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SILVIJA HINZMANN

Die dunkle Seite der Bucht

Prohaskas dritter Fall in Istrien

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A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

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Copyright © dieser Ausgabe 2018 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Dr. Carsten Schmidt

ISBN 978-3-99029-317-1

eISBN 978-3-99047-101-2

Die Handlung und Personen in diesem Roman sind mit
einigen Ausnahmen frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten
mit lebenden oder verstorbenen Personen wären
zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Samstag

In wilder Fahrt zerpflügte das Motorboot die Wellen, der Wind wurde immer stärker und die Gischt spritzte bis zur Kabine hoch. Im Osten leuchtete ein schmaler Lichtstreifen der aufgehenden Sonne. Der Fahrer steuerte auf die Bucht zu, die noch im tiefen Schatten lag und hielt etwa hundert Meter vor der Mole, die von den Wogen immer wieder überspült wurde. Das Boot schwankte und glitt noch ein Stück weit mit der Strömung in Richtung Küste. Der Fahrer wankte nach hinten, zog die Decke weg, packte den Toten an den Schultern, hievte ihn über den Bootsrand und ließ ihn ins Wasser gleiten. Dabei rutschte ein Schuh vom Fuß des Toten und fiel auf den Bootsboden. Der Fahrer warf ihn auf die Decke und rollte sie schnell zusammen. Er würde sie draußen im Meer versenken. Das hätte er mit dem Mann auch tun sollen. Doch hier in der Bucht würden ihn die Wellen an Land spülen, man würde ihn finden und beerdigen. Das war das Mindeste, was er noch tun konnte. Streng genommen müsste er das Boot sofort zurückbringen und an der gleichen Stelle verstecken, aber auch das hatte er sich während der Fahrt anders überlegt. Er würde sich von diesen Scheißtypen nie wieder zu etwas zwingen lassen. Seine Schuld war beglichen.

Er trank den Rest des abgestandenen Mineralwassers und schleuderte die Flasche über Bord. Wenn ihn jetzt einer sah, würde er ihm den Stinkefinger zeigen. Ja, er war ein Nichts und Niemand, und jetzt auch noch ein Umweltverschmutzer, der nicht nur Plastikmüll, sondern auch einen Toten im Meer versenkt hatte. Aber er war der Welt egal und folglich sie ihm auch. Auge um Auge, Zahn um Zahn, etwas anderes gab es ab jetzt nicht mehr. Außer, ja, außer wenn er Glück hatte und aus dieser verdammten Sache heil herauskam. Ihm würde schon etwas einfallen. Er musste von vorne beginnen. Das war ein guter Gedanke. Der Sprit müsste noch mindestens eine Stunde reichen. Zeit genug, um vor der slowenischen Grenze an Land zu gehen, Proviant zu besorgen und vollzutanken.

Er setzte sich ans Steuer und merkte erst jetzt, dass er am ganzen Körper zitterte. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er spuckte den galligen Speichel aus und gab Gas. Der Motor heulte auf, das Boot drehte ab und jagte davon.

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Joe Prohaska hatte alle Zeit der Welt und konnte tun und lassen, was immer er wollte, dennoch wachte er auch an diesem Morgen viel zu früh auf. Das hatte er Bello zu verdanken, der darauf bestand, auf Prohaskas Füßen zu schlafen und ihn in aller Frühe zu wecken. Der Foxterriermischling war ihm letzten Winter zugelaufen, als er auf einer Fototour im Karst unterwegs war und die buchstäblich ins Wasser gefallen war. Das Städtchen, in dem er eine Rast eingelegt hatte, war wie so viele in Istrien von den Venezianern gegründet worden. Es stand auf einer bewaldeten Bergkuppe und war einst ein wichtiger militärischer Posten, wovon eine mächtige Burgruine zeugte. Nach dem Ersten Weltkrieg war Istrien der bettelarme Hinterhof Europas, eine nahezu entvölkerte Region, die sich erst mit dem Aufkommen des Tourismus allmählich erholte. Die Küstenstädte blühten auf, doch das Hinterland blieb noch lange »dem Gott im Rücken«, wie man hier zu sagen pflegt. Dafür findet der Wanderer eine unberührte Natur und Orte, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Das Dörfchen, in dem Prohaska eine Rast einlegen wollte, hatte knapp dreißig Einwohner. Viele der mehrstöckigen alten Häuser standen seit Jahrzehnten leer, waren dem Verfall überlassen. Ihre überwiegend italienischen Besitzer, die sich dem faschistischen Regime angeschlossen hatten, wurden vertrieben, kamen bei Massakern um oder wanderten aus. Prohaska lernte dort Bartolo Monti kennen, einen aus Amerika zurückgekehrten Emigranten. Der alte Mann feierte an jenem Tag seinen Geburtstag, der dann sein letzter wurde.

Es war ein Zufall, dass er dort eingekehrt war. Wäre er weitergefahren, wäre er nicht in den Fall hineingezogen worden und auch Bello wäre nicht hier.

Er lehnte sich an das mit einem geschnitzten Blumenstrauß verzierte Kopfteil des Betts. Dass er dieses Prachtstück besaß, war ebenfalls ein Zufall. Die Kinder der früheren Hausbesitzer hatten nach deren Tod keine Verwendung für das altmodische Mobiliar und hatten das Bett aus Walnussholz, das vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurde, zerlegt und mit anderen Möbeln und Krempel in den Holzschuppen gestellt. Es sollte als Feuerholz im Kamin landen. Als er das Haus renoviert hatte, baute er das Bett, eine Truhe und zwei Nachttischchen wieder zusammen. Durch die blauen Klappläden fiel etwas Licht ins Zimmer, in dem winzige Staubpartikel schwebten. Auf dem Korbsessel stapelte sich seine ungebügelte Wäsche. Er war froh, dass er keinen Terminkalender mehr führen musste, er hatte keine Besprechungen, musste keine Vernehmungen führen oder sich mit Verwaltungskram oder Vorgesetzten ärgern. Am Wochenende würde er das Haus aufräumen und weitere Bilder für seinen Istrien-Bildband aussuchen und bearbeiten. Er hatte inzwischen mit einem Verlag Kontakt aufgenommen und dort zeigte man sich sehr interessiert. Für heute hatte er sich nur zwei Dinge vorgenommen: Nach Rovinj zu fahren und einzukaufen und bei Ivo im Fotoladen vorbeizuschauen.

Dass er die Hausarbeit selbst erledigte, behielt er für sich. Die Männer, die er hier inzwischen kannte, vor allem die Betonköpfe, die sich auf traditionelle Sitten und Bräuche beriefen, würden ihn für verrückt erklären. Der Haushalt sei Frauenarbeit, sagten sie. So war es immer schon gewesen und dabei sollte es sich auch bleiben. Die Emanzipation sei eine Illusion, habe nur Probleme geschaffen und sei widernatürlich. Solche und ähnliche Ansichten posaunten sie heraus, oft begleitet von sexistischen Witzen und Gelächter. Er kannte zwar auch Männer, die Frauen als gleichberechtigte Partnerinnen behandelten, doch sie hielten sich bedeckt, damit man sie nicht als Pantoffelhelden oder Waschlappen hinstellte. Frauen und Männer seien aber per Gesetz gleichberechtigt, argumentierte Prohaska. Das wollten die anderen nicht hören. Solche Gesetze gehörten abgeschafft, sie seien nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurden. In anderen Ländern sei doch die Lage auch nicht anders. Von wegen gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Seine Tochter habe Betriebswirtschaft studiert, konterte Prohaska, sie habe einen sehr guten Abschluss gemacht und eine Stelle bekommen, verdiene aber weniger als ihre männlichen Kollegen. Das ärgerte nicht nur sie, sondern auch ihn als Vater. Leider, sagten die alten Paschas, aber so sei die Welt halt geschaffen. Frauen bekommen Kinder und bleiben zuhause. Also sei es doch logisch, dass die Männer mehr verdienen müssten. Wenn Prohaska widersprach, schüttelten sie den Kopf, bemitleideten ihn oder wurden ausfallend, wenn sie über den Durst getrunken hatten. Später behaupteten sie, das sei doch nur »Spaß« gewesen. Solchen Spaß genossen sie umso mehr, wenn sich in der Runde Frauen befanden.

So viel Arroganz und Dummheit ertrug Prohaska nicht, also mied er solche Typen und Gespräche, wann er nur konnte. Der neu erstarkte Rechtspopulismus in Europa, der Machismo, die Heuchelei, Bigotterie und Ungerechtigkeit gingen ihm furchtbar auf die Nerven. Vom verborgenen oder gar offenen Rassismus ganz zu schweigen. Männer, die ihre Hemden selbst bügelten, das Bad oder, Gott bewahre, die Toilette putzten, waren doch keine richtigen Männer. Basta! Erst neulich, als er mit Ivo und einigen Bekannten bei einem Glas Bier saß und sie über Fußball, Politik und das Leben im Allgemeinen philosophierten, hatte ihm einer von ihnen geraten, sich eine Haushälterin oder zumindest eine Putzfrau zu suchen. Es gebe genug junge Frauen, die sich etwas dazu verdienen wollten. Die Zeiten seien schlecht und er sei ein reicher Jugoschwabe, Witwer und sehe blendend aus. Es wäre doch gelacht, wenn sich nicht morgen schon ein Dutzend Kandidatinnen für die Stelle meldeten. Frauen müssten das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Und bei »guter Führung«, das sagte der Idiot tatsächlich und grinste süffisant, könnte Prohaska vielleicht noch mehr »herausschlagen«. Als er wütend erwiderte, dass er es nicht nötig habe, mit Frauen so umzugehen und auch nicht zu denen gehöre, die bei Frauen »etwas herausschlugen«, lachte der Mann und sagte, so etwas wäre normal und Prohaska sei selbst schuld, wenn er allein bliebe. »Ich habe noch nie, weder bei meiner Mutter noch in meiner Ehe, auch nur einen Löffel gespült. Mein Vater, mein Großvater und Urgroßvater auch nicht. Ich kann doch meiner Frau nicht die Arbeit abnehmen. Das nennt man geordnete Verhältnisse. Eine Frau muss wissen, wo ihr Platz ist, dann gibt’s keinen Stress.«

Ivo hatte Prohaska von der Seite angesehen und den Kopf geschüttelt, was heißen sollte, es lohne sich nicht, mit diesen Leuten zu diskutieren oder sich aufzuregen.

Prohaska zuckte zusammen. Er war tatsächlich wieder eingenickt. Bello krabbelte auf seinen Bauch und kläffte ihn fröhlich an. Prohaska warf einen Blick auf den Wecker.

»Mensch, es ist noch nicht einmal sieben Uhr«, murmelte er verschlafen.

Bello legte den Kopf zur Seite und sah ihn treuherzig an.

»Okay, okay, du hast gewonnen.«

Bello sprang vom Bett und trippelte in die Küche. Prohaska schlug die Decke zurück, schlüpfte in den Morgenmantel und folgte ihm. Dann schaltete er das Radio ein und machte Kaffee. Während Bello sein Frühstück hinunterschlang, als hätte er seit Tagen nichts zu Fressen bekommen, öffnete Prohaska die Schiebetür und als der Kaffee fertig war, schenkte er sich ein und nahm den Becher auf die Terrasse mit. Der Wind rüttelte an der Weinlaube, unter der der große Tisch und vier Stühle standen. Die knorrigen Äste hatten zwischen den Holzpfosten und Querstreben ein dichtes Netz geflochten. In der linken Ecke der Terrasse stand der alte Oleander, übersät mit weißen Blüten und Knospen. Prohaska zündete sich eine Zigarette an und ging ein paar Schritte in den Garten. Das Gras – von einem gepflegten Rasen konnte keine Rede sein – war knöchelhoch. Dazwischen blühten Gänseblümchen, Löwenzahn und irgendwelches Unkraut, dessen Namen er nachschlagen müsste. In der Hecke, die er vor einigen Tagen gestutzt hatte, blühte eine Clematis. Bello rannte an ihm vorbei, verschwand hinter dem Komposthaufen, tollte dann herum und holte sich seine Streicheleinheiten ab.

›Hund müsste man sein‹, dachte Prohaska, ging ins Haus und schenkte sich noch einen Kaffee ein. Im Lokalradio Rovinj FM lief Bohemian Rhapsody. Als Freddy »Mama, I just killed a man, put a gun against his head« sang, kam Prohaska ein Mordfall in den Sinn, den er bearbeitet hatte, als er noch bei der Stuttgarter Mordkommission seinen Dienst versah. Es war mindestens fünfzehn Jahre her. Ein Kroate, dessen Name ihm entfallen war, was wohl der Beweis für seine allmählich nachlassende geistige Frische war, dabei war er doch noch keine fünfzig, dachte Prohaska, hatte seinen besten Freund erschossen, weil er ihn verdächtigte, ein Verhältnis mit seiner Freundin angefangen zu haben.

Da die Identität des Opfers bekannt war, brauchten sie nicht lange, um auf die Spur des Täters zu kommen. Er wurde ein paar Tage später festgenommen, leugnete aber die Tat. Bei der Gerichtsverhandlung einige Monate danach machte er keine Angaben und überließ die Verteidigung seinem Anwalt. Die Ermittlungen hatten ergeben, dass die Tatwaffe, die man unter dem Fahrersitz seines Autos gefunden hatte, aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte. Seine Ex-Freundin gab unter Tränen an, er habe sie misshandelt und vergewaltigt, weil er sie zur Prostitution zwingen wollte. Außerdem habe er mit Drogen gehandelt und ihr welche aufgezwungen. Sie habe seinen besten Freund um Hilfe gebeten, aber der habe sich nicht einmischen wollen. Nachdem zahlreiche Zeugen und zwei Gutachter angehört wurden, wurde der Mann zur lebenslangen Strafe verurteilt. Als er abgeführt werden sollte, rief jemand aus dem überfüllten Gerichtssaal, er solle auf ewig in der Hölle schmoren. Die Mutter des Opfers brach weinend zusammen. Man rief nach einem Arzt, Flüche und Verwünschungen erfüllten den Saal. Prohaska, der mit seinem Kollegen Heinrich Schimmelpfennig in der letzten Reihe gesessen war, wollte nur noch weg. Da brüllte der Verurteilte: »Prohaska, ich finde dich, egal wann, egal wo, und dann bist du ein toter Mann!« Es war nicht die einzige Drohung, die Prohaska im Laufe seiner Dienstzeit zu hören bekam. Und immer, wenn er diesen Song von Queen hörte, kam sie ihm in den Sinn. Wenn ihm jetzt noch die Namen der Beteiligten einfielen, würde er sich vielleicht besser fühlen.

Das Lied ging zu Ende und der Moderator kündigte schon das nächste Stück an. »Und jetzt etwas für die Romantiker unter euch.« Er senkte die Stimme. »Es ist ein Angebot, das ihr kaum ablehnen könnt. Es folgt der wunderbare Godfather Sicilian Song Brucia la terra aus dem Paten. Gänsehautfeeling. Und noch schnell zum Wetter: Es weht ein starker Jugo bei zwanzig Grad Celsius, aber im Laufe des Tages wird es wärmer und der Wind soll sich legen. Habt ein schönes Wochenende, trefft euch mit Freunden und genießt das Leben. Macht, was ihr wollt, aber macht es. Das Leben ist zu kurz, um nur Trübsal zu blasen.«

›Ein beneidenswerter Mensch‹, dachte Prohaska. ›Immer positiv und witzig, als würde das Übel, das in der Welt herrschte, an seiner Studiotür Halt machen.‹

Die Musik setzte ein, leise Gitarrenklänge, dann eine melancholische Männerstimme.

Prohaska starrte auf das verworrene Muster aus Rillen und Kerben auf dem Küchentisch aus massivem Eichenholz. Verblasste Spuren der ehemaligen, längst verstorbenen Hausbesitzer, Kerben von Messern und Kratzer vom Stahldraht, mit dem die Bäuerin den Tisch gescheuert hatte. Da wo er jetzt saß, war sie auch gesessen und hatte Gemüse, Fisch oder Fleisch geschnitten.

Prohaska kochte gern, aber nur, wenn er Gäste hatte, was selten genug vorkam. Dann zog er alle Register, kaufte die besten Zutaten und benutzte zum Schneiden das Brett aus Olivenholz, das ihm Nino, der alte Tischler, geschenkt hatte. Joes schwäbische Mutter hatte darauf bestanden, dass er selbstständig wurde und auch kochen lernte, und so konnte er mit zehn oder elf Jahren Gerichte wie Spaghetti Bolognese, Eierspeisen in verschiedenen Variationen oder Bratkartoffeln zubereiten, da sie erst am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam. Wenn sie in den Sommerferien Vaters Verwandtschaft in Slawonien besuchten, fand Joe es spannend, wenn Spanferkel oder Lamm am Spieß gebraten oder in einem Kupferkessel über offenem Feuer der »ungarische Fischpaprikasch«, eine höllisch scharfe Suppe aus Süßwasserfischen, gekocht wurde. Das war Männersache, ein Ritual, und darauf bildeten sich seine Onkel und der Großvater eine Menge ein. Dabei floss reichlich Sliwowitz oder selbst gekelterter Wein. Dass ihre Frauen oder Schwestern jeden Tag das Essen auf den Tisch brachten, verstand sich von selbst. »Es schadet dir nicht, wenn du kochen kannst, man weiß nie, was das Leben mit sich bringt«, pflegte sein Vater zu sagen, der sich in seiner ersten Zeit, als er Anfang der 60er nach Stuttgart kam und beim Daimler am Band im Akkord arbeitete, überwiegend von Bohnensuppe aus der Dose oder geräuchertem Speck, Zwiebeln und Spiegelei ernährte. Er wohnte mit drei Landsleuten in einer Holzbaracke, sie schliefen in Metallstockbetten, ihre Habseligkeiten hingen in einem Spind, sie hatten einen kleinen Tisch und kochten auf einem Elektrokocher. Er erzählte oft von dieser Zeit. Nicht die kaltfeuchten Winter oder die schwülen oder verregneten Sommer in der Fremde waren das Problem, der Mensch gewöhnt sich bekanntlich an alles. Das Schlimmste war das Heimweh.

Als Joe geheiratet hatte, kochten seine Frau und er gemeinsam, und natürlich half er im Haushalt mit, vor allem nach der Geburt der Tochter. Doch das alles gehörte zu seinem früheren Leben.

Er schenkte sich Kaffee nach und ging ins Bad. Als er unter die Dusche steigen wollte, hielt draußen ein Auto an und fuhr gleich wieder mit quietschenden Reifen davon. Jemand hatte es anscheinend eilig, von hier wegzukommen. Bello fing an zu kläffen, kam zu Prohaska ins Bad, rannte zur Haustür und bellte, bis Prohaska dazu kam.

»Aus! Du weckst noch das ganze Dorf auf«, sagte er, aber er war sicher, dass seine Nachbarn Enzo und Josefina längst auf den Beinen waren.

Er öffnete Bello die Tür und blieb an der Schwelle stehen. Das kleine Haus nebenan stand seit dem letzten Sommer leer. Martha Schön, eine Schriftstellerin aus Wien, hatte es damals gemietet. Sie war auf der Suche nach ihrer verschollenen Cousine gewesen, die er dann eher ungewollt gefunden hatte.

Bello zwängte sich unter dem Hoftor durch, schnappte eine zusammengerollte Zeitung, die am Straßenrand lag und kam damit im Maul zurück. Aber Prohaska hatte keine Zeitung abonniert, und der Postbote, der trotz Bitten und Ermahnungen seinen Briefkasten mit Werbeprospekten vollstopfte, kam normalerweise erst gegen elf Uhr ins Dorf.

Bello lief ins Haus und ließ die Zeitung im Wohnzimmer auf den Boden fallen. Prohaska ging ins Haus.

»Ja, bist ein Braver, aber das ist nur Müll.«

Er hob die Zeitung auf und wollte sie in den Korb neben dem Kamin werfen, als er sah, dass sie an den Kanten mit durchsichtigem Klebeband festgemacht war.

Die Neugier siegte. Er drehte das Ding in den Händen und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Und da Vorsicht besser als Nachsicht war, ging er in die Küche, streifte sich ein paar Einweghandschuhe über und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Bello beobachtete ihn neugierig. Prohaska schmunzelte.

»Alte Gewohnheit«, erklärte er.

Aber seine innere Stimme, die sich in letzter Zeit viel zu oft Gehör verschaffte, flüsterte mit leisem Spott: ›Joe, du musst aufpassen, du redest mit einem Hund.‹

›Na und? Er versteht mich wenigstens.‹

Er riss das Klebeband weg und wickelte das Papier auseinander. Zum Vorschein kam ein abgegriffenes Holzkäschen, das früher jedes Schulkind hatte, und in welchem Bleistifte oder Federgriffel aufbewahrt wurden. Der Schiebedeckel war mit einer verblassten roten Blumenranke verziert.

»Ich glaube nicht, dass da eine Bombe drin ist, aber geh lieber zur Seite.«

Bello kroch rückwärts unter den Couchtisch. Prohaska musste lachen.

»He, das war nur ein Scherz.«

Gleichwohl hielt er das Kästchen von sich weg und öffnete es. Aber da lag ein Malpinsel. Der Griff war mit Farbresten besprenkelt, die zerzausten Pinselhaare waren rot. Er berührte sie mit dem Zeigefinger und roch daran. Bello legte die Vorderpfoten auf den Tisch.

»Wenn du mich fragst, ist das keine Ölfarbe.«

Er legte den Pinsel ins Kästchen und schob den Deckel zurück. »Damit beschäftigen wir uns später. Ich geh jetzt duschen, also Pfoten weg.«

Kaum war er im Badezimmer, machte sich Bello daran, das auf dem Boden verstreute Zeitungspapier in Fetzen zu reißen. Als Joe aus dem Bad kam, saß der Hund, mit seinem Werk sichtlich zufrieden, auf der Couch. Nur unter dem Holzkästchen auf dem Tisch lag eine zerknüllte Seite, die er verschont hatte.

»Gute Arbeit«, sagte Prohaska, wobei er sich nicht sicher war, ob Bello wusste, was Ironie war. Er sammelte die Schnipsel auf und warf sie in den Korb. Das Kästchen wickelte er in die übrig gebliebene Zeitungsseite, ging in die Küche und steckte es in eine Plastiktüte. Dann stellte er eine Schale mit Trockenfutter für die Katze auf die Terrasse und verschloss die Schiebetür. »Na, dann wollen wir mal.«

Er warf die Plastiktüte in den Rucksack, nahm die Autoschlüssel und Kameratasche vom Kaminsims, schnappte seine alte Lederjacke und die Hundeleine vom Garderobehaken und ließ Bello den Vortritt. Sein altes Mercedes Cabrio, das er seit fast zwei Jahrzehnten besaß und auch nicht vorhatte, sich davon zu trennen, bis dass der Rost sie trennte, stand unter dem Carport. Die cremeweiße Karosserie und das schwarze Stoffverdeck waren mit gelbem Pollenstaub bedeckt. Der Carport flatterte im Wind auf, als wollte es gleich abheben. Bello sprang auf den Beifahrersitz, Prohaska öffnete das Hoftor und fuhr auf die Straße.

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Hätte ihm einer gesagt, er würde an einem Samstagmorgen durch den Wald radeln, hätte Mario nur müde gelächelt. Die meisten hielten ihn für einen Eigenbrötler, der seine Freizeit am Computer verbrachte. Dass er einer der besten in der Klasse war, trug nicht zu seiner Beliebtheit bei. Er wusste, dass man ihn hinter seinem Rücken einen Streber nannte. Doch als Belinda neulich die Bemerkung fallen ließ, dass sie an Wochenenden morgens zwischen acht und neun Uhr an der Punta Corrente joggte, hatte er nur noch einen Gedanken: Er musste sie sehen – und falls er den Mut aufbrachte, mit ihr reden, ohne dass es jemand mitbekam.

Vor allem Leon Morena, der sich einbildete, etwas Besseres zu sein, nur weil sein Alter plötzlich so viel Geld hatte, dass sie sich ein Haus mit Swimming-Pool, drei Autos, darunter einen Porsche Cayenne, leisten konnten. Leons Vater hatte eine Baufirma, aber man musste schon auf den Kopf gefallen sein, um sich nicht zu fragen, ob man damit tatsächlich so reich werden konnte. Leon brüstete sich sogar damit, schon einige Male richtigen Sex gehabt zu haben, dabei war er nur ein paar Monate älter als Mario. Das Schlimmste war, dass er sich an Belinda heranmachte. Er überschüttete sie mit Komplimenten, und wenn er Mario in ihrer Nähe sah, hatte er sofort einen dummen Spruch parat, über den sich die anderen kaputtlachten. Nur Mario nicht. Doch das schien niemanden zu kümmern, da er für Leon keine Konkurrenz sein konnte.

Belinda war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Sobald er an sie dachte, bekam er Herzklopfen. Keiner wusste genau, woher sie und ihre Mutter stammten. Einen Vater gab es nicht, jedenfalls hatte Belinda ihn noch nie erwähnt. Vermutlich waren ihre Eltern geschieden. Belinda war in Deutschland geboren. Mario verstand ein paar Brocken der für seine Ohren so sperrig klingenden Sprache und hatte gehört, wie sich Belinda mit ihrer Mutter in einem lustig klingenden Dialekt unterhielt. Vielleicht hatte sie in der Schweiz gelebt. Sie sprach fließend Italienisch, Kroatisch mit einem Akzent, als hätte sie es viel später gelernt. Manchmal suchte sie nach Worten und meldete sich wohl deshalb im Unterricht nur selten. Und gerade wegen ihrer Schüchternheit mochten sie alle. Ein paar Mädchen tuschelten hinter vorgehaltener Hand, sie tue nur so und sei eine raffinierte Zicke. Die Jungs himmelten sie an. Leon gebärdete sich, als hätte er besondere Rechte. Er saß in der Reihe hinter ihr und wenn sie sich im Stuhl zurücklehnte, zupfte er an ihren Haaren, ohne dass sie es sich verbat.

Mario wünschte sich, irgendwann den Mut aufzubringen, dem Blödmann eine Ohrfeige zu verpassen. Aber das würde die Sache nur verschlimmern. Wenn er einen Blick von Belinda erhaschte, lächelte sie und sah sofort weg. Es waren magische Momente. Doch offensichtlich mochte sie Leon gut leiden, sonst würde sie sich sein Benehmen nicht gefallen lassen. Hatten sie etwas miteinander? Nicht auszudenken! Oder mochte sie den Kerl vielleicht deshalb, weil er sich wie ein Macho benahm? Die Ungewissheit machte Mario ganz krank. Aber das ahnte niemand, am allerwenigsten seine Mutter. Er konnte es ihr auch nicht erzählen. Es wäre zu peinlich. Sie hatte es auch so schon schwer genug. Für seinen Stiefvater, den er insgeheim »der Alte« nannte, war er Luft. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Dass Mutter mit ihm überhaupt zusammenlebte, war ihm ein Rätsel. Es war ihnen besser gegangen, als sie noch allein lebten. Der Mann war unerträglich. Er benahm sich je nach Laune und Alkoholspiegel wie ein Pascha oder ein Feigling. Vermutlich war er beides. Warum ließ sich er sich von Sandro alles gefallen? Der wohnte erst seit ein paar Monaten bei ihnen, tat aber nichts. Der Alte gab ihm Geld, ohne zu fragen, wozu er es brauchte, und wollte auch nicht wissen, mit wem er herumhing und wann er sich eine Arbeit suchen würde. Wenn im Haus dicke Luft herrschte, saß der Alte nach der Arbeit stundenlang in irgendeiner Bar und kam betrunken nach Hause, schlug die Türen zu, dass die Wände wackelten oder brüllte Mutter an, er habe genug von ihr, sie sei eine Hure, kümmere sich einen Dreck um ihn und seine Probleme, sondern verwöhne ihren kleinen rothaarigen Bastard und irgendwann werde ihm der Kragen platzen, dann könnten sie ihre Sachen packen. Nach solchen Szenen schlief er auf der Couch, schnarchte wie ein Walross und war am nächsten Tag mürrisch und zerfloss in Selbstmitleid. Mario ging ihm aus dem Weg, schloss sich nach der Schule in sein Zimmer ein und fragte sich, wie lange Mutter das alles ertragen wollte. Früher, als sie noch zu zweit waren, waren sie zwar arm wie Kirchenmäuse, wohnten in einer winzigen Wohnung in der Altstadt, aber Mutter war ganz anders gewesen. Sie arbeitete in einem Restaurant in der Nähe, hatte viele Freundinnen und war fröhlich und ausgeglichen.

Nach der Schule konnte er bei einer alten Nachbarin, die er Oma nannte, essen und seine Hausaufgaben machen und danach mit anderen Kindern auf der Gasse spielen. Doch dann lernte Mutter den Alten kennen, der ihr das Blaue vom Himmel versprach. Sie zogen in dieses alte Haus, das längst renoviert werden müsste. Die Besitzer lebten im Ausland und ließen nur das Nötigste reparieren. Mario hatte jetzt ein eigenes Zimmer im ersten Stock, aber seine Freunde aus der Altstadt konnte er nicht nach Hause bringen, weil der Alte seine Ruhe haben wollte. Sandro wohnte in einem viel größeren, so genannten Gästezimmer, das keiner außer ihm betreten durfte. Das Wohnzimmer im Erdgeschoss war düster, weil die Rollläden meistens heruntergezogen waren. Ebenso im Schlafzimmer, von dem man zum verwilderten Garten blicken konnte. Mario betrat im Grunde nur das Badezimmer und die Küche, wenn er sich morgens ein Sandwich machte.

Er räumte immer hinter sich auf und nach der Schule kaufte er sich eine Pizza oder fuhr mit dem Fahrrad zu Mutter, die in der Bäckereiabteilung im Supermarkt arbeitete. Neulich hatte er versucht, mit ihr zu reden, fragte sie, ob sie sich nicht endlich vom Alten trennen könne. Sie sagte, so einfach sei das nicht, das Leben sei eben kompliziert. Aber das wusste er selbst. Er hätte sie am liebsten angeschrieen, weil sie sich so behandeln ließ. Sie drückte ihn an sich und sagte, das Einzige, was er tun könnte, sei, ihr keinen Kummer zu machen.

Wenn er bloß schon erwachsen wäre, und natürlich reich, würde er ein Haus kaufen und Mutter bekäme das schönste Zimmer mit einem Balkon mit Blick aufs Meer. Er wäre mit Belinda verheiratet und sie hätten mindestens drei Kinder. Das war sein Ziel. Und eines Tages wird es so kommen, auch wenn er Tag und Nacht schuften müsste, dachte er, als er das Ende der Straße am Waldrand erreichte und durch das schmiedeeiserne Tor in den Parkwald fuhr.

Irgendwo in den Baumkronen hämmerte ein Specht, als wollte er eine wichtige Nachricht durchgeben. Mario trat in die Pedale, den Blick nach vorne gerichtet wie ein Profifahrer. Das Rad holperte über Baumwurzeln, die unter dem Schotter wie unheimliche Schlangen aussahen. An einer Stelle, wo die Bäume den Blick auf die Küste und das Meer freigaben, sah er in der Ferne ein Motorboot nach Norden fahren. Bei diesem Wetter, dachte Mario, war der Fahrer entweder lebensmüde oder ein Vollidiot. Hinter windzersausten Kiefern und Lorbeerbüschen rauschten die Wellen, krachten gegen das felsige Ufer, rollten zurück, um sich gleich wieder aufzutürmen und nach vorne zu preschen. Ein ewiges Hin und Her, älter als die Menschheit.

Ein paar Minuten später tauchte das Gebäude aus hellen Steinquadern auf, in dem das Lokal Lovor-Grill untergebracht war. Mit dem Vestibül sah es wie ein antiker Tempel aus. Doch es war kein Tempel, sondern wurde vor über hundert Jahren von einem Österreicher erbaut, der damals die Halbinsel gekauft hatte, die Maccia roden und auf dem Gelände seltene Baumarten bepflanzen ließ.

Vor dem Lokal wurde der Weg breiter, die Terrasse war mit einer niedrigen Mauer umschlossen. Die Sonnenschirme lagen auf einem Haufen in der Ecke, die Stühle waren an die Tische angekettet.

Mario sprang vom Fahrrad, lehnte es an die Mauer und rannte zur Rückseite des Gebäudes, wo sich die Toiletten befanden. Aber weil das Lokal geschlossen hatte, waren diese natürlich auch zu. Er ging an einem Müllcontainer vorbei, wo sich Holzpaletten und leere Getränkekisten stapelten, stapfte durch kniehohes Gestrüpp zum Waldsaum und erleichterte sich.

Er ging zurück zum Weg und schaute dem Spiel der Brandung zu. In ein paar Wochen würde er hier wieder schwimmen können. Belinda wird bei ihm sein, sie werden auf der Terrasse Eis essen oder Limonade trinken, sich in die Augen sehen und über alles reden. Auf dem Heimweg werden sie sich an den Händen halten, er wird ihre Badetasche tragen und dann werden sie sich zum Abschied auf den Mund küssen, vor allen Leuten. Er lächelte. Ja, genau so wird es sein.

Von der Mole, die von Brechern überspült wurde, flogen Möwen hoch. Mario zog seine Turnschuhe und Socken aus, ging die Stufen zum Strand hinunter, krempelte die Hosenbeine bis über die Knie und ging langsam den Wellen entgegen.

Der Wind wehte so stark, dass er ihm fast den Atem nahm. Das Wasser war kalt, aber nach einer Minute fand er es richtig angenehm. Mit ausgebreiteten Armen umging er Felsen und Steinplatten, an die sich winzige Muscheln klammerten. Eine Welle bäumte sich auf, rauschte heran und überschlug sich vor seinen Füßen. Er lachte laut, wich zurück und wäre auf dem Hosenboden gelandet, wenn er sich nicht an einem Felsbrocken festgehalten hätte. Da rollte schon die nächste Welle heran, überschlug sich, die Gischt spritzte hoch und fiel wie ein schäumender Schleier auf ihn. Pitschnass stieß er sich vom Felsbrocken ab, ging rückwärts, schwankte und schaute sich um. In einer Mulde zwischen den Felsbrocken dümpelte etwas Dunkles und wurde von der Brandung gegen die Steine gedrückt. Das gehörte nicht hierher, nicht an seinen Strand. Er nahm die Brille ab, putzte die Gläser am T-Shirt ab und setzte sie wieder auf. Aber es war da wie der Wind und die Brandung, wie die Möwen über ihm und die salzige Luft auf seinen Lippen.

Er starrte auf die Gestalt eines Mannes, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag. Die Hose und Jacke klebten an seinem Körper, seine Arme bewegten sich, als würde er schwimmen. Doch er war tot, daran gab es keinen Zweifel.

Mario riss sich von dem Anblick los, und während er die Treppe hochsprang, versuchte er die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Mit zitternden Fingern zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und tippte die Notrufnummer der Polizei.

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Prohaska stieg aus, machte das Hoftor zu und ging zum Auto. Enzo lehnte am Gartenzaun. Prohaska winkte und ging zu ihm rüber.

»Buon Giorno, Enzo.«

»Buon Giorno, na, schon so früh auf den Beinen? Wie geht’s?«, fragte Enzo.

»Bene, bene, und selbst?«

»Solange mich die Beine tragen und der Verstand funktioniert, ist alles in Ordnung. Wo geht’s denn hin? Wieder mal auf eine Fotosafari?«

Der alte Mann lächelte, wobei unter seinem Bart, der Prohaska an den von Giuseppe Verdi erinnerte, seine makellosen dritten Zähne blitzten. Das Gesicht war von Fältchen durchzogen, die Brille saß ein wenig schief auf der Nase und der hagere Körper zeugte vom jahrelangen Schuften im Steinbruch und auf dem eigenen Stückchen Land. Enzos graue Latzhose schien mindestens zwei Nummern zu groß, seine Füße steckten in Gummistiefeln und über einem weiß-roten gestreiften T-Shirt trug er eine alte Lammfellweste.

»Nein, leider keine Fotosafari«, erwiderte Prohaska. »Ich muss einkaufen und geh danach in den Fotoladen. Soll ich euch etwas mitbringen?«

»Nein, danke, wir haben alles da. Aber wenn du schon fragst, vielleicht ein Päckchen Tabak.«

»Okay.«

Enzo deutete mit der Hand in Richtung der Straße, die sich zwischen den Obstbäumen abzeichnete. Dort befand sich vor einem ehemaligen Hotel, das seit Jahrzehnten geschlossen war, ein Zeitungskiosk.

»Der Kiosk ist schon wieder zu, angeblich hat Franjo die Grippe. Aber wahrscheinlich hat er sich nur wieder einmal volllaufen lassen und schläft seinen Rausch aus.«

»Hoffentlich nichts Ernstes«, sagte Prohaska. Er kannte Franjo recht gut und blieb gerne auf ein Schwätzchen bei ihm stehen, wenn er Zigaretten oder eine Zeitung kaufte. Franjo war früher Seemann gewesen. Er hatte die große weite Welt gesehen, und wenn er von seinen Abenteuern erzählte, funkelten seine blauen Augen und sein Gesicht hellte sich auf. Aber die meisten Leute im Dorf hielten ihn schlicht für einen alten Säufer und seine Geschichten für reinstes Seemannsgarn.

Seine Frau hatte ihn vor vielen Jahren verlassen, der einzige Sohn lebte mit seiner Familie in Australien und kam ihn alle zwei, drei Jahre besuchen. Franjo bezog eine kleine Rente und lebte bei seiner verwitweten Schwester und ihren Katzen am anderen Ende des Dorfes.

»Willst du eine bestimmte Tabaksorte?«

»Die billigste. Und eine Zeitung vielleicht.«

»Okay.«

»Komm zum Abendessen, Josefina macht heute Rosmarinbrathähnchen, außerdem haben wir wilden Spargel gepflückt. Den gibt es als Vorspeise.«

»Klingt gut. Ich weiß allerdings nicht, wann ich zurück bin.«

»Wenn du da bist, bist du da.«

»Sag mal, hast du zufällig gesehen, was es für ein Auto war, das vorhin bei mir angehalten hat?«

»Es war kein Auto.«

»Nicht?«

»Es war ein Motorroller, eine Vespa, glaube ich. Ich habe gerade die Hühner rausgelassen, als sie nur kurz stoppte und gleich wegfuhr. Ich dachte mir noch: Die fährt aber, als säße ihr der Teufel im Nacken.«

»Es war eine Frau?«

»Ja, eine mit langen blonden Haaren.«

»Es gibt aber auch blonde Männer mit langen Haaren.«

»Joe, ich bin zwar alt, aber ich kann immer noch einen wohlgeformten Frauenpopo von einem Männerarsch unterscheiden, das kannst du mir glauben.«

»Davon bin ich überzeugt. Würdest du sie wiedererkennen?«

»Nein, sie trug einen Helm. Aber warum fragst du?«

»Ich war nur neugierig, weil ich den Lärm gehört habe. Ich muss los. Wir sehen uns.«

Prohaska ging zum Auto, stieg ein, ließ den Motor an und fuhr los. Enzo ging zurück in den Hof.

Josefina stand mit hochrotem Gesicht an der Türschwelle mit einer Espressotasse in der Hand. Sie litt an hohem Blutdruck und anderen Wehwehchen, schluckte allerdings ihre Medikamente, wann es ihr in den Kram passte, und verließ sich im Übrigen auf die Madonna, einige weitere Heilige und auf ihre Tarot-Karten, die sie täglich legte. Und heute hatte sie die Karte der Liebenden gezogen, was ein gutes Zeichen war.

»Was ist passiert?«

Sie reichte Enzo die Tasse und stemmte ihre Hände an die rundlichen Hüften.

Enzo leerte den Espresso in einem Zug, wischte sich den Bart ab und gab ihr die Tasse zurück.

»Nichts, wieso?«

»Aber du hast doch gerade mit jemanden geredet.«

»Das war Joe. Er fährt nach Rovinj und bringt mir Tabak mit. Ich habe ihn übrigens zum Abendessen eingeladen.«

»Gut, und sonst war nichts?«

»Aber nein.«

»Wie geht’s ihm denn?«

Sie hatte Joe vom ersten Tag ins Herz geschlossen, weil sie denselben Vornamen und somit denselben Schutzpatron hatten, und ließ keine Gelegenheit aus, ihn zu bemuttern. Wenn sie Kuchen gebacken hatte, lud sie ihn zum Kaffee ein oder legte Gemüse und Obst aus ihrem Garten oder ein Körbchen mit frischen Hühnereiern auf seine Türschwelle. Joe mochte die beiden und revanchierte sich, indem er ihnen etwas aus dem Supermarkt oder der Apotheke mitbrachte oder sie zum Arzt kutschierte. Enzo hatte zwar einen alten Fiat Punto im Schuppen stehen, fuhr aber nur noch selten. An Sommerabenden saß Joe öfter bei ihnen auf der Veranda und die beiden alten Leute erzählten von frühen Zeiten.

»Es geht ihm gut, sagt er. Aber er braucht eine Frau. Das ist so klar wie das Amen in der Kirche.«

Enzo öffnete das Türchen im Maschendrahtzaun, der ein großes Stück Rasen um den Hühnerstall absperrte, ging hinein und schloss es.

Josefina, die in letzter Zeit nicht mehr gut hörte, dies jedoch verschwieg, kam zum Zaun, während Enzo versuchte, eines der Hühner, das heute sein Leben lassen musste, in die Enge zu treiben. Die Tiere hatten sein Vorhaben durchschaut und stoben flatternd und gackernd auseinander, dass die Federn nur so flogen. Enzo sprang ihnen mit ausgebreiteten Armen schimpfend hinterher.

»Er hat eine Frau gefunden? Das sind ja schöne Neuigkeiten«, rief Josefina in das Gegacker hinein.

»Was?«

»Du wirst sehen. Wenn er heiratet, dann kirchlich, obwohl er behauptet, ein Atheist zu sein. Schließlich ist er katholisch getauft, das hat er mir selbst erzählt. Und deshalb kann er gar nicht anders. Das macht er dann seiner Zukünftigen zuliebe.«

Enzo war zu abgelenkt, um wirklich hinzuhören. Als es ihm schließlich gelang, ein rotbraunes Huhn zu packen, das wie wild um sich schlug und ihm die Hände verkratzte, kam er heraus und drückte es Josefina in den Arm.

»Wer heiratet?«, fragte er atemlos.

»Na, unser Joe.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Aber du hast es doch gerade gesagt.«

»Ich?«

»Aber ja, du hast gesagt, er hätte eine Frau gefunden und würde heiraten, das sei sicher wie das Amen in der Kirche.«

»Ich sagte, er braucht eine Frau wie das Amen in der Kirche.«

»Und er heiratet.«

»Dann weißt du mehr als ich. Mir gegenüber hat er kein Wort darüber verloren.«

»Das sieht ihm ähnlich.«

»Aber nein, du hast da etwas falsch verstanden. Er hat sich nur nach einer Frau erkundigt, die auf einem Motorrad hier war.«

»Ah, du hast sie also schon gesehen? Und sie fährt ein Motorrad? Ist das nicht sehr gefährlich?«

»Ja, ja, aber die wird er doch nicht heiraten. Es war eine andere.«

Josefina sah ihren Mann pikiert an.

»Von mir aus. Dann heiratet er eben die Andere. Und ich glaube, ich weiß auch, welche.«

»Und wer soll das sein?«

»Na, diese hübsche Rothaarige. Wie heißt sie noch gleich?«

»Meinst du die Martha?«

»Si-si, genau die.«

»Die kann er nicht heiraten, weil sie schon verheiratet ist.«

»Als ob das heutzutage ein Hindernis wäre. Dann lässt sie sich halt scheiden.«

»Das glaube ich nicht.«

»Du wirst schon sehen, eines Tages wird er sie heiraten, natürlich nur standesamtlich. Eine Frau wie ich spürt so etwas, glaub mir.«

»Von mir aus.«

»Du hast ihm hoffentlich gesagt, dass er seine Verlobte jederzeit mitbringen kann?«

»Zum letzten Mal: Er hat keine Verlobte!«

»Dio mio, regt dich nicht so auf, das ist nicht gut für dein Herz.«

»Madonna mia«, murmelte Enzo.

Josefina lächelte.

»Und jetzt sei so gut und bring mir noch ein Huhn. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

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Kaum war Prohaska um die Ecke gebogen, hielt er auch schon auf dem menschenleeren Platz vor der Zufahrt zur Hauptstraße an und rief Inspektor Giovanni Rossi an. Aber Rossi meldete sich nicht.

Zwanzig Minuten später stellte er den Wagen auf dem Parkplatz am Nordhafen ab. Der Wind blies heftiger und die Wellen schlugen gegen die Kaimauer, an der zwei große Fischerboote festgemacht waren. Die bronzene Statue der Euphemia auf der Spitze des Kirchturms hatte der Stadt den Rücken zugekehrt, was ein untrügliches Zeichen für schlechtes Wetter war. Er leinte Bello an und ging zum Markt, wo er etwas Obst und Gemüse kaufte. Im Supermarkt nebenan holte er die restlichen Sachen, die in seinem Haushalt fehlten. Als er nach zehn Minuten zurückkam, kläffte Bello, der vor dem Eingang warten musste, aus Leibeskräften. Prohaska konnte inzwischen gut unterscheiden, ob das Gekläffe fröhlich oder alarmierend klang. Aber außer den beiden Männern, die am Kiosk vor dem Supermarkt lehnten und mit dem Verkäufer über Fußball und Politik diskutierten, gab es nichts Besonderes zu sehen. Prohaska löste Bellos Leine, ging zu ihnen rüber, kaufte eine Tageszeitung, mehrere Päckchen Zigaretten und eine Dose Tabak für Enzo, ohne sich in die Diskussion der drei hineinziehen zu lassen. Der Hund bellte weiter.