Ashley Carrington
Roman
Das Jahr 1913 brachte für die Farmer und Weinbauern einen guten Abschluss, weil der einkehrende Sommer das Barossa-Tal einmal nicht mit sengender Hitze überfiel, sondern ausgeglichen warme Sonnentage mit gelegentlich höchst willkommenen Regenschauern brachte. Dieses gute Wetter hielt bis weit in den Herbst hinein an, sodass zur Erntezeit die Dolden prächtig gereift von den Rebstöcken hingen.
Wenn ein Großteil der neu angepflanzten Reben auch noch keine Frucht trug, die sich vermarkten ließ, so gab es dennoch auch auf Maralinga Grund zur Freunde. Immerhin fiel die Ernte in diesem Jahr so gut aus, dass Lena neben den Rücklagen noch genug Geld übrig hatte, um mit Burkhardts finanzieller Unterstützung ihren Geschwistern deren größten Wunsch erfüllen zu können: eigene Fahrräder!
Und Burkhardt nahm den guten Ertrag zum Anlass, bei Isaak Rosenberg einige gebrauchte Bücher zu erstehen, nämlich eine sechsbändige Ausgabe von Charles Dickens’ Romanen, die ihm der fahrende Händler wegen der erheblichen Beschädigungen an den Einbänden besonders preiswert überließ. Ein ganzes Jahr schon hatte er mit sich gerungen, ob er sich diese Ausgabe wohl leisten sollte. Wann immer der alte Rosenberg auf dem Markt von Tanunda seine kleinen Regale um seinen Kastenwagen aufgestellt hatte – was ja nur einmal im Monat der Fall war –, hatte Burkhardt die Bücher zur Hand genommen und in ihnen geblättert. Nun hatte er der Versuchung nicht mehr widerstehen müssen.
Burkhardt kümmerte sich auch um preisgünstige Fahrräder. Er hatte sich schon Wochen zuvor umgehört und schließlich in Gawler einen Händler ausfindig gemacht, der gebrauchte Fahrräder aufkaufte, wieder in Schuss brachte und zu einem akzeptablen Preis verkaufte. Was war die Freude groß, als Andreas, Marianne und Franziska am Ostermorgen nach der Messe zu Hause drei Fahrräder auf der Veranda vorfanden! Burkhardt, der unter einem Vorwand nicht mit ihnen zur Kirche gefahren, sondern später mit dem Buggy nachgekommen war, hatte die Räder mit bunten Schleifen geschmückt und jedem ein Namensschild angehängt.
Lena und Burkhardt, der seine Tochter in einem hübsch geblümten Kleidchen auf dem Arm hatte, das Lena ihr genäht hatte, strahlten sich an, als sie sahen, wie begeistert Andreas, Marianne und Franziska über das unerwartete Geschenk waren.
»Ein Fahrrad! Das ist die Erfüllung meiner Träume!«, rief Marianne überschwänglich und beteuerte, nun wunschlos glücklich zu sein.
Mit Mariannes Wunschlosigkeit war es allerdings nicht weit her, wie es sich wenige Monate später zeigte, als sie darauf drängte, von der ihr verhassten Schule gehen und eine Lehrstelle antreten zu dürfen.
Lena wollte erst nichts davon wissen. »Du beendest deine Schule, und damit hat es sich! Basta!«, erklärte sie energisch.
Aber damit hatte es sich ganz und gar nicht. Marianne, die sich schon immer sehr schwergetan hatte und nie über mittelmäßige Zensuren hinausgekommen war, lag ihr nun monatelang täglich mit ihrem Gejammer und Gebettel in den Ohren, sie doch endlich vom Joch der Schule zu befreien. »Ich bin einfach nicht für stupides Bücherwissen und so was geschaffen, Lena!«
»Bücherwissen ist nicht stupide, sondern die Grundlage für dein ganzes Leben. Später wirst du es schätzen, wenn du eine gute Ausbildung hast«, redete Lena ihr gut zu.
»Ach was, später bin ich verheiratet und habe Kinder und ein eigenes Haus, für das ich zu sorgen habe«, widersprach Marianne trotzig und ließ einfach nicht locker.
Nichts half, nicht einmal Burkhardts Bemühungen, sie zur Einsicht zu bringen. Marianne hatte es sich in den Kopf gesetzt, von der Schule zu gehen, und mit der quengeligen, verdrießlichen Beharrlichkeit, zu der sie nun mal fähig war, machte sie allen im Haus das Leben schwer. Widerspenstig widersetzte sie sich allem guten Zureden und ließ sich auch von Zurechtweisungen und Drohungen nicht beeindrucken.
»Soll sie doch ihren Willen haben und sehen, wie es ist, Lehrmädchen zu sein!«, sagte Burkhardt an einem heißen Novemberabend, als Lena ihm wieder einmal ihr Leid klagte. »Und wer weiß, vielleicht liegt ihr etwas Praktisches ja wirklich mehr als die Lernerei. Was gut ist für mich und für dich, muss nicht zwangsläufig auch das Richtige für Marianne sein.«
Und so bekam Marianne schließlich ihren Willen. Sie kehrte nach den Weihnachtsferien nicht in die Schule zurück, sondern trat in den ersten Januartagen des Jahres 1914 im Kolonialwarenladen von Erna und Otto Neumann in Tanunda ihre Lehrstelle an. Ihr glückliches Lächeln der ersten Tage hielt jedoch ebenso wenig an wie die Wunschlosigkeit, die sie beim Anblick ihres Fahrrads verkündet hatte. Sie begriff schnell, dass ihre neue Freiheit ihr genauso enge, ja vielleicht sogar noch einschneidendere Grenzen setzte wie die Schule und der Alltag auf Maralinga unter der Aufsicht ihrer älteren Schwester – die sie in gereizter Stimmung öfters als »Fuchtel« bezeichnete.
Aber ihr Stolz verbot es ihr, sich zumindest Lena und Burkhardt gegenüber allzu sehr darüber zu beklagen, wie heftig Erna und Otto Neumann sie in ihrem Laden herumkommandierten und ihr eine unangenehme Arbeit nach der anderen auftrugen. Zudem nahm es ihr Arbeitgeber offensichtlich sehr genau und ließ ihr keine Nachlässigkeiten durchgehen.
»Was willst du denn? Hat dich vielleicht jemand gezwungen, die Schulbank gegen die Ladentheke eines Krämerladens einzutauschen?«, hielt Andreas ihr völlig ungerührt, ja fast schon unfreundlich vor, als Marianne einmal beim Abendessen doch eine Klage über die Strenge und angebliche Tyrannei von Erna und Otto Neumann herausrutschte. »Du hast es doch selbst so gewollt und uns monatelang mit deinem Gejammer in den Ohren gelegen und tausendmal beteuert, dass es dein größter Wunsch sei, bei den Neumanns als Lehrmädchen anzufangen!«
»Jetzt wirst du wohl endlich begreifen, wie gut du es auf der Schule und unter der angeblichen Fuchtel deiner Schwester gehabt hast«, bemerkte Burkhardt trocken.
