Alltag in Deutschland
von 1933 bis 1945
Darstellung anhand von
SD- und Gestapo-Akten
IMPRESSUM:
Werner Maser
Das Dritte Reich – Alltag in Deuschland von 1933 bis 1945
Verlag Bublies, Schnellbach
© 1998 Verlag Bublies, 56290 Beltheim-Schnellbach
© 2018 E-Book als Lizenzausgabe im Lindenbaum Verlag, 56290 Beltheim
Neuauflage der Printausgabe im Bublies Verlag: 2018
Internetadresse: http://www.lindenbaum-verlag.de
E-Mail-Adresse:lindenbaum-verlag@web.de
Umschlaggestaltung: nach einer Vorlage des Studios Haneke, Essen
Printed in Germany
Printausgabe im Bublies Verlag: ISBN: 978-3-926584-43-4
E-Book-ISBN 978-3-938176-68-9
I.
»Die Erneuerung eines
tausendjährigen Zustandes«
Die Machtübernahme
Das Ende der bürgerlichen Freiheiten
Die Machtergreifung
Das Ermächtigungsgesetz und die schwache Opposition
Erstes beängstigendes Alarmsignal: Boykottmaßnahmen gegen die Juden im Reich
Erster »Feiertag der nationalen Arbeit«
Nicht überall Autoritätsgebundenheit
Akademische und fürstliche Huldigungen
Deutsche Arbeitsfront, »Kraft durch Freude« und Festtage der NSDAP
»Großangriff auf die Arbeitslosigkeit«
Ehestandsdarlehen und die Rolle der Frau
Zuschuß-»Unternehmen« Konzentrationslager
Faustrecht und Vetternwirtschaft
Der Reichsarbeitsdienst: »Ehrendienst« und weltanschaulicher »Kampfplatz«
Nicht pädagogisches Ethos, sondern weltanschauliche Hörigkeit
Die Röhm-Affäre
Die ländliche Bevölkerung
II.
»Ein Volk, ein Reich, ein Führer«
Die Volksabstimmung nach Hindenburgs Tod
Die Evangelische Kirche und der Führer
Die Presse und die Journalisten
Das Reichskulturkammergesetz
Gemeindeverordnung und die »untersten Zellen des Staates«
Sicherheitsdienst, Sondergerichte und Gestapo
Die Leibesertüchtigung
Erfolge im Ausland und Reaktionen im Inland
Der »Anschluß« Österreichs
Die »letzte territoriale Forderung«
Die Wehrmacht und der Führer
Die »Reichskristallnacht«
Prag und das Memelland
III.
Das eigentliche Ziel: Der Krieg
Das Regime im Krieg
Erste Probleme der Kriegswirtschaft
Antisemitismus in den ersten Kriegsjahren
Euthanasie: »Beseitigung lebensunwerten Lebens«
Trotz des raschen Sieges: Hoffnung auf einen baldigen Frieden
Ein Attentat auf den Führer
Trotz »Blitzsieg« keine allgemeine Begeisterung für den Krieg
Der Feldzug im Westen
Der Rußlandkrieg
Der gelbe Stern
Der Osten: Das Problem für Front und Heimat
Die »Endlösung« und die Alliierten
Gut klingende Berichte von den Fronten – Versorgungsschwierigkeiten in der Heimat
IV.
Dem Ende entgegen
Von Stalingrad bis Tunis
Mussolinis Sturz und das Ende des Faschismus in Italien
Die Invasion
NS-Reichsregierung ohne den Führer
Juli 1944
Aufgebot der letzten Reserven
Ein letzter Sieg und Verlust der letzten Hoffnungen
Im Vorfeld des Endes
Das Finale
Anhang
Die Testamente Adolf Hitlers
Zeittafel
Quellen- und Literaturnachweise
Als Spätaufsteher sich am 1. September 1939 den Schlaf aus den Augen rieben, hörten sie Adolf Hitlers erregte Stimme im Rundfunk. »Seit 5.45 Uhr«, so vernahmen sie, »wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.«1 Der Krieg war »trotz der Bemühungen des Führers«, der ihn unter allen Umständen hatte verhindern wollen, wie die nationalsozialistische Propaganda unentwegt behauptete, nun »also doch ausgebrochen«. Von deutscher Seite mußte »zurückgeschossen« werden.
Daß am 1. September 1939 nicht die Deutschen, sondern die Polen »zurückschossen«, erfuhren die meisten Deutschen erst mehr als ein halbes Jahrzehnt danach. Aus der Presse, aus dem Rundfunk und aus Reden von Parteifunktionären »wußten« sie 1939, daß der Führer sich stets um den Frieden bemüht hatte, in England, Frankreich und Polen jedoch auf eisige Abwehr und Kriegslüsternheit gestoßen sei. Es war also, so mußte die Bevölkerung zwangsläufig meinen, alles umsonst gewesen. Die »Friedensliebe« des Führers war von den Polen und Engländern, so stellte Hitler es dar, »mit Schwäche oder gar mit Feigheit« verwechselt, das deutsche Staatsoberhaupt von ihnen so behandelt worden, daß nur ein ehrloses, müdes und zum Untergang bereites Volk dies duldend hätte hinnehmen können.2
Daß Hitler beispielsweise rund 14 Monate zuvor, am 10. November 1938, vor Chefredakteuren deutscher Zeitungen und anderen Pressevertretern ungeschminkt erklärt hatte, »die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden«, wußte das Volk nicht. »Nur unter der fortgesetzten Betonung des deutschen Friedenswillens war es mir möglich«, hatte er den ausgewählten Presseleuten erklärt, »dem deutschen Volk Stück für Stück die Freiheit zu erringen und ihm die Rüstung zu geben, die immer wieder für den nächsten Schritt als Voraussetzung notwendig war. Es ist selbstverständlich, daß eine solche … Friedenspropaganda auch ihre bedenklichen Seiten hat; denn es kann nur zu leicht dahin führen, daß sich in den Gehirnen vieler Menschen die Auffassung festsetzt, daß das heutige Regime … identisch sei mit dem Entschluß und dem Willen, einen Frieden unter allen Umständen zu bewahren … Der Zwang war die Ursache, warum ich jahrzehntelang nur vom Frieden redete.«3 Über derartige FührerÄußerungen hatten die politisch einheitlich ausgerichteten Zeitungen nicht berichtet. In den Tagen nach dem 1. September 1939 wiederholten sie, was Hitler in seiner morgendlichen Rede vor dem Reichstag noch einmal behauptete und als »Tatsachen« heraufbeschwor.
Im Volk konnte Hitler ganz allgemein verbuchen, sich als »Führer des deutschen Volkes« bis an die Grenzen des für einen Nationalsozialisten Zumutbaren bemüht zu haben, den Frieden zu wahren. Selbst an einigen der gefeierten Großen des deutschen Geisteslebens war die nationalsozialistische Propaganda nicht spurlos vorübergegangen. So meinte im Spätsommer 1939 beispielsweise Thomas Mann, der Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verlassen hatte und die Entwicklung der Verhältnisse im Dritten Reich von außen her sorgfältig beobachtete, daß Hitler nicht kämpfen wollte. Noch am 30. August, zwei Tage vor Kriegsbeginn, hatte er – nach Eintragungen in seinem der Öffentlichkeit erst vier Jahrzehnte später bekannt gewordenen Tagebuch – gemutmaßt, daß Hitler »den Krieg nicht führen« wolle und nicht führen könne.4
Ein Krieg, das stand für die weitaus meisten Gegner und Feinde Hitlers und seines Regimes bis September 1939 fest, war trotz der intensiv vorangetriebenen und für jedermann sichtbaren Kasernenbauten, der Rüstungsanstrengungen und der Einziehung der jungen Männer zur Wehrmacht, in nächster Zeit nicht ernsthaft zu erwarten. So hatten beispielsweise die Leser der berüchtigten pervertiert antisemitischen Wochenzeitung Der Stürmer des in Nürnberg residierenden fränkischen Gauleiters Julius Streicher5 rund ein Jahr zuvor lesen können, daß ein in Nürnberg lebender Jude anonym an seinen New-Yorker Freund Arnold Lee geschrieben habe: »… sei es, wie es sei, ich bin überzeugt, daß ein Krieg erst kommen wird, wenn alle Juden Deutschland verlassen haben … Ich kann nicht glauben, daß … wir nach so viel Leiden auch noch einen Krieg ertragen müssen. Aus diesem Grunde kann ich auch nicht an einen Krieg in der nächsten Zukunft glauben.«6
Waren sich doch selbst so eingeweihte Sachkenner wie Hjalmar Schacht, 1933 Präsident der Reichsbank, 1934 Wirtschaftsminister und 1935 Sonderkommissar für die Kriegswirtschaft, noch Anfang 1938 nicht sicher, ob Hitler tatsächlich einen Krieg anstrebte.7
Die offiziellen Erklärungen der Vertreter des Staates, der Funktionsträger der NSDAP und die Kommentare der Medien einerseits und die Vorstellungen, Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen der Bevölkerung andererseits waren weithin identisch. Den Krieg sehnte niemand herbei. Im Gegenteil: Überall korrespondierte die Furcht vor ihm mit der Hoffnung, daß es dem einstigen Frontsoldaten Hitler gelingen werde, ein solches Unheil abzuwenden. Und als es am 1. September 1939 dann doch dazu kam, daß die kampfbereite Wehrmacht zu den Waffen greifen mußte, brauchten sie Skrupel und schlechtes Gewissen nicht zu plagen.
Doch das gute Gewissen der Landesverteidiger initiierte keine Jubelveranstaltungen, wie es im August 1914 der Fall gewesen war, als Kaiser Wilhelm II. »sein« Volk zu den Waffen gerufen und feierlich erklärt hatte: »So muß denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Drum auf! Zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande.«8
Welche Überlegungen und Vergleiche die Deutschen am 1. September 1939 auch immer angestellt haben mögen: Der Krieg war »ausgebrochen«. Die deutsche Wehrmacht kämpfte in Polen. Wer von der Erregung des Augenblicks nicht so übermannt war, daß sein Gespür für Zwischentöne versagte, mag Hitlers Drohung erschrocken registriert haben, die er noch kurz vor Schluß seiner Rede wie einen Peitschenschlag in den Reichstag hineingeschleudert hatte. »Keiner melde mir«, hatte er düster formuliert, »daß in seinem Gau oder in seinem Kreis oder in seiner Gruppe oder in seiner Zelle die Stimmung einmal schlecht sein könnte.«9 Mancher Hitler-Anhänger mag sich vielleicht auch gefragt haben, wieso der Führer denn meinte, seinen eigenen Funktionsträgern derart drohen zu müssen. Nur ganz wenigen war bekannt, was Hitler wußte: Trotz der massiven Propaganda war es mit der Disziplin und nationalsozialistischen Moral schlecht bestellt, auch wenn Rundfunk und Presse fortwährend das Gegenteil behaupteten. Verärgert hatte Hitler schon vor Beginn des Krieges nicht nur Geheimberichte der Gestapo, des SD und Meldungen von Parteidienststellen und Ministerialinstanzen zur Kenntnis nehmen müssen, die alles andere als Gefolgschaftstreue und Zuverlässigkeit der Bevölkerung bekundeten. