Candice Fox
Redemption
Point
Thriller
Aus dem australischen Englisch von
Andrea O’Brien
Herausgegeben von
Thomas Wörtche
Suhrkamp
Für Nikki, Malpass und Kathryn
Hinter dem Zaun lauerten sie. Ich wusste genau, wo sie waren, obwohl ich sie in den Monaten meiner Gefangenschaft kein einziges Mal gesehen hatte. Mein abendliches Ritual bestand darin, ans Ufer zu spazieren und nach dem unheilvollen Aufsteigen der kalten Augenpaare Ausschau zu halten, dem ruckartig aus dem Wasser schnellenden, gezackten Schwanz. Fressenszeit. Zentnerschwere prähistorische Reptilien aalten sich im Schein der untergehenden Sonne, direkt unter der Oberfläche glitten sie durchs Wasser, nur durch einen alten, rostigen Drahtzaun von mir getrennt. Tag für Tag zog es mich hinunter zu den Krokodilen ans Ende meines abgelegenen Grundstücks am Crimson Lake, denn ich wusste noch zu gut, wie es war, einer von ihnen zu sein. Ted Conkaffey, das Ungeheuer. Das Raubtier. Das Monster in seinem Unterschlupf, vor dem man die Welt schützen musste.
Es war wie ein Zwang, und ich tat es immer wieder, obwohl das Gefühl des kalten Metalls unter meinen Fingern und das Warten auf die Krokodile finstere Gedanken aufrührten, diese entsetzlichen Erinnerungen an meine Festnahme, meine Verhandlung, mein Opfer.
Im Geiste war sie immer nah bei mir. Claire tauchte zu den seltsamsten Momenten auf, viel lebendiger, als ich sie bei unserer ersten und einzigen Begegnung an der Bushaltestelle erlebt haben konnte, als sich ihr Anblick in mein Gedächtnis brannte. Und jedes Mal, wenn ich mich an sie erinnerte, bemerkte ich etwas Neues. Ein sanfter Windhauch, der den herannahenden Regenschauer ankündigte und ihr das fast weiße Haar über die magere Schulter blies. Der Umriss ihres zarten, zerbrechlichen Körpers, der sich grell gegen die geballten blauschwarzen Wolkenmassen am Horizont abzeichnete.
Claire Bingley war dreizehn Jahre alt gewesen, als ich neben ihr in einer verwahrlosten Haltebucht am Highway geparkt hatte. Sie hatte die Nacht bei einer Freundin verbracht, ihr Schlafanzug steckte noch in ihrem Rucksack, zusammen mit einer halbleeren Tüte Lutscher und einem bunten Heftchen – die Besitztümer eines kleinen Mädchens, nur Stunden später auf dem Tisch der Beweisaufnahme verteilt und mit Spurensicherungspulver bestäubt.
Wir hatten uns angesehen. Kaum ein Wort gewechselt. Aber an jenem schicksalhaften Tag blieb der Rucksack am Straßenrand stehen, während das Mädchen mit mir weiterfuhr. Ich riss es aus ihrem idyllischen kleinen Leben und zerrte das um sich tretende und schreiende Kind direkt in meine perverse Fantasiewelt. Mit dieser einzigen Handlung zerstörte ich alles, was aus Claire hätte werden können. Hätte ich meinen Plan erfolgreich umgesetzt, wäre ihr dreizehnter Geburtstag ihr letzter gewesen. Doch sie hatte das leibhaftige Böse überlebt, das ich verkörperte. Irgendwie kroch sie aus dem Unterholz heraus, wo ich sie zurückgelassen hatte, eine zerbrochene Hülle des Kindes, das an jener Bushaltestelle vor mir gestanden hatte.
So hieß es jedenfalls.
Diese Geschichte schilderte allerdings nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich hatte ich an jenem Tag vor dem Mädchen an der Bushaltestelle gestanden, so viel größer, breiter und stärker als sie, hatte die hintere Tür meines Wagens geöffnet, und ihren nervösen Blick gesehen. Aber ich hielt nur, um eine Angel von der Rückbank zu ziehen, die während der Fahrt immer wieder ans Seitenfenster gestoßen und mich mit ihrem Klappern furchtbar genervt hatte. Ich sprach auch kurz mit Claire, doch eine Mitfahrgelegenheit bot ich ihr nicht an, bat sie weder, zu mir ins Auto zu steigen, noch zwang ich sie dazu. Nein, ich ließ nur eine alberne Bemerkung übers Wetter vom Stapel. Mehrere Zeugen sausten an uns vorbei, beobachteten die Szene, fotografierten uns, fest überzeugt, dass hier was Verdächtiges vonstattenging, weil wir ganz sicher nicht Vater und Tochter waren und deshalb etwas nicht stimmen konnte. Eine böse Vorahnung. Ich war wieder abgefahren, hatte Claire an der Haltestelle stehen lassen und sie sofort vergessen, denn ich wusste nicht, was ihr kurz darauf widerfahren sollte. Und mir.
Jemand hatte das kleine Mädchen verschleppt, Sekunden nach unserer Begegnung. Der Täter hatte sie ins Unterholz gezerrt, sich an ihr vergangen, und die schlimmste aller möglichen Entscheidungen getroffen: sie zu töten. Doch Claire Bingley hatte überlebt, zu traumatisiert, um sich an ihren Peiniger zu erinnern, zu gebrochen, um das Geschehene in Worte zu fassen. Doch egal. Es war einerlei, was Claire sagte, denn für die Leute stand der Täter fest. Zwölf Zeugen hatten das Mädchen beobachtet, hatten mich neben ihr stehen und mit ihr reden sehen und dazu meine weit geöffnete Wagentür.
Während der Verhandlung und meiner Gefangenschaft hatte ich den Hergang des Verbrechens an Claire Bingley so oft gehört, bis ich die Täterrolle willig akzeptierte. Wenn man eine Lüge immer und immer wieder eingetrichtert bekommt, glaubt man sie irgendwann selbst: Man lebt sie, atmet sie – und erinnert sich schließlich an die Einzelheiten, als entsprächen sie der Wahrheit.
Doch das taten sie nicht.
Ich bin kein Mörder. Kein Vergewaltiger. Sondern ein Mann. Ich bin vieles. Gewesen. Polizist, frischgebackener Vater, treuer Ehemann. Und jemand, der nie geglaubt hätte, dass er mal Handschellen tragen, auf der Rückbank im Gefängnistransporter sitzen oder vor der Essensausgabe der Gefängniskantine anstehen würde, ein Frauenmörder vor und ein Bankräuber hinter ihm. In meinem Leben gab es nur ein kleines Mädchen, und das war meine Tochter Lillian, bei meiner Festnahme nur ein paar Wochen alt.
Damals war ich eine echte Leseratte gewesen. Ich trank Rotwein und tanzte mit meiner Frau durch die Küche. Es kam häufig vor, dass ich ungleiche Socken trug oder im Waschbecken Barthaare hinterließ. Ich war ein ganz normaler Typ.
Doch jetzt war ich auf der Flucht, lebte irgendwo am Arsch der Welt, hielt Ausschau nach Krokodilen, und sah der Sonne dabei zu, wie sie hinter den Bergen am Ende des Sees verschwand. Ging wieder hinauf zu meinem Haus, die Hände in den Taschen, schwarze Gedanken im Kopf. Wenn man dir ein solches Verbrechen anhängt, verfolgt es dich dein Leben lang. In den Köpfen meiner ehemaligen Kollegen, meiner Freunde, meiner Frau, lief mein Verbrechen in Endlosschleife ab, genau wie bei Claires Eltern und dem Anwalt, der gegen mich vor Gericht gezogen war, bis die Verhandlung eingestellt wurde. Für sie waren diese Bilder so lebendig wie für mich. Eine surreale Wirklichkeit. Eine falsche Wahrheit.
Als man mich in Handschellen in den Gerichtssaal führte, flüsterten sich die Zuschauer meine Geschichte zu. Die Medien druckten sie. Die Fernsehsender strahlten sie aus. Sie klang so greifbar und echt, dass sie zu den seltsamsten Momenten in meinem Hirn aufblitzte – unter der Dusche, auf der Veranda, ein Glas Wild Turkey in der Hand, den Blick auf den See gerichtet. Oft träumte ich davon, wachte schweißgebadet auf, die Laken zerwühlt.
