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Der Landdoktor
– Staffel 2 –

E-Book 11-20

Christine von Bergen

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-695-2

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Unsere Oase der Liebe

»Was hat Dr. Brunner gesagt?«, fragte Julia Winter ihre Großmutter, die neben ihr im Auto saß.

»Alles in Ordnung«, erwiderte Hilde Winter. »Abgesehen davon, dass ich weiterhin meine Blutdruckpillchen schlucken muss, bin ich noch fit wie ein Turnschuh.«

Julia lachte.

»Das habe ich dir doch gleich gesagt«, knurrte Hilde. »Dieser Check-­up war völlig überflüssig.«

»Trotzdem, Oma, in deinem Alter ist es nicht verkehrt, sich einmal im Jahr gründlich untersuchen zu lassen.«

»Das Wartezimmer war brechend voll. Alles Erkältungspatienten.«

»Bei dem Wetter.«

Schon seit Tagen trieb ein heftiger Wind schwarze Wolken über dem Ruhweiler Tal vor sich her. Blätter wehten über die Straßen, als wäre es November statt mitten im Sommer.

»Wir hatten doch noch zum Supermarkt fahren wollen«, fiel Hilde jetzt ein. Sie sah ihre Enkelin von der Seite an. »Wollen wir noch mal zurückfahren?«

»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Julia. »Wenn wir bei schönem Wetter keine Gäste haben, kommen sie bei diesem bestimmt nicht.«

Während sie sprach, berührte ihre Nasenspitze die Windschutzscheibe, um bei dem sintflutartigen Regen überhaupt etwas sehen zu können. Ihr kleiner Geländewagen kämpfte sich wacker durch die matschigen Schlaglöcher. Zwischen den Tannen, zu beiden Seiten der Forststraße, herrschte eine düstere Atmosphäre.

»Es soll in den nächsten Tagen noch so bleiben«, murmelte ihre Großmutter mit bekümmerter Miene, beugte sich gleich darauf nach vorn und fragte überrascht: »Was ist denn das?«

Julia entdeckte den Wagen im gleichen Moment. Er stand am Ende des Waldstückes am Wegesrand, mit plattem Hinterreifen. Langsam ließ sie den Jeep auf ihn zu rollen.

»Wo ist denn der Fahrer?«, fragte Hilde, während sie sich umsah.

Der weiße Sportwagen mit dem italienischen Kennzeichen war leer. Weit und breit konnten die beiden niemanden sehen.

»Vielleicht hat er sich untergestellt und wartet darauf, dass der Regen nachlässt, um den Reifen zu wechseln«, mutmaßte Julia.

»Wer verirrt sich denn bei diesem Wetter hierher?« Mit verständnisloser Miene schüttelte Hilde den Kopf. »Derjenige wäre doch lieber im sonnigen Italien geblieben.«

Julia lachte. Im Schritttempo fuhr sie weiter, zwischen den Wiesen hindurch, die der Regen in kleine Seelandschaften verwandelt hatte. Kurz nachdem Großmutter und Enkelin in das nächste Waldstück eingetaucht waren, entdeckten sie einen hochgewachsenen Mann. Er hatte sein Sakko über den Kopf gezogen und bewegte sich mit ausholenden kräftigen Schritten voran.

»Das ist bestimmt der Sportwagenfahrer«, vermutete Hilde.

Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, schien der Mann ihren Wagen gehört zu haben. Er drehte sich zu ihnen um, trat zur Seite. Julia hielt neben ihm an. Sie ließ die Scheibe einen Spalt herunter.

Sichtlich erleichtert lächelte der Fremde sie an. Sie sah in ein sportlich gebräuntes Gesicht mit regelmäßigen Zügen und schwarzen eindringlich blickenden Augen. Ein sehr attraktives Gesicht. Genauso attraktiv, wie ihr der ganze Mann auf den ersten Blick erschien. Teure Kleidung, gute Figur, schön geformte, kräftige Hände, die das Sakko festhielten.

Julia Winter besaß einen Blick für guten Geschmack, auch wenn ihr das an diesem Nachmittag niemand zugetraut hätte. Ihr viel zu weiter grüner Overall, das tief in die Stirn gezogene Kopftuch, welches ihr Haar verbarg, ihre schmutzigen Hände ließen sie wie eine Bäuerin aussehen.

»Gehört Ihnen der Sportwagen?«, sprach sie den Fremden an.

»Ja, leider.« Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln, das er mit einem intensiven Blick in ihre Augen begleitete. »Dummerweise habe ich kein Reserverad bei mir. Um Platz zu sparen.«

Er sprach perfektes Hochdeutsch, ohne jeden Akzent.

»Wo wollen Sie denn hin?«, erkundigte sich Hilde, die sich zu ihrer Enkelin hinüberbeugte, um den nassen Wanderer besser ins Auge fassen zu können.

»Zur Pension Winter«, lautete dessen ganz selbstverständlich klingende Antwort.

»Zur Pension Winter?«, wiederholte die ältere Frau hörbar verdutzt. Dann lachte sie. »Na, dann steigen Sie mal ein, junger Mann. Wir sind die Pension Winter.«

Leon Schubert klopfte die Nässe aus Jackett und Leinenhose, bevor er auf dem Rücksitz Platz nahm. Dann lehnte er sich zurück und lächelte entspannt.

Er wusste, dass die kleine Pension am Ende der Welt von Großmutter und Enkelin geführt wurde, von Hilde und Julia Winter. Die ältere der beiden Frauen machte ja noch einen recht flotten und sympathischen Eindruck. Die Enkelin konnte er noch nicht einschätzen. Nur eines wusste er: Sie besaß die schönsten Augen, die er je bei einer Frau gesehen hatte. Augen von der Farbe eines tiefen Sees an einem Sommertag. Einem sonnigen natürlich. Tiefblau waren sie, umrahmt von einem dichten Kranz dunkler Wimpern. Ernst und ruhig schauten sie in die Welt. Nun gut, das Outfit der jungen Dame ließ etwas zu wünschen übrig, aber die beiden betrieben neben der Pension ja auch noch Landwirtschaft.

