem Staub, der sich dort gesammelt hatte, aber einen Moment später kroch ich mit beiden Büchern wieder hervor. Gewonnen!
Doch dann musste ich auf einmal niesen, ja, bekam einen richtigen Niesanfall und ließ die Bücher fast fallen. Als ich hinunterschaute, stöhnte ich auf: Mein weißes Kleid war vorn von oben bis unten verschmutzt. Wenn Stiefmama mich so sah, würde sie toben. Wenn allerdings Angeline mich so sah …
… würde sie genau wissen, was ich getan hatte. Verflixt und zugenäht! Hatte sie dieses Warnsystem sogar geplant? Nein, bestimmt nicht – so hinterhältig war selbst sie nicht. Trotzdem hatte ich gerade eine halbe Stunde Lesezeit verloren, denn ich musste später nicht nur die Bücher genauso zurücklegen, wie ich sie gefunden hatte, sondern mich auch umziehen und den verräterischen Staub von meinem weißen Kleid waschen, bevor die anderen von ihrer Einkaufstour nach Hause kamen.
Ich biss die Zähne zusammen und rannte aus dem Zimmer, bevor ich noch mehr Zeit verlor.
In meine fensterlose Dachkammer ging ich allerdings nicht. Die war nicht annähernd sicher genug. Stattdessen rannte ich aus der Hintertür hinaus hin zu meinem Lieblingsplatz in der alten Eiche hinter dem Pfarrhaus, von der aus man den Friedhof sah. Von diesem Aussichtspunkt aus konnte ich schon in einer halben Meile Entfernung sehen, wann der Zweispänner über die gewundene Straße aus dem Ort zurückkam.
Ich kletterte den dicken, knorrigen Stamm hoch und setzte mich gemütlich in die Gabel eines der großen Hauptäste. Dort streifte ich die Schuhe ab, die ins Gras fielen, und ließ die Beine baumeln. Durch ein Fenster im Erdgeschoss des Pfarrhauses sah ich Papa eines seiner hunderte alten Bücher lesen. Eine frische Brise raschelte in den Blättern der alten Eiche. Die Eiben auf dem Friedhof schwangen sanft hin und her. Die Straße unter dem leuchtend blauen Sommerhimmel war leer.
Ich lehnte mich mit den Schultern gegen den rauen Baumstamm und öffnete das erste Buch.
Das Tagebuch der Magie, stand in schnörkeliger purpurfarbener Handschrift darin. Und: Dies Buch gehört Olivia Amberson.
Amberson war Mamas Mädchenname gewesen, eines der wenigen Dinge, die ich von ihr wusste. Sie war zehn Tage nach meiner Geburt gestorben, und dann hatte sich die ersten Jahre eine Kinderfrau um mich gekümmert, bis meine Schwestern so alt waren, dass sie übernehmen konnten. Dafür war ich auch dankbar, aber ich wäre ihnen noch dankbarer gewesen, wenn sie mich nicht stets und ständig und egal, wie alt ich wurde, immer bloß als Kind behandelt hätten.
Papa redete nie über Mama, und erst als er Stiefmama geheiratet hatte, begriff ich, dass Mama Schande über die Familie gebracht hatte. Da allerdings fühlte ich mich ihr zum ersten Mal nahe. Denn auch ich eckte immer wieder an.
Stiefmama beklagte sich gern, was für eine Mühsal und Plage das Leben einer Pfarrersfrau war, besonders wenn der Pfarrer so ein geringes Einkommen hatte wie Papa. Sie hasste es aber eigentlich nur wegen des Geldmangels, weil sie deshalb auf Dinge wie modische Kleidung, Stadthäuser in London und skandalträchtigen Klatsch aus erster Hand verzichten musste. Für meine richtige Mama muss es schwerer gewesen sein, die Frau eines Pfarrers zu sein, denn sie war eine Zauberin.
Elissa sprach auch nicht mehr über Mama – bei Mamas Tod war sie sieben Jahre alt gewesen, und ihre Erinnerungen an sie machten sie immer noch traurig, sagte sie. Angeline erzählte mir wenigstens von der Katastrophe, die zwei Monate vor meiner Geburt passiert war, als Papas Dienstherr, Gutsherr Briggs, zum Tee im Pfarrhaus gewesen war. Da war Angeline erst fünf, aber sie sagte, sie habe es nie vergessen.
