© 2018 Leonhard Michael Seidl
© dieser Ausgabe 2018 Morisken Verlag München
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Thomas Peters
Korrektorat: WORTgewalt.com
Satz: Peter Sommersgutter
Umschlag: Micha Burkhardt
Druck: Print Group Sp. z o.o., Stettin
ISBN: 978-3-944596-15-0 (Print)
ISBN: 978-3-944596-16-7 (E-Book)
Morisken-Verlag.de
»Fußball ist Krieg in kurzen Hosen.«
Shakira
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
ZWEIUNDVIERZIG
DREIUNDVIERZIG
VIERUNDVIERZIG
FÜNFUNDVIERZIG
SECHSUNDVIERZIG
SIEBENUNDVIERZIG
ACHTUNDVIERZIG
NEUNUNDVIERZIG
FÜNFZIG
EINUNDFÜNFZIG
ZWEIUNDFÜNFZIG
DREIUNDFÜNFZIG
VIERUNDFÜNFZIG
FÜNFUNDFÜNFZIG
SECHSUNDFÜNFZIG
SIEBENUNDFÜNFZIG
ACHTUNDFÜNFZIG
NEUNUNDFÜNFZIG
SECHZIG
SECHZIG
SECHZIG
SECHZIG
SECHZIG
Verdammte Hacke! Da hocke ich mitten in Schwabing in meiner Kiste und genehmige mir eine Leberkassemmel und einen Monsterdrink aus der Dose. Die Nacht ist jung, ich zähle die Kohle vom letzten Auftrag. Klopft ein Finger an die Scheibe. Ich zähle Kohle. Der Finger klopft. Die Scheine verschwinden.
Am Finger hängt ein Polizist. Ein Gesicht wie Good ol’ Keef, Keith Richards. Zerknittert. Zerstört. Ist er’s wirklich? Die abgewohnte Vogelscheuche? Nein, natürlich nicht. Schaut bloß aus wie der rollende Stein. Ist aber ein Schnittlauch – außen grün, innen hohl. Mustert mich wohlwollend.
»Hey, Eddie, du stehst im Halteverbot«, sagt er.
»Heiß ned Eddie«, sage ich.
Er schiebt das Käppi aus der Stirn.
»Wenn ich sage, du stehst im Halteverbot, Eddie, dann stehst du im Halteverbot.«
Ich gebe mir Mühe, Good ol’ Keef nicht zu verärgern, schlucke den Eddie und belasse es bei der harmlosen Frage eines gesetzestreuen Bürgers.
»Soll heißen?«
»Soll heißen: Du blechst fuffzehn Euro.«
»Wenn ned?«
»Siehst den Kollegen dort im Streifenwagen? Wir nehmen dich samt deiner Rostlaube auseinander.«
Ich krame im Kuvert. Präsentiere einen Zweihunderter.
»Kannst wechseln?« frage ich keusch.
Schnittlauch schluckt. Hat wahrscheinlich noch keinen Schein dieser Größe gesehen.
»Nein.«
»Frag doch dein Spezl.«
Schnittlauch rückt sein Käppi zurecht und macht sich auf den Weg. Kurz darauf ist er zurück.
»Romuald kann nicht wechseln.«
»Dann ersuche ich um Stundung«, sage ich mit züchtigem Augenaufschlag.
Wieder rutscht das Käppi.
»Stundung steht nicht in den Vorschriften«, sagt er und ahnt, dass dies eine Fortsetzungsgeschichte wird.
»Ich könnt in die Kneipe rübergehen zum Wechseln«, schlage ich vor.
Er meckert: »Und dann abhauen? Das würde dir mal so passen, Eddie.«
»Kannst ja mitkommen.«
Gesagt, getan. Schnittlauch informiert seinen Kollegen, legt Uniformjacke, Waffe und Käppi ab. Wir stapfen los. In der Kneipe Zum Ewigen Licht tanzt der Bär. Die Bude ist gerammelt voll. Jungvolk. Techno. Kein Wort zu verstehen. Gemütlich.
Das üppige Mädchen hinter der Theke schüttelt die rote Mähne, als ich ihr den Zweihunderter hinhalte. Sie mag nicht wechseln. Bedeutet uns aber, dass wir beim Verzehr von Getränken mit Entgegenkommen rechnen könnten.
Wir bestellen ein Gedeck: Pils und Cognac. Macht dreißig Euro. Da die rote Mähne meinen Schein nun doch nicht wechseln mag, bezahlt Schnittlauch. Eigentlich ist er ein netter Kerl. Doppelknautschgesicht. Alter undefinierbar. Er lässt keinen Blick von der roten Mähne. Nippt am Pils, kippt den Cognac und bestellt sofort nach.
»Sepp«, sagt er, »Sepp Spindinger.« Er reicht mir die Hand.
»Valentin Gaukler«, entgegne ich, »Privatdetektiv.«
»Ein Schnüffler?«, fragt er vergnügt und hebt sein Glas.
»Muss es auch geben«, sage ich.
Wir trinken.
Eine Weile herrscht lautes Schweigen. Wir befinden uns in einer Luftblase. Rundum tobt das Volk. Wir betrachten unsere Gedanken.
»Ich bin geschieden«, sagt Sepp. »Den Polizeiberuf verträgt keine Ehe.«
»Kinder?«, frage ich.
»Zwei. Erwachsen. Sind längst weg. Aber das macht nix. Hab andere Interessen.«
Ich nicke stumm, blicke ihm neugierig ins Gesicht. »Dein Beruf als Polizeibeamter?«
Er winkt ab. »Nein, nein, ich bin Erfinder. Das füllt mich aus. Polizist ist mein Beruf, Erfinder ist meine Berufung.«
»Was erfindest du denn?«, frage ich überrascht. »Einen Erfinder hatte ich bisher nicht in meinem Fundus.«
»Im Augenblick versuche ich, Regenwürmer mit Honig zu füllen«, sagt er konspirativ.
