Das Buch
Alle hier versammelten Autorinnen und Autoren haben eines gemein: Sie leben in Krisengebieten oder mussten ihre Heimat verlassen. Nun wollen sie vor allem eins: weiterschreiben. In ihren Gedichten und Prosatexten geht es um Erinnerung und Vergegenwärtigung, Häuser und Wolfsherzen, Verlust und Identität, Liebe und Begehren, Kühlschränke und Küchentische, Hoffnungen und Enttäuschungen. Alle Texte bieten berührende Einblicke in die Biografien der Autorinnen und Autoren und ihre Vorstellungswelten. Dabei arbeiten die Autorinnen und Autoren in literarischen Tandems mit renommierten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren zusammen, um den künstlerischen Austausch zu fördern und neue, gemeinsame Perspektiven zu schaffen. Die daraus entstandene Anthologie zeigt nicht nur die Bedeutung von Literatur, sondern vor allem von Begegnung und Dialog.
»Literatur ist eine Heimat, die umso wichtiger wird, wenn andere Heimaten verschwinden oder zerstört werden. Wer sie als seinen oder ihren Ort gefunden hat, weiß, wie stark, mutig, umsichtig und traurig wir in ihr und durch sie sein können. Sich dort zu begegnen, scheint mir eine der besten Möglichkeiten, um miteinander zu sprechen und Gehör zu schaffen.«
Nora Bossong
Die Autoren
Lina Muzur wurde 1980 in Sarajevo (Bosnien Herzegowina) geboren. Sie ist stellvertretende Verlagsleiterin von Hanser Berlin und Teil des Redaktionskollektivs 10nach8 bei Zeit Online, wo sie selbst Kolumnen schreibt.
Annika Reich wurde 1973 in München geboren und lebt in Berlin. Sie schreibt Romane und Kinderbücher, ist Kolumnistin von 10nach8 bei Zeit Online und künstlerische Leiterin von WIR MACHEN DAS und Weiter Schreiben.
Herausgegeben von
Annika Reich und Lina Muzur

Weiter Schreiben –
Literarische Begegnungen
mit Autorinnen und Autoren
aus Krisengebieten

Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1805-9
© 2018 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Diese Anthologie ist ein Projekt von WIR MACHEN DAS in Kooperation mit dem Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung und wurde durch den Hauptstadtkulturfonds, die Schering Stiftung und das Goethe-Institut gefördert. Wir danken unseren Förderern.





Vorwort
2017 haben wir Autorinnen und Autoren aus Krisengebieten gefragt, was sie sich wünschen. Die Antwort, die wir am häufigsten bekommen haben, lautete: »Weiterschreiben.« Weiterschreiben zu können heißt aber auch, weiter gelesen zu werden. Denn das Schreiben und das Gelesenwerden gehören zusammen. Man schreibt nicht für sich, man schreibt aus sich heraus. Für Autorinnen und Autoren ist es elementar, dass der Prozess des Schreibens nicht abbricht. Schreiben ist nicht nur eine Kunst, es ist auch eine Lebensform, eine Art, die Welt wahrzunehmen, sie sich begreiflich zu machen und sich dadurch in Beziehung zu setzen mit ihr. Das gilt für Autorinnen und Autoren aus Krisengebieten in besonderem Maße. Für sie ist der Schreibprozess durch die politische Situation nicht nur unterbrochen, sondern das Schreiben ist für einige von ihnen sogar lebensgefährlich geworden. Mussten sie ihre Heimat verlassen, bricht zudem oft der eigene Sprachraum weg. Dann ist es umso wichtiger, mit Übersetzungen eine Brücke in den neuen Sprachraum hinein zu bauen.
Weiter Schreiben hat für uns aber auch noch eine zweite Bedeutung: Denn es beinhaltet nicht nur das zeitliche Kontinuum, sondern auch eine räumliche Ausdehnung, eine Erweiterung der Perspektive. Allzu oft fehlen die Stimmen von Menschen, die hierher geflohen sind, in der öffentlichen Debatte, meist wird über sie gesprochen und nicht mit ihnen. Die Autorinnen und Autoren, die hier versammelt sind, lassen das nicht zu. Sie ergreifen selbst das Wort und erweitern so die durch den dominanten medialen Diskurs geprägten Vorstellungswelten. Ihre Texte vertiefen den transkulturellen Dialog und durchkreuzen so Stereotype und Lesegewohnheiten. Der Brückenschlag geht also in beide Richtungen, denn auch die meisten Deutschen bedürfen eines Zugangs zu arabischen Lebensräumen und kulturellen Traditionen; die meisten von uns wissen kaum etwas über arabischsprachige Literatur, und darüber, wie der Alltag in Krisen- und Kriegsgebieten sich gestaltet, wissen wir meist noch viel weniger. »Wenn wir mehr wüssten von dem, was andere wissen, und wenn wir dieses Wissen in gemeinsam erzählten Geschichten auch anderen zur Verfügung stellen könnten, dann würde – vielleicht – hier und dort das Wissen die Empathie wecken und die Empathie das Handeln, das Handeln würde aber das Wissen nicht unnütz werden lassen«, schrieb Saša Stanišić dazu.
Mit Weiter Schreiben sind wir also dem Wunsch der Autorinnen und Autoren gefolgt und haben ein Portal für Literatur aus Krisengebieten eröffnet, das ein Weiterschreiben und ein Weiter-gelesen-Werden ermöglicht. Seit Mai 2017 veröffentlichen wir jede Woche einen Text in Originalsprache und auf Deutsch auf unserer Website www.weiterschreiben.jetzt. Die Texte, die hier in der Anthologie versammelt sind, stellen eine Auswahl aus diesen wöchentlichen Publikationen dar. Jeder dieser Texte ist von geflüchteten Künstlerinnen und Künstlern illustriert. Einige dieser Zeichnungen, Collagen und Fotografien sind eigens für die Texte entstanden.
Wir haben es den Autorinnen und Autoren freigestellt, über welche Themen sie schreiben. Es sind viele Texte über Krieg, Vertreibung und Flucht entstanden, die auf sehr unterschiedliche Arten vom Grauen oder eben gerade nicht vom Grauen erzählen, aber so geschrieben sind, dass es zwischen den Zeilen spürbar wird. Uns sind aber auch andere Texte geschickt worden: eine erotische Liebeserklärung von einer Frau an eine Frau, Porträts von deutschen Dichterinnen und Dichtern, ein Brief an Heinrich Böll, Texte über Gartenherzen, Kühlschränke und Wäscheleinen und über den Rotlichtbezirk in Amsterdam. Unsere Autorinnen und Autoren kommen aus Syrien, dem Irak, dem Jemen und aus Afghanistan. Wir veröffentlichen auch Roma- und Sinti-Autorinnen und Autoren, die in Deutschland, Österreich und Ungarn leben, weil Krisengebiete nicht immer woanders sind, sondern für manche Menschen mitten in Europa.
Damit die Autorinnen und Autoren einen Zugang zum deutschen Literaturbetrieb bekommen, haben wir sie mit renommierten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren zusammengebracht. Uns war die Herausforderung einer solchen Zusammenarbeit bewusst, auch konnten wir vorher nicht wissen, wie genau sich diese einzelnen Tandems gestalten würden. Es gab Sprachbarrieren zu überwinden, manche Tandempartner mussten mit Übersetzerinnen und Übersetzern zusammenarbeiten, andere können nur per Skype oder E-Mail miteinander kommunizieren, weil sie nicht zur selben Zeit am selben Ort sein können.
Alle der hier teilnehmenden deutschsprachigen Autorinnen und Autoren haben innerhalb von wenigen Tagen ihre Teilnahme an unserem Projekt zugesagt. Auf die Frage nach dem Warum schrieb Martin Kordić: »Sprachen, Grenzen, Dokumente. Das alles engt ein, bedrängt, schließt aus. In diese Mauern müssen Löcher geklopft werden, durch diese Löcher müssen Geschichten erzählt und Hände gereicht werden.« Ulla Lenze schrieb: »2016 nahm ich in Basra an einer Konferenz irakischer Dichterinnen teil – daher weiß ich, welch ungeheure Kraft in der gemeinsamen Arbeit an Sprache und Form steckt, wenn das Schreiben also zum Mittel des geistigen Überlebens in einer gefährlichen, krisenerschütterten Welt wird.« Und Monika Rinck: »Ich halte es für lebenswichtig, Menschen, die zu uns kommen, die Gelegenheit zum eigenen, mithin künstlerischen Ausdruck zu geben. Dazu gehört auch die öffentliche Wahrnehmung. Ein Schritt weg von der dritten Person – also derjenigen, über die man als Abwesende spricht – hin zur zweiten und ersten Person: dem Du des Angesprochenen und dem Ich, das spricht.«
Die Arbeit in den Tandems nimmt ganz unterschiedliche Formen an: So machen sich beispielsweise Widad Nabi und Annett Gröschner in Berlin auf die Suche nach verlorenen Welten. Noor Kanj und Svenja Leiber staunen darüber, wie wichtig sie füreinander geworden sind. Tanja Dückers schreibt über ihre Zusammenarbeit mit Galal Alahmadi: »Galal und ich sind uns in der Herangehensweise an Gedichte ähnlich – ob wir uns gegenübersitzen oder uns nur per Mail verständigen: Wir nehmen alles haarklein auseinander.« Fady Jomar und David Wagner essen zusammen in einem Kreuzberger Café und tauschen sich über alltägliche Dinge und das große Ganze aus. Ramy Al-Asheq und Monika Rinck übersetzen sich gegenseitig in stundenlanger Feinarbeit. Nino Haratischwili nominierte Lina Atfah für den Hertha-Koenig-Nachwuchsliteraturpreis und hielt eine Laudatio auf sie, die von der Tiefe ihrer Begegnung erzählt; und Lina Atfah sagt: »Seit ich bei Weiter Schreiben mitmache, habe ich wieder Mut und Lust auf meine Zukunft.« Mariam Meetra und Antje Rávic Strubel meisterten gemeinsam das Schneechaos auf der Leipziger Buchmesse und Rabab Haidar und Ulla Lenze skypen zwischen Berlin und Damaskus. Bei einem dieser Gespräche zieht Rabab eine arabische Übersetzung von Ullas Roman aus dem Regal, die dort schon lange vor ihrer Begegnung gestanden hatte. Rasha Habbal und Nora Bossong begaben sich gemeinsam auf die Suche nach arabischsprachiger Gegenwartsliteratur in deutschen Übersetzungen. Olga Grjasnowa entdeckt in Samuel Magos Sprache etwas ihr sehr Vertrautes. Michael Krüger öffnet für Ahmad Katlesh die Türen der Bayerischen Akademie der Künste in München. Salma Salem, die unter Pseudonym schreibt, und Saša Stanišić sprechen über Salmas Texte zwischen einem geheim gehaltenen Ort in Syrien und Hamburg und lachen trotz allem.
Wie wichtig all diese Begegnungen sind, erklärt Galal Alahmadi: »Dass sich die arabisch- und deutschsprachigen Gegenwartsautoren so kennenlernen dürfen, ändert alles.« Und tatsächlich ist es diese Mischung aus persönlicher Begegnung, literarischem Austausch und politischer Diskussion, die die Arbeit in den Tandems für beide Seiten so wertvoll macht.
Als Olga Grjasnowa anfangs schrieb, »dass Weiter Schreiben tatsächlich Hoffnung geben könnte und womöglich sogar ein wenig Trost spenden«, hatten wir genau das gehofft. Dass es uns gelungen ist, beglückt und regt uns an weiterzumachen. Unser Dank gilt allen, die dieses Portal ermöglicht haben: Ines Kappert, die das Projekt mitkonzipiert und mitgegründet hat, den Autorinnen und Autoren, den Übersetzerinnen und Übersetzern, Künstlerinnen und Künstlern. Wir danken dem Team und seinem unerschütterlichen Engagement, allen voran unseren beiden Kuratorinnen Juliette Moarbes und Maritta Iseler und Dima Albitar Kalaji für die arabischsprachige Redaktion. Wir danken Muhamad Quaiconie, Dotschy Reinhardt, Patricia Bonaudo, Julia Küpper, Caroline Kraft, Dagmar Deuring und Nicole Minten-Jung. Wir danken Gunnar Cynybulk, dass er sich mit aller Kraft für diese Anthologie eingesetzt hat. Und Mascha Schwarz, ohne deren rückhaltlose Unterstützung unsere Arbeit nicht möglich wäre.
Wir danken dem Hauptstadtkulturfonds, dem Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung, der Schering Stiftung und dem Goethe-Institut für die finanzielle Unterstützung des ersten Jahres und dieser Anthologie. Und dem Hauptstadtkulturfonds, der Allianz Kulturstiftung und dem Goethe-Institut für die Fortführung des Projekts.
Weiter Schreiben ist ein Projekt von WIR MACHEN DAS, einem Bündnis, das 2015 von 100 Frauen gegründet worden ist. Wir sind viele. Wir machen weiter.
Annika Reich und Lina Muzur
Salma Salem und
Saša Stanišić
Salma Salem und Saša Stanišić – eine Syrerin
und ein Bosnier begegnen sich. Wenn die
beiden vom Krieg schreiben, wissen sie,
wovon sie reden.
Saša Stanišić
Salma Salem lacht in Damaskus
Salma Salem lacht in Damaskus. Es gibt also noch etwas, das zum Lachen ist in Damaskus, in Salmas Leben, ich kenne Salmas richtigen Namen nicht. Salma Salem lacht in Damaskus, unser Gespräch dauert eine Stunde dreißig, sie lacht in der Zeit zwei Mal, und ich bin zwei Mal erleichtert, und ich schäme mich für meine Erleichterung, ich schäme mich, dass ich denke, es gibt also noch etwas, das zum Lachen ist in Damaskus.
Salmas erstes Lachen ist ein Kullern der Stimme auf den letzten Sätzen einer Anekdote hinab, die sie erzählt, weil ich sie nach dem Lachen gefragt habe, ob es noch existiere im Prekären, in den Ruinen, und trotz des omnipräsenten Mordens. Ich erinnere mich an die Anekdote nicht mehr, weiß nur noch, es ging um Salmas Jugend in Friedenszeiten, ich erinnere mich aber genau, wie das Lachen klingt, an Salmas Freude darüber, dass einmal so vieles so gut und so nötig und so leicht war, erinnere mich, weil ich mich des genauen Moments der Stille erinnere, da Salma wieder ernst wird und kurz nichts sagt und der Übersetzer kurz nichts sagt und ich kurz nichts sage, alle drei in stummer Übereinkunft, dass wohl genau das, dieses Lachen, das Einzige sein dürfte, woran es sich festzuhalten lohnt in diesem Gespräch, als müsste das Gespräch jetzt eigentlich beendet werden, damit vor allem das Lachen in Damaskus bleibt, ein Lachen, das nicht die Gegenwart meint und nur in der Vergangenheit gültig zu sein vermag, vielleicht.
Ich erinnere mich auch an meine dumme Erleichterung wegen des Lachens. Meine dumme Erleichterung, und wie ich Stunden vor dem Gespräch mit Salma vor meinem dummen Computer in meinem dummen Wohnzimmer bei einer Tasse Kaffee aus Kolumbien versuche, verlässliche Infos über den Alltag in Damaskus zu recherchieren, und ich erinnere mich an Salma, die irgendwann sagen wird, vergiss das alles, auf nichts ist Verlass, nicht einmal auf mich, das war nach dem ersten Lachen, worauf ich dumm dachte: Wie fantastisch ist das Lachen in einer Welt, in der auf nichts Verlass ist.
Als Salma Salem das zweite Mal lacht, stelle ich mir vor, wie sie wohl aussieht. Es kommt einfach so, ich weiß, dass das mit nichts zu tun hat, was wichtig ist für uns beide, mit nichts, was ihre Sprache und Geschichten vermitteln, mit nichts von dem, was sie erzählen will, aber auch das zweite Lachen ist sofort derart präsent, diesmal warm und schön, als würde es selbst eine eigene Stimme und Erzählung sein, als wäre Salma Salems Lachen eine dritte Gesprächspartnerin in unserer Unterhaltung, eine herzliche, charmante und in der Angst noch selbstbewusste, eine, die nicht wie Salma und ich über unsere Kriege berichten will, über diesen PERMANENTEN KACKIDENTITÄTSSTRESS MIT DEM ZUFALL DER HERKUNFT, sondern eben auch über Salma, über die kurzen Augenblicke der Selbst- und Weltvergessenheit, der minimalen Albernheit, des schönen Witzes in Gezeiten der Gewalt. Ich kann gar nicht anders, als mir die Person, die lacht, vorzustellen, das Lachen macht sie für mich erst recht sichtbar in dieser Welt, in der sie aus Furcht sogar ihren Namen unsichtbar machen muss, einer Welt, die Salma in ihren Texten ohne weiteres als »Hölle« bezeichnet, in der es »nur noch Tötende und Getötete gibt«. Salma war für mich bis dahin nur als Literatur sichtbar, eine mutige, nostalgische, kraftvolle Stimme, und jetzt also meine vergebliche Erleichterung vor der Kulisse ihrer Erinnerung und Freude, meine vergebliche Vorstellung, das Lachen könne das sein, was bleibt.
Salma Salem weiß, dass sie gerade lacht. Ihr zweites Lachen erzählt von Wohltaten unter den Armen, unter denen, die nichts mehr haben, aber trotzdem geben, die alles verloren haben, aber trotzdem etwas finden, das sie teilen können, und das, ihre Güte, freut Salma, gute Geschichten freuen Salma, und beides – Salmas Geschichten und ihr Lachen – erzählen von dem, was in der Radikalität des Krieges und trotz der Radikalität der Furcht entstehen kann: von den gemeinsamen Festen, von dem Miteinander der Ethnien, von der Lust am Leben. Die Hölle ist dadurch wohl kaum besser ertragbar, aber wohl besser begreifbar, Salma Salem lacht in Damaskus. Dann legen wir auf, und ich lese einen ihrer Texte erneut, ich hoffe, das Lachen wiederzufinden, ich lese noch mal.
Salma Salem
Wir vertreiben uns die Zeit mit den
Nachrichten von unseren Tragödien und werden betrunken davon
Sie machte sich wie gewöhnlich zur Zeit des Morgengebets zum Schlafengehen bereit. Das Gebet selbst interessierte sie nicht, doch ihre innere Uhr war auf die Zeit des Gebetsrufs eingestellt. Sobald sie den Muezzin »Das Gebet ist besser als der Schlaf« rufen hörte, klappte sie ihren Laptop zu, ihre Einkommensquelle, wie sie ihn nannte, um ins Bett zu gehen.
Doch diesmal zerriss noch vor dem Gebetsruf eine laute Explosion im Osten von Damaskus die morgendliche Stille. Dann das Geräusch von Kampfflugzeugen. Die Stromversorgung war schon seit Stunden unterbrochen. Es war also nicht möglich, aus dem Fernsehen zu erfahren, was ein paar Kilometer entfernt von ihr passierte. Dort, an der östlichen Frontlinie, lebte der verbliebene Rest ihrer Familie.
Die Geräusche wurden lauter, ihre Sorge wuchs. Was für eine Katastrophe ereignete sich dort gerade? Was geschah mit ihren Verwandten, den einzig noch verbliebenen, die befugt waren, nach ihr zu fragen, falls sie nach einer Verhaftung, einer Explosion oder aus irgendeinem der vielfältigen anderen Gründe vermisst wurde? Die Verwandten im Osten von Damaskus waren ihre Stütze in diesem zermürbenden Krieg. Sie in Gefahr zu wissen brachte sie fast um den Verstand.
Sie klebte am Bildschirm ihres Laptops, die Batterie wurde langsam schwach, und durchsuchte die Nachrichtenseiten der Opposition und der Anhänger des Regimes. Vielleicht würde sie dort etwas zu den Ereignissen finden. Doch sie stieß nur auf die Fotos der Opfer der Explosion am Justizpalast im Zentrum von Damaskus. Die Explosion hatte vor einigen Tagen mehr als vierzig Menschen das Leben gekostet, die meisten von ihnen junge Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Zudem hatte es etwa sechzig Verletzte gegeben – ein junger Mann, frisch verheiratet, ein weiterer vor wenigen Monaten Vater geworden, eine junge Frau kurz vor der Hochzeit … Sie erinnerte sich an alle, während sie die lächelnden Gesichter auf den Fotos betrachtete. Einige von ihnen hatte sie vor ein paar Monaten im Café des Justizpalastes getroffen, als sie mit einer Freundin dort verabredet war, um sich in einer Gerichtssache von ihr beraten zu lassen.
Zu verstehen, dass die lächelnden Gesichter auf den Fotos aus einer unwiederbringlichen Vergangenheit stammten, stürzte sie in tiefe Traurigkeit. Woher hatte der Todesengel all diese Energie, mit einem Mal Dutzende junger Leben auszulöschen? Hatte ihn die Lebenslust in ihren Augen nicht davon abhalten können? Irgendetwas stimmte nicht. Wie konnte der Selbstmordattentäter mit seinem Sprenggürtel durch die Kontrollpunkte rund um den Justizpalast gelangen, als die Angestellten ihn gerade verließen? Wie konnte er sich in die Luft sprengen und innerhalb eines Augenblicks Dutzende Leben in ein Nichts verwandeln? Wie konnte er Ströme von Blut über die zerstörten Treppen fließen lassen, die den Durst der Menschen, welche das Land und seine Bewohner mit Verwüstung und Zerstörung bedrohten, doch nicht stillen würden?
Keiner hatte sich zu dem »Massaker an den Juristen« bekannt. Es zirkulierten widersprüchliche Versionen in den Medien, die dann im Nachrichtenticker hinter den Berichten von der geplanten fünften politischen Verhandlungsrunde in einem weit entfernten glücklichen Land verschwanden.
Die Batterie war leer, der Bildschirm wurde dunkel, der Morgen graute.
Sie sah durch das Fenster dichten schwarzen Rauch im Osten der Stadt aufsteigen, der große Flächen des Frühlingshimmels verdeckte. Wolken aus Kummer und Sorgen, die die Herzen erfüllten, während Flugzeuge vom Typ Suchoi weit oben durch den Himmel zogen, um dann eine Kurve zu drehen und plötzlich ihre niederträchtigen Angriffe auszuführen. Ebenso spiralförmig, wie sie nach unten geflogen waren, schraubten sie sich wieder an den Ort zurück, von dem sie gekommen waren. Sie hinterließen dichte Wolken aus Rauch und Schießpulver.
Es war schon fast Mittag, die Stromversorgung immer noch unterbrochen, als sie in unmittelbarer Nähe Geschosse aus verschiedenen Richtungen hörte. Die Sirenen der Rettungswagen ertönten ununterbrochen. Sie hatte nicht geschlafen und wusste immer noch nicht, was um sie herum geschah.
Sie erinnerte sich daran, dass der Besitzer der Reinigung die Kleider, die sie ihm vor mehr als zwei Monaten geschickt hatte, noch nicht zurückgebracht hatte. Er hatte damals schon angekündigt, dass es eine Weile dauern würde. Man habe in ganz Damaskus das Wasser abgedreht, und das Wasser aus den Tanks sei nicht zum Wäschewaschen geeignet. Die Wasserhändler, die während der Wasserkrise in Damaskus aufgetaucht waren, hatten die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, den Leuten das gechlorte Wasser der Schwimmbäder als desinfiziertes Wasser für den Haushalt zu verkaufen. Dieses Wasser jedoch mache die Kleidung kaputt, hatte der Mann zu ihr gesagt und vorgeschlagen, die Kleider entweder wieder mit nach Hause zu nehmen oder so lange zu warten, bis die Kämpfe im Barada-Tal endeten und das Wasser nach Damaskus zurückkehren würde. Da sie aber selbst auch kein Wasser hatte, mit dem sie die Sachen hätte waschen können, entschied sie sich zu warten. Seit sich die Situation im Barada-Tal vor einem Monat beruhigt hatte und seine Bewohner umgesiedelt worden waren, gab es wieder Wasser. Die Kleidung hatte sie schlicht vergessen, und so verstrich ein weiterer Monat, ohne dass ihr die Sachen geschickt wurden. Sie rief in der Reinigung an, und als niemand abnahm, vergaß sie es erneut. Doch nun beschloss sie, selbst dorthin zu gehen und unterwegs in Erfahrung zu bringen, was auf der Straße los war.
Fadi Al-Hamwi / +90 verdrehte Hochzeit,
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