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Björn Vedder

Reicher Pöbel

Über die Monster des Kapitalismus

ISBN (Print) 978-3-96317-126-0

ISBN (ePDF) 978-3-96317-641-8

ISBN (ePub) 978-3-96317-671-5

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Der Pöbel brandmarkt den Pöbel – eine Einleitung

Kapitel 2: Der Spekulant als Raubtier

Kapitel 3: Das Band der Not und die Verklärung der Arbeit – über Markt und Sittlichkeit

Hegels reicher Pöbel

Das Wunder des Marktes

Lob der Arbeit

Verrechtlichung des Egoismus

Pöblisieren: eine extreme Form der Wohlstandsverwahrlosung

Der Reiche als das böse Gewissen des Homo oeconomicus

Freie Reiche und behinderte Bürger

Pöblisierung und Proletarisierung

Kapitel 4: Vom spitzen Bleistift zum goldenen Zombie – über den Wandel des Porträts reicher Menschen

La Dolce Vita

Die Luft so hell wie lichte Flammen

Schöne und hässliche Gesichter des Kapitalismus

Kapitel 5: Zucht und Degeneration – über die Affektpolitik des Geldes

Ein Maulkorb für Raubtiere: die zivilisierende Kraft des Geldes

Wie das Geld abtrennt, vereint – und wieder trennt

Großmutters Jukebox

Knappheit und Überfluss: Wie die zivilisierende Kraft des Geldes in Tyrannei umschlägt

Kompensatorischer Humanismus: die halb romantische, halb philiströse Kritik am Kapitalismus

Lebensvorrecht und Brutalität: die Enthemmung der Reichen

Kapitel 6: Freiheit, Kraft und Kooperation oder Moral für Herren und Sklaven

Das Ressentiment in der Kritik an den Reichen und in der Verteidigung dagegen

Berechtigte Empörung

Die Heilung des Ressentiments

Kapitel 7: Abspaltung und Projektion: die Dämonisierung des reichen Pöbels

Die Heuchelei der Kritiker

Adidas Marathon Trainer

Der Pöbel des Nordens

Kapitel 8: Der reiche Pöbel der Weltgesellschaft

Die Füchse im Weinberg

Worin wir Füchse findig sind (z. B. uns die eigenen Taschen zu füllen und von den anderen abzugrenzen, aber die Illusion zu verbreiten, Teil einer Mehrheit zu sein)

Die Legende von der gerechten Bezahlung

Protestantisches Wirtschaftsethos versus Abenteuer-Kapitalismus: Robinson Crusoe

Die moralische Legitimation des Verbrauchs

Selbstverliebtes Moralisieren

Die kulturelle Legitimation des Lebensstils

Kapitel 9: Die Herrschaft des Pöbels oder wie man der neuen Mitte den Garaus macht

Die Denunziation des Gutmenschen

Die Allianzen des Pöbels

Der arme Pöbel

Sorglosigkeit und Sorge

Kapitel 10: Über die Schwierigkeit, das Rad bei seinem Umschwunge auszutauschen

Warum wir auf die Moral nicht hoffen können

Verlust des Gemeinsinns

Der Preis als letzter Wert

Das Ende

Endnoten

Vorwort

Die erste Idee zu diesem Buch liegt schon ein paar Jahre zurück. Wir waren anlässlich meines Geburtstages mit Freunden zum Kloster Andechs gewandert, als mein Freund Wolfram anrief, der gerade als Untermieter in unserer Wohnung lebte, um mir mitzuteilen, dass bei uns im Flur das Wasser die Wände runterlief. Wasserschaden von oben. Wir stiegen sofort vom heiligen Berg runter und gingen heim, einigermaßen verärgert, weil der Nachbar obendrüber unsere Wohnung nicht zum ersten Mal geflutet hatte. Die wohlhabenden Gecken, die sich in den Jahren zuvor in der teuren Mansarde eingemietet hatten, um in München irgendwelchen Geschäften nachzugehen, hatten abwechselnd bereits unser Schlafzimmer, unser Wohnzimmer und unsere Küche unter Wasser gesetzt, weil sie sich, nachdem sie sich in der Bar um die Ecke (»Eat The Rich«) betrunken hatten, noch ein Bad einließen, dann aber doch schlafen gingen, ohne das Wasser wieder abzudrehen, oder weil sie ihre Blumen auf dem Balkon gossen, indem sie mit einem Schlauch von Topf zu Topf gingen und zwischendurch – für ein, zwei Zigarettenlängen – ihre Füße begossen.

Der neue Mieter hatte, wie er mir dann erzählte, nicht auf den Monteur warten, sondern seine Waschmaschine selbst anschließen wollen und einfach irgendwelche Schläuche zusammengesteckt. Ich solle mir keine Sorgen machen, das zahle ja alles die Versicherung, sagte er zu mir, und falls nicht, sei er um ein paar Hunderter nicht verlegen.