»Das ist ein glücklicher Zufall«, sagte er erleichtert. Dabei beugte er sich nach vorn, zwischen Fahrer- und Beifahrersitz hindurch. »Übrigens, darf ich mich vorstellen? Leon Schubert. Ich wollte ein paar Tage Urlaub bei Ihnen machen.«

Der Kopf der älteren Frau drehte sich so schnell zu ihm um, dass ihre Nasenspitzen fast zusammengestoßen wären. Er zuckte zurück.

»Bei uns?«, fragte Hilde Winter mit verblüffter Miene. »Wie sind Sie denn darauf gekommen?«

Er zögerte kurz. »Beim Friseur hier im Ort. Ich habe dort Shampoo gekauft. Die Dame hat mir Ihre Pension empfohlen.«

Hilde Winter räusperte sich. »Sind Sie auf der Durchreise?«

»Ja. Von Mailand nach Düsseldorf, wo ich zu Hause bin.«

»Und warum hat Ihr Wagen ein italienisches Kennzeichen?«

»Ich habe drei Jahre lang in Italien gelebt. Ich habe dort Rennautos getestet.«

»Rennautos?«

Er nickte. Immer noch sah sie ihn erstaunt an. Mit einer Spur von Misstrauen in den grauen Augen, wie er jetzt bemerkte.

»Ist das nicht gefährlich?«

»Wie Sie sehen, lebe ich noch.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich liebe Risiken.«

Sie lachte. Ihre Enkelin nicht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich um die weich geschwungenen Lippen von Julia Winter ein missbilligender Zug legte. Die junge Frau schwieg, lenkte den Wagen mit ernstem Blick, wie ihm der Rückspiegel verriet, durch den Regen. Schöne Hände besaß sie. Perfekt geformt, elegante und trotzdem feste Hände.

Hilde Winter schwieg eine Weile. Wahrscheinlich verarbeitete sie gerade die Informationen, die er ihr über sich gegeben hatte.

Die Straße führte nun wieder durch ein Waldstück, dessen Fichten der immer noch tosende Wind durch die Luft peitschte.

»Erwarten Sie von unserer Pension nicht zu viel«, meldete sich die ältere Frau wieder zu Wort. »Bei uns ist alles ganz einfach. Das Beste ist die Natur ringsum, das Essen aus regionalen Produkten sowie Ruhe und Frieden.«

»Klingt doch gut«, erwiderte er in aufmunterndem Ton. »Wer kocht denn?«

»Ich«, antwortete sie.

Er lachte. »Überzeugt.«

Dann sah er die Jüngere von der Seite an. »Und was machen Sie?«

»Alles andere«, erwiderte Julia Winter knapp.

»Meine Enkelin ist Hotelfachfrau«, fügte ihre Großmutter hörbar stolz hinzu. »Sie hat ihre Ausbildung als Beste abgeschlossen. In Baden-Baden. Im ersten Hotel am Platz. Ich sage Julia immer, dass sie nicht in eine Pension wie unsere gehört, aber sie …«

»Bitte, Oma.« Julias weiche Stimme klang leicht genervt.

»Es stimmt doch, mein Schatz.« Dann drehte sich Hilde Winter wieder zu ihm um und fuhr fort: »Ich rechne es ihr hoch an, dass sie bei mir bleibt. Sie müssen nämlich wissen, dass meine Eltern die Pension gegründet haben. Ich habe sie mit meinem Mann weitergeführt, und nach seinem Tod war ich dann allein für sie verantwortlich, bis Julia sich entschlossen hat, mir zur Seite zu stehen.«

»Oma, ich bin mir nicht sicher, ob Herrn Schubert unsere Familiengeschichte interessiert«, warf Julia nun in energisch klingendem Ton ein.

»Und wie«, widersprach er ihr sofort. »Ich liebe Geschichten.«

»Dort hinten liegt unsere Pension«, sagte Hilde Winter und zeigte auf das kleine Schwarzwaldhaus, das sich unter den dunklen Wolken duckte. »Ihren Wagen können Sie heute ruhig am Wegesrand stehen lassen. Den stiehlt niemand. Hier bei uns ist die Welt noch in Ordnung«, versicherte sie ihm im Brustton der Überzeugung, was ihm prompt ein schlechtes Gewissen machte.

*

Während des munteren Geplauders ihrer Großmutter mit dem neuen Gast jagte in Julias Kopf ein Gedanke den anderen. Aber nicht nur das. In ihrem Herzen meldeten sich überdies die widersprüchlichsten Gefühle. Sie wusste nur eines: Leon Schubert war ihr höchst unwillkommen.

Danke, meine liebe Vera, schoss es ihr durch den Kopf, während Unmut gegen ihre beste Freundin, die Inhaberin des Friseursalons in Ruhweiler, in ihr aufstieg. Hatte Vera denn überhaupt kein Auge dafür, dass dieser Typ nicht in ihre Unterkunft passte? Wenn schon die ehemaligen, inzwischen älteren Stammgäste ausblieben, weil sie sich mehr Luxus wünschten, war dieser gut aussehende Sportwagenfahrer bei ihnen doch völlig fehl am Platz. Sie sah ihn eher in einem Hotel wie dem Traditionshotel Wiesler oder einem der modernen Hotelkomplexe mit Pool, Fitnessstudio, Sauna und Bar, wie es sie in den größeren Orten gab. Dass er im Schwarzwald Urlaub machen wollte, verwunderte sie ohnehin. Er passte viel eher nach Ibiza oder an die Côte d’´Azur, wo die Reichen und Schönen ihre Ferien verbrachten. Eines wusste sie jetzt schon: Spätestens ab morgen würde er sich langweilen und aus Unzufriedenheit übermorgen abreisen, was wiederum eine schlechte Werbung für ihre Pension bedeutete. Gut, sie würde ihm das beste Zimmer von allen geben. Das einzige, das über eine Dusche aus den siebziger Jahren und eine Toilette verfügte. Ihren Fernseher würde sie ihm auch zur Verfügung stellen. Auch ihren Internetstick, damit er im weltweiten Netz surfen konnte. Dass sich in seinem Koffer, der noch in seinem Sportwagen war, ein schicker Laptop befand, darauf hätte sie gewettet. Aber selbst dieser Service würde nicht über all die Unzulänglichkeiten des alten Schwarzwaldhauses hinwegtäuschen.

Und dann war da noch etwas, was sie störte: Leon Schubert versetzte sie in Unruhe. Nicht etwa als Pensionswirtin, nein, als Frau. Er besaß eine Ausstrahlung, die auf sie nicht ohne Wirkung blieb. Damit meinte sie nicht, dass er den Eindruck eines Siegers machte, eines Menschen, der auf der Sonnenseite des Lebens stand, ein Erfolgsmensch, wozu sie seinen Erfolg bei Frauen natürlich gleich mitzählte. All das hätte sie eher als unsympathisch empfunden, wenn da nicht seine Augen gewesen wären. Sie strahlten Wärme aus, eine positive Kraft und Intelligenz. Er trat ganz natürlich auf, hatte Humor. Testfahrer für Rennwagen? Passte das zu ihm? Nach eigener Aussage liebte er Risiken. Und sie? Sie dagegen liebte die Sicherheit, Ruhe, Harmonie und den Frieden.

»So, wir sind da«, hörte sie ihre Großmutter in ihre Gedanken hinein sagen. »Erschrecken Sie nicht. Im Regen sind alle Katzen grau«, fügte Hilde in ihrer burschikosen Art hinzu.

Julia räusperte sich. Sie hielt vor dem Stall an, an dessen Holzplatten der Wind zerrte. Die Geranien vor den niedrigen Fenstern sahen wie gerupft aus. Einer der Gartenstühle war umgekippt und ein Fensterladen hatte sich gelöst.

Einen besseren Eindruck könnte unsere Pension gar nicht vermitteln, sagte sie sich voller Ironie.

»Laufen Sie schon mal zum Haus«, rief ihre Großmutter Leon Schubert zu. »Julia und ich holen noch die Taschen aus dem Kofferraum.«

Ohne darauf etwas zu erwidern, stieg Leon Schubert aus, öffnete die Heckklappe des Jeeps, nahm die Tüten mit den neuen Vorhängen heraus, ließ den Regenschirm aufschnappen, der dort lag, und begleitete ihre Großmutter zur Tür.

Gute Manieren hatte er also, musste sich Julia eingestehen, ein wenig wider Willen. Noch mehr erstaunte sie jedoch, dass er mit dem Schirm wieder flugs zurückkam. »Hier, gehen Sie rein. Haben Sie einen Hammer und Nägel?«

Mit eingezogenem Kopf, als könnte er sich so besser vor dem peitschenden Regen schützen, zeigte er auf den losen Laden, die der Wind hin und her warf.

Sprachlos darüber, dass er sich als so hilfsbereit zeigte, nickte sie nur und zeigte auf den Stall. Dann lief sie los, um das Gewünschte zu holen. Als sie mit dem Werkzeug wiederkam, hatte der Sturm Leon Schubert inzwischen den Schirm aus der Hand geschlagen und ließ diesen wie einen Kreisel auf dem Pflaster tanzen. Triefend nass sah Leon dem Spiel zu und lachte.

»O Mann!«, rief er ihr zu. »Das nenne ich einen stürmischen Empfang.«

»So ist es manchmal bei uns. Stürmisch, wild und rau.«

Ein eindringlicher, ja ernster Blick aus diesen dunklen Männeraugen, dann folgte eine Antwort mit einer Stimme, die ihr unter die Haut ging: »Ich liebe die Natur. Auch genauso, wie sie jetzt ist. Stürmisch, wild und rau.«

So viel Leidenschaft schwang in seiner Stimme mit, so viel Feuer loderte in seinen Augen, so viel Spannkraft lag in seiner Haltung. Sollte sie sich in ihm getäuscht haben? War er weiter von dieser Glamourwelt der Rennställe entfernt, als sie annahm? Vielleicht.

»Ziehen Sie sich was Trockenes an, ich mach das hier«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Obwohl sie sich sonst nur ungern etwas vorschreiben ließ, war sie ihm in dieser Situation dankbar. Endlich einmal ein Mann, der anpackte. Und gerade von ihm hätte sie es nie erwartet.

»Sie sind auch völlig durchnässt«, sagte sie trotzdem noch.

»Haben Sie etwas zum Wechseln für mich? Vielleicht so einen hübschen Overall, wie Sie anhaben? Mein Koffer ist ja im Wagen.«

Das amüsierte Funkeln in seinen Augen ärgerte sie. Sie schluckte.

»Klar«, konterte sie dann. »Auch einen Schlabberpulli und Schafswollsocken. Natürlich alles im gleichen Farbton, damit es auch geschmackvoll aussieht.«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging hoch erhobenen Hauptes und betont langsam ins Haus.

Blödmann. Sollte sie hier etwa High Heels und ein kurzes Röckchen tragen? Ihr erster Eindruck war also doch der richtige gewesen: Er gehörte einer völlig anderen Welt an als sie. Und eine kleine Pension im hintersten Winkel von Ruhweiler war der völlig falsche Ort für ihn, wenn er gerade auch den hilfsbereiten Naturburschen spielte. Warum tat er das?

Sie nahm sich vor, ihm fortan mit einem gesunden Misstrauen zu begegnen.

*

O Mann!

Leon sah sich in dem Zimmer um. Mit viel gutem Willen konnte man hier den Charme der sechziger Jahre entdecken. Dabei war es das beste Zimmer von sieben, die Großmutter und Enkelin vermieteten. Kein Wunder, dass er der einzige Gast war, noch dazu bei diesem Wetter.

Er öffnete die Balkontür und atmete tief durch.

Die Luft war gut. Sehr gut. Sie roch nach Erde und Fichtennadeln, besser als jedes Aftershave. Der Zimmerpreis war fast geschenkt. Und gemütlich warm wurde es auch gerade. Die Heizung lief auf vollen Touren. Oma Winter musste sie, während er den Laden befestigt hatte, angeschaltet haben.

Leon sah an sich herunter, auf die kleine Pfütze neben seinen Slippers. Eine warme Dusche, trockene Kleidung, etwas Leckeres essen, zwei Glas Wein und danach schlafen. Das waren seine Wünsche für den heutigen Tag. Morgen würde er weitersehen.

Im Badezimmer warf er einen Blick durchs Fenster. Im gleichen Moment trat Julia Winter aus dem Stall. Sie blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken, hielt ihr fein geschnittenes Gesicht dem Regen entgegen. Und dann tat sie etwas, was ihn faszinierte. Sie zog ihr Tuch vom Kopf, und eine Flut hellblonder Haare ergoss sich über ihren Rücken bis zur Taille. So verweilte sie ein paar Sekunden, ganz in sich selbst versunken. Sekunden, in denen sein Herz schneller schlug. Welch eine Frau! Er verbot sich, sich den weiten Overall und die derben Gummistiefel wegzudenken, aber er war sich sicher, dass unter diesen Sachen ein perfekter Körper steckte. Julia Winter war eine Naturschönheit. Sie passte hierhin. Sie war ganz anders als die vielen jungen Frauen, die er kennengelernt, und die ihn so ermüdet hatten. Eine hatte der anderen geglichen, nur unterschiedliche Haarfarben hatten sie gehabt. Und sie hatten alle das Gleiche gewollt: Einen gut aussehenden erfolgreichen Mann mit viel Geld.

Während er sich daran erinnerte, stand Julia immer noch bewegungslos wie eine Statue vor dem Stall und hieß den Regen auf ihrer Haut willkommen. Mit beiden Händen strich sie sich jetzt langsam übers Gesicht, die Stirn, übers Haar hinunter bis zu den Schultern, über die Brusttasche des Overalls und ließ sie schließlich in der Taille liegen. So verweilte sie, immer noch den Kopf im Nacken, während der Regen an ihr herunterlief.

In diesem Augenblick wusste er, dass sich diese Szene, eine für ihn sehr erotische Szene, für immer in sein Gedächtnis einprägen würde, wie ein kunstvolles Foto. Und gleichzeitig fragte er sich, ob er etwa auf dem Weg war, sich in diese Frau zu verlieben.

*

Nachdem sich Julia einen trockenen Arbeitsoverall angezogenen hatte, unter dem sie ein altes kariertes, viel zu weites Männerhemd trug, machte sie sich daran, in der Stube den Tisch zu decken. Sie nahm das beste Porzellan, das beste Tuch, eine Stoffserviette, Kerzen. Wenn Leon Schubert schon an ihrer Kleidung etwas auszusetzen hatte, sollte er wenigstens nicht an der Tischkultur der Pension Winter Anstoß nehmen müssen.

Zum ersten Mal an diesem Tag war sie dem Wetter dankbar. Am Spätnachmittag war es schon so dämmrig, dass sie die Lampen anknipsen musste, die ein weiches Licht verströmten und die vereinzelten Flecken auf dem Putz unsichtbar machten. Im Kamin knisterte ein behagliches Feuer, und aus dem langen Flur, der zur Küche führte, strömten schon die köstlichsten Düfte in die Gaststube.

Zufrieden mit ihrem Werk sah sich Julia um. Da hörte sie Schritte im Flur. Ihr Herz wollte schon seinen Rhythmus ändern, als sie diese als die ihrer Großmutter erkannte.

»Das sieht doch gar nicht so übel aus«, lobte Hilde ihre Enkelin mit anerkennendem Nicken. Dann verfinsterte sich ihr Blick. »Aber so willst du doch nicht etwa Herrn Schubert das Essen servieren?«

Julia drückte den Rücken durch. »Ich werde kein Essen servieren. Ich dachte, das machst du besser. Du hast dich mit unserem neuen Gast ja schon bestens unterhalten.«

Ihre Großmutter lachte belustigt auf, schüttelte dann den Kopf. »Kommt gar nicht infrage. Ich muss in der Küche bleiben. Zieh dir was Hübsches an, und dann unterhältst du ihn ein bisschen während des Essens. So gehört es sich.«

*

Leon stieg die ausgetretenen Holzstufen hinunter, die bei jedem seiner Schritte knarrten. Im Flur angekommen, fiel sein Blick auf die kunstvollen Stiche, die an den weiß verputzten Wänden hingen. Schöne Stücke, wie er mit Kennerblick erkannte. Auch die alte Kommode, über der ein Barockspiegel hing. Kein Kitsch. Nein, alles echt. Er ging weiter. ›Gaststube‹ stand an einer der geschnitzten Türen, die er dann öffnete.

Wärme empfing ihn, die heimelige Wärme eines Kaminfeuers. Hier standen sieben Tische, ziemlich eng beieinander. Wenn man sich sympathisch war, konnte dies durchaus verbindend sein. Einer von ihnen war eingedeckt. Für eine Person. Für ihn.

Er musste lächeln. Auf den ersten Blick erkannte er das Bemühen der beiden Frauen, das ihn seltsam berührte. Fast perfekt, für eine so kleine Pension am Ende der Welt. In der Ecke des Zimmers stand ein Bauernschrank. Restauriert war er bestimmt eine Menge wert. Schließlich lenkte ihn der köstliche Essensduft von seinen Gedanken ab. Die Tür hinter ihm öffnete sich. Julia kam herein, im grünen Overall, kariertem Hemd und Holzschuhen.

»Im Partnerlook?«, fragte er und lächelte sie arglos an.

»Damit Sie sich nicht als Außenseiter fühlen«, lautete ihre Antwort, mit der sie an ihm vorbeiging und einen Beistelltisch aus der Ecke an seinen Tisch heranzog.

Sie hatte ihr Haar getrocknet und es zum Knoten im Nacken zusammengesteckt. Was an einer anderen jungen Frau hausbacken gewirkt hätte, sah bei ihr edel aus. Nur noch Perlenohrringe und ein schwarzes Kleid, dann hätte sie ihn zu einem dieser schrecklichen Events begleiten können, die in Düsseldorf wieder auf ihn warteten.

»Was trinken Sie zum Essen? Wein, Bier, Wasser, Saft?«

»Gern Wein, falls Sie haben«, erwiderte er und setzte sich, ein wenig ernüchtert, nachdem sein Scherz nicht gerade auf fruchtbaren Boden gefallen war.

»Glottertaler?« Sie sah ihn an. Ernst und offen.

Diese Augen! Er wollte ihren Blick festhalten, doch sie wich ihm aus.

»Glottertaler ist okay.«

Wie ein Oberkellner im feinsten Restaurant legte sie ein weißes Tuch korrekt über den rechten Arm und sagte: »Salat ist der erste Gang. Dann gibt es eine Fenchelsuppe, danach Forelle Müllerin, und zum Nachtisch können Sie wählen zwischen einem Stück Schwarzwälder Kirsch oder Bayerischer Creme.«

Er hob die Brauen. »Dafür, dass ich der einzige Gast bin, sind Sie aber gut sortiert.«

Sein Erstaunen rief ein Lächeln auf ihr Gesicht, das ihm wie ein heller warmer Sonnenstrahl vorkam.

»Salat haben wir im Garten, Fenchel in der Tiefkühltruhe, Forellen im eigenen Teich und die Schwarzwälderkirschtorte hat meine Oma gestern frisch gemacht, weil wir Besuch hatten.«

Er sah zu ihr hoch.

Aufrecht stand sie vor ihm, wie eine stolze Kriegerin. Dieses Mal hielt sie seinem Blick stand.

»Wissen Sie was?«, fragte er, während eine warme Woge sein Inneres überflutete. »Ich bin ein Glückspilz.«

Sie sagte nichts darauf, erwiderte nur seinen Blick. Mit einem Lächeln. Er sah in diese Märchenaugen und fühlte sich von einem überwältigenden Drang ergriffen aufzustehen, sie in die Arme zu ziehen und zu küssen. Hatte er den Verstand verloren? Auf Anhieb hatte ihn ihre Schönheit fasziniert. Aber in Wirklichkeit war es ihre Ausstrahlung, die sie so anziehend machte, ihre Art. Sie war nicht nur äußerlich schön. Dass sie ihre Großmutter unterstützte, dass sie um das Überleben dieser Pension kämpfte, sich bis jetzt nicht hatte unterkriegen lassen, das imponierte ihm.

Es ist ein Zauber, dachte er, während er in ihr Gesicht sah und gleichermaßen verblüfft wie besorgt erkannte, dass er in diesem Augenblick tatsächlich richtig glücklich war.

Julia räusperte sich, senkte den Kopf und als sie ihn wieder hob, schenkte sie ihm ein verbindliches Lächeln und sagte: »Meine Großmutter wird den Wein sofort bringen.«

*

Was war bloß los mit ihr? In ihrer Lehre war sie dafür bekannt gewesen, mit jedem Gast umgehen zu können. Warum nicht mit Leon Schubert?

Julia verdrängte den kritischen Blick ihrer Großmutter, nachdem sie ihr mitgeteilt hatte, dass sie sich unwohl fühlen und in ihr Apartment hinübergehen würde.

Hier saß sie nun, blickte zum Haus hinüber. Die Stube war erleuchtet, aus dem Schornstein stieg Rauch. Durch das niedrige Fenster sah sie ihre Großmutter mit Leon Schubert lachen.

Mit einem Seufzer griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer ihrer Freundin. Ohne ein Wort der Begrüßung sagte sie: »Der Italiener ist bei uns.« Sie hörte selbst, wie vorwurfsvoll sie klang.

»Welcher Italiener?«, fragte Vera erstaunt.

»Der, der bei dir heute Nachmittag ein Shampoo gekauft hat und dem du unsere Pension empfohlen hast.«

Stille. Dann Veras empört klingende Stimme: »Moment mal. Ich kann mich erinnern, dass so ein toller Typ hier im Salon war, aber ich habe ihm doch nicht eure Pension empfohlen.«

Julia stutzte. »Hat er aber gesagt.«

»Dann hat er was Falsches gesagt«, erwiderte Vera ruhig und eindringlich klingend. »Vielleicht hat er auch noch irgendwo anders im Dorf eingekauft und was verwechselt.«

Julia knabberte an ihrer Unterlippe.

Das mochte eine Erklärung sein.

»Na ja, auf alle Fälle passt er nicht hierher«, fuhr sie fort. »Er kann nur schlechte Reklame für uns machen.«

»Apropos Reklame«, sagte ihre Freundin. »Hast du die Sache auf den Weg gebracht?«

Julia wusste genau, was Vera meinte. »Schon vor fünf Tagen.«

»Und?«

»Ich habe noch nichts gehört. Keine Mail, kein Brief, kein Anruf.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Vera empört. »Wir haben so tolle Bilder von eurem Haus und der Umgebung gemacht, und der Text war auch gut. Genau richtig, um im Massentourismus eine Nische zu besetzen.«

»Vielleicht habe ich bei den falschen Reiseveranstaltern angefragt.«

»Bei denen, die Hütten vermieten, würdet ihr auch fehl am Platz sein. Eure Stärke ist doch die außergewöhnliche Lage, die familiäre Betreuung. Oma Winter bietet sogar einen Kochkurs an«, ereiferte sich ihre Freundin im Brustton der Überzeugung. »Reiten, Angeln, Kneippsche Anwendungen in der Steinache, die an eurem Haus vorbeiplätschert, nur ein kleiner intimer Kreis von Gästen, Singles sind besonders willkommen … Hast du das alles in dein Angebot reingepackt?«

Julia seufzte. »Ja, habe ich.«

»Du musst Geduld haben. Diese Leute brauchen ja auch ein paar Tage zur Bearbeitung. Aber jetzt noch mal zu dem tollen Typen. Wie lange bleibt er denn?«

»Er sagte, eine Woche, aber wenn du mich fragst, sehe ich ihn schon morgen wieder abfahren.«

»Dann sollte ich morgen früh vielleicht mal vorbeikommen.« Vera lachte ihr rauchiges Lachen.

»Kannst du machen«, erwiderte Julia.

Sie kannte ihre Freundin. Ein Flirt war Vera stets willkommen. Normalerweise amüsierte sie sich darüber, wenn die Friseurin den Männern den Kopf verdrehte. Im Fall von Leon Schubert jedoch missfiel ihr diese Vorstellung.

Ich bin doch wohl nicht eifersüchtig?, fragte sie sich erschrocken, während Vera jetzt am anderen Ende der Leitung über die Neuigkeiten aus dem Ort plauderte.

*

Am nächsten Morgen machten die Ruhweiler große Augen. Entgegen der Wettervorhersage wurden sie von der Sonne begrüßt, die für diesen Tag schönes Wetter und gute Laune versprach. Julia und Hilde atmeten auf. Ebenso Leon Schubert. Nach einem hervorragendem Frühstück und einem lustigen Geplauder mit Oma Hilde trat er aus der Tür ins Freie.

Von dem Sturm des vergangenen Tages war nichts mehr zu sehen. Alles war aufgeräumt, das Pflaster gefegt, auf den Gartentischen lagen adrette Tischdecken, die Geranien auf den Fensterbänken versprühten ihre Farbe. Die beiden Frauen mussten Zauberhände haben.

Er lächelte.

Welch eine Idylle! Die Sonne streute einen weichen Goldglanz auf Wiesen und Wälder. Regentropfen, funkelten und blitzten wie Tausende von Diamanten. Im Spaliergeäst neben der Haustür schnäbelte zärtlich ein Starenpärchen. Sommerduft wehte ihm um die Nase, süß und mild. Wunderbar. Es roch nach Glück. Plötzlich erfüllte ihn ein Gefühl von Freude, Friede und Behaglichkeit.

Wo war Julia? Er hatte sie beim Frühstück nicht gesehen. Vielleicht bei den Kühen?

Er trat durch die Stalltür und sah einen hochgewachsenen Mann vor sich, der sich gerade mit einem Heuballen abquälte. Er trug einen Overall und einen Hut und stand ihm mit dem Rücken gegenüber. Der Knecht? Oder etwa Julias Freund? Verlobter? Ehemann?

Leon schluckte.

Ganz selbstverständlich war er bisher davon ausgegangen, dass die schöne junge Frau ungebunden war. Wie kam er nur dazu? Julia war ganz bestimmt schon in festen Händen. Diese Erkenntnis fiel ihm jetzt wie Schuppen von den Augen.

»Hey!«, rief er den Mann an. »Ist Julia Winter hier irgendwo?«

Der Angesprochene drehte sich um, nahm den Hut ab, und eine Flut hellblonder Haare fiel aus ihm heraus.

Julia!

Fasziniert sah er sie an. Die derbe männliche Kleidung hob ihre Weiblichkeit nur noch deutlicher hervor.

Sie lächelte. »Gut geschlafen?«

»Fantastisch. Das Kirschwasser, das Ihre Großmutter gestern Abend noch mit mir getrunken hat, war ein sehr bekömmliches Schlafmittel.«

Julia strich sich mit einer anmutigen Geste eine Strähne aus der Stirn.

»Ich habe mir Gedanken gemacht, wie Sie den Tag verbringen könnten, falls Sie nicht schon eigene Pläne haben«, fügte sie rasch hinzu.

»Habe ich nicht, nur den, dass ich meinen Wagen gern hier hätte.«

»Kein Problem, ich fahre Sie hin.«

»Ich habe aber keinen Ersatzreifen. Kann man den hier irgendwo kaufen?«

»Klar, in Freiburg.«

»Fahren Sie mich hin?«

Er bemerkte, dass sie zögerte.

»Natürlich bezahle ich das Benzin«, sagte er rasch.

»Darum geht es nicht«, erwiderte sie fast mürrisch. »Ich habe heute nur wenig Zeit. Aber Sie können meinen Jeep haben.«

Er nickte. »Falls Ihnen das nichts ausmacht, nehme ich Ihr Angebot gern an.« Er fand ihren Vorschlag sehr großzügig.

»Bei uns ist der Gast König«, sagte sie nun mit schelmischem Blick, der sie noch liebenswerter machte.

»Den Eindruck habe ich auch. Welche Pläne haben Sie denn für mich?«, erkundigte er sich jetzt neugierig.

Sie trat auf ihn zu. Obwohl sie nicht klein war, musste sie zu ihm aufschauen. Ihr Blick war ernst, voller Ehrgeiz.

»Falls Sie reiten wollen, könnte ich für Sie einen Ausritt beim Nachbarbauern buchen«, begann sie. Dabei hob sie den Daumen, als Nächstes den Zeigefinger. »Falls Sie angeln wollen, haben wir für Sie eine komplette Angelausrüstung im Haus. Inklusiv hohe Stiefel. Drittens …« Sie lächelte ihn an. »Meine Oma ist eine Anhängerin von Kneippschen Anwendungen. Sie könnte Sie einweisen. Viertens, Wanderwege gibt es ja genug, die können Sie selbst entdecken und Ausflüge …« Ein Hupen machte ihrem Redefluss ein Ende.

Im nächsten Moment kam ein Auto auf den Hof gefahren. Es hielt vor dem Stall an, eine junge Frau in Rock und Pumps stieg aus.

»Hallo, ich wollte nur mal auf einen Kaffee vorbeischauen!«, rief sie winkend.

»Gehört diese rothaarige Schöne auch zu Ihrem Unterhaltungsprogramm?«, fragte Leon blinzelnd.

»Das ist meine Freundin Vera«, stellte Julia die flotte Cabriofahrerin vor. »Sie kennen sie ja bereits«, fügte sie trocken hinzu.

Vera reichte ihm die manikürte Hand.

»Friseursalon«, sagte sie mit rauchig klingender Stimme und einem verführerischen Blick aus grünen Augen.

»Stimmt. Shampoo«, erwiderte er mit freundlichem Lächeln.

Diese junge Dame hatte gestern mit ihm flirten wollen. Er sah Julia an. »Wenn Sie beide Kaffeetrinken wollen, könnte ich doch schon einmal den Heuballen irgendwo hinbringen. Oder was soll damit passieren?«

Julia wirkte verblüfft. »Ich …« Sie räusperte sich. »Er muss auf den Trecker dort hinten. Aber nicht nur er, noch vier weitere.«

»Okay. Kein Problem. Das sehe ich als kleine Fitnessübung an. Den beiden Damen noch viel Spaß.« Vor der Friseurin, die ihn mit genau dem hungrigen Blick ansah, den er von so vielen anderen Frauen kannte, legte er eine Verbeugung hin, was ihn innerlich amüsierte. Dann ­betrat er höchst vergnügt und zufrieden mit seiner Reaktion den Stall. Vera hatte er deutlich gemacht, dass er nicht mit ihr flirten wollte, und Julia, dass er ein Mann war, der durchaus auch anpacken konnte.

»Ein toller Typ«, sagte Vera mit versonnenem Blick aus dem Stubenfenster.

»Hm.« Julia nippte am Kaffee.

»Finde ich eigentlich komisch, dass jemand wie er hier Urlaub macht.«

»Hm.«

Vera sah sie an. »Der ist bestimmt gebunden. Verheiratet, schätze ich, und braucht jetzt eine Auszeit von Ehe und Familie. Vielleicht will er darüber nachdenken, wie er seine Geliebte loswerden kann.«

Julia zog die Brauen zusammen.

Darauf war sie noch gar nicht gekommen. Aber Vera hatte vielleicht sogar recht. Ein Mann wie Leon Schubert lief nicht mehr allein durch die Welt. Vermutlich hatte er eine Frau in Düsseldorf und hatte wegen ihr Italien den Rücken gekehrt. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen?

»Für so was habe ich einen Blick«, fuhr ihre Freundin fort, während sie wieder nach draußen blickte, wo Leon Schubert gerade die Seilwinde betätigte, um den Strohballen auf den Anhänger zu hieven. »Er flirtet nicht. Was ja nur für ihn spricht. Dafür, dass er seiner Partnerin treu ist.«

Julia schluckte.

»Ist ja auch egal«, erwiderte sie schulterzuckend, bevor sie einen Schluck Kaffee trank.

Dann hörte sie Vera mit nur einem Ohr zu, die nun von einer Kundin erzählte, welche sie schon am frühen Morgen genervt hatte. Dabei stahl sich der Blick ihrer Freundin immer wieder durchs Fenster. Doch Leon Schubert ließ sich nicht mehr sehen. Ob er die Lust schon verloren hat?, fragte sie sich. Aber warum hielt er sich dann noch im Stall auf? Bald spürte sie, wie sie unruhig wurde. Ob ihm etwas passiert war? Diese Sorge begann, immer stärker an ihr zu nagen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf.

»Ich muss mal sehen, was unser Gast im Stall macht.«

Vera seufzte. »Und ich muss mal wieder ins Geschäft. Meine nächste Kundin kommt gleich.«

Als die beiden jungen Frauen vor das Haus traten, hörten sie ein Geräusch. Ein heiseres Rufen. Da rannte Julia los.

*

Hinter der Stalltür hing Heustaub in der Luft, wie eine Wand. Er ließ Julia zurückprallen, machte ihr das Atmen fast unmöglich. Sie wedelte mit der Hand. Ihre Augen versuchten, das staubige Innere zu durchdringen. Von irgendwo klang ein Husten an ihr Ohr.

»Herr Schubert?«

»Hier.«

Nur undeutlich vernahm sie Leons Stimme. Dann wieder ein Husten.

Die Heuballen! Dieser Gedanke zuckte Julia wie ein Blitz durch den Kopf. So konnte es nur sein. Einer oder mehrere der bis unters Dach aufgeschichteten Heuballen musste heruntergefallen sein. Hoffentlich nicht auf Leon Schubert.

»Wo sind Sie?!«, rief sie mit einer Stimme, aus der ihre Panik herauszuhören war.

»Hier hinten.« Wieder ein Husten.

Julia wusste, wo ›hier hinten‹ war. Sie ging weiter. Ihre Schritte wirbelten noch mehr Staub auf. Sie musste ebenfalls husten. Sie hörte ein Keuchen, ein Geräusch, das wie Brechreiz klang. Wahrscheinlich war einer der Ballen auseinandergefallen und das Heu hatte sich über ihren Gast ausgebreitet.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, rief sie ihm jetzt zu. »Ich bin gleich bei Ihnen.«

Sie kämpfte sich durch den Staub. Dann sah sie Leon auf dem Boden liegen, auf dem Rücken, etwa ein Meter von den heruntergefallenen Heuballen entfernt. Er war verletzt. Dessen war sie sich sicher. Und seine Lungen hatten viel zu viel Staub eingeatmet.

»Was ist?«, rief Vera vom Stalltor zu ihr herüber.

»Ruf Dr. Brunner an. Er soll sofort kommen. Ein Unfall.«

*

Leon schnappte nach Luft. Doch mit jedem Atemzug füllten sich seine Lungen nur noch mehr mit dem immer noch stobenden Heustaub und den kleinen Strohteilchen. In letzter Sekunde hatte er der Wucht der herunterfallenden Ballen noch ausweichen können. Er war rückwärts zur Seite gesprungen, dabei jedoch unglücklich mit dem Rücken auf dem Steinboden aufgekommen. Ein schneidender Schmerz im Steißbein hinderte ihn, aus der Staubwolke herauszukriechen oder gar aufzustehen. Jetzt hörte er Julias Stimme. Und obwohl er würgte und hustete und glaubte, ersticken zu müssen, war da tief in ihm die Dankbarkeit, diesen Unfall überlebt zu haben.

»Bleiben Sie liegen«, sagte die junge Frau nun dicht neben ihm.

Es raschelte, und da entdeckte er auch schon ihr Gesicht über sich. Er wollte etwas sagen, sie beruhigen, doch er brachte nur ein Japsen hervor. Julias Hand berührte seine Wange. Mit der anderen hob sie vorsichtig seinen Kopf an.

»Tut das weh?« Sorge stand in ihren Märchenaugen. Dann verschwamm ihr Gesicht wieder vor seinen Augen. Ein neuer Hustenanfall überfiel ihn. Tränen traten ihm aus den Augen.

»Können Sie sich aufrichten?«, fragte ihre sanfte Stimme.

Er versuchte, sich aus der liegenden Position hinzusetzen. Ihre Hand führte dabei behutsam seinen Rücken. Dann wieder ein stechender Schmerz. Er fiel zurück.

»Atmen Sie.« Sie klang flehend.

Er atmete und hustete wieder. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, neigte ihn zur Seite und hielt ihn.

»Scheuen Sie sich nicht, alles auszuspucken«, sagte sie. »Der Staub muss raus.«

Immer wieder schüttelte ihn der Husten, sein Brustkorb schien auseinanderzubrechen, seine Lungen zu platzen. Das einzig Wohltuende war, dass Julia seinen Oberkörper, den er unter Schmerzen in Schräglage hatte bringen können, umfangen hielt und dass ihre Hand immer wieder über sein Haar streichelte. Wie einem Kind sprach sie ihm zu, leise und beruhigend. Ihre Worte konnte er nicht verstehen. Und er hätte auch nicht sagen können, wie lange sie beide in dieser Position schon verharrten. Sie neben ihm auf den Knien hockend, er halb sitzend und halb liegend. Dann kam ein Auto, eine Männerstimme, tief und sympathisch klingend, wurde laut, sowie zwei Frauenstimmen. Die eine gehörte der Friseurin, die andere Oma Winter.

»Julia?«, rief der Mann.

»Dr. Brunner!« Julia klang erleichtert. »Hier sind wir.«

Da sah er durch den Staubnebel, der immer noch im Stall hing, einen großen Mann auf sich zukommen. Das musste der Arzt sein.

*

Dr. Matthias Brunner untersuchte seinen Patienten am Unfallort. Auch ihm drang der Staub in die Atemwege, was ihn immer wieder husten ließ. Doch zunächst wollte er die Lage des jungen Mannes nicht verändern. Bei einer möglichen Rückgratverletzung hätte dies schlimmstenfalls zur Durchtrennung von Nerven führen können und damit zu Lähmungserscheinungen. Ganz vorsichtig ging er ans Werk, tastete den Rücken ab, prüfte die Reaktionsfähigkeit der Gliedmaßen.

»Ich kann Ihnen Entwarnung geben«, sagte er dann. »Ich tippe auf eine Verletzung des Steißbeins. Ihr Rücken scheint aber unverletzt zu sein, was ich jedoch noch durch eine Computertomografie absichern möchte. Ich ziehe Sie jetzt erst einmal aus dieser schrecklichen Luft heraus.«

Mit beiden Händen griff er unter die Achseln seines Patienten und schleifte ihn über den Boden ins Freie. Dort half er ihm, sich aufzurichten, was dem jungen Mann nur mit schmerzverzerrter Miene und mit seiner Hilfe gelang.

»Verdammt, das Sitzen … Es geht nicht«, sagte sein Patient gepresst.

Das ließ eindeutig auf eine Verletzung des Steißbeins schließen.

»Atmen Sie erst einmal gut durch«, riet er dem attraktiven Dunkelhaarigen, den er auf Mitte zwanzig schätzte. »Und husten Sie ab. Das Zeug muss raus.«

Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Julia jetzt rasch auf ihre Freundin zuging und sie verabschiedete. Nachdem die Friseurin gefahren war, zog sie sich mit ihrer Großmutter ins Haus zurück. Er dankte den beiden Frauen insgeheim für deren Diskretion, für die sie im Ruhweiler Tal auch bekannt waren.

»Legen Sie sich bitte auf die Seite. Ich muss Ihr Steißbein untersuchen«, bat er den jungen Mann.

Da er an der Stelle, unter der das Steißbein saß, kein Hämatom entdeckte, schloss er einen Bruch aus.

»Wenn Sie Glück haben, handelt es sich nur um eine Prellung, die jedoch gleichermaßen schmerzhaft sein kann. Ich gebe Ihnen jetzt eine schmerzstillende Spritze, dann beißen Sie die Zähne zusammen und versuchen, sich mit meiner Hilfe aufzurichten. Ich muss Sie röntgen, und das geht nur in meiner Praxis.«

»O Mann, das war heftig«, murmelte sein Patient sichtlich erschöpft, als er schließlich auf den Beinen stand. »Übrigens, Leon Schubert …« Erneut musste der junge Mann husten.

»Brunner«, erwiderte Matthias, klopfte ihm leicht auf die Schulter und sagte: «Nachdem wir die Sache mit dem Steiß abgeklärt haben, zeige ich Ihnen Atemübungen, die Ihnen die Situation erleichtern werden und die Sie in den nächsten Tagen unbedingt machen sollten.«

Die schwarzen Augen seines Gegenübers, die vom Husten und Würgen ziemlich mitgenommen ausschauten, sahen ihn gequält an. Dennoch zeigte der junge Mann einen Sinn für Humor, als er heiser und stockend sagte: »Gestern Regen, heute Strohballen, was kann denn hier noch alles vom Himmel kommen?«

Da sah Matthias Brunner Julia vor dem Stubenfenster stehen. Sie machte sich natürlich Sorgen. Ganz spontan erwiderte er bei ihrem Anblick: »Blonde Engel, wenn man Glück hat.«

*

Ein blonder Engel, dachte Leon, als die Praxistür aufging und Julia Winter herein kam.

»Hallo, Julia«, begrüßte die große kräftige Sprechstundenhilfe die junge Frau herzlich. »Du kannst Herrn Winter wieder mitnehmen. Er hält sich sehr wacker für das, was er erlebt hat.«

Julia atmete auf, das sah er. Dann kam sie auf ihn zu. Dieses Mal in einer weißen Jeans, die ihre perfekte Figur wunderbar zur Geltung brachte, und einem schlichten weißen Shirt. Das Haar trug sie offen, was ihr tatsächlich etwas Engelhaftes verlieh.

»Schwester Gertrud hat mich angerufen und gesagt, ich könnte Sie abholen«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln, das allein schon alle Wunden heilte.

Obwohl sein Hals schmerzte, als hätte dort ein Feuer gewütet, erwiderte er: »Ich habe Glück gehabt. Es ist nur eine Steißbeinprellung.« Er stützte sich auf den Stuhllehnen ab und hievte sich hoch. »In den nächsten Tagen werde ich nur auf einem solchen Ring sitzen können.« Mit schiefem Lächeln zeigte er auf den Sitzring, der auf dem Stuhl lag.