Ich bin und war kein Pädophiler. Kinder hatten mich noch nie erregt. Claire Bingley hatte ich nicht angerührt. Aber das war egal, denn in den Augen der Welt war ich ein Ungeheuer, und daran würde sich nie etwas ändern.
Die Arbeit am Gänsehaus hatte sich als wirksames Mittel gegen finstere Gedanken erwiesen, deshalb würde ich dem frisch aufgestellten Gebäude jetzt den letzten Schliff verpassen. Sieben Gänse trippelten schnatternd und gackernd über meinen weitläufigen Rasen und zupften zufrieden an den Grasbüscheln herum. Als sich eine vollgefressen auf meinen Füßen niederließ, streichelte ich den weichen grauen Flaum und die warme Haut ihres Halses darunter. Meine Gänse hielten mich nicht für ein Ungeheuer. Wenigstens das.
Gänsevater war ich nur durch Zufall geworden. Ich hatte acht Monate hinter Gittern verbracht. Während dieser Zeit wusste ich nicht, ob ich die Welt außerhalb der Gefängnismauern jemals wiedersehen würde, und schon gar nicht, was ich tun würde, wenn dieser Fall eintrat. Ich hatte kein Zuhause mehr. Drei Wochen nach meiner Festnahme hatte sich meine Frau Kelly von mir losgesagt. Die sich verdichtenden Beweise gegen mich hatten sie so erschüttert, dass sie unter dem Druck der Öffentlichkeit eingeknickt war. Für mein Leben nach der Anklage hatte ich keine Pläne geschmiedet. Man steckte mich in den Bau, wo ich jeden Tag aufs Neue ums Überleben und meinen Verstand kämpfte. Nach drei Monaten, mein Anwalt war schon so ziemlich am Ende mit seinem Latein, ließ die Staatsanwaltschaft die Anklage plötzlich fallen, das Verfahren wurde eingestellt. Doch damit galt ich nicht etwa als freigesprochen. Ich war nicht schuldig, aber eben auch nicht unschuldig. Die Beweise gegen mich waren einfach nicht ausreichend, um eine Verurteilung zu garantieren, daher hatte man beschlossen, mich freizulassen, bis man genug gesammelt hatte. Also entließ man mich in eine Stadt, die mich hasste, und gab mir mit auf den Weg, dass ich jederzeit wieder im Knast landen konnte. Unter diesem Eindruck eilte ich sofort nach Hause, packte meine Siebensachen und flüchtete Richtung Norden, getrieben von dem Instinkt, mich vor meinen rachedurstigen Häschern zu verstecken. Kelly war nicht zu Haus. Sie weigerte sich, mich zu treffen. Mein Anwalt lieh mir ein Auto.
Nicht lang nachdem ich in Crimson Lake diese kleine Bruchbude gemietet hatte, unterbrach eine Muttergans mit gebrochenem Flügel meinen Sundowner. Irgendwo am Drahtzaun flatterte sie quäkend und kreischend herum – allerdings auf der falschen Seite: direkt vor den Krokodilen. Zum ersten Mal seit einem Jahr hatte ich es mit einer Kreatur zu tun, die noch hilfloser war als ich. Und damit nicht genug. Die fast einen Meter große schneeweiße Hausgans, der ich den Namen Woman verpasste, hatte ihren Nachwuchs bei sich: Sechs fluffige Küken trippelten hinter ihr her, das perfekte Dinner für eines dieser schleimigen Urwesen in den trüben Wassern des Sees. Seit damals weilten Woman die Gans und ihre Kinder bei mir am Rand des Sees und kurierten sich aus.
Ihre Küken waren schnell gewachsen, und sie hatten sich jetzt um mich versammelt, während ich ihnen eine neue Bleibe zusammenzimmerte. Immer wieder kamen sie herbei, inspizierten meine nackten Füße im saftigen Gras oder pickten an meinen Hosentaschen herum, wo ich manchmal Körner für sie dabeihatte. Unter den neugierigen Blicken ihrer blanken Knopfaugen schob ich ein paar Schrauben durch das Wellblech ihres Spielhäuschens.
Ja, statt einem Stall hatte ich meinen Gefährten ein Spielhäuschen für Kinder in den Garten gestellt. Nicht gerade ein geschickter Schachzug für einen berüchtigten Kinderschänder, dessen einzige Tochter nicht bei ihm wohnte. Das Haus hatte ich im Internet gefunden, gegen Abholung, irgendwo in der Nähe, in einem Ort namens Holloways Beach. Zuerst hatte ich gleich weitergescrollt. Die Sache war hochriskant. Die Bürgerwehr und andere Rachsüchtige hatten schon bald nach meiner Ankunft von meiner Vergangenheit Wind bekommen, und fuhren bis heute regelmäßig an meinem Haus vorbei. Ich war der Mann, den man hatte laufen lassen. Und ein ums andere Mal stand ein Reporter vor der Tür, Notizblock und Stift wie eine Waffe auf mich gerichtet. Einer von ihnen brauchte nur das bunte Häuschen in meinem Garten zu entdecken, und in kürzester Zeit hätte ich wieder einen mit Mistgabeln bewaffneten Lynchmob vor dem Haus.
Doch ich hatte nicht gerade Geld im Überfluss, und das Spielhaus war umsonst gewesen. Ein echter Gänsestall kostete richtig viel, und bei diesem Ding hier musste ich nur den Boden durch Maschendraht ersetzen und den Tieren eine Rampe bauen, damit sie hineinkamen. Bis jetzt hatten Woman und ihre Kinder auf der Veranda meiner kleinen, kargen Bleibe gehaust, wo auch ich gern schlief, wenn das Bellen der Krokodile und die Rufe der Vögel durch die heißen Nächte gellten. Mehr als einmal war ich im Morgengrauen hochgeschreckt, weil mir ein Gänseschnabel auf der Suche nach Insekten in den Haaren herumzupfte. Manchmal kam es vor, dass ich in der Früh die Augen aufschlug und direkt in das neugierige Antlitz einer Gans blickte, die auf ihre morgendliche Fütterung wartete.
Ich hockte im Gras, befreite das Haus von Spinnweben und inspizierte mit den Fingern den Boden. Am besten wäre es, ihn mit einer Säge herauszutrennen, einen Maschendraht an den Wänden festzutackern und darunter ein Auffangblech einzuschieben, das ich bei Bedarf herausziehen und mit dem Schlauch abspritzen konnte. Der Rest des Hauses war solide genug, um die Vögel vor Füchsen und Schlangen zu schützen, die gelegentlich um und auf meinem Grundstück ihre Aufwartung machten und den Wasservögeln am Ufer auflauerten. Ich widmete mich der Vorderseite des Hauses, klappte die Fensterläden auf und riss die stockfleckigen Gardinen herunter, die ein Kind vielleicht jahrelang mit Vergnügen zugezogen hatte, um so der Wirklichkeit zu entfliehen und sich in dem Häuschen ganz seiner Fantasiewelt hinzugeben. Mutter, Vater, Kind. An so einem Spielhaus hätte meine Tochter sicher ihre Freude. In einer Woche würde sie ihren zweiten Geburtstag feiern. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich sie das letzte Mal in den Armen gehalten hatte.
»Die zurre ich erst mal fest«, erklärte ich den Gänsen, während ich die Läden wieder schloss. »Aber irgendwann bringe ich hier wahrscheinlich Schlösser an. Tagsüber können die ja offen stehen. Und heute schlaft ihr hier drin«, sagte ich streng, den Finger aufs Häuschen gerichtet. »Ihr könnt nicht mehr bei mir schlafen, das nimmt langsam skurrile Züge an.«
Woman, die einzige weiße Gans in der Schar, wackelte beim Klang meiner Stimme zu mir herüber, legte den kleinen Kopf schief und nahm mich ins Visier. Ich streckte die Hand aus, um sie zu streicheln, doch sie wich mir wie immer aus. Woman war nie besonders zutraulich gewesen, doch das hielt mich nicht davon ab, um ihre Gunst zu buhlen.
»Zwei Stangen für euch.« Ich gestikulierte ins Haus, um ihr zu zeigen, wie ich mir das Innenleben vorgestellt hatte. »Und wenn du willst, lege ich es mit Stroh aus. Sicher und geborgen, für euch alle. Das wird richtig kuschelig. Wahrscheinlich übertrieben, aber ich bin nun mal ein netter Kerl.«
Ich zuckte die Achseln und wartete auf eine Reaktion, doch die Gans wandte sich ab und watschelte davon.
Es war nichts Besonderes, dass ich mit den Gänsen redete. Das tat ich die ganze Zeit, besonders mit Woman. Als es mir auffiel, war es schon zur Gewohnheit geworden. Ich quatschte sie voll, als wäre sie meine Frau. Erzählte ihr den neuesten Tratsch aus der Stadt, plauderte einfach so mit ihr, teilte ihr meine Gedanken mit. Beim Kochen unterhielt ich mich durch die Fliegengittertür mit ihr, während ich die Zutaten in den Topf warf. Woman machte es sich dann auf der anderen Seite bequem und putzte sich das Gefieder. Man sagt, dass einsame Menschen oft Selbstgespräche führen. Keine Ahnung, ob ich mich einsam fühlte, aber ich vermisste meine Frau. Wenn ich kochte, hatte Kelly immer gern am Küchentisch gesessen, in Zeitschriften geblättert und meinen verbalen Ergüssen mit ungefähr demselben Interesse gelauscht wie jetzt Ihre Majestät, die Gänsemutter. Im Gefängnis konnte man natürlich mit dem Personal reden, das war nicht verboten, aber die reagierten immer ziemlich einsilbig. Irgendwann hörte man dann damit auf. Wegen der Art meines Verbrechens war ich in Isolationshaft untergebracht. Die anderen Insassen hatten sich zumeist an Kindern vergangen. Weil sie außerhalb des Gefängnisses wenig Kontakt zu Gleichgesinnten hatten, nutzten sie die Haft zum regen Austausch über ihre Erlebnisse. Da wurden sie zu richtigen Plaudertaschen. Die Gänse begegneten meinem Gequatsche zwar nur mit fragenden Blicken und unverständlichem Geschnatter – doch ich bekam wenigstens keine Alpträume davon.
Ich überließ die Gänse ihrer Beschäftigung, ging die Veranda hinauf in die Küche und kramte in der untersten Schublade neben der Spüle herum. Irgendwo hatte ich doch noch ein paar Kabelbinder, die von Reparaturen bei meinem Einzug übrig geblieben waren.
Wäre ich langsamer hochgekommen, als mein Angreifer erwartet hatte, ich hätte es vermutlich nicht überlebt. Aber so zischte der Baseballschläger haarscharf an meinem Schädel vorbei und krachte ungebremst in die Weinflaschen auf der Fensterbank, die in tausend Scherben zerbarsten und ihren Inhalt in der ganzen Küche verteilten.
Ein Gefühlscocktail aus Panik, Zorn und Schock kochte irgendwo unter meinen Rippen hoch und britzelte mir über Arme und Schädeldecke. Keine Zeit für Fragen. In meiner Küche stand ein Fremder und hieb mit einem Baseballschläger auf mich ein. Meinem Baseballschläger! Eine Waffe, die ich mir neben die Tür gestellt hatte, um mich im Notfall damit gegen die Bürgerwehr zu schützen. Der Schmerz raubte mir fast die Sinne. Instinktiv hob ich die Hände, ein Abwehrreflex. Der Schläger kam erneut auf mich zu. Den Angreifer konnte ich nicht erkennen, es ging alles viel zu schnell. Blonder Schopf. Schwarze Augen. Ich krümmte mich zusammen und rammte ihn in die Magenkuhle.
Wir krachten in den Esstisch, stießen die Stühle um. Gedanken von lächerlicher Logik jagten mir durchs Hirn, wie zufällig vom Wirbelwind erfasst und in mein Blickfeld geweht. Die Gänse kreischten im Garten. Das Licht war an, aber ich hatte es nicht eingeschaltet. An meinen Händen klebte Blut. Der Mann schlug mir ins Gesicht, aber ich spürte es gar nicht. Ich brüllte: »Fuck!«, doch er drosch weiter stumm auf mich ein, fest entschlossen, mich zu verletzen, mich fertigzumachen.