»Du meinst, Regenwürmer in Honig?«
»Nein«, beginnt er, »Honig in Regenwürmer! Pass auf, Valentin. Der Regenwurm ist ein Wenigborster. In Deutschland gibt es vierundfünfzig Arten, in Österreich fünfundvierzig.«
»Zahlendreher«, sage ich.
»Darauf trinken wir«, sagt er und bestellt noch eine Runde. Wir kippen den Schnaps, er plappert weiter.
»Regenwürmer werden beim Angeln nicht mehr so oft eingesetzt. Dabei ist der Regenwurm ein erstklassiger Köder, den die meisten Fische mögen. Rotfeder, Brassen und Karpfen sprechen auf ihn sehr gut an.«
»Haifische?«
»Verarsch mich nicht!«
Eine neue Runde steht auf dem Tresen. Wir trinken. Und weiter geht’s.
»Damit der Regenwurm für den Angler wieder interessant wird, habe ich mir überlegt, ihn aus Geschmacksgründen mit Honig zu füllen.«
»Den Regenwurm oder den Angler?«, frage ich.
»Den Regenwurm, du Depp!« Der Erfinder und Polizist im Nebenberuf mustert mich streng.
»Warum nimmst du nicht Senf oder Dieselöl?«, frage ich, um Interesse zu heucheln.
»Bei Senf kann ich mich ganz schlecht entscheiden.«
»Nimm Löwensenf. Oder violetten Senf aus Frankreich. Soll gut sein. Ich nehme Löwensenf. Wegen des TSV.«
Er schaut mich bekümmert an. »Senf kann Allergien auslösen«, sagt er.
»Das ist kein Burner«, sage ich. »Man hat zwar bisher nix von einer Senfallergie bei Fischen gehört, aber immerhin.«
Er starrt in sein leeres Glas. Ich bestelle nach.
»Was ist mit Dieselöl?«, will ich wissen.
»Dieselöl stinkt. Wenn es ausläuft, verseucht es mir die Meere.«
»Du meinst, wenn es aus dem Regenwurm ausläuft, bevor ihn der Fisch geschluckt hat?«, frage ich.
Wir schweigen eine Weile und bedenken das Problem. »Es ist schwierig. Frisst der Fisch den mit Dieselöl gefüllten Regenwurm, und das Dieselöl läuft im Magen des Fisches aus, was passiert dann mit dem Fisch? Er stinkt und sinkt.«
»Vielleicht hilft Rapsöl«, sage ich.
»Oder Kürbiskernöl aus der Steiermark.«
»Oder Olivenöl.«
»Oder doch Dieselöl. Aber Bio.«
»Und bleifrei«, werfe ich erschöpft ein. »Was interessieren mich eigentlich die verdammten Regenwürmer?«
»Das ist Fischquälerei«, sagt er grimmig. »Ich bin Erfinder, kein Tierquäler.«
Wir kippen das letzte Glas, ohne dass wir das Problem lösen.
»Gehen wir«, sagt Sepp. Er wirft noch einen Schein auf den Tresen, zwinkert dem roten Gift zu und weg sind wir.
Im noblen Speiselokal Fedorman gleich über die Straße feiert eine geschlossene Gesellschaft den Geburtstag des Familiengründers. Überall hängen 80-Schildchen. Gold und Silber und Blech. Auf der riesigen Torte mitten auf dem Ehrentisch ebenfalls die Achtzig. Ich zähle achtzig Gäste. Bin ich besoffen?
Jedenfalls konsumieren wir im Kreise der Gästeschar einige Gläser Schampus, je drei Cognac und vier Escorial grün. Man gönnt sich ja sonst nix. Ziehen ergebnisoffen weiter. Auf der Straße zieht Sepp ein Kaviardöschen aus der Hosentasche.
»Hättest nicht gedacht, dass der Bulle Kaviar klaut, was?«, fragt er. Die Stimme rollt, die Zunge holpert.
»Was willst du mit dem Kaviar?«, möchte ich wissen.
»Regenwürmer füttern«, kichert er.
Noch immer ist mein Zweihunderter ganz.
Das Robinson ist ein Stehausschank der schlichten Sorte. Hab wenig Hoffnung auf Erfolg, wir gehen trotzdem rein. An der Tür schlägt uns Bierdunst entgegen, gemischt mit einer toxischen Dosis Zigarettenqualm. Die Frau hinter der Theke schaut drein, als wäre sie zu lange im Kamin gehangen. Ihre Kippe im Mundwinkel wackelt spöttisch, als sie meinen großen Schein sieht. Wortlos baut sie einen köstlichen Bommerlunder vor uns auf. Wir ziehen ihn rein, ohne lange zu lamentieren.
»Ich bin pleite«, sagt Sepp draußen. Er wackelt mit den Hüften wie Elvis in den besten Tagen. Ich stütze ihn, er stützt mich, wir solidarisieren uns.
»Eigentlich bin ich ein harter Hund«, sagt er. Dann bricht er zusammen.
Ich zerre ihn zurück zu seinem Spezl. Der Kollege ist inzwischen nicht untätig gewesen. War zurück aufs Revier gefahren, hatte den großen Panzerschrank der Polizei geplündert und Wechselgeld besorgt. Während wir das Geschäftliche erledigen, kotzt Sepp auf die Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer steckt fest. Die Karre ist blind.
»Nehmen wir meinen Petroleumkocher«, schlage ich vor, obwohl es mir davor graut, Sepp durch die Gegend zu kutschieren. Betrachten wir’s als Gefälligkeit der Staatsmacht gegenüber.
Dunkel erinnere ich mich an den Poller vor der Dienststelle, der nicht weichen wollte.
Der Blaue Löwe in der Admiralstraße ist zwar noch immer das alte Mistvieh, das er immer war, doch das Interieur und damit die Kundschaft haben gewechselt. Rüdiger, der neue Wirt, hat die Bude entkernt und komplett umgebaut. Den Raum teilt eine Theke, hinter der Rüdiger seinen Dienst versieht. Einmal wollte er einen Ruhetag durchsetzen. Es kam zum Sitzstreik, der erst nach sieben Tagen endete, als Rüdiger begann, die Eingangstür zuzumauern. Von innen. Rüdigers Mausoleum.
Hinter Rüdiger hängt ein breiter Spiegel. Michi Meidl glaubt, es handelt sich um einen Venezianischen Spiegel. Aber er kann es nicht beweisen. Seither hat er Lokalverbot, kommt aber jeden Abend wieder. Er ist der unbesiegte Lokalverbotskönig.
Michael Meidl hat flotte siebzig Sommer gesehen, pflegt noch immer seine Berufung als Meldeläufer für brisante Informationen und befindet sich vierundzwanzig Stunden täglich im Dienst. Eigentlich darf er im Dienst nicht trinken, aber er hat einen Assistenten, der ihn fährt, wenn er besoffen ist. Den Assistenten hat noch niemand gesehen. Michis Frau ist vor einem guten halben Jahrhundert mit einem Geburtshelfer, einer männlichen Hebamme, durchgebrannt. Michi mag mich, obwohl ich in einer schwachen Stunde ans Licht brachte, dass er als Witwentröster tätig ist. Er baggert trauernde Frauen auf dem Friedhof an, gibt die moralische Instanz, als Helfer in der Not, bringt sie nach der Trauerfeier nach Hause und macht sie willenlos mit Kirschlikör. Anschließend wirkt sein Viagra.
Der Michi Meidl ist ein echtes Giesinger Unikum. Und ein wandelndes Lexikon, was unseren TSV angeht. Er weiß nicht nur alles über die Blauen, er wohnt auch noch in der Grünwalder Straße 7, einem Haus, von dessen viertem Stockwerk aus man einen wunderbaren Blick in das Sechzger Stadion hat. Es ist ein Wunder, dass er diese Wohnung innehat. Auf ihr liegt ein ganz besonderer Zauber. Und Michi Meidl, das blaue Lexikon, erfüllt diesen Zauber noch immer mit Leben. Mit seinen gefühlten hundertachtzig Kilo schleppt er sich tagein, tagaus die Treppen rauf und runter. Auch wenn die Knie knacken und die Lunge pfeift. Einen Lift hat es in dieser alten Burg nie gegeben. In die Allianz Arena ist er hingegen noch nie gegangen.
Muss er auch nicht, denn von der Decke des Blauen Löwen hängt die Glotze mit Bezahlfernsehen. Sie geleitet uns durch die wechselvolle Geschichte des TSV. Einst wollte ein Schwabinger, der versuchte, hier Fuß zu fassen, ein Match der Roten anschauen. Man hat ihn nie mehr gesehen. Und auch kein Spiel der Nebenstraßler aus dem Säbener Hinterhof.
Am Fenster, gegenüber dem Gang zur Toilette, steht Rüdigers Baby: Eine Wurlitzer 1015 aus dem Jahre 1949 mit der Aufschrift ›Music for Millions‹, die er für fette Kohle bei einem Händler in den USA erstanden hat. Chrom und Glitzer, gelb und rot, mit aufsteigenden, die Farbe wechselnden Bubbles – das Ding macht mich verrückt, wenn ich bloß hinschaue. Inhalt: Fünfzig schwarze Vinyl-Scheiben, vorwiegend Waylon Jennings, Johnny Cash, Kris Kristoffersson und der andere Heuler, Willie Nelson. Die kompletten Highwaymen. Keine CDs – oh, nein – Vinyl muss es sein!
Zentral im Tresen steht die Zapfanlage mit nur einem Hahn. Er wird von Rüdiger liebevoll gewienert und spendet unablässig Edelstoff. Anderes kommt nicht ins Glas. Die Zeiten, in denen die Leute Pils oder Weißbier verlangten, sind vorbei. Jedenfalls im Blauen Löwen.
Am Nebentisch hocken zwei Kerle in schwarzen Lederjacken. Harte Gesichter. Cold eyes. Nicht mehr jung. Einer kahl, der andere schwarz gegelt. Männer wie geschmiedeter Stahl. Blue Steel. Man möchte ihnen nicht bei Tage begegnen. Nippen am Bier, quatschen, sehen zur Uhr, schweigen.
Hab sie voll im Blick.
Dann sind sie weg. Ein Handy bleibt zurück, verdeckt von einer unschuldigen Serviette. Einsam und verlassen lugt es hervor. »Spiel mit mir«, raunt es. Ich gehe rüber, nehme es zur Hand, meine Finger wischen übers Display, drücken hier und drücken dort, das ist cool, das ist sexy. Ich fühle mich ertappt, schiebe es ein, hocke wieder am Stammtisch.
Der Kahle stürzt rein und sucht sein Telefon. Draußen brüllt einer: »Igor, komm endlich!« Igor wirft einen bösen Blick in die Runde, haut unverrichteter Dinge wieder ab, sein Spielzeug ist weg.
Kaum ist er fort, schreit sein Smartphone in meiner Tasche. Ich gehe ran.
»Servus«, melde ich mich tapfer, weil mir nichts anderes einfällt und weil ich von Geburt an neugierig bin.
»Hör zu, Igor, der Plan geht so: Die Fahne ist jetzt beim Werkstatt-Wastl. Du kennst doch den Wastl am Wettersteinplatz?«
»Wastl.«
»Gut. Sie liegt beim Wastl versteckt. Der Fetzen ist für uns sehr wertvoll. Hast du das bis hierher kapiert?«
»Kapiert«, knurre ich.
»Gut. Wir alle wissen, dass der Werkstatt-Wastl ein Hänfling ist, der wo nix auf die Reihe kriegt.«
Knurr.
»Gut. Und weil das so ist, muss man ihn beschützen. Jetzt kommst du ins Spiel: Du gehst noch heute hin und redest mit ihm. Sagst ihm, du bleibst solange da wie nötig. Hast du das bis hierher kapiert?«
»Kapiert!«
»Gut. Sobald der Austausch stattgefunden hat, ist dein Job erledigt. Du kriegst dann Freikarten für das nächste Heimspiel gegen Dortmund. Aber pass auf, Igor: Die verdammten Blauen lauern überall! Wenn die Ultras was spitzkriegen, wird’s eng. Hast du das bis hierher kapiert?«
»Kapiert!«
»Gut. Ich muss los.«
»Hausnummer?«
»Was?«
»Die Hausnummer vom Wastl am Wettersteinplatz?«
»Siebzehn.«
»Passt«, knurre ich wieder.
»Man sieht sich«, sagt er und legt auf.
Ich spiele im falschen Film. Wer ist der Werkstatt-Wastl? Wie dämlich muss einer sein, den sie Werkstatt-Wastl nennen? Nun zum Objekt der Begierde. Was ist das für eine Fahne und wer hat sie geklaut? Was haben die Ultras damit zu tun? Und welche Ultras, die blauen von der Vendetta oder die roten von der Socceria? Was hat das mit Dortmund zu tun? Die spielen wie die Roten in der ersten Liga, die Blauen nicht, schrammen vielmehr am Abstieg zur Dritten entlang. Und was für ein Austausch überhaupt? Also, was für eine Fahne ist das? Man muss es sehen, das elendige Teil. Erst dann weiß man Bescheid.
Eine Gestalt wischt zur Tür herein. Wenn mich nicht alles täuscht, ist es der Schnittlauch, mein neuer Spezl von der Polizei. Käsiges Mondgesicht, die Hose spannt, er hat gefühlte hundert Kilo zugenommen.
»Servus, Sepp«, sage ich karg und rutsche zur Seite.
»Servus, Eddie«, antwortet er und hockt sich nieder.
»Kannst Valentin sagen«, sage ich.
»Servus, Valentin«, sagt er.
»Was isn passiert?«, frage ich arglos.
»Komm ich gestern aus der Kneipe auf den Parkplatz«, beginnt er.
»Hast gladen ghabt«, ergänze ich.
»Schwer geladen«, sagt er, »sehr schwer geladen. Taste bei den Autos auf den Dächern herum. Das sieht ein Passant und fragt mich, was ich da mache. ›Ich suche mein Auto‹, sage ich zu ihm.«
»Logisch«, sage ich.
»›Guter Mann‹, sagt der Kerl, ›so werden Sie ihr Auto nie finden. Dadurch erkennt man weder die Marke noch die Farbe. Und das Kennzeichen können Sie auf diese Weise auch nicht lesen.‹ ›Das macht nichts‹, sage ich, ›aber irgendwo muss das Blaulicht drauf sein.‹«
»Verdammte Hacke!«, sage ich. »Und wie geht’s dir im Augenblick?«
»Gut«, antwortet er. »Sehr gut sogar. Sie haben mich vom Dienst suspendiert, ich bin geschieden, die Kinder haben beim Heiraten die Namen ihrer Partner angenommen – aber sonst läuft’s prima.«
Ich warte, bis er das zweite Stöffchen geleert hat.
»Was treibstn so?«, frage ich, geplagt von falschem Mitleid.
»Ich wohne«, sagt er still.
»Verstehe«, sage ich stiller.
»Ich sag dir was, Valentin: Nüchtern betrachtet war es besoffen besser.«
»Verstehe«, nicke ich mitleidig.
»Ich brauche dringend einen Job, sonst dreh ich durch. Hast du einen Job für mich, Schnüffler?«
»Vielleicht beim Rüdiger in der Kuchl?«, versuche ich es.
Rüdiger zeigt mir zwischen Topf und Tiegel den Stinkefinger.
Eine Pause. Muss nachdenken. Werfe einen Blick auf Sepp. Als Beschatter zu auffällig, als Verfolger zu langsam, als Beschützer zu dünn. Vielleicht Internet. Vielleicht kann er wenigstens telefonieren, Dokumente auswerten, mit dem Fernglas umgehen. Jemanden verhauen. Vielleicht.
Sepp schaut grantig. Muss nix besagen. Der Grant ist der Blues des Südens. Das ist so normal wie der Föhnhimmel oder besoffene Spaghetti auf der Wiesn. Kein Mensch regt sich darüber auf.
Eine Idee sagt Grüß Gott.
»Ich hätt da was«, sage ich.
»Ich mach alles«, sagt er.
»Ich kann dir aber nix zahlen.«
»Kein Problem«, japst er und richtet sich auf.
»Du bist doch ein echter Kerl«, sage ich, »ein harter Hund.«
»Hart wie Kruppstahl«, sagt er mit geballter Faust.
»Gut. Wir besuchen den Werkstatt-Wastl.«
»Wen?«
»Des sag ich dir auf dem Weg.«
Der Wettersteinplatz ist einen Steinwurf vom Sechzger entfernt. Man kann sagen, er ist der Bauch der Grünwalder Straße. Sie führt direkt zum Trainingsgelände des TSV 1860 und nach Grünwald hinaus. Die Grünwalder Straße ist eine breite, schöne, schnelle und laute Straße. Vom Wettersteinplatz zweigt eine andere Straße ab, die Säbener Straße. Sie ist nur zufällig eine Straße, eher eine Nebenstraße. Wo sie hinführt, ist nicht ganz klar, vermutlich verliert sie sich im Perlacher Forst, also im finsteren Wald. In dieser überflüssigen Nebenstraße hausen die Roten. Sie haben dort einen Protzbau errichtet. Das kann jedoch nicht verhindern, dass sie nicht nur in Giesing als die Nebenstraßler bezeichnet werden.
Giesing ist blau. War es immer, wird es immer sein. Das haben die verwöhnten Erfolgsfans mit ihrer krankhaften Sucht nach Titeln und Meisterschaften nicht begriffen. Fällt einer ihrer Stürmerstars aus, weil er sich den kleinen Finger verbogen hat, oder sie verlieren ein Spiel, geht die Jammerei los.
Ganz anders bei uns Blauen. Wir sind hart im Nehmen. Schon seit Jahrzehnten. Das macht uns keiner nach. Besonders nicht die Roten von der Säbener Straße, die im Nirwana endet. Mich berührt das nicht, ich bin körperlich und physisch topfit – wie es Thomas Häßler einmal ausdrückte.
Genug der Topologie. Ich muss meinen neuen Mitarbeiter Sepp Spindinger testen, ihn einer strengen Prüfung unterziehen. Dafür ist der Job, bei dem ich als Igor der Fahnenhüter auftrete, genau das Richtige.
Das Gebäude, in dem der Werkstatt-Wastl wohnt, ist eine sechsstöckige Mietskaserne. Das Klingelschild weist einen gewissen ›Sebastian Weckstad‹ auf; zweiter Stock links. Das muss er sein. Ich schaue nach oben. Kein Balkon. Sepp ist meinem Blick gefolgt, erwartet eine Erklärung.
»Kennst du das Spiel Guter Cop/böser Cop?« frage ich.
»Klar«, sagt er. Ich glaube ihm kein Wort, also erkläre ich den Sachverhalt mit ein paar ruhigen Worten. »Wir besuchen Sebastian Weckstad, weil er etwas Wertvolles besitzt, das man versucht, ihm wegzunehmen. Weil Wastl ein Hänfling ist, muss man ihn beschützen. Wer könnte Wastl besser beschützen als zwei Beamte in Zivil?«
»Wir sind keine Polizisten«, sagt er störrisch.
»Hab ich was von Polizisten gesagt?«
»Nein«, sagt er und schaut wieder nach oben.
»Du bist der gute Bulle, ich bin der böse Bulle«, sage ich und drücke irgendeine Klingel im sechsten Stock. Sogleich krächzt eine Stimme aus dem Blechkasten: »Bist du das, Bärli?«
»Ja«, krächze ich zurück. Die Tür öffnet sich. Wir erklimmen die Treppen und stehen bald im zweiten Stock.
An Wastls Wohnungstür ein Türkranz mit verwelkten Rosen. Mittendrin – ich fass es nicht – ein Emblem der Roten! Ist man denn nirgendwo sicher vor dieser Seuche? Reicht es nicht, dass sie ständig Meister werden, die Champignonliga gewinnen und den anderen Vereinen die besten Spieler wegfischen wie ein Krake? Muss man sie auch noch in einem beschissenen Türkranz finden? Ein Verein, in dem acht Ausländer spielen? Wobei … ich ahne, dass mir diese Aussage Ärger einbringt, denn bei den Löwen sind es noch mehr, samt dem verdammten Scheich an der Spitze.
»Ich bin Igor«, sage ich, nachdem ich mich vom Schock erholt und geklingelt hatte und die Tür sich öffnet. Der Mann vor mir ist kein Hänfling. Der Mann vor mir ist ein gewaltiges Bergschaf aus den Highlands, mit einer Wolle auf dem Schädel, die ihn vor jeglicher Kälte schützt. Seine Wampe hängt bis zu den Fußspitzen und sein Gebiss ist braun vom genossenen Kaffee. Oder vom irischen Whiskey.
»Grüß dich, Igor«, knurrt er und zerquetscht meine Finger.
»Servus«, sagt Sepp und versteckt seine Hände schnell in den Hosentaschen, weil er mein schmerzverzerrtes Gesicht sieht.
»Kommts rein und macht’s euch gemütlich«, blökt das Bergschaf und pflanzt sich in den Fernsehsessel. Wir nehmen unsererseits Platz und bekommen ein Weißbier vorgesetzt, das Sepp wie ein Verdurstender in sich hineinkippt. Meinen strafenden Blick ignoriert er.
»Wie schaut’s aus?«, frage ich.
Wastl steht auf, geht zum Sideboard und öffnet eine Schublade. Heraus zieht er eine blaue Fahne. Verdammte Hacke – diese Verbrecher haben die Zaunfahne der Vendetta gestohlen! Das ist an Frechheit nicht zu überbieten. Man müsste ihnen die Ohren abschneiden! Den Arsch zunähen! Ich schweige entsetzt. Wer hat da nicht aufgepasst?
»Igor, ist dir nicht gut?«, fragt Wastl. Er hat die Fahne wieder im Sideboard verstaut. Bevor ich antworten kann, geht er zum Eckschrank, nimmt eine Schnapsflasche und schenkt drei Stamperl ein. Eine krasse Vogelbeere. Genau das richtige für diese verfaulte Situation.
Kaum haben wir getrunken, schmeißt Wastl den Fernseher an.
»Was wollts ihr sehen?«, fragt er und zieht einen Packen DVDs heraus. »Ich habe das Endspiel der Champions League, das Pokalendspiel in Berlin oder die letzte Meisterfeier auf dem Rathausbalkon – was darf’s sein?«
»Meisterfeier«, sagt Sepp vergnügt und bedient sich an der Vogelbeere. Er fühlt sich wohl in Werkstatt-Wastls Wohnung am Wettersteinplatz in Obergiesing. Noch ein Weißbierchen und der Tag ist gerettet. So kann es weitergehen, so ist das Leben gut zu Sepp Spindinger, dem suspendierten Polizisten. Der gute Cop und der böse Cop, sie sind vergessen. Es gibt nur noch sedierte Bullen.
Der Blödsinn auf dem Rathausbalkon ist in vollem Gange, da lässt Sepp einen verhängnisvollen Satz fallen.
»Wieso bist du auf einmal Igor, Eddie?«
Wastl blickt hoch. Ich huste. Genehmige mir eine Vogelbeere, bevor das Fläschchen leer ist.
»Ich bin nicht Eddie«, sage ich nach der Beere.
»Nein«, sagt Wastl, »du bist Igor. Bist du Igor?«
»Natürlich.«
»Ausweis!«, sagt Wastl.
»Wieso?«
»Du könntest ein Spion sein«, sagt er. »Oder noch schlimmer: Du könntest ein Blauer sein. Das wär dein Tod.«
»Seh ich etwa so aus?«, frage ich tapfer und richte mich zu voller Größe auf.
»Eigentlich nicht«, sagt er. Sinkt zurück in seinen verdammten Sessel und starrt weiter auf den verdammten Rathausbalkon mit den verdammten Spielern. Unten auf dem verdammten Marienplatz tobt die Meute. Zehntausend fehlgeleitete Fußballanhänger sollen es sein. Geschieht ihnen ganz recht, den Dummköpfen, von Fußball keine Ahnung.
»Was sagst du?«, fragt Wastl und wirft mir einen misstrauischen Blick zu.
»Nichts«, sage ich.
»Aber du hast doch gerade gesagt: ›von Fußball keine Ahnung‹. Verarsch mich nicht, Mann!«
»Ich hab nichts gehört«, sagt Sepp. Er nuschelt mit geschlossenen Augen an der krassen Vogelbeere.
In diesem sensiblen Moment klingelt es an der Tür. Weil Wastl nicht gleich aus dem Sessel kommt, wird derart grob gegen das Holz gehämmert, dass mich eine schlimme Ahnung befällt. Sie wissen, dass die Fahne hier ist. Die blauen Truppen sind im Anmarsch.
»Nicht aufmachen!«, brülle ich, doch es ist zu spät. Herein stürmen zwei baumlange Kerle mit Sturmhauben, schwarz gekleidet, Motorradstiefel an den Füßen. Der Anführer richtet eine Walther PPK auf Wastl, der in die Knie geht und unter den Couchtisch krabbelt. Sepp flüchtet zu ihm. Ich bin alleine.
»Wo is die Fahne, du rote Sau?«, schreit mich der Anführer an.
»Ich bin nicht der, von dem du glaubst, dass ich bin«, sage ich matt. Vernehme den Blödsinn meiner Worte. Werde zur Seite gedrückt. Stolpernd lande ich auf dem dreckigen Teppichboden. Noch gebe ich mich nicht geschlagen. Noch dröhnt ein Kämpferherz in meiner Brust. Noch ist Hoffnung da. Noch will ich für die gute Sache kämpfen. Ich bin ja kein Anfänger!
Wastl schüttelt sich, rumpelt hoch, stellt sich breitbeinig vor den Anführer. Spuckt ihm ins Gesicht. Einfach so.
Der Anführer hebt die Pistole und schießt. Einfach so.
Wastl fällt um. Einfach so.
Ich sehe ihn vor mir liegen. Er atmet. Das ist gut.
»Wo ist sie?«, fragt der Anführer. Sein Partner zupft ihn am Ärmel. »Du hast ihn erschossen, Wolfi«, keucht er. »Wir müssen weg!«
»Erst die Dings«, sagt Wolfi und beginnt mich zu schütteln. Hält mir die noch heiße Mordwaffe unters linke Nasenloch. »Wo is die verdammte Dings … die Fahne, Kreuzkruzitürken?!«
»Keine Ahnung«, krächze ich.
»Nicht mehr da«, meldet sich Sepp schüchtern unter dem Tisch.
»Was heißt: Nicht mehr da?«, fragt Wolfi.
»Das heißt«, sage ich: »Sie ist uns gerade gestohlen worden.«
»Wann?«
»Vor ungefähr zehn Minuten.«
»Das kann nicht sein«, sagt Wolfi. Seine Stimme stolpert. Er wirkt verunsichert.
»Wir sind zu spät!«, keucht der andere und zerrt wieder an seinem Ärmel.
»Ich geh ned ohne die Dings – ohne die gschissne Fahne!«, sagt der Anführer, dieser sture Arsch.
»Lass uns abhauen, bevor die Bullen kommen!«, drängt sein Spezl.
»Du solltest auf ihn hören«, sage ich, »die Polizei mag das gar nicht, wenn man am helllichten Tag auf Menschen schießt.«
»Mörder!«, schimpft Sepp unter dem Tisch, allerdings nicht sonderlich laut. Er zeigt Wolfi den Effe.
Wastl stöhnt herzzerreißend. Dann ist er still. Einfach so.
Sepp robbt aus seinem Versteck hervor und schaut ihm in den Mund. »Ich glaub, der is hin«, sagt er mit Grabesstimme.
»Da hörst es«, sagt sein Freund und zerrt. Diesmal gibt Wolfi nach, jetzt verlässt auch ihn der Mut. Sie hauen ab, es wird ruhig in der Wohnung am Wettersteinplatz.
Ich fange mich schnell. War schon immer meine Stärke. Meine Blicke fallen auf das Sideboard, aus dessen Schublade Wastl die Fahne gezogen hatte. Ich öffne den Schub. Da liegt sie, zum Mitnehmen bereit. Ich klemme mir die Fahne unter den Arm. Dann verlassen wir schleunigst Werkstatt-Wastls Heim und begeben uns zurück zum Blauen Löwen.
Kaum sind wir zurück, betritt ein Mann die Kneipe. Sepp verzieht sich in die Küche, wo Rüdiger ihm ein Wurstbrot mit Senf schmiert und ihm dazu heiße Sojamilch mit Strohhalm reicht. Ich schaue dem Mann zu und genieße ein stilles Bier. Er tritt näher und redet drauf los:
»Sie müssen Valentin Gaukler sein. Es geht um ein Stück Tuch. Genauer gesagt um ein rotes Stück Tuch – eine Fahne der Bayern. Eine wertvolle Fahne. Eine wichtige Fahne.«
»Sie meinen den in München ansässigen Sportverein FC Bayern?«
»Genau. Die Fahne wurde seinem Besitzer gestohlen.«
»Name des Bestohlenen?«
»Roland Pesto. 34 Jahre alt, Mitglied der Socceria, wohnhaft in Schwabing, Leopoldstraße 91.«
»Na gut. Ich fasse also zusammen«, sage ich, »Herrn Roland Pesto wurde irgendeine Fahne geklaut. Das ist nichts weiter als Diebstahl. Warum gehen Sie nicht zur Polizei, Herr …?«
Ein mürrischer Ausdruck bemächtigt sich seiner. »Weil’s die Polizei einen Dreck angeht. Wir machen das unter uns aus wie immer.«
»Wert der Fahne?«, frage ich.
Der Namenlose schnauft. »Verdammt hoch! Diese Fahne ist von unschätzbarem Wert, verstehen Sie?«
»Ich kann mir nicht vorstellen …«, beginne ich, doch er unterbricht mich sofort und grimmt: »So ist es aber!«
»Und meine Rolle?«, frage ich.
»Reden Sie mit Rolli. Finden Sie den Täter. Um den Rest kümmern wir uns dann selber. Rolli hat die Kohle«, sagt er. Er schmeißt einen Zettel auf den Tisch, darauf Rollis Adresse in der Leopoldstraße, Hinterhaus.
Dann ist er weg.
Eine Weile herrscht Schweigen. Sepp sitzt wieder bei mir.
»An meinem Arsch könnte sich ganz China satt fressen«, jammert er.
»Schau dir die Sumo-Ringer an«, sage ich. »Manche Frauen mögen das.«
»Meine Frau hat mich an ganz an fetten Doppeldeppn ghoaßn. Immer wieder. Und dann hat sie mir den Radl-ab-Orden verliehen.«
»Den was?«
»›Bei dem Schmarrn, den wos du da verzapfst, kriegst von mir den Radl-ab-Ordn. Der is extra für solchne Oxnschädl wia dich‹, hat sie gesagt.«
»Das hat deine Frau zu dir gesagt?«
»Brauchst es schriftlich?«
»Und was hast du gemacht?«
»Ich bin verstummt«, greint er.
»Sie hat dich gewiss schon nackert gesehen – oder ned?«
»Hat sie«, nickt er.
»Na also«, sage ich.
»Und weißt, was sie drauf gesagt hat?«, fragt Sepp. »Pack dein Schnäpperle weg!«
»Die Gute kommt wohl ausm Schwäbischen«, sage ich, um Sepp abzulenken, doch es ist zu spät.
»Nah, aus Tittenkofen …«
Ein gutes Weilchen später klingeln wir in der Leopoldstraße im Hinterhaus. Der Bewohner dieser Hütte ist gewiss kein armer Mann. Er lässt uns eintreten: Rolli Pesto, Immoheini und Kunde der FC Bayern München AG.
Rolli ist ein großer Mann mit dichtem, schwarzem Haar und muskulösen Oberarmen. Mit seiner Hakennase gleicht er einem Römer. Er trägt einen grauen Anzug mit getüpfelter Weste, ein weißes Hemd sowie eine seidenweiße Krawatte. Dazu smarte Treter Italian Made und darin eierschalenfarbene Socken mit grünen Sockenhaltern. Ein verrückter Bursche. Er ist nicht älter als vierzig. Die Leibesmitte wölbt sich leicht über dem Schlangenledergürtel. Müsste mehr Sport treiben, unser Rolli.
Bei einem Hennessy Paradise Imperial hören wir seine Geschichte.
»Ich bin von Geburt an Mitglied bei den Bayern. Das hat in unserer Familie Tradition. Ich bin mit sechzehn der Socceria beigetreten. Wir sind das Rückgrat des FC Bayern München. Unsere Kurve ist die Süd. Wir sind die wahren Fans.«
»Und dann?«, frage ich, als er unvermittelt schweigt.
»Ja. Und dann. Und dann hat sie mir die Fahne geklaut.«
»Welche Fahne? Welche sie?«
»Die Fahne der deutschen Meisterschaft. Erhalten nach dem Sieg gegen Eintracht Frankfurt am 12. Juni ’32. Die Tore schossen Rohr und Krumm, 55 000 Zuschauer waren damals im Nürnberger Stadion … und …«
Ich hebe die Hand: »Wie kommen Sie zu einem derart wertvollen Stück?«
Pesto nimmt einen großen Schluck, wischt sich den Mund ab. »Zu meinem vierzigsten Geburtstag hatte ich sie mir ausgeliehen. Für einen stattlichen Batzen Geld, wohlgemerkt. Es war ein rauschendes Fest. Doch am anderen Tag … am Morgen … ich … oh Gott!«
»Haben Sie einen Verdacht, Herr Presto … Pesto?«
»Nein, ja … diese … diese …«
»Wer?«
»Diese …«
»Sie kennen den Dieb?«, fragt Sepp.
»Dieses Weib!«, keift der aufspringende Rolli. »Aber ich bin mir da nicht sicher. Es war spät und ich hatte schon einiges intus.« Er kippt den Hennessy in einem Zug. »Diese schwindsüchtige Nullnummer von einem Weib!«
»Öha!«, entfährt es Sepp angewidert und wendet sich ab. Vielleicht ist er doch sensibel.
Ich beende die Schimpf-Olympiade, indem ich ihm noch ein Gläschen reiche: »Prost, Rolli!«
»Ja«, mault er: »Prost! Auf den Rekordmeister! Aber, ich sag euch … dieses blonde Luder mit dem gelben Kleid und ihrem prächtigen Vorbau. Die hat mich besoffen gemacht. Besoffen, sag ich euch, das kann sich keiner vorstellen. Und dann … und dann … gottverdammte Scheiße!«
Das knallharte Mitglied der Socceria fasst sich ans Herz. Seine Gesichtsfarbe nähert sich seiner Vereinsfarbe.
»Geht«, keucht er, »geht und bringt mir die Fahne, damit ich sie dem Verein zurückgeben kann!«
»Das kostet«, werfe ich wenig charmant ein.
»Hier ist Geld«, sagt er müde.
»Danke, Herr Presto.«
»Pesto, Pesto! Wie die Pest, nur mit o!«
Wir hocken am Stammtisch und haben es gemütlich. Bei Rüdiger ordere ich ein Stöffchen und einen Klaren. Die Fahne habe ich sorgfältig in einer Sporttasche verstaut und trage sie bei mir. So leicht kommt da keiner mehr dran.
Sepp verlangt nach Kamillentee. Die Sache schlägt ihm auf den Magen.
Michi Meidl doziert. Es geht um ein heißes Thema, nämlich die Brandnacht vom 30. Januar 1971, in der die Haupttribüne des Stadions in Schutt und Asche fiel. Die Flammen hatten den Dachstuhl und die Holzbänke vernichtet. Auch die Reporterkabine und die Stahlkonstruktion mitsamt der Blecheindeckung wurden beschädigt. Die Münchner Berufsfeuerwehr rückte mit etlichen Löschzügen an. Da man die Rasenfläche nicht beschädigen wollte, bekämpfte man das Feuer von den Seitenstraßen her. Bis in die frühen Morgenstunden dauerte es, bis die Nachlöscharbeiten abgeschlossen waren. Bereits wenige Stunden später fanden die Ermittler auf den Holzbänken Brandbeschleuniger und darin getränkte Stofffetzen. Da waren Brandstifter zugange gewesen. Die Täter wurden nie gefasst.
»Und warum ned?«, gestikuliert Michi. »Warum ned? Waren’s Gespenster? Oder Russen? Oder Marsmenschen? Nah! Die Roten waren’s. Die Roten! Weil s’ uns des scheene Stadion ned gunnt ham. Und weil in dera Bullerei lauter Rote drin hocka. Lauter Rote! Es hat sich nix geändert. Überhaupts gar nix!«
»Die Polizisten machen doch bloß ihre Arbeit«, klingts aus der Küche.
»Auf das WIE kommt’s an, Rüdiger. Auf das WIE!«, brüllt Michi in die Kombüse. »Und außerdem geht’s nicht um irgendeine Bude, sondern um unser Sechzger. Merk da des endlich, du Gwandlaus!«
Die Gwandlaus zapft ein frisches Bier und stellt es vor Michi auf den Tisch.
»Friede?«, fragt er.
»Friede«, sagt Michi und nimmt einen kräftigen Schluck.
Gemütlich wandere ich zur anderen Stammkneipe, dem Café Sehngmascho. Habe ich eigentlich erwähnt, dass es in diesem verdammten Stadtviertel Tausende von Stammkneipen gibt? Wortlos stellt mir Gitti ein Stöffchen auf den Tresen. Ihre nussigen Haselaugen erwarten Antworten.
»Man hat eine Fahne geklaut«, beginne ich konspirativ.
»Wer sagt das?«, fragt Gitti.
»Rolli Pesto«, flüstere ich.
Gittis Augen weiten sich. »Pesto – der Mann mit den Sockenhaltern?«
Ich wittere Unheil. »In der Tat«, sage ich. »Der Bursche trägt zu eierschalenfarbenen Socken grüne Sockenhalter wie ein Grashüpfer.«
Stumm nickt Gitti, beschreibt einen Zettel. Schiebt ihn rüber. Ich lese Namen und Adresse.
»Sei vorsichtig«, sagt sie leise: »Pesto ist ein kranker Narzisst. Er will immer nur gewinnen!«
»Drum ist er ja auch Mitglied bei den Roten.«
Gitti grinst. »Von wegen. Der ist bei keinem einzigen Verein dabei. So jemand kann kein Verein ertragen. Zu dem einen sagt er, er ist seit Geburt Mitglied beim FC Bayern, zu den anderen sagt er, er ist Fan von 1860. Beides ist gelogen, Valentin.«
»Woher weißt du das alles?«, frage ich einigermaßen überrascht.
»Rolli Pesto mit den Sockenhaltern ist in Giesing bekannt. Er will überall dabei sein, dazu gehören, siegen, kann partout nicht verlieren. Macht auf VIP bei den Blauen und auf Ultra bei den Roten. Mit den anderen Großkopferten beim FCB kann er natürlich nicht mithalten, deshalb tummelt er sich lieber in der Kurve, um herauszustechen. Oder er nervt Bekannte so lange, bis er mal mit in die Säbener Lounge kann. Und dann wird mit den anderen Vögeln nach dem ach so spannenden Sieg kostenlos Champagner gesoffen. So einer ist Pesto. Aber bei den Löwen spielt er sich auf, hockt im Business Club und meint, er sei sonst wer. Dabei ist er falsch wie eine Katze. Ein Psychopath. Schaust du weg, rammt er dir ein Messer in den Rücken. Ich kann dir nur einen Rat geben, Valentin Gaukler: Pass auf, der Mann ist gefährlich!«
»Worauf du einen lassen kannst«, sage ich ebenso leise, trinke flugs aus und mache mich vom Acker.
In der Rosenheimer Straße 480 stehe ich vor einem Mietshaus, das dringend einer Renovierung bedürfte. Im zweiten Stock schaut eine Frau zum Fenster raus.
»Was is?«, will sie wissen, nachdem ich dreimal bei ›Beissinger‹ geläutet habe.
»Ich komme von der Gitti«, sage ich. Der Türöffner summt. Ich steige die Treppe hinauf. Sie reicht mir die Hand. Ich bin hin und weg! Blond ist sie. Drall. Eine Frau mit sinnlichen Gesichtszügen. Stupsnase, Lachfalten und klaren Augen. Man kann sie mögen. Aber mir ist nach den ersten Worten sofort klar, dass das auf Gegenseitigkeit beruhen muss, sonst fährt sie die Krallen aus.
»Ich bin die Lottelena«, sagt sie und bittet mich herein. Die Wohnung ist blitzsauber, auf dem Küchentisch steht ein geöffneter Laptop. Erst sehr viel später werde ich erkennen, dass nicht nur die Wohnung einen Knall hat. Einen gelben Knall.
Ich hocke mich nieder, kriege Kaffee und packe meine Fragen auf den Tisch. »Rolli Pesto fehlt eine Fußballfahne. Eine Frau hat sie ihm gestohlen – was weißt du darüber?«
»Nix«, sagt sie.
Ihre Augenlider flattern. Ich glaube ihr kein Wort und versuche es abermals.
»Das ist die Meisterfahne des FC Bayern aus dem Jahr 1932. Sie ist ungeheuer wertvoll. Man hat sie gestohlen. Wo ist sie?«
»Wie kommst du überhaupt auf mich?«, fragt sie.