Marianne machte eine beleidigte Miene, erwiderte jedoch nichts. Sie klagte auch nie wieder, wie schwer sie es bei den Neumanns hatte, und das wiederum rechnete Lena ihr hoch an.
»Heute ist mir so richtig zu Bewusstsein gekommen, dass Andreas und Marianne allmählich erwachsen werden«, sagte Lena zu Burkhardt, als sie an einem herbstlichen Samstagabend von der Andacht nach Hause kamen.
Burkhardt nickte. »Andreas ist wieder ein Stück in die Höhe geschossen und er hat sich gut gemacht«, stellte er voller Anerkennung fest. »In ein, zwei Jahren wird er seinen Mann stehen, egal wofür er sich entscheidet.«
Lena lächelte. »Ja, mit ihm und mit unserem Nesthäkchen Franziska habe ich wirklich die wenigsten Schwierigkeiten«, meinte sie stolz. Ihr Bruder hatte mit seinen bald sechzehn Jahren seine Schlaksigkeit verloren und sich zu einem gut aussehenden jungen Mann entwickelt, der kräftig zupacken konnte und die Arbeit auch nicht scheute, obwohl er ein ausgesprochener Bücherwurm war und stundenlang allein in seinem Zimmer zubringen konnte. Sein Gesicht wies schon männliche Züge auf, und Lena war aufgefallen, dass er den Mädchen in Marienthal mit derselben Mischung aus Neugier, vermeintlicher Überlegenheit und Verlegenheit nachblickte, mit der andere Jungen in letzter Zeit Marianne ansahen. Ihre Schwester stand sichtlich an der Schwelle zur jungen Frau. Ihr Körper hatte an Hüften und Brust unübersehbar reizvolle weibliche Rundungen entwickelt, und ihr wachsendes Interesse am anderen Geschlecht vermochte sie nicht zu verbergen, selbst wenn sie meinte, dass ihr das gelänge.
»Marianne wird schon noch zu sich selbst finden«, sagte Burkhardt zuversichtlich. »Gib auch ihr noch ein, zwei Jahre, und all das wirre Zeug, das ihr heute noch durch den Kopf geht, wird im frischen Wind der rauen Wirklichkeit nicht lange Bestand haben. Du siehst ja jetzt schon, wie sie manches mit anderen, viel nüchternen Augen sieht.«
Lena seufzte. »Das hoffe ich sehr!«
»Du hast getan, was du konntest.«
»Vielleicht war es nicht genug?«
»Dummes Zeug!«, widersprach er.
»Aber was wusste ich denn schon davon, wie man Kinder aufzieht?« Sie stutzte plötzlich und schüttelte mit einem versonnenen Lächeln den Kopf.
»Was ist?«, fragte Burkhardt.
»Weißt du, dass es wahrhaftig schon vier Jahre her ist, seit ich aus dem Kloster zurückgekommen bin?«
Er sah sie nachdenklich an. »Eine lange Zeit, wenn man sie vor sich hat – und so schnell verflogen, wenn man sie im Rückblick betrachtet, findest du nicht auch?«
»Ja, manchmal kommen mir die letzten Jahre wie ein ganzes Leben vor, als wäre es immer so gewesen. Und dann wiederum gibt es Momente, in denen mich das Gefühl überfällt, als wäre es erst gestern gewesen, dass mich Schwester Dominika nach Murray Bridge zu dieser schäbigen Bahnstation gefahren hat und ich nach Maralinga zurückgekehrt bin – völlig verstört und erschüttert vom Tod meiner Eltern, hadernd mit meinem ungnädigen Schicksal, das mich aus dem Kloster vertrieb, und voller Beklemmungen und Ängste, all dem, das mich erwartete, nie und nimmer gewachsen zu sein.«
»Du hast bewiesen, dass das Gegenteil der Fall ist«, sagte Burkhardt ernst. »Und wenn ich das nicht gewusst hätte, hätte ich dir auch niemals Anna-Katharina anvertraut.«
Lena schüttelte verlegen den Kopf. »Bitte, sag so etwas nicht, Burkhardt!«
»Es stimmt aber«, erwiderte er schlicht, wechselte jedoch zu ihrer Erleichterung das Thema und kam auf die besseren Erträge zu sprechen, die Cawarra und Maralinga in den letzten Jahren erzielten. Sie waren sich einig, dass die Aussichten für die kommenden Jahre überaus hoffnungsvoll waren.
Der unverhoffte Frosteinbruch, der wenige Tage später das Barossa-Tal heimsuchte, führte den beiden jedoch einmal mehr mit Nachdruck vor Augen, dass die Natur derartige Hoffnungen im Handumdrehen zunichtemachen konnte. Immerhin vermochten sie sowohl auf Cawarra als auch auf Maralinga verheerende Schäden zu verhindern, indem sie in den Weinbergen alle zwanzig Fuß flache Feuergruben aushoben sowie Eimer und Wannen aus Blech aufstellten, die sie mit Kohle und Brennholz füllten und bei Einbruch der Dunkelheit mit Benzin tränkten. Gegen Mitternacht, als die Temperaturen dann bestürzend schnell auf die Frostmarke fielen, setzten sie diese kleinen Scheiterhaufen in Brand. Stunde um Stunde fuhren sie mit dem Buggy zwischen den beiden Gütern hin und her, machten die Runde durch die langen Gassen der Rebstöcke, legten immer wieder Scheite und Kohle nach und gaben acht, dass die Feuer bis in den Morgen nicht ausgingen. Dass auch Andreas, Marianne und Franziska in dieser kritischen Situation um ihren Schlaf kamen und mithelfen mussten, verstand sich von selbst. Es wurde in diesen Nächten überall in den Obsthainen und auf den Weingütern im Barossa-Tal jeder gebraucht, der die Feuerstellen beaufsichtigen und Holz nachlegen konnte.
Dichte Rauchschleier waberten im ganzen Tal durch die Weinberge, sodass ein ahnungsloser Reisender den Eindruck haben konnte, eine gewaltige Feuersbrunst wäre durch das Barossa-Tal gefegt und hätte nur schwelende Erde zurückgelassen. Der Qualm und die Wärme bewahrten jedoch einen Großteil der Weinstöcke, insbesondere die jungen Setzlinge, vor der zerstörerischen Kraft des Frostes, der sich im Morgengrauen überall dort als eisig weißer Tau fand, wo die Natur ungehindert hatte walten können.
»Wir sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen!«, sagte Burkhardt mit einem Stoßseufzer der Erleichterung, als Regen die Kälte brach und die Gefahr somit gebannt war.
Am selben Tag traf auf Maralinga ein kurzer Brief von Patrick ein, der eine französische Briefmarke trug und in Paris abgestempelt worden war. Darin teilte er Lena mit, dass sich seine Ehe mit Waltraud als Fehler erwiesen habe und sie übereingekommen seien, sich scheiden zu lassen. Da aus der Verbindung keine Kinder hervorgegangen seien, was sich nachträglich als glückliche Fügung erwiesen habe, und keiner vom anderen irgendwelche Zahlungen fordere, sei die Scheidung recht unkompliziert für sie beide.
Er schrieb …
Liebe Lena,
… heute weiß ich, dass ich mich in diese Ehe mit Waltraud im wahrsten Sinne des Wortes geflüchtet habe, statt sie im Bewusstsein wirklicher Liebe einzugehen. Ich dachte, Waltraud könnte mich vergessen machen, was ich für Dich empfand. Und in gewisser Weise haben die zwei Jahre, die ich mit Waltraud verheiratet war, mich tatsächlich von diesen alten Wunden geheilt. Sie haben mir aber gleichzeitig auch die Augen dafür geöffnet, dass wir nicht füreinander geschaffen sind, zumindest nicht für die Dauer eines langen und glücklichen Lebens. Die Frau, die das möglich machen kann, muss ich erst noch finden – oder besser noch sie mich …
Es schmerzte Lena, als sie das las. Denn sie hatte es Patrick gewünscht, dass er in der Ehe mit Waltraud das Glück finden würde, das sie ihm nicht hatte schenken können.
Am selben Abend las Burkhardt in der Zeitung, dass am anderen Ende der Welt, gute zwölftausend Meilen von Australien entfernt – an einem Ort in Bosnien, der sich Sarajevo nannte und von dem die Wenigsten wussten, dass es ihn überhaupt gab, geschweige denn, wo auf der Weltkarte er zu suchen und zu finden war – ein Attentäter tödliche Schüsse auf den österreich-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie von Hohenberg abgegeben hatte.
Er erwähnte dieses Ereignis Lena gegenüber nur mit einer kurzen Bemerkung und tat den verbrecherischen Anschlag als tragische, aber bedeutungslose Fußnote der Weltgeschichte ab. Wie hätte er auch ahnen sollen, dass die Welt am Vorabend des Ersten Weltkrieges stand? Eines Krieges, der bald auch auf dramatische Weise in ihr Leben im Barossa-Tal eingreifen sollte.
Als deutsche Truppen am 3. August 1914 in Belgien einfielen und damit dessen Neutralität verletzten, um nach dem Geheimplan von Generalstabschef Schlieffen dem französischen Heer an seiner nur ungenügend gesicherten Grenze zu Belgien hin mit einem Überraschungsangriff in die offene Flanke zu fallen, erfolgte um Mitternacht die englische Kriegserklärung.
Tags darauf verkündete der australische Premierminister Joseph Cook in Melbourne, dass sich nun auch Australien im Krieg mit Deutschland befände und eine Freiwilligentruppe entsenden würde, die zuerst einmal zwanzigtausend Mann umfassen sollte. »Unsere Pflicht ist eindeutig. Wir haben zum Kampf zu rüsten und uns daran zu erinnern, dass wir Briten sind!«
Wie in den Städten Deutschlands, Englands und Frankreichs, so bejubelte auch die australische Bevölkerung in überschwänglich patriotischer Begeisterung den Ausbruch des Krieges im fernen Europa. Die jungen Männer drängten zu den Musterungsbehörden, weil keiner dieses »Abenteuer« verpassen wollte. Denn alle, auch die Europäer, waren davon überzeugt, dass der Krieg nur wenige Monate dauern und schon vor Weihnachten entschieden sein würde.
Unter den deutschstämmigen Bewohnern des Barossa-Tals wurde die Nachricht, dass England und Australien in den Krieg gegen Deutschland eingetreten waren, mit eher gemischten Gefühlen aufgenommen.
»Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten uns aus diesem unseligen Konflikt herausgehalten«, kommentierte Burkhardt die Ereignisse. »Aber da dem nun einmal so ist, gibt es für mich keinen Zweifel, welcher Seite mein Herz gehört – und das ist Australien!«
So wie er dachte die Mehrzahl der deutschstämmigen Bevölkerung, und überall im Land bekundeten deutsche Einwanderer auf Versammlungen, öffentlichen Kundgebungen und in Leserberichten an diverse Zeitungen ihre Loyalität zu dem Land, das ihre neue Heimat geworden war und das sie eingebürgert hatte. So mancher, der sich in den ersten Augustwochen als Freiwilliger in die Musterungslisten einschrieb, trug deshalb einen deutschen Namen.
Nur wenige, denen Australien auch nach Jahrzehnten innerlich noch fremd geblieben war und die das Land ihrer Väter aus der Ferne verherrlichten, ergriffen für Kaiser Wilhelm Partei und hießen sein Kriegstreiben gut. In Marienthal gehörten Gottfried Gödecke und Paul Pohlbrecht zu dieser verschwindend kleinen Minderheit.
»Unsere gestählten kaiserlichen Truppen werden diesen wachsweichen Waschlappen von Pommies schon eine Abreibung verpassen!«, verkündete der Bestatter hämisch, als die Gottesdienstbesucher am Sonntag nach dem Kirchgang wie üblich in kleinen Gruppen auf dem Vorplatz zusammenstanden und sich über den Krieg unterhielten.
»Ja, die Briten werden noch ihr blaues Wunder erleben!«, pflichtete ihm Gottfried Gödecke großspurig bei und zwirbelte dabei das hochstehende Ende seines Kaiser-Wilhelm-Schnurrbartes. »Von den Franzosen ganz zu schweigen!«
Burkhardt war nicht der Einzige, der auf der Stelle gegen solche Reden protestierte und entrüstet daran gemahnte, in welchem Land sie seit Jahrzehnten lebten und zu Wohlstand und Ansehen gekommen waren und wem sie daher Loyalität schuldig waren.
Erschrocken über die vehemente Empörung machten Gödecke und Pohlbrecht dann einen Rückzieher und beteuerten, es ja gar nicht so gemeint zu haben.
»Was für verbohrte Dummköpfe!«, schimpfte Wilhelm Luckenbach im Weggehen. »Wissen sie denn nicht, was sie diesem Land schuldig sind?«
Auch Hubert Kroll zeigte Unverständnis. »Verantwortungslos ist dieses Gerede, selbst wenn Gödecke und Pohlbrecht in politischer Hinsicht nicht ernst zu nehmen sind!«, polterte er. »Die beiden haben offenbar noch nicht begriffen, dass sie sich mit solchen Äußerungen eine Menge Ärger einhandeln und noch andere in Misskredit bringen können, die einen deutschen Namen tragen, ganz gleich, ob sie irgendwann einmal aus Deutschland eingewandert oder schon als Australier zur Welt gekommen sind!«
»Recht hat er!«, pflichtete ihm der Apotheker Riedberg mit besorgter Miene bei. »Die Leute scheren einen schnell über einen Kamm; die einen aus Unwissenheit, die anderen, weil die Gehässigkeit sie treibt. Habe ich doch heute schon jemanden sagen hören, dass man von Stund an alle Barossa-Deutschen scharf im Auge behalten müsse. Und ein Nachbarskind, mit dem meine Tochter bisher einen recht netten Kontakt hatte, will plötzlich nichts mehr mit ihr zu tun haben. Sie hat unsere Frederike sogar angespuckt und sie eine hinterhältige Hunnengöre geschimpft!«
Bestürzung zeigte sich auf den Gesichtern der Umstehenden, zu denen auch Lena und Burkhardt zählten.