Dass wir uns für die nächsten Wochen Besseres hätten vorstellen können, als mit Trocknungsmaschinen und Handwerkern zu leben, kam ihm gar nicht in den Sinn. Mich ärgerte das besonders deshalb, weil meine Frau fürs Wochenende extra von ihrem Forschungsaufenthalt aus Madrid angereist war, um mit mir zu feiern, ich uns aber nun stattdessen die halbe Nacht die Wohnung ausräumen und wischen sah. Zumal ich, kaum dass ich wieder unten war, hörte, wie oben die nächste Maschine lief.

Mir kam anlässlich dieser Unverfrorenheit Michael Naumanns Rede von der »Fuck-you-Politik der Oberschicht« in den Sinn, die in meinem Fall auch ganz konkret eine Fuck-you-Geste des Obergeschosses war – auch wenn mein Nachbar nicht das Format jener Reichen besaß, an das Naumann bei seiner Rede gedacht hatte. Zudem erinnerte ich mich daran, wie ich vor vielen Jahren nach einem Seminar beim Philosophen Michael Wolff, in dem wir Hegels Rechtsphilosophie gelesen und seine Bemerkungen zum Pöbel diskutiert hatten, mit Kommilitonen auf einer Brücke in der Universität Bielefeld stand, und einer von ihnen meinte: »Es gibt ja auch den reichen Pöbel, sagt Hegel.« Vielleicht wäre es an der Zeit, dachte ich mir, während ich den Boden unserer Wohnung wischte, über die Aktualität dieser Bemerkung etwas zu schreiben.

Doch mit der Wut verflog diese Idee. Sie kehrte erst zurück, als ich bemerkte, dass ich mit meiner Empörung nicht alleine war. Die Entrüstung über die Dekadenz, den Egoismus und die Unsittlichkeit sehr reicher Menschen schien mir auch mehrere Jahre nach der Finanzkrise noch stetig zu wachsen. Im Bundestagswahlkampf 2017 waren extremer Reichtum und Asozialität zu Synonymen geworden und die Superreichen zum parteiübergreifenden Feindbild. Das brachte mich dazu, meine alte Idee wieder aufzugreifen. Vielleicht böte der Zugriff mit Hegels Begriff des reichen Pöbels eine Möglichkeit, diese teils diffuse und ressentimentgeladene Kritik zu systematisieren und in eine philosophische Perspektive zu rücken.

Während ich diesen Ansatz verfolgte, fiel mir die Verlogenheit und Doppelmoral auf, die die Kritik an den Reichen trotz all ihrer Berechtigung kennzeichnet. Und diese Selbstverlogenheit empfand ich noch ärgerlicher als die Unverschämtheit meines alten Nachbarn. Denn seine Asozialität ist, genau wie sein Wohlstand, der sie ihm gestattet, weniger das Resultat eigener Anstrengung als der ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben. Die Kritik an den Superreichen ist der Versuch, die negativen Auswirkungen dieser Strukturen auf bestimmte Personen zu projizieren, um von den eigenen Privilegien abzulenken und von diesen Strukturen weiterhin profitieren zu können. Die Diebe rufen: Haltet den Dieb. Der Pöbel brandmarkt den Pöbel.

Dass ich dieses Buch schreiben konnte, verdanke ich der Hilfe meiner Freunde Roland Braun, Wolfram Ette, Sven Hauhart, Hannes Kuch, Kathrin Lange, Jens Poggenpohl und Andreas Reckwitz, meiner Lektorin und Verlegerin Sabine Manke und vor allem meiner Frau Johanna Schumm, die mir alle mit Rat und Tat zur Seite standen. Bei ihnen möchte ich mich herzlich bedanken.

Herrsching am Ammersee, im September 2018.

Kapitel 1: Der Pöbel brandmarkt den Pöbel – eine Einleitung

Mit der Finanzkrise von 2008 ist nicht allein die Hoffnung begraben worden, dass ein stetiges ökonomisches Wachstum auf lange Sicht allen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft immer mehr Wohlstand beschert. Mit dem Rückgang der Flut, von der John F. Kennedy einst sagte, dass sie alle Boote heben würde, sind auch die massiven ökonomischen Unterschiede sichtbarer geworden, die unsere Gesellschaft prägen.1 Während ein Großteil der Menschen in den westlichen Industrienationen in den vergangenen Jahren faktisch ärmer geworden ist, ist eine kleine Gruppe von Superreichen immer reicher geworden. Daran hat auch die Finanzkrise nichts geändert, im Gegenteil: Während das durchschnittliche Haushaltsvermögen der US-Amerikaner zwischen 2007 und 2016 um 42.000 Dollar gesunken ist, ist das Vermögen des reichsten Prozents aller Amerikaner im Mittel um 4,9 Millionen Dollar gestiegen. Man kann also den Eindruck gewinnen, dass die 830 Milliarden Dollar, die die amerikanische Regierung seit der Krise ausgegeben hat, um ihre Folgen abzufedern und die Wirtschaft zu unterstützen, in den Taschen der Reichen gelandet sind.2

In vielen europäischen Ländern sieht es ähnlich aus: Die einen werden immer reicher, die anderen gewinnen zunehmend den Eindruck, sich immer mehr anstrengen zu müssen, um nicht zurückzufallen, wenn das nicht schon längst geschehen ist. Die Löhne sind (inflationsbereinigt) in vielen Bereichen gesunken, die Arbeitsplätze werden unsicherer. Im Zuge einer aggressiven Sparpolitik wurden viele soziale Errungenschaften über Bord geworfen und die Niedrigzinspolitik der Staatsbanken macht die eigene Vorsorge fast unmöglich – es sei denn freilich, man ließe sich auf das Glücksspiel der Spekulation ein. Die Immobilienpreise und Aktienmärkte sind schon wieder auf Rekordniveau. Fast so, wie vor der Krise.

Angesichts dieser Instabilität, Unsicherheit und Ungleichheit kann es nicht verwundern, dass die gesellschaftlichen Spannungen zunehmen und die Solidarität schwindet. Dabei ist seit der Krise vor allem eine Gruppe in den Fokus der Kritik geraten, für die die Ökonomen Joseph E. Stiglitz und Thomas Piketty uns einen Begriff geschenkt haben, der seither in keiner Gesellschaftskritik fehlen darf: das reichste eine Prozent.3 Wie etabliert diese Kategorie inzwischen ist, zeigt sich auch daran, dass sie bereits persifliert wird. Der Komiker Sacha Baron Cohen spricht in seiner satirischen Dokumentation Who is America (2018) vom »fabelhaften Leben der 0,001 %«.4

Im öffentlichen Diskurs geht es jedoch weniger lustig zu. Die Superreichen gelten als unmoralisch und als Feinde der Gesellschaft, als liederlich und bösartig. Sie plündern die Welt und mästen sich an fremder Arbeit. Sie konsumieren zu viel und leisten zu wenig. Sie verspielen unsere Zukunft und zerstören den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es fehlt ihnen an sozialer Empathie, sie sind verantwortungslos, gierig, übermächtig und asozial.

So zumindest das Bild, das viele Journalisten verbreiten und Politiker zur Stimmungsmache nutzen – soziologische, ökonomische oder kulturwissenschaftliche Untersuchungen haben es vielfach nachgezeichnet. Die »Fuck-you-Politik der Oberschicht« (Michael Naumann) hat einen »Krieg der Klassen« (Warren Buffett) provoziert, in dem sich die einen Regierungen kaufen und sich die anderen darüber in den Feuilletons empören, wenn sie nicht angesichts der reichen Monster in Film, Fernsehen und Literatur wohlig erschauern.

Für diese Kritik interessiert sich mein Essay. Was macht die Reichen so verhasst? Worin besteht ihre sittlich-moralische Korruption und warum ruft letztere gerade in jüngster Vergangenheit so eine Entrüstung hervor? Und: Was verrät die Kritik über die Kritiker?

Um diese Fragen zu beantworten, untersuche ich, wie Reiche auftreten, wie sie in den Medien, aber auch in Literatur, Film und Fernsehen dargestellt werden. Diese Analyse der kulturellen Imagination des Reichen verknüpfe ich mit philosophischen, soziologischen und ökonomischen Studien. Ich frage nach den Argumenten hinter der Empörung und rücke sie in eine philosophische und historische Perspektive.

Dabei fällt auf, dass die Darstellung der Reichen dem Versuch entspringt, unsere Erfahrungen mit der Ökonomie, die Hoffnungen und Ängste, die wir mir ihr verbinden, in Geschichten über und Bilder von Menschen zu übersetzen. Das Erzählen und Verbildlichen sollen uns helfen, die Ökonomie zu verstehen und vor allem zu bewerten. Denn auch in den Geschichten der Ökonomie geht es letztlich um Gut und Böse.5 Das Bild, das wir uns von den Reichen machen, gehört in die Galerie der Bilder, die wir uns vom Kapitalismus machen, um ihn zu verstehen. Da seine Kräfte unsichtbar und seine Verfahren abstrakt sind, können wir sie nur daran erkennen, wie er die Körper der Menschen, die ihm ausgesetzt sind, zurichtet und daran, wie diese Menschen handeln.

Eine ganze Reihe dieser Geschichten und Bilder stelle ich in diesem Buch vor. Sie lassen vermuten, dass die Hoffnungen, die in den Anfangstagen des Kapitalismus in ihn gesetzt worden sind, allesamt enttäuscht wurden. Während die Autoren des Frühkapitalismus glaubten, dass es »für einen Mann wenig Möglichkeiten [gäbe], sich unschuldiger zu betätigen als beim Geldverdienen«, wie etwa der englische Dichter Samuel Johnson (1709–1784) schrieb, treten uns die Reichen in aktuellen Darstellungen als tyrannische Monster gegenüber, deren Seelen von der Habgier zerfressen und deren Leiber von ihrem ausschweifenden Luxus verzehrt worden sind.6 Warum, oder unter welchen Umständen, der Kapitalismus seine zivilisierende Kraft verliert und einen tyrannischen Charakter gewinnt, ist eine Frage, die ich mir in diesem Buch stelle (vgl. Kap. 2, 4 und 5).

Eine weitere Frage betrifft den Ursprung der sittlich-moralischen Kritik an den reichen Mitgliedern einer marktwirtschaftlich organisierten, wir können auch sagen: bürgerlichen Gesellschaft. Diese Kritik ist so alt wie das Nachdenken über die bürgerliche Gesellschaft selber. Wir finden sie schon bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der als einer der ersten über die Verbindungen von moderner Wirtschaft und Gesellschaft nachgedacht hat. Er hat den Begriff des »reichen Pöbels« geprägt, um damit jene zu beschreiben, deren Reichtum es ihnen erlaubt, sich aus dem »Band der Not« herauszulösen. Dieses Band der Not, so Hegel, verbindet die meisten Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft miteinander, indem es sie zwingt, zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse auch die Bedürfnisse von anderen und mithin der Allgemeinheit zu befriedigen (vgl. Kap. 3).

Ich greife im Folgenden Hegels Überlegungen auf, um die Kritik an den Reichen zu verstehen. Dieser Rückgriff mag zunächst überraschen. Ist unser schon von der Digitalisierung geprägter Kapitalismus mit dem Band der Not, das die Menschen im frühen 19. Jahrhundert in ihren Bedürfnissen verband, nicht bestenfalls noch lose verbunden? Funktionieren globale Märkte nicht gänzlich anders als die der größtenteils noch agrarischen, sich gerade erst industrialisierenden Gesellschaft, in der Hegel lebte?

Tatsächlich tragen Hegels Überlegungen für das Verständnis aktueller ökonomischer und sozialer Probleme jedoch sehr weit, wie eine kleine Renaissance neuerer Hegel-Lektüren in den vergangenen Jahren gezeigt hat.7 Auch im Hinblick auf meine Fragen führt der Rekurs auf Hegel zu überraschenden Ergebnissen. Er kann nämlich nicht nur zeigen, worin die Asozialität der Reichen genau besteht, sondern auch, dass ihre Unsittlichkeit weniger Ausdruck eines persönlichen Fehlverhaltens ist als ein Effekt der ökonomischen und sozialen Strukturen unserer Gesellschaft. Zusammen mit dem Wohlstand, den sie vielen ihrer Mitglieder schenken, bringen diese Strukturen auch den Pöbel hervor – sei er nun reich oder arm.

Dabei machen natürlich weder Armut noch Reichtum jemanden zum Pöbel, sondern sein Verhalten oder, wie Hegel es nannte, seine »Gesinnung«.8 Zu pöblisieren, also zu jemandem zu werden, der sich pöbelhaft verhält, ist aber etwas, das dem Reichen zuteil wird. Denn unsere kapitalistische, marktwirtschaftliche Gesellschaft bringt unweigerlich Reiche hervor und entlässt sie aus ihren sozialen und sittlichen Banden. Dadurch werden sie asozial. Es sei denn freilich, die Reichen würden ihrerseits eine große sittliche Anstrengung unternehmen, um dieser extremen Form der Wohlstandsverwahrlosung entgegenzuwirken (vgl. Kap. 3).

Gleichzeitig helfen Hegels Überlegungen auch, die Kritik an den Reichen selbst besser zu verstehen und zu erkennen, was diese Kritik eigentlich über diejenigen aussagt, die sie üben. Dieses Buch beschreibt also nicht nur die Kritik an den Reichen, sondern kritisiert sie auch. Es unternimmt eine Art Metakritik, das heißt eine Unterscheidungsarbeit der Kritik selbst. Damit verbunden ist eine Doppelfigur, die im Folgenden immer wieder auftritt: Ja, es ist viel Wahres an der Kritik an den Reichen. Mehr noch: Die Reichen sind Pöbel. Die Kritik an ihnen wird jedoch oft mit einer gewissen Verlogenheit hervorgebracht. Denn wenn wir den Blick von der Mikroebene auf die Makroebene erweitern – und es gibt eine ganze Reihe von globalen Untersuchungen über Ungleichheit und ihre Folgen, die das tun –, sehen wir sehr deutlich, dass sich weite Teile der Bevölkerung der westlichen Industrienationen dem Rest der Welt gegenüber genauso verhalten, wie sie es dem reichen Pöbel ihrer eigenen Gesellschaft vorwerfen: Sie spielen ihre ökonomische Souveränität rücksichtslos aus, befriedigen hemmungslos ihre Wünsche und lassen andere dafür bezahlen. Es gibt also nicht nur den reichen Pöbel der westlichen Industriegesellschaften, sondern auch den reichen Pöbel der Weltgesellschaft.