Dabei war er nicht mal größer als ich. Das sind nämlich nur wenige. Aber er war von einer lodernden, ungezügelten Rage getrieben und attackierte mich mit den übernatürlichen Kräften eines in die Enge getriebenen Tieres. In diesem Kampf würde seine Wut über meinen Überlebenswillen siegen. Das war mir sonnenklar. Trotzdem gab ich nicht auf, biss die Zähne zusammen, krallte mich an ihm fest, packte ihn am Hemd, am Schopf, am schweißnassen Nacken. Irgendwann ließ er den Schläger fallen. Ich hielt ihn am Boden fest, aber er bäumte sich unter mir auf und katapultierte mich direkt in die Küchenzeile. Dann boxte er mir von unten gegen den Schädel, mit voller Wucht direkt in die Schläfe. Der Boden gab mir den Rest. Hände umklammerten meine Kehle, Finger, wie ein enges Band, schnürten mir die Luft ab. Ich hatte nicht mal Zeit, den Tod zu fürchten. Ein letzter Befreiungsversuch – dann verlor ich das Bewusstsein.
Das Lärmen der Gänse holte mich zurück. Sie gaben grelle, spitze Paniklaute von sich, ein Kreischen, das immer wieder von einem tiefen, knurrenden Tröten unterbrochen wurde. Sie leben noch! Das war der erste Gedanke, der mir damals durch den Kopf ging, als ich auf dem Küchenboden zu mir kam. Und nur darauf kam es an. Ich lag mit dem Gesicht auf den Fliesen, die Hände irgendwo auf dem Rücken. Als ich mich zu rühren versuchte, spürte ich den Kabelbinder auf der Haut. Ein schwarzer Stiefel ging nah an meinem Gesicht vorbei.
Er durchsuchte mein Haus. Das war mir seit dieser Sache schon öfter passiert, vor allem die Cops hatten sich mein neues Heim in Crimson Lake mit großer Wonne vorgeknöpft. Die damit verbundenen Geräusche kannte ich nur zu gut. Das Krachen der Möbel und das Wispern von Papier, das über den Holzboden gleitet. Das Knirschen von Schubladen und das dumpfe Splittern, wenn sie mit grober Gewalt aus dem Schrank gezerrt werden. Ich sah mich um. Alle Küchenschränke standen offen, Teller und Tassen waren zerschlagen, Tupperdosen auf dem Boden verstreut und überall Wein, der wie dünnes Blut von den Schränken troff. Ein Stuhl war kaputt. Er hatte sich von Zimmer zu Zimmer vorgearbeitet. Krampfhaft versuchte ich mich aufzurichten, tastete im Geiste meinen Körper ab. War irgendwas gebrochen? Verrenkt? Doch der Schmerz war allumfassend, ließ sich nicht genau festmachen.
»Keine Bewegung!«
Der Stiefel kehrte zurück, tauchte aus dem verschwommenen Rand meines Blickfelds auf und beförderte mich wieder zu Boden. Ich hörte den Flügelschlag einer Gans auf der Veranda. Blondschopf verschwand im Schlafzimmer, kehrte dann in die Küche zurück und stellte den einzigen unversehrten Stuhl auf. Er setzte sich hin, knallte meinen Laptop auf den Tisch und klappte ihn auf.
»Im Haus ist nichts«, befand er. »Hätte nicht gedacht, dass du es online stellst. Da kann ja jeder ran. Aber da lag ich wohl falsch.«
Er widmete sich seiner Suche, klickte auf dem Bildschirm herum. Da sah ich meine Chance. Ich robbte mich vorsichtig in die Ecke, schob mich an der Wand in eine aufrechte Position und betrachtete meinen Angreifer. Mir wurde heiß. Mein ganzer Körper schien unter dem T-Shirt zu brodeln. Den kannte ich doch! Dieses schmale, kantige Gesicht, die großen dunkelblauen Augen.