Konrad Wiebke winkte ab. »Nimm das mal nicht so ernst, Heinrich. Das ist nur so eine dumme Überreaktion im Zuge der ersten Aufregung. Da bringen die Leute manches durcheinander. Diese Unruhe wird sich schon wieder legen.«
»Genauso sehe ich es auch, Konrad!«, stimmte ihm der alte Kowald zu, der recht gebrechlich war, es geistig jedoch noch mit jedem aufnahm, der es wagte, ihn herauszufordern. »Das ist nichts weiter als ein Sturm im Wasserglas. Die ersten deutschen Siedler trafen doch 1838 schon hier ein und haben südaustralischen Boden urbar gemacht, als die meisten Briten noch nicht einmal wussten, wo diese Sträflingskolonie am anderen Ende der Welt eigentlich liegt, in die sie den Abschaum aus ihren überfüllten Gefängnissen verbannt hatten. Unsere Vorfahren und viele von uns haben in diesem Land harte Pionierarbeit geleistet, und die wurde stets anerkannt. Das ist eine historische Tatsache, die noch niemand in Zweifel gezogen hat! Nein, wir Deutschstämmigen, vor allem wir Barossa-Deutschen, die dieses Tal zu einem fruchtbaren Landstrich gemacht haben, sind genauso Australier wie jeder andere hier. Da brauche ich nicht erst meine Einbürgerungspapiere hervorzukramen. Und was unsere englischen Mitbürger betrifft, so kennen wir einander ja seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten und wissen, was wir voneinander zu halten haben. Niemand wird so einfältig oder so bösartig sein, an unserer Loyalität zu zweifeln.«
»So ist es!«, bekräftige Konrad Wiebke noch einmal. »Zumal wir doch längst eingebürgert sind und uns genauso als Südaustralier fühlen wie jeder Brite oder Ire, der sich hier niedergelassen und dieses Land als seine neue Heimat angenommen hat!«
Die meisten Umstehenden stimmten vorbehaltlos zu, entweder aus Überzeugung oder weil sie einfach daran glauben wollten. Doch wie wenig berechtigt diese Zuversicht war, die auch Lena und Burkhardt anfangs noch teilten, bewiesen die besorgniserregenden Vorfälle der folgenden Wochen.
Schon am 10. August wurden alle Deutschen und wenig später auch alle Österreicher von Regierungsbehörden unter Strafandrohung aufgefordert, sich unverzüglich bei ihrer lokalen Polizeiwache registrieren zu lassen und das sogenannte »gelbe Formular« auszufüllen. Diese ehrverletzende Verordnung rief unter den Barossa-Deutschen, die sich ganz und gar nicht als aliens, als Fremde, fühlten, helle Empörung hervor. Doch die Wenigsten wagten, ihre Entrüstung und ihren Protest gegen diese Behandlung auch öffentlich zu äußern.
Burkhardt war einer der Wenigen, der sich auf dem Polizeirevier von Tanunda laut und deutlich dagegen verwahrte, wie ein Krimineller behandelt zu werden. »Ich habe zwanzig Jahre in diesem Land gelebt, und seit fünfzehn Jahren bin ich australischer Bürger, dem dieselben Rechte zustehen wie jedem anderen Australier auch!«, entrüstete er sich in der überfüllten, schäbigen Wachstube.
Zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den Männern und Frauen, die sich an diesem Morgen in der Polizeiwache zur Registration eingefunden hatten.
»Und jetzt soll ich einen seitenlangen Fragebogen ausfüllen, dessen Fragen eine einzige Unverschämtheit für jeden aufrechten Bürger sind? Sogar über meinen Besitz und meine Finanzen soll ich Auskunft geben!«, fuhr Burkhardt erregt fort und beachtete Lena nicht, die ihm Zeichen machte, sich nicht so in Rage zu reden.
»Halten Sie hier bloß keine aufrührerischen Reden, Mann, sondern füllen Sie gefälligst das Formular aus, und dann machen Sie, dass Sie verschwinden!«, herrschte ihn Sergeant Trevor Malone an. Der untersetzte Mann mit einem Allerweltsgesicht, der zusammen mit den beiden ihm unterstellten Constables Timothy White und Jack Fitzroy die Polizeigewalt im Distrikt von Tanunda ausübte, baute sich hinter der Absperrung auf, die seine Wachstube unterteilte. Er genoss sichtlich die unerwartete Macht, die ihm praktisch über Nacht zuteilgeworden war.
Burkhardt fixierte ihn mit grimmigem Blick. »Wir leben hier in einer Demokratie. Und da kann mir niemand verbieten, meine Meinung zu sagen, Sergeant!«, erwiderte er kämpferisch. »Das ist mein verbrieftes Recht. Ich bin genauso Australier wie Sie!«
»Das wird sich ja noch herausstellen!«, blaffte der Sergeant ihn an. »Und jetzt füllen Sie endlich das Formular aus, oder ich lasse Sie auf der Stelle festnehmen!«
»Machen Sie bloß, was er sagt, Helmsdorf«, raunte ihm einer der Männer warnend zu und zog ihn von der Theke weg. »Ob Sie es glauben oder nicht, aber der Kerl hat wirklich das Recht, jeden festzunehmen, den er landesverräterischer Umtriebe verdächtigt. Ich habe die Verordnung gelesen. Es reicht der bloße Verdacht, wohlgemerkt! Beweisen muss er gar nichts. Also bringen Sie sich nicht in Teufels Küche. Das ist der aufgeblasene Bursche doch gar nicht wert.«
Zähneknirschend schluckte Burkhardt jeden weiteren Protest hinunter und füllte den Fragebogen aus. Als er das Formular abgab, kam es erneut zu einem Zusammenstoß mit dem Sergeant.
»Können Sie nicht lesen, Mann?«, fuhr Malone ihn mit geringschätziger Miene an. »Hier steht doch klar und deutlich, dass Sie die Namen von ehrbaren Bürgern aufzuführen haben, die Sie kennen und die Ihre Unbedenklichkeit bezeugen können!«
»Mir scheint, dass Sie Schwierigkeiten mit dem Lesen haben!«, konterte Burkhardt bissig. »Ich habe Ihnen ein halbes Dutzend Namen genannt!«
Sergeant Malone funkelte ihn an. »Werden Sie mir bloß nicht frech, Herr Helmsdorf! Es sind allesamt deutsche Namen, die sich auf Ihrem Formular finden! Hier werden aber die Namen von ehrbaren Bürgern verlangt, und als solche gelten laut Dekret nur Australier britischer Herkunft. Also füllen Sie das noch einmal aus!« Er zerriss den ausgefüllten Fragebogen vor Burkhardts Augen und sah ihn mit herausfordernd hochgezogenen Brauen an, wie er nun wohl reagieren würde.