Deshalb ist die Kritik an den Superreichen heuchlerisch. Sie spaltet negative Aspekte des ökonomischen Systems ab, projiziert sie auf andere und dämonisiert diese dann, damit dieses System weiterhin bejaht werden kann und die Kritiker sich ungeniert ihrer eigenen Profitgier widmen können. In diesem Sinne schließt die Dämonisierung der Reichen an Strategien an, die wir vom Antisemitismus als Antikapitalismus kennen (vgl. Kap. 7).9

Diese Mechanismen der Abspaltung und Projektion sind ein Grundzug der Kritik am reichen Pöbel. Sie zeigen sich auch darin, dass die Ausschweifungen der Reichen als Kennzeichen eines sittlichen Mangels aufgefasst werden, obwohl sich darin nur ein Überschuss jener Freiheit zeigt, die auch die Kritiker für sich selbst beanspruchen. In der kulturellen Imagination der Reichen als Schurken offenbart sich das böse Gewissen des Homo oeconomicus, der nur sittlich ist, wenn er dazu gezwungen wird. Der Bürger ist rechtschaffen nur, weil er gehemmt ist. Deshalb kritisiert er den hemmungslos freien Reichen als pöbelhaft (vgl. Kap. 6).

Mithin handelt es sich bei dieser Form der Kritik also um eine Spielart des »kompensatorischen Humanismus«, wie ihn der Soziologe Kenneth Burke beschrieben hat: die Auslagerung des moralischen Gewissens in die kulturelle Imagination. Dort erfüllt es eine Ersatzfunktion, das heißt es kann zwar zur Geltung kommen, bleibt aber für das eigene Handeln unschädlich.10 Ich meine, dass auch der moralischen oder sittlichen Kritik an den Reichen solch eine Ersatzfunktion zukommt. Denn die Kritiker versuchen in der Verurteilung der Gier der anderen nicht nur von ihrer eigenen Gier abzulenken und das ökonomische System von jedweder Kritik unangetastet zu lassen, sondern sie wollen es auch guten Gewissens genießen können. Und wenn sich dieses gute Gewissen nicht von selbst einstellt, weil die eigene Habgier doch allzu bewusst ist, soll es wenigstens nachträglich wiederhergestellt werden. Ebendas leistet die Abwertung der Reichen als pöbelhaft (vgl. Kap. 3, 5 und 7).

Moralische Kritik dient in der bürgerlichen Gesellschaft aber weniger der Behauptung oder Verteidigung von Moral als der Behauptung des eigenen Standpunkts. Deshalb sind wir in den Geschichten von Gut und Böse, in die wir unsere Erfahrungen mit der Ökonomie übersetzen, immer die Guten – und die Bösen immer die anderen. Die moralische Kritik an den Reichen gehört mithin zu den Strategien, sich selbst Bedeutung zu verleihen und die eigenen Ansprüche zu legitimieren. Sie steht in einem größeren Kontext der Selbstbehauptung durch Moral, die sich neuerdings verstärkt quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und Gruppierungen beobachten lässt. Das Moralisieren grassiert – und mithin die Selbstdarstellung als Opfer (vgl. Kap. 8).

Anders gesagt: Die Kritik an den Reichen steht im Kontext der zeitgenössischen Ressentimentkultur. Wohlgemerkt: Nicht nur die Kritik an den Reichen, sondern auch deren Apologien sind vom Ressentiment getragen. Ressentiment wird üblicherweise als die von Neid befeuerte Verachtung des Stärkeren verstanden. Doch ausgerechnet Friedrich Nietzsche, der wichtigste Stichwortgeber der modernen Theorie des Ressentiments (und eloquentester Anwalt aller »Starken«), hat darauf hingewiesen, dass auch die Zurückweisung der Kritik der Schwächeren durch die Stärkeren als bloßes Ressentiment eine Form des Ressentiments ist. Beide Ressentiments zu heilen, sagt Nietzsche, ist Aufgabe des Philosophen als »Armenarzt des Geistes«.11 In diese Tradition einer therapeutischen Philosophie stelle auch ich mich.