»Was machen Sie da?«
»Was glaubst du denn?« Er unterbrach seine fieberhafte Suche nur kurz, seine Augen streiften mich flüchtig. Doch beim Anblick meiner Miene hielt er auf einmal inne. Ich rutschte weiter nach hinten, aber da war nur die Wand. »Ich suche Bilder. Videos. Dokumente.«
Er suchte nach Kinderpornos. Keine Ahnung, wer dieser Typ war und woher ich ihn kannte, aber er hatte was mit meinem Fall zu tun. Der war hier nicht einfach eingebrochen, um mich auszurauben, schon wegen seiner Raserei war mir das klar gewesen. Das hier war persönlich. Ich spürte, wie mir das Blut übers Kinn lief, schmeckte es zwischen den Zähnen. Sein Hemd war zerrissen, aber ansonsten hatte ich bei ihm nicht viel erreicht.
»Wenn Sie jetzt gehen, zeige ich Sie nicht bei der Polizei an.«
Er schnaubte verächtlich. »Seit wann kümmern sich die Bullen um das, was du meldest? Bin nicht mal sicher, ob sie es rechtzeitig hierher schaffen.«
»Hören Sie, ich kenne Sie nicht …«
»Ach nee?« Der Mann runzelte sekundenlang die Stirn. Aufrichtiges Erstaunen. »Echt nicht?«
Dann schnappte er sich den Baseballschläger und trat auf mich zu. Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Bitte nicht!«
»Du weißt echt nicht, wer ich bin?«
»Bitte!«
Ich kniff die Augen zu. Er packte mich am Kinn und rammte meinen Hinterkopf gegen den Schrank, bis die Tür aufflog.
»Guck mich an«, knurrte er. »Guck mir ins Gesicht.«
Ich röchelte. Der Typ stand schon wieder kurz vorm Ausflippen, das war deutlich zu erkennen. Auf seinem angespannten puterroten Nacken zuckten die Muskeln. Sein Puls war auf hundertachtzig, die Halsader pochte prall unter seiner Haut. Ich suchte sein Gesicht ab – und da kam es mir endlich.
»O Gott! Sie sind Claires Vater.«
Er hielt den Schläger fest umklammert. Ich verkroch mich tiefer in der Ecke und machte mich auf den nächsten Schlag gefasst.
»Genau, du Dreckskerl!«
Während der Verhandlung hatte ich die Eltern meines Opfers kaum angesehen. Nein, nicht meines Opfers. Claire. Ich musste aufhören, so über sie zu denken. Wie der Rest des Landes. Tränen des Zorns rannen mir übers Gesicht, während in meiner Brust ein kurzer Moment des Widerstands aufflammte.
»Wieso haben Sie so lange gewartet?«, fragte ich. »Ich hatte Sie schon vor sechs Monaten hier erwartet, zusammen mit dem Lynchmob, als sie mein Haus im Fernsehen gezeigt hatten.«
»Ach ja?« Er setzte sich wieder. »Verzeihung, aber ich wollte dich lieber persönlich besuchen.«
»Was haben Sie vor?«, fragte ich. Das war keine Provokation, ich meinte es ernst. Denn ihm musste langsam schwanen, dass er bei mir keine Kinderpornos finden würde und mich daher auch nicht postwendend ins Gefängnis verfrachten konnte. Allerdings hatte er freie Bahn, denn hier draußen würde niemand meine Schreie hören. Mich so richtig zusammenzuschlagen würde ihm bestimmt nicht reichen. Wenn er mich umbringen wollte, musste ich sicherstellen, dass den Gänsen nichts passierte. Im Geiste legte ich mir ein überzeugendes Plädoyer zurecht. Ich musste ihm ein Versprechen abringen. Aber es fiel mir schwer, bei Bewusstsein zu bleiben. Das Licht über mir flackerte, er hatte mir offenbar ein paarmal gegen den Brustkorb getreten, denn mit jedem Atemzug rasselte und knirschte es in meiner Lunge.
Er saß wieder auf dem Stuhl und ignorierte mich, den Kopf zwischen den Händen, die Finger im Haar vergraben. Er dachte nach, genau wie ich.
»Ich habe ein Bild von dir«, sagte er schließlich. Er holte tief Luft, atmete langsam aus. »Als Claire dich auf dem Foto erkannt hat, habe ich die Polizisten gebeten, mir alle Aufnahmen zu zeigen, auf denen sie dich erkannt hat. Dich allein. Und ich habe sie gefragt, ob ich das Bild behalten darf. Seitdem habe ich es in der Geldbörse. Manchmal hole ich es raus, damit ich nicht vergesse, dass du nur ein Mann bist. Und kein … Ding. Kein Geist.«
Draußen fuhr ein Wagen vorbei. Kurz überlegte ich zu schreien.
»Wenn ich das nämlich zulassen würde, hätte ich dich überall vor Augen.« Er rieb sich die Hände, inspizierte seine aufgesprungenen Fingerknöchel. »Rose, meine Frau, hat dich nach deiner Festnahme in den harmlosesten Situationen gesehen. Immer hat sie dich gesehen. Wenn sich große Männer in der Nähe von kleinen Mädchen aufhielten, Väter mit ihren Töchtern spielten. Aber ich hab dann nur dein Bild rausgeholt, dir ins Gesicht geblickt und mir gedacht: Er ist ein Mann, er sitzt hinter Gittern und kann ihr nichts mehr tun.«
Seine Lippe zuckte, entblößte seine Zähne.
»Aber dann haben sie dich rausgelassen«, fuhr er fort, »und ich wusste nicht mehr, wo du bist. Da hast du ihr immer wieder wehgetan. Obwohl du gar nicht in ihrer Nähe warst. Sie leidet. Jeden Tag. Nur weil sie lebt.«
Ich zitterte am ganzen Körper. Die neue Ruhe, mit der er sprach, versetzte mich in Panik. Dieser Mann war in der Lage, mich umzubringen. Nicht wie zuvor, mit blinder Wut, sondern so wie jetzt. Ganz besonnen, systematisch. Niemand würde meinen Tod genauer untersuchen. Ich hatte Feinde im ganzen Land. Sie würden mich anonym begraben, damit die Leute von der Bürgerwehr mir nicht auf die letzte Ruhestätte pissten.
»Hören Sie mich bitte an«, flehte ich. »Ich habe Ihrer Tochter nichts getan.«
»So lange habe ich mir diesen Moment ausgemalt. Nur so habe ich überhaupt schlafen können. Ich habe mir vorgestellt, wie ich das Flugticket kaufe, herfahre und dich hier finde.« Er breitete die Hände aus und wies auf meine Küche. Das zerbrochene Glas und die zersprungenen Teller. Auf den kaputten Stuhl neben der Tür. »An alles Mögliche habe ich gedacht. Dich mit dem Messer aufzuschlitzen. Dir in die Fresse zu schießen. Ich hatte so viele Fantasien. Sie waren so echt, ich konnte sie sogar fühlen.«
Plötzlich brach er in Tränen aus. Manisch. Er raufte sich die Haare, kratzte sich aggressiv am Kopf. Rieb sich übers Gesicht, als wollte er sich aus einem Traum reißen.
»Und jetzt stehe ich endlich hier – aber du bist nur ein beschissener Mann!«, rief er. »Genau wie ich es mir immer eingeredet habe. Nur ein Mann.«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Mein einziger Gedanke galt meinem Überleben. Solche Reden waren mir nicht fremd, ich hatte sie schon öfter gehört. Wenn die Vorstellungen endlich wahr wurden, aber der Wirklichkeit nicht standhielten. Die schönen Pläne nicht funktionierten. Er würde mich töten. Das war seine einzige Wahl. Meine Lippen waren so trocken, dass ich die Worte kaum herausbekam.
»Bitte. Bitte hören Sie mir zu! In meinen Papieren finden Sie einen gelben Umschlag. Im zweiten Schlafzimmer … ich war … ich habe mit einer Kollegin zusammengearbeitet«, stammelte ich, »und sie hat was rausgefunden, über den Mann, der Claire das angetan hat. Hinweise. Ich habe noch nichts … konnte noch nicht …«
Er sprang so unvermittelt auf, dass ich vor Schreck gegen die Mauer rumste. Ich krümmte mich zusammen, weil ich dachte, er würde mich wieder angreifen. Aber er drehte sich nur um und verließ das Haus.