Lena schob sich hastig an Burkhardts Seite und fasste ihn am Arm, als fürchte sie, er könnte jeden Moment einen Satz über die Absperrung machen und sich auf den Sergeanten stürzen. »Lass dich nicht provozieren!«, flüsterte sie mit wild schlagendem Herzen, denn sie wusste, dass Burkhardt kurz davorstand, die Beherrschung zu verlieren. »Das will er doch nur. Tu ihm diesen Gefallen nicht, bitte!«
Einen Augenblick stand Burkhardt in regloser Anspannung da, die Hände zur Faust geballt, während er Malone anstarrte. Dann öffneten sich seine Fäuste und seine Schultern gaben nach. Wortlos nahm er ein neues Formular vom Stapel, drehte sich um und begann ein zweites Mal mit dem Ausfüllen.
Als Lena mit ihm schließlich die Polizeiwache verließ, hörte sie ihn leise sagen: »Ich kann es nicht glauben, dass sie uns das antun.« Er klang mehr fassungslos als empört, so als würde der Schock der Erkenntnis, dass er per Regierungsdekret von heute auf morgen ein Australier zweiter Klasse geworden war, ja vielleicht sogar als feindlicher Ausländer eingestuft werden könnte und vor dem Gesetz jede Rechtssicherheit verloren hatte, ihn erst jetzt richtig treffen.
»Das kann nicht so weitergehen, Burkhardt«, versicherte ihm Lena, weil sie nicht glauben konnte, dass die demokratischen Grundprinzipien und Rechte, deren sich doch jeder britische und australische Bürger traditionell so voller Stolz rühmte, plötzlich per Federstrich außer Kraft gesetzt sein sollten. »Krieg hin oder her, da hat jemand den Bogen gewaltig überspannt und einen schwerwiegenden Fehler begangen. Die Leute werden schon zur Vernunft kommen und erkennen, dass sie so nicht mit uns umgehen können!«
Burkhardt sah sie nur stumm und voller Zweifel an.
Lenas Hoffnung erfüllte sich nicht. Im Gegenteil, die pauschalen Verdächtigungen und Diskriminierungen, die in den Regierungsdekreten zum Ausdruck kamen, ermutigten gewisse Bevölkerungsschichten, auf ihre Weise gegen die plötzlich verhassten Hunnen und Teutonen in ihrem Land vorzugehen.
Es begann damit, dass Unbekannte nachts durch die Straßen und Gassen der Ortschaften schlichen und die Auslagen von deutschen Geschäften einwarfen. In Marienthal schmierten Täter, die niemand gesehen haben wollte, mit schwarzer Farbe Dreckiger Teutone, verschwinde aus unserem Land! auf eine Werkstattwand. Am selben Morgen fanden Heinrich Riedberg und Gottfried Gödecke nur noch einen Haufen Scherben vor, wo am Abend noch Ladenfenster gewesen waren. Beide ließen sofort neues Glas einsetzen, doch schon eine Woche später zerbarsten die Scheiben erneut unter einem nächtlichen Hagel von Steinen, die von feiger Hand aus dem Dunkel geworfen wurden.
In Tanunda kam es zu noch schlimmeren Ausschreitungen. Da flogen nachts nicht nur Steine in die Fenster von Geschäften und Wohnhäusern deutschstämmiger Einwanderer, sondern es rissen in manchen Läden die Randalierer Schränke und Regale von den Wänden und zertrümmerten mit Axt und Brechstange die halbe Einrichtung, bevor sie feige die Flucht ergriffen. Auch das Geschäft der Neumanns wurde wiederholt Ziel solcher nächtlicher Attacken von hasserfülltem Vandalismus.
Und nicht einer der Täter wurde gefasst, obwohl es fast jede Nacht zu derartigen Sachbeschädigungen kam. Sergeant Malone und seine Männer zeigten ein auffälliges Desinteresse an den Klagen und Bitten um Hilfe sowie den gelegentlichen Hinweisen, mit denen betroffene Opfer und Anwohner zur Polizeistation kamen. Mit provokanter Ruhe nahmen sie die entsprechenden Protokolle auf und versicherten scheinheilig, sich der Sache unverzüglich anzunehmen – um die Protokolle noch vor den Augen der Betroffenen, die soeben Anzeige gegen Unbekannt erstattet hatten, einfach abzuheften.
Sogar handfeste Hinweise, die zu einer Verhaftung, zumindest aber zu einem eingehenden Verhör hätten führen müssen, wurden als nicht schlüssig abgetan und nicht weiter verfolgt. Und wer sich zu beschweren wagte, erhielt die kaum verhohlene Drohung, dass ihm noch etwas viel Übleres zustoßen könne als ein paar zertrümmerte Fenster und demoliertes Mobiliar.
»Sergeant Malone und seine Leute decken die Täter! Sie machen gemeinsame Sache mit dem randalierenden Pöbel!«, machte sich bald die bittere Erkenntnis unter der deutschstämmigen Bevölkerung des Distriktes breit. »Von der Polizei ist kein Schutz zu erwarten, eher das Gegenteil!« Die antideutsche Stimmung, die sich immer mehr zu einer Art Hysterie entwickelte, nachdem im September die ersten australischen Soldaten bei der Eroberung des deutschen Protektorats in Neuguinea gefallen waren, traf die meisten Barossa-Deutschen völlig unerwartet. Auch Lena und Burkhardt waren ebenso fassungslos wie schockiert von den Geschichten, die ihnen über die Ausschreitungen in Marienthal, Tanunda und anderen Ortschaften zu Ohren kamen. Sogar in ihrer eigenen Kirchengemeinde spürte Lena das Misstrauen und sogar deutliche Distanzierung, was sie besonders tief traf, war sie doch nicht nur in diesem Tal geboren und aufgewachsen, sondern teilten sie doch alle denselben Glauben, der sie zu Schwestern und Brüdern in Christo machte! Was war davon geblieben?
»Haben die Leute denn den Verstand verloren, dass sie uns mit den Deutschen, die in Europa Krieg führen, in einen Topf werfen und uns plötzlich für Feinde halten, die sich heimlich als Spione und Saboteure betätigen, nur weil wir deutsche Namen tragen?«, fragte Lena erschüttert, als Marianne eines Tages weinend nach Hause kam und berichtete, auf der Straße angespuckt und beschimpft worden zu sein. Und nicht einer der Passanten hatte eingegriffen, sondern man hatte ihr sogar noch ein schadenfrohes Gelächter hinterhergeschickt, als sie vor Schreck das Gleichgewicht verloren hatte, mit dem Rad in den Dreck der Straße gestürzt war und sich dabei das Knie blutig geschrammt hatte.
»Der Krieg bringt das Schlimmste im Menschen zutage«, murmelte Burkhardt bedrückt. »Und ich sage dir, das ist erst die Spitze des Eisbergs; das gelbe Formular ist erst der bescheidene Anfang gewesen.«
Burkhardt sollte recht behalten. Denn Ende Oktober fing der Albtraum für alle, die einen deutschen Namen hatten, erst richtig an, als nämlich das Parlament dem infamen War Precautions Act der Regierung zustimmte.