»Mama wurde beim Teeausschenken abgelenkt«, erzählte Angeline, und schon bei der Erinnerung verzogen sich ihre vollen Lippen zu einem Grinsen. »Papa und Elissa waren entsetzt, aber ich fand es urkomisch.«
»Was hat sie gemacht? Tee vergossen?«
»O nein. Nichts dergleichen.« Angeline beugte sich zu mir vor und flüsterte mir die Worte ins Ohr, obwohl Papa und Stiefmama im Nachbarzimmer gut mit den Haushaltsbüchern beschäftigt waren. »Mama gab sich eine Riesenmühe, ein höfliches Gespräch mit Squire Briggs zu führen, weil es sehr wichtig für Papas Zukunft war. Doch darüber vergaß sie, beim Teeausschenken die Hände zu benutzen.«
»Du meinst …«
»Die Teekanne erhob sich von selbst in die Luft und schenkte allen ein, während Mama redete. Du hättest Briggs’ Gesicht sehen sollen. Er wurde dunkelrot und rang nach Luft. Und Mama merkte immer noch nichts …« Angeline biss sich auf die Lippen, um nicht wieder laut loszulachen. Da sie mir eigentlich Französisch beibringen sollte – eine Strafe für uns beide –, durfte uns Stiefmama nicht zusammen kichern hören.
»Arme Mama«, sagte Angeline. »Sie bemühte sich nach Kräften, Briggs vorm Ersticken zu bewahren, Papa fing vor Entsetzen hilflos an zu stottern, und die Teekanne goss formvollendet immer weiter ein, ohne einen Tropfen zu vergießen. Doch als Papa sich vorbeugte und sie packte, ergoss sich der ganze Tee über seinen Schoß und den Boden und … ich habe mich fast totgelacht.«
»Und was passierte dann?«
Angelines Miene versteinerte sich. »Solange Mama lebte, ist der Gutsherr nie wieder zum Tee gekommen. Und obwohl er Papa schon eine zweite Pfarrstelle angeboten hatte, damit Papa mehr Geld verdiente, entschied er sich nach dem Vorfall dagegen. Und Mama …« Angeline schaute weg und versuchte, die Fassung zu bewahren. »Mama weinte eine ganze Woche lang.«
Als ich mich jetzt in der Eiche an Angelines Geschichte erinnerte und die wunderschöne, verschnörkelte Handschrift meiner Mutter betrachtete, lief es mir kalt den Rücken hinunter.
Als ich ein kleines Mädchen war, gab es im Wohnzimmer ein kleines Porträt von Mama, aber Stiefmama hatte es zusammen mit Mamas restlichen Sachen, Zaubersachen und so, in einem Schränkchen weggeschlossen, das keine von uns öffnen durfte. »Wir müssen die Nachbarn ja nicht immer mit der Nase auf alte Probleme stoßen«, hatte sie gesagt. Zu der Zeit hatte sie schon Mamas sämtliche Rosen im Garten hinter dem Haus abgeschnitten. Denn auch die hatten einen Skandal verursacht, weil sie sogar im Winter herrlich rot blühten. Ich hatte sie trotzdem geliebt. Meine Schwestern hatten mich, als ich klein war, bei schönem Wetter mit hinaus in den Garten genommen und sich mit mir unter die Eiche gesetzt, und dann hatte der volle süße Duft der Rosen die Luft mit Zauber erfüllt.
An Mamas Rosen hatte ich schon lange nicht mehr gedacht.
Ich atmete tief durch und blätterte eine Seite um.
»Ich habe mich entschlossen, so zu beginnen, wie ich auch weitermachen will. Ganz gleich, welche Gefahren drohen«, hatte meine Mutter geschrieben. »Obschon ich es vor meinen engsten Gefährten und sogar meinen Ordensbrüdern und -schwestern geheim halten muss, will ich mich weder von Dummheit, Vorurteilen noch Stolz davon abhalten lassen, von allen meinen Begabungen Gebrauch zu machen, die mir geschenkt worden sind. Zuerst bringe ich mir bei, unbelebte Gegenstände zu verzaubern.«
Warum sie ihre Zauberkraft geheim halten wollte, verstand ich nur allzu gut. Denn wenn sie nicht einen Pfarrer geheiratet hätte, wäre sie ganz und gar aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden. Selbst so hatte sie schon für Ärgernisse gesorgt. Papa hatte sich durch die Heirat mit ihr seine berufliche Karriere verbaut. Was allerdings daran lag, dass sie ihr Geheimnis letztlich nicht hatte bewahren können. Richtig darum bemüht hatte sie sich auch nicht, schloss ich aus den Geschichten, die ich gehört hatte. Jemand, der seine Zauberkräfte wirklich geheim halten will, ist nicht so unverfroren und verzaubert die Rosen in seinem Garten, oder? Und was um alles in der Welt hatte sie mit »Ordensbrüdern und -schwestern« gemeint? Ihre Familie war vielleicht nicht reich, aber sie war eindeutig eine Dame gewesen – und Damen, daran erinnerte mich Elissa immer mit Vorliebe, arbeiteten nicht für ihren Lebensunterhalt. Nicht einmal, wenn sie arm waren und an allen Ecken und Enden sparen mussten.
Ich holte tief Luft und blätterte weiter. So verlockend es auch war, aber mich jetzt um all die alten Geschichten zu kümmern, hatte ich nicht die Zeit. Ich wollte die Geheimnisse meiner Schwester ergründen, nicht die meiner Mutter. Die Fähigkeit, unbelebte Gegenstände zu verzaubern, wie Mamas selbst ausgießende Teekanne, verhalf Angeline nicht zu einer Mitgift.
Ich schaute flüchtig durch die Seiten mit Mamas ersten Fehlversuchen und schließlichen Erfolgen dank ihrer selbstersonnenen Zauberformeln. Offenbar hatte sie immer schwierigere Tricks erlernt, aber nichts Praktisches, wie zum Beispiel Kupfer in Gold zu verwandeln. Mit der Hälfte ihrer Formeln wollte sie sich hübscher machen oder ihre zweimal gewendeten, abgetragenen Kleider wie neu aussehen lassen. Ich fand sogar einen Liebeszauber – und daneben, in einem Kreis winziger Herzen den Namen George. Der Name meines Vaters.
Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, und blätterte die Seite schnell um.
Jetzt las ich schon seit mindestens einer Stunde, und die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel über mir. Noch sah ich die kleine Kutsche nicht in der Ferne, aber ich wusste, dass ich bald damit rechnen musste. Immer rascher blätterte ich die Seiten um.
Ich war so tief versunken in meine Lektüre, dass ich die Schritte, die vom Friedhof herkamen, gar nicht hörte.
Erst als meine in der Luft hin und her baumelnden bestrumpften Füße gegen den Fellzylinder eines Mannes stießen und die Kopfbedeckung ins Gras beförderten, merkte ich was. Vor Überraschung fiel ich fast von meinem Ast. Mamas beide Zauberbücher rutschten mir aus der Hand und landeten zwei Meter unter mir im Gras, dicht neben zwei vorwärtsschreitenden schmutzigen Reitstiefeln. Ich wanderte mit dem Blick von den Stiefeln hoch zu schlammbespritzten Pluderhosen und einer dunkelblauen Jacke, die aussah, als wäre sie mal teuer gewesen. Na ja, bevor sie ebenfalls über und über beschmutzt wurde. Der Mann in den Pluderhosen und der Jacke – und dem Schmutz – war mir vollkommen fremd.
»Wer sind Sie?«, fragte ich. Die Worte sprudelten mir ganz von selbst aus dem Mund. Wenn Angeline da gewesen wäre, hätte sie zur Begrüßung etwas Belangloses, Höfliches und leicht Belustigtes gesagt. Und Elissa wäre zu wohlerzogen gewesen, überhaupt mit einem fremden Herrn zu sprechen, ohne dass sie, wie es sich gehörte, einander vorgestellt worden wären. Beide aber hätten sich niemals überraschen lassen, wie sie ohne Schuhe auf einem Baum saßen.
Der Mann unter mir war weitergelaufen, obwohl ich ihm den Hut vom Kopf getreten hatte. Er war nicht mal stehen geblieben, um zu mir hochzuschauen oder seinen Hut aufzuheben. Doch als ich sprach, hielt er an und schüttelte sich, als wolle er eine Stechmückenwolke vertreiben.
»Ich bin Frederick Carlyle«, sagte er mit merkwürdig tonloser Stimme. Er schaute immer noch stur geradeaus zum Pfarrhaus, so dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, sondern nur seinen Hinterkopf mit dunkelblondem Haar. Er war wie ein Herr gekleidet, aber seinem zerzausten Haar nach zu urteilen – von dem Zustand seiner Kleidung ganz zu schweigen –, hatte er schon lange keinen Diener oder Kamm mehr gesehen. »Bin hier, um bei Miss Angeline Wildhearts Vater zu studieren«, verkündete er.
»Ange–? Sie meinen, Sie wollen bei Papa studieren? Bei Mr Wildheart?«
Er drehte sich immer noch nicht um. »Bin hier, um bei Miss Angeline Wildhearts Vater zu studieren«, wiederholte er. »Das Entgelt für das erste Quartal habe ich dabei.«
»Aha … gut.« Ich glitt ein wenig umständlich vom Baum, damit mein Rock nicht hochrutschte, und landete hart auf einem scharfen Stein, stolperte und hätte fast auf Mamas Bücher getreten. Schnell hob ich sie auf und versuchte, die verknitterten Seiten mit der Hand glattzustreichen. Später würde ich vielleicht in Panik geraten, weil ich sie beschädigt hatte, aber im Moment war ich viel zu neugierig, um Angst aufkommen zu lassen.
»Woher kennen Sie Angeline?«, fragte ich den Hinterkopf des Herrn.
Jetzt drehte er sich um, und ich sah endlich auch sein Gesicht. Es strahlte hoffnungsvoll. »Ist Miss Angeline wirklich hier? Sind Sie Miss Angeline?«
»Nein!«, sagte ich. »Bin ich nicht. Ich bin Katie. Einfach Katie.« Ich musterte ihn. Er war jung, ungefähr so alt wie Charles. Vermutlich nicht älter als zwanzig. Hübsch wahrscheinlich auch, wenn er nicht so einen leeren Blick gehabt hätte. Stirnrunzelnd schaute ich in seine ausdruckslosen blauen Augen. Vielleicht war »leer« doch nicht das richtige Wort. Vielleicht war »wie gebannt« zutreffender.
Beim dem Wort spürte ich ein beunruhigendes Ziehen im Hinterkopf. »Gebannt« … Bevor ich richtig darüber nachdenken konnte, hörte ich jedoch ein bekanntes Rumpeln und etwas Schlimmeres: mir allzu bekannte Stimmen, die durch die stille Luft schwebten. Ich wirbelte herum.
»Aah, so was Blödes.«
Ich war zu gebannt gewesen, um vernünftig zu denken. Ich hatte nicht mehr Ausschau nach der Kutsche gehalten.
Nun fuhr sie, weniger als zwei Fahrminuten entfernt, um die letzte Kurve der Straße.
Was das für Folgen haben würde, traf mich wie ein dumpfer Schlag. Ich schaute auf die Bücher in meinen Händen. Die Hälfte der Seiten waren beim Herunterfallen verknickt, und der gesamte mittlere Teil des ersten Buchs zerknittert. Selbst wenn ich die beiden Bände genau dorthin zurücklegte, wo ich sie gefunden hatte, würde sich Angeline niemals täuschen lassen, und wenn sie sie aufschlug, sofort wissen, was passiert war.
Ich überlegte, ob es wirklich zu spät war, jetzt noch wegzulaufen. Die Jungskleidung war schließlich noch in meiner Dachkammer. Wenn alle damit beschäftigt waren, diesen merkwürdigen Besucher zu begrüßen, würden sie mein Verschwinden vielleicht nicht mitkriegen. Und dieser Frederick Carlyle, wer immer er war, wirkte wegen des bevorstehenden Treffens mit Angeline so aufgeregt, dass sie auch das noch eine Weile lang ablenken sollte …
»Ist Miss Angeline in dem Zweispänner?«, fragte er erwartungsvoll.
»Ja. Aber ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte ich bedauernd. »Nein, warten Sie! Sie ist jeden Moment hier. Sie müssen dem Zweispänner nicht entgegenlaufen, Mr Carlyle – Mr Carlyle! Halt!«
Ich musste ihn aufhalten. Auf dem Weg zur Hecke um unseren Garten, der fünf Meter über der Straße lag, lief er mir direkt in die erhobenen Arme.
»Es ist zu hoch!«, rief ich. »Sie brechen sich die Beine, wenn Sie hier runterspringen. Wieso denn überhaupt die Eile? Sie haben sie schließlich noch nie getroffen, und –«
Oh! Urplötzlich begriff ich. Mamas Zauberbücher kribbelten mir in den Händen, als ich sie mit neu erwachtem Respekt betrachtete.
»Miss Angeline Wildheart«, blökte Frederick Carlyle wie ein Kalb, das zum Schlachter geführt wird, aber um seine Lippen spielte ein seliges Lächeln.
Jetzt wusste ich, warum er mir »wie gebannt« vorgekommen war.
»Kommen Sie mit ins Haus«, sagte ich beschwichtigend. »Am besten mache ich Ihnen eine Tasse Tee. Und Sie können sich auch abbürsten, bevor Sie Angeline gegenübertreten. Sie wollen ja einen guten Eindruck auf sie machen, oder nicht?«
Er runzelte die Stirn, als finde er die Idee schwer zu begreifen. »Miss Angeline kommt hierher? In dieses Haus?«
»Ja«, sagte ich. »Ich bringe Sie hinein. Wenn sie ankommt, möchte ich mit Ihnen dabei sein.«
Ich konnte die Bücher vor Angeline weder verstecken noch ihr verheimlichen, dass ich sie angeschaut hatte. Aber ich hatte jetzt etwas Besseres als Geheimniskrämerei.