Als Heilmittel gegen das Ressentiment hat Nietzsche den Perspektivwechsel vorgeschlagen: die Distanzierung von sich und die Einnahme eines anderen Blickwinkels. »Dem und Jenem«, schreibt er, »dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne dass er recht merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm Recht haben und einen Sieg feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, dass er das Rechte nach einem kleinen Fingerzeig oder Widerspruch sich selbst sagt und stolz darüber fortgeht«.12 Beides scheint mir sowohl für den reichen Pöbel als auch für seine Kritiker nötig zu sei, denn beide sind augenscheinlich im Ressentiment gefangen und leiden an einem schielenden Blick – sei es von unten oder von oben. Deshalb möchte ich im Folgenden den Versuch unternehmen, solch einen Perspektivwechsel anzuregen. Dazu muss man die Bedingungen der Kritik an den Reichen beleuchten und die Kritiker an ihren eigenen Maßstäben messen (vgl. Kap. 6).

Zu dieser Heilung des Ressentiments gehört auch die genauere Beschreibung des reichen Pöbels der Weltgesellschaft und seines Verhältnisses zum reichen Pöbel der westlichen Industrienationen, wir können auch sagen: des reichen Pöbels zweiter Klasse zum reichen Pöbel erster Klasse. Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, spreche ich vom reichen Pöbel der Weltgesellschaft, also dem reichen Pöbel zweiter Klasse, als den »Füchsen im Weinberg«, ein Bild, das ich bei Lion Feuchtwanger gefunden habe (vgl. Kap. 8).

Wenngleich meine Überlegungen die Frage aufwerfen, ob mit Blick auf die Bevölkerung des globalen Nordens (und ihrer Geschäftspartner im globalen Süden) nicht ganz allgemein von einer Pöblisierung zu sprechen wäre – so wie zuletzt etwa auch von einer Proletarisierung weiter Teile der Bevölkerung gesprochen worden ist – möchte ich als Pöbel der Weltgesellschaft nur das Besitz- und Bildungsbürgertum der westlichen Industrienationen bezeichnen, also diejenigen, von denen wir grosso modo auch als der neuen Mitte sprechen.13 Sie sind die Füchse im Weinberg. Ich verorte die Kritik an den Superreichen im Kontext der Strategien, mit denen dieses Milieu ihre eigene ökonomische und soziale Position zu legitimieren versucht, und zeige, wie diese Strategien eine Allianz befördern, die der neuen Mitte gefährlich werden könnte: nämlich die Verbindung des armen und des reichen Pöbels. Die jüngsten Wahlerfolge von Populisten weltweit zeigen, wie gefährlich diese sind. Gemeinsam schicken sich reicher und armer Pöbel an, der von ihnen umklammerten Mitte der Gesellschaft (und ihren sozialen und politischen Errungenschaften) den Garaus zu machen (vgl. Kap. 8 und 9).

***

Zuletzt noch zwei Anmerkungen in eigener Sache: Viele Aspekte meiner Untersuchung wären gesondert und damit auch differenziert zu untersuchen, z. B. einige Fragen der Ökonomie oder der Soziologie. Vertreter beider Disziplinen könnten mir vorwerfen, dass ich weder eine genaue ökonomische Analyse betreibe, noch eine (dann auch empirisch gesättigte) soziologisch ausgefeilte Gesellschaftstheorie formuliere, sondern nur eine philosophische Intervention. Aber genau das ist mein Anliegen. Ich habe den Eindruck, dass uns schwere Zeiten bevorstehen, und in denen kann die Philosophie nicht mehr tun, als die Feuerwehr zu spielen, wie der englische Philosoph Adam Ferguson das einmal genannt hat (vgl. Kap. 10).

Zweitens: Bei Michael Rutschky habe ich gelesen, dass eine Gesellschaftskritik, in der der Kritiker nicht auch selber vorkommt, keine Gesellschaftskritik ist, sondern nur die Kritik anderer Leute.14 Das finde ich sehr überzeugend. Wenngleich ich den mit dem Begriff »Gesellschaftskritik« verbundenen umfassenden Anspruch für den vorliegende Essay nicht teile, erkläre ich hiermit, dass auch ich mich zum Besitz- und Bildungsbürgertum und damit zum reichen Pöbel der Weltgesellschaft zähle, um den es im Folgenden geht, und zu den Kritikern des reichen Pöbels sowieso. Vielleicht schadet das meiner kleinen philosophischen Feuerwehrfahrt aber auch gar nicht. Die besten Ärzte, sagt Nietzsche, sind selber krank.