Es war Andreas, der die Nachricht von der Verabschiedung dieses folgenschweren Dekretes eines Nachmittags nach Maralinga brachte. Lena hängte im Hof gerade Wäsche zum Trocknen auf, als ihr Bruder mit dem Rad die Einfahrt heraufkam.
»Wieso bist du denn schon wieder zurück?«, rief sie ihm verwundert über die Schulter zu, während sie ein Bettlaken über die Leine warf und mit ein paar Klammern feststeckte. »Ist denn das Treffen der Pfadfinder heute ausgefallen?«
»Ja, aber nur für mich und die anderen deutschstämmigen Jungen. Sie haben mir nicht nur meine Gruppe abgenommen, die ich das ganze Jahr geführt habe, sondern uns alle aus der Organisation ausgeschlossen«, antwortete Andreas verbittert.
Lena wandte sich betroffen um und erschrak, als sie das übel zugerichtete Gesicht ihres Bruders sah. Seine linke Unterlippe war aufgeplatzt, und er hatte offenbar heftig aus der Nase geblutet. Hier und da zeigten sich schon erste Schwellungen. Blutflecken fanden sich auch auf Hemd und Hose, die zum Teil zerrissen waren und so aussahen, als hätte er sich mit seinen Widersachern am Boden gebalgt. »Um Gottes willen, hast du dich womöglich mit deinen Kameraden geprügelt, weil sie euch ausgeschlossen haben?«, stieß sie bestürzt hervor.
Andreas verzog schmerzhaft das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das sind ganz besondere, nachbarschaftliche Gunstbeweise, die ich Frank und Edward verdanke.«
»Den Sullivan-Söhnen?«, stieß Lena ungläubig hervor.
Er nickte. »Sie haben mir mit Gregory, dem Sohn des Wagenbauers Claybourne, unten an der Brücke aufgelauert. Und weil sie sich nicht hundertprozentig sicher waren, ob sie bei ihrem mutigen Überfall auch wirklich ohne Kratzer davonkommen würden, haben sie sich vorsichtshalber noch mit Knüppeln bewaffnet. Ihre saubere Rechnung ist jedoch nicht ganz aufgegangen«, sagte er mit grimmiger Genugtuung. »Sie haben auch ganz schön was abbekommen, das kannst du mir glauben!«
»Komm ins Haus, damit ich deine Verletzungen behandeln kann!«, drängte ihn Lena besorgt.
»Ach, es brennt und pocht zwar wie die Hölle, sieht aber schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist«, versicherte Andreas, ließ sich ihre liebevolle Betreuung jedoch gerne gefallen.
Vorsichtig säuberte Lena die Platzwunden und betupfte sie mit Jod, um gefährlichen Entzündungen vorzubeugen. Doch erst als er auf ihr Drängen hin auch sein Hemd auszog, sah sie, wie übel sie ihm mitgespielt hatten. Sein Oberkörper und einige Stellen an den Hüften würden morgen wohl mit blauen und grünen Flecken übersät sein.
Sie vermochte ihre Empörung über das abscheuliche Verhalten der Nachbarssöhne, die noch nicht einmal den Mut für einen ehrlichen Kampf aufgebracht hatten, kaum zu bändigen. »So ein undankbares, hinterhältiges Gesindel! Der Herr möge mir meinen Zorn verzeihen, aber ich kann nicht anders! Jahrelang haben Henry und Fanny Sullivan mit unserem Vater gute Geschäfte gemacht, doch seit wir nicht mehr bei ihnen kaufen, weil wir es uns schlichtweg nicht mehr leisten können, lassen sie kein gutes Haar mehr an uns und würdigen uns kaum noch eines Blickes. Und als ob das nicht schon schäbig genug wäre, fallen jetzt auch noch ihre Söhne aus dem Hinterhalt über dich her!«
Ihr Bruder, der sich tapfer gewehrt hatte, regte sich darüber jedoch viel weniger auf. Der Ausschluss bei den Pfadfindern traf ihn viel tiefer und härter, als ein Faustschlag je vermocht hätte. Mit Frank und Edward hatte er sich nie gut verstanden. Deshalb wunderte es ihn jetzt auch nicht, dass sie plötzlich meinten, ungestraft über ihn herfallen zu können. »Aber dass wir auf einmal nicht mehr dazugehören und so gut wie keine Rechte mehr haben, nur weil wir einen deutschen Namen tragen und deutsche Eltern gehabt haben, will mir nicht in den Kopf. Ich bin doch derselbe wie früher. Und plötzlich soll das alles nichts mehr gelten? Ich kann nicht begreifen, wie unser Parlament dieses neue Gesetz verabschieden konnte«, sagte er verstört.
»Von welchem Gesetz redest du denn?«, fragte Lena.
»Es nennt sich War Precautions Act und soll heute schon in den Zeitungen stehen«, antwortete Andreas bitter. »Peter, einer von den Pfadfindern, der nebenbei Zeitungen austrägt, hat mir davon erzählt. Dieses neue Gesetz gibt den Behörden so gut wie unbegrenzte Befugnis über alle feindlichen Ausländer.«
»Dann trifft es auf uns überhaupt nicht zu«, erwiderte Lena. »Wir sind in diesem Land geboren und genauso Australier wie die Abgeordneten im Parlament.«
»Eben nicht!«, widersprach Andreas erregt. »Dieses neue Gesetz bezieht sich nämlich nicht nur auf alle feindlichen Ausländer, sondern auch auf Australier, die aus dem feindlichen Ausland stammen, selbst wenn sie schon seit ewigen Zeiten hier leben und längst eingebürgert sind. Aber damit noch nicht genug. Auch wer hier geboren ist, so wie wir, aber deutsche Eltern hat sowie unter Verdacht steht, Kontakte mit feindlichen Ausländern zu unterhalten oder mit deren Gesinnung zu sympathisieren, hat nach dem War Precautions Act all seine Rechte verwirkt. Die Behörden können mit diesen Leuten machen, was sie wollen, ohne dass man dagegen Einspruch erheben und vor Gericht gehen kann. Es wird alles verboten, was auch nur nach Deutschtum riecht: die deutschen Schulen und Zeitungen sowie Organisationen wie zum Beispiel die Turnerriege von Tanunda; und Gesangvereine wie die ›Liedertafel‹ kommen als Erstes dran, das steht schon fest.«
Lena schüttelte den Kopf. »Das kann so nicht stimmen, Andreas. Man kann doch den Leuten nicht per amtlicher Verordnung ihre Kultur verbieten! Und welchen Sinn sollte es denn machen, harmlose Sport- und Gesangvereine zu verbieten, nur weil ihre Mitglieder überwiegend deutschstämmig sind? Ich nehme an, da musst du etwas falsch verstanden haben. Außerdem ist ein Gesetz, das der Willkür Tür und Tor öffnen würde, in einer Demokratie nicht möglich. Da sind die Bürgerrechte unantastbar und durch die Justiz geschützt!«
»Von wegen!«, meinte Andreas pessimistisch.
Auch Burkhardt wollte erst nicht glauben, dass das Parlament der Polizei und den Militärbehörden mit diesem Gesetz eine derartige Machtfülle übertragen hatte, die sich der Kontrolle durch die Justiz völlig entzog.
Sie alle wurden jedoch schnell eines Besseren belehrt. Eine Flut von Verordnungen und Vorschriften ging nun auf alle enemy aliens und all die Personen nieder, die per Gesetz zu solchen gestempelt oder doch zumindest in deren Nähe gerückt wurden. Zuerst wurden die deutschsprachigen Zeitungen verboten und die mehr als vierzig deutschen Schulen geschlossen. Die Lutherische Kirche, deren Gemeinden sich ausschließlich aus Deutschstämmigen zusammensetzten, wurde plötzlich verdächtigt, eine subversive Organisation zu sein und direkte Order aus Berlin zu erhalten. Die Geistlichen durften nicht mehr auf Deutsch predigen, der Gottesdienst musste in englischer Sprache abhalten werden. Aber das war erst der Anfang der Maßnahmen, mit denen amtliche Behörden wie das »Australian Army Intelligence Corps« und patriotische Organisationen, die sich beispielsweise »Anti-German League«, »All British League« oder »The British Patriots« nannten, den vermeintlich gefährlichen deutschen Umtrieben im Land zu Leibe rückten. Kein Detail erschien diesen Patrioten dabei zu geringfügig, um nicht beachtet und in eine Verordnung gefasst zu werden.
»Gestern Abend war die Polizei bei Wilhelm Luckenbach auf dem Weingut und hat sein Telefon beschlagnahmt!«, berichtete Johanna wenige Tage später entrüstet, als sie Lena und Burkhardt besuchte. »Und Gerhard hat seine Kamera auf der Polizeistation abgeben müssen, die ich ihm letztes Jahr zu seinem dreißigsten Geburtstag geschenkt habe! Glauben diese Irrsinnigen denn wirklich, mein Mann würde nachts im Rollstuhl durch das Barossa-Tal fahren und Spionage betreiben? Und was sollte er auch spionieren? Es ist der reinste Wahnwitz, was diese Leute machen.«
Burkhardt, der kurz zuvor aus Tanunda zurückgekehrt war, nickte mit finsterer Miene. »Ja, und diese Paranoia greift wie ein böses Fieber um sich. Es werden nicht nur alle Flinten, Telefone, Autos, Kameras und Ferngläser bei den sogenannten enemy aliens konfisziert, die Leute müssen auch ihre Brieftauben abgeben.«
»Das soll wohl ein Witz sein!«, sagte Lena, sah Burkhardt jedoch sofort an, dass ihm in diesem Augenblick nach allem anderen als nach Scherzen zumute war.
»Nein, so unglaublich absurd und lächerlich es auch klingen mag, aber Brieftauben sind in diesem War Precautions Act ausdrücklich erwähnt.«
Lena schüttelte fassungslos den Kopf.
»Gerhard vermutet, dass unsere Regierung jede Kriegsverordnung, die in London ersonnen und erlassen wird, Wort für Wort kopiert, ohne groß darüber nachzudenken, was davon in unserem Land Sinn macht und was nicht«, sagte Johanna.
Burkhardt nickte. »Ja, so sieht es wohl aus. Der Wahnsinn hat Methode.«
»Was aber nichts daran ändert, dass es diese Verordnungen gibt und dass sie auch ausgeführt werden – und zwar gegen die eigenen Landsleute«, fügte Andreas erbittert hinzu. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich eines Tages für die Herkunft meiner Eltern und für meinen deutschen Namen schämen müsste!«
»Du musst dich auch nicht schämen!«, erwiderte Lena spontan und mit Nachdruck. »Ganz im Gegenteil, wir können auf unseren Namen stolz sein!«
»Aber man vermittelt uns das Gefühl, als hätten wir allen Grund, uns zu schämen! Nicht nur die Regierung und das Militär, sondern unsere eigenen Nachbarn und die Leute, mit denen wir aufgewachsen sind, misstrauen uns plötzlich und zweifeln an unserer Loyalität gegenüber Australien, und was deutsche Siedler in diesem Land alles geleistet haben, davon will man plötzlich nichts mehr wissen!«, brach es heftig aus Andreas heraus. »Ich wünschte, wir würden nicht Seewald heißen, sondern einen englischen Namen tragen!« Damit stürzte er aus dem Zimmer.
Alles Teutonische stieß im Land auf feindselige Ablehnung; das machte nicht einmal vor den historischen Ortsnamen halt. Eine von der Regierung eigens beauftragte Kommission, das »Nomenclature Committee«, beschäftigte sich damit, alle deutschen Ortsbezeichnungen und Straßennamen von der australischen Landkarte zu tilgen. In Südaustralien und im Barossa-Tal wurden besonders viele Umbenennungen vorgenommen. Zumeist griff man auf die ursprünglichen Namen zurück, die einst die Aborigines den Orten gegeben hatten, bevor die Weißen gekommen waren.
Der Zynismus, der darin steckte, wurde den Verantwortlichen offensichtlich gar nicht bewusst. Denn noch immer verfolgte die australische Regierung eine ausgesprochen rassistische Bevölkerungspolitik, deren erklärtes Ziel es war, Australien zu einem Kontinent von möglichst »weißen Bewohnern« zu machen. Und da die australischen Ureinwohner nach fast hundertfünfzig Jahren gewaltsamer Ausrottungsversuche zwar erheblich dezimiert, aber immer noch nicht ganz vom Kontinent verschwunden waren, bemühten sich die verantwortlichen Regierungsstellen nun mit anderen infamen politischen Methoden, das lästige »Eingeborenenproblem« aus der Welt zu schaffen – indem man beispielsweise die Aborigines in elenden Reservaten dem Alkohol und ihrer Verzweiflung überließ und den Eltern unter dem Vorwand, dass sie zur Erziehung untauglich seien, die Kinder wegnahm, sie in weißen Missionen als künftiges Dienstpersonal für bessergestellte Weiße aufzog und ihnen systematisch ihre kulturelle Identität zu rauben versuchte. Doch auf die Namen, die die Aborigines einst den Orten und heiligen Plätzen ihrer Traumpfade gegeben hatten, auf diese Namen griffen dieselben Politiker nun bereitwillig zurück.
So wurde aus dem Kaiserstuhl Patpoori Hill, später Mount Kitchener, Hoffnungsthal bekam den Namen Karrawirra, Lobethal wurde zu Marananga, Langmeil bei Tanunda verwandelte sich über Nacht in Bilyara und Gruenberg in Karalta. Auf dem Bahnhof von Seppelts wurde auf Weisung der Regierung das Schild gegen ein neues ausgetauscht, auf dem nun Pinjetta zu lesen stand. Schoenthal verwandelte sich in Bongala, Friedlanders’s Hill hieß künftig Wirrabara Hill, und Marienthal bekam Perawillia als offiziellen Namen zugeteilt, was in der Eingeborenensprache »Frühling« bedeutete. Doch in das Leben der deutschstämmigen Bevölkerung zog der eiskalte Winter der Denunziation und Verfolgung ein.