Kapitel 2: Der Spekulant als Raubtier

Mein erstes Beispiel für die Darstellung von Reichen entnehme ich der dritten Staffel von Fargo, einer Fernsehserie, die 2017 im Pay-TV ausgestrahlt worden ist. Eine Gemeinsamkeit zwischen allen Staffeln ist die, dass sie schildern, wie das Böse in den Alltag gewöhnlicher Leute einbricht. In der dritten Staffel ist dieses Böse ein Corporate Raider, wie die Fachleute sagen würden – ein Firmenplünderer also und sein Einbruch in das Leben eines anderen geschieht so: Der Finanzinvestor V. M. Varga hatte der eigentlich grundsoliden Firma Stussy Lots vor einigen Jahren einen Kredit gegeben und übernimmt sie nun als Partner. Er drängt sich mit Gewalt in die Geschäftsführung, nimmt in ihrem Namen horrende Kredite auf, steckt das Geld in die eigene Tasche und verschleudert das am Ende bankrotte Unternehmen an eine Mitverschwörerin. »Ist das ein Verbrechen?« fragt eine Polizistin den ermittelnden Finanzbeamten. »Nein«, antwortet dieser, »wenn es ordentlich gemacht wird, nicht«. Varga hat in seiner Gier das Geld aber nicht versteuert. Deshalb ermittelt jetzt die Finanzbehörde. Und er ließ einige Menschen ermorden, um seine feindliche Übernahme durchzusetzen. Daher ermittelt zusätzlich die Polizei. Indem Fargo die legale Gewalt des fremdfinanzierten Firmenkaufs mit den Verbrechen verbindet, die Varga begeht, zeigt die Serie die feindliche Übernahme eines Unternehmens als die grausame Gewalt eines kapitalistischen Räubers.

Varga selbst stellt sich indes als Freund und Beschützer vor. Eine der großen Szenen, in der er den Firmengründer Emmit Stussy zur Kooperation verführt, ist ein Monolog, in dem er den Zusammenbruch der Gesellschaft und das Ende der Ordnung prophezeit und einen neuen Krieg aller gegen alle: Die Armen dieser Welt, sagt Varga, werden sich gegen die Reichen erheben, auch gegen ihn, Stussy. Denn »ein Prozent der Bevölkerung kontrolliert 85 Prozent des Vermögens auf der Welt. Was glauben Sie, wird passieren, wenn ihnen klar wird, dass Sie ihr Geld haben?« Klar, Stussy sei nur ein kleiner Fisch, aber – anders als er – eben auch noch lange nicht reich genug, um unsichtbar zu sein. Und genau das werde ihn zum Opfer machen in dem Bürgerkrieg, der sich schon am Horizont abzeichne. »Es wird eine Abrechnung kommen, Mr. Stussy. Sie wissen, dass ich recht habe. Mongolenherden werden kommen.« Und diese werden keine Fragen stellen, wenn sie mit Fackeln und Mistgabeln vor seiner Tür auftauchen, um ihn und seine Familie zu lynchen. Überleben könne er das nur, wenn er so reich würde, dass auch er, wie Varga selbst, unsichtbar werden könne: »Eine Flotte von Privatjets mit Ködern, um die eigene Spur zu verwischen. Ein Banker in Wyoming und einer in Gstaad.«1 Das – oder der Tod.

Das eine Prozent gegen den Rest der Welt. Wir kennen diese Frontziehung spätestens seit der letzten Finanzkrise: Die eklatant ungleiche Verteilung des Reichtums führt früher oder später zum Bürgerkrieg. »Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut«, prophezeit z. B. der Historiker Eric Hobsbawm. »Der Kapitalismus wird brutal und chaotisch zusammenbrechen«, schreibt die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann.2 Aber hier spricht der reiche Pöbel selbst. Und stimmt ihr zu. Wir stehen am Rand des Krieges, so Varga.

Die Serie greift selbst eine berühmt gewordene Aussage des amerikanischen Großspekulanten Warren Buffett auf, der schon 2003 im Jahresbrief an die Investoren seines Fonds Berkshire Hathaway warnte, wenn es einen »Krieg der Klassen« gäbe, würde seine Klasse ihn gewinnen.3 Varga reichert diese Drohkulisse mit xenophoben Bedrohungen an, wendet sie ins Globale und spitzt die Lage zu: Der Bürgerkrieg steht schon vor der Tür und wenn demnächst die Welt untergeht, überleben nur die Reichsten. Deshalb, sagt Varga, heißt es, schnell noch so viel wie möglich zusammenzuraffen.

Für viele, die sich zu den Reichsten zählen, scheint diese Vision durchaus realistisch zu sein. Sie raffen nicht nur, was sie können, sondern sie rüsten auch ihre Megayachten mit Raketenabwehrsystemen aus, bauen sich Bunker für den Doomsday, üben den Schusswaffengebrauch und heuern Söldnerheere an, um sich vor den übrigen 99% der Menschheit in Sicherheit zu bringen.4 Auch für Stussy, den eher bescheidenen Parkplatzkönig von Eden Valley, hat diese Rede vom Survival of the Richest etwas Verlockendes. Sie bringt ihn dazu, Varga zum Partner zu machen, was schließlich zu seinem Untergang führt: zum Verlust seiner Firma und seines Vermögens und zur Vertreibung aus dem Paradies.

Die Vertreibung explizit zu machen, scheint dem Autor von Fargo, Noah Hawley, besonders wichtig zu sein, denn er siedelt die Handlung in dieser Staffel nicht mehr in North Dakota an, sondern in Minnesota und vor allem in Orten mit sprechenden Namen wie Eden Valley, St. Cloud und Eden Prairie. Und er legt die Figur Vargas als Schlange an. Er lispelt und zischt, er kriecht und schleicht, er sticht den Menschen in die Ferse, er würgt – und er häutet sich sogar: In dem Moment, in dem seine Gegenspieler drohen, seiner habhaft zu werden, kann er entkommen, indem er seinen allzeit wie eine zweite Haut getragenen Mantel abwirft. Zudem erbricht er wie eine Schlange, was er gegessen hat, denn Varga ist Bulimiker. Er frisst unerdenkliche Mengen in sich hinein und würgt sie sogleich wieder heraus. Beides wird von ihm zelebriert, manisch-lustvoll das eine, genüsslich-selbstquälerisch das andere. Damit veranschaulicht Varga nicht nur die alles verzehrende Kraft des Geldes, die er als Corporate Raider vertritt, sondern auch die gleichfalls alles vernichtende Gier der Superreichen. »Wir essen bis zum Erbrechen vom überreichen Tisch des Lebens«, sagt in Lone Scherfigs gleichnamigem Film der Gründer des Riot Clubs – einer Studentenverbindung aus Oxford, die dem elitären Bullingdon Club nachempfunden ist, in dem sich seit einigen hundert Jahren die Kinder der Superreichen und zukünftigen Politiker treffen.5 Boris Johnson und David Cameron waren gemeinsam dort. Varga, illegitimer Sohn eines englischen Hausmädchens und eines Ex-Bankers aus der City of London, nimmt das Motto der Rich Kids of Oxford wörtlich und begleitet jede größere Transaktion mit einem sadomasochistischen Wechselspiel seiner Verdauung. »Ökonomische Fressgier«, sagt auch der Philosoph Harry G. Frankfurt, ist das zentrale Merkmal derer, die selbst zu viel haben und anderen zu wenig lassen.6

Vargas Zähne sind durch die beim Rauswürgen hochgespülte Magensäure schon ganz zerfressen. Ständig puhlt er mit einem Stab in ihren Kratern. Vorn sind nur noch kleine Spitzen übrig, gelb verklebt und giftig wie die Fänge einer Viper. Durch sie zischt er seine verführerischen und bedrohlichen Reden.

Das alles zusammen gibt ihm den Anschein des Dämonischen und dieser Nimbus wird durch seine geisterhafte Unscheinbarkeit und Unbestimmtheit noch verstärkt. Denn Varga ist nicht zu fassen. Die Unsichtbarkeit, mit der er vor Stussy prahlt, verdankt sich nicht nur seinen Kniffen und Winkelzügen, sondern auch seiner Tarnung als einfacher Handlungsreisender. Er ist die Personifikation dessen, was Joseph Vogl das »Gespenst des Kapitals« genannt hat, unberechenbar, übermächtig und furchteinflößend,7 und in der perfiden Effizienz, mit der er seine Zwecke verfolgt, eine Personifikation des Bösen in der Welt. Varga spricht das auch ganz offen aus. Auf dem Weg zum Höhepunkt seines Triumphes erklärt er Stussy, das Problem sei nicht das Schlechte in der Welt, sondern dass es das Gute gäbe, denn wen würde das Schlechte sonst stören. Und als er mit der Firma Stussy Lots fertig ist und Emmit erschöpft zusammenbricht, sagt er zu ihm, diese Entkräftung sei völlig normal, im Tierreich sehe man das die ganze Zeit. »Das kleine Tier, das im Maul des großen schlaff wird. Das ist genetisch programmiert. Irgendwo tief drinnen weiß Nahrung, dass sie Nahrung ist.«8

Der Kapitalist als Raubtier: Das ist eine neue, verschärfte Darstellung der Reichen. In Fargo ist das Raubtierhafte Vargas allerdings ironisch gebrochen und ins Groteske überhöht, so wie es Nikolai Gogol mit dem Dämonischen des gleichfalls geisterhaften Spekulanten in seinem Roman Tote Seelen (1842) gemacht hat, dem Varga bis hin zur mobilen Kommandozentrale, in der er reist, nachempfunden ist (ein dunkler Truck, bei Gogol ist es freilich noch eine Kutsche). Gogol hat von seinem dämonischen Spekulanten gesagt hat, er wolle in ihm einen Teufel zeigen, über den man lachen kann.9 Das ließe sich auch von Varga sagen. Aber teuflisch bleiben sie doch, die Spekulanten, und mit dieser Dämonisierung zeigt Fargo exemplarisch, wie heute über die Reichen gesprochen wird und wie sie gesehen werden.