Aber es war nicht allein die eifrige Kommission der Regierung, die überall im Land diese Veränderungen vornahm. Eine erheblich größere Anzahl von Namensänderungen ging auf die Deutschstämmigen selbst zurück, die sich so vor weiteren Diskriminierungen und Anschlägen schützen wollten. Sie griffen auch oft zu diesem Mittel in der Hoffnung, einer Entlassung zu entgehen. Denn überall im Land, vor allem in den größeren Ortschaften und Städten, wo Arbeitslosigkeit herrschte, wurden Tausende von Arbeitern mit deutschem Namen entlassen. Der Druck der Öffentlichkeit wurde so stark, dass selbst wohlmeinende Arbeitgeber, die ihre deutschstämmigen Fachkräfte nur zu gern behalten hätten, sich schließlich gezwungen sahen, sie auf die Straße zu werfen und sie durch weniger qualifiziertes britisches Personal zu ersetzen.
In Tanunda gehörten die Neumanns zu den Ersten, die in der amtlichen Gazette bekanntgaben, dass sie ihren deutschen Namen abgelegt und den neuen englischen Newman angenommen hatten. Siebenmal hatten sie ihr Schaufenster durch neue Scheiben ersetzen müssen, und zweimal hatten die Täter den Laden selbst demoliert. Erna Neumann hatte nach dem fünften nächtlichen Anschlag einen Nervenzusammenbruch erlitten, und Otto Neumann fürchtete nun zu allem Unglück auch noch den finanziellen Ruin, sollte es mit dem Vandalismus der Deutschhasser so weitergehen.
»Newman’s Emporium« hieß das Kolonialwarengeschäft nun, und viele andere Geschäftsleute folgten mehr oder weniger verschämt dem Beispiel der Neumanns. Der Schlachter Karl Koch in Marienthal wurde von einem Tag zum anderen zum »Butcher Charles Cook«, und als der Schreiner Heinrich Jung ein neues Schild über seiner Werkstatt aufhängte, stand »Henry Young & Sons – Fine Carpentry« darauf zu lesen.
Aber auch viele andere, die kein Geschäft besaßen und nicht auf das Wohlwollen auch britischer Kundschaft angewiesen waren, legten ihren alten Namen ab. Und ließ sich so problemlos kein englisches Äquivalent finden, wie das bei Neumann, Koch und Jung der Fall war, wählte man eben einen Namen, der zumindest Ähnlichkeit aufwies. Der Trend war: je britischer, desto besser.
Den Befürwortern der Anpassung an die britische Kultur unter Verleugnung der eigenen Herkunft stand die etwa gleich große Anhängerschaft all derer gegenüber, die eine derartige Selbstverleugnung strikt ablehnten.
»Ich denke doch nicht daran, vor diesem Pöbel in die Knie zu gehen und meinen Namen wie ein schäbiges, stinkendes Hemd abzulegen, als müsste ich mich dessen schämen!«, erklärte Burkhardt leidenschaftlich, als es vor der Kirche zu einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppen kam. »Mein Name ist so gut wie jeder andere und er verdient denselben Respekt!«
»Deshalb ist ein neuer englischer aber auch nicht schlechter, vor allem wenn man vor ewigen Zeiten ausgewandert ist und mit dem Land seiner Vorfahren längst gebrochen hat. Zu der neuen Heimat gehört auch ein neuer Name. Das haben schon viele Auswanderer so gehalten«, erwiderte der Fuhrmann Hans Fischbach, der darauf bestand, dass man ihn fortan mit John Fishbrook ansprach. »Jeder hat das Recht, sich so zu nennen, wie er es für sich als richtig empfindet!«
»Aber keiner hat das Recht, uns dazu zu zwingen!«, fiel ihm Burkhardt hitzig ins Wort. »Und was hier passiert, diese nächtlichen Anschläge auf die Läden und Wohnhäuser der Deutschstämmigen sowie die amtlichen Diskriminierungen und all die anderen Ehrabschneidungen, ist fast noch schlimmer als jeder amtliche Zwang! Auf diese infame Art und Weise bringen sie uns nämlich dazu, dass wir ihnen die Dreckarbeit abnehmen und uns allmählich auch noch selbst einreden, dass wir es ja vielleicht gar nicht anders verdient haben! Und das mache ich nicht mit!«
Männer wie Wilhelm Luckenbach und Heinrich Riedberg stimmten ihm lautstark uneingeschränkt zu.
»Mein Großvater hat hier schon gesiedelt und den Boden mit seinem Blut und seinem Schweiß getränkt, als kaum noch ein Brite freiwillig nach Australien gehen wollte!«, verkündete der Apotheker mit großer Empörung. »Und da will man mich direkt oder indirekt dazu bewegen, die stolze australische Geschichte meiner Familie zu verleugnen, indem ich meinen Namen ändere? Niemals! Auf meinem Grabstein, auf dem meiner Frau und auf dem meiner Kinder wird Riedberg stehen!«
»Richtig! Wir müssen unsere Loyalität nicht unter Beweis stellen, indem wir verleugnen, wer wir sind, woher unsere Vorfahren kommen und wo unsere kulturellen Wurzeln liegen!«, rief Luckenbach und funkelte die Gegenpartei herausfordernd an. »Ich jedenfalls lasse mich nicht erpressen, egal, was auch kommen mag. Das wäre ehrlose Kapitulation und Feigheit!«
Fritz Fischbach lief hochrot an und warf sich in die Brust. »Was, du nennst mich einen Feigling?«, brauste er auf und machte einen drohenden Schritt auf Luckenbach zu. »Na komm, sag das noch einmal!«
Fast wäre es zu Handgreiflichkeiten gekommen, wenn in diesem kritischen Moment nicht Father MacIntosh eingegriffen und beide Seiten mit scharfer Stimme aufgefordert hätte, gefälligst Mäßigung walten zu lassen und sich um ein wenig mehr Verständnis und Nächstenliebe zu bemühen. Denn schließlich gäbe es für jede Position ebenso einsichtige und ehrbare Argumente dafür wie auch dagegen – einmal ganz davon abgesehen, dass sie gerade gemeinsam an der heiligen Messe teilgenommen hätten, unter dem Kreuz stünden und in dieser schwierigen Zeit zusammenhalten müssten, anstatt sich in die Haare zu geraten.
»Recht hat er«, sagte Andreas hinterher, als sie mit dem Gespann nach Hause fuhren. »Man kann beide Seiten verstehen; es gibt für beide Positionen gute Argumente.«
Burkhardt warf ihm einen scharfen, missbilligenden Blick zu. »Das sehe ich anders!«, sagte er barsch, was sonst so gar nicht seine Art war.
»Ich weiß, aber das ändert nichts daran, dass ich deine Meinung in dieser Sache nicht teile«, antwortete Andreas leise, aber mit fester Stimme. »Und ich denke mal, das gehört zu deinen wie zu meinen Rechten, die uns die Regierung gerade zu beschneiden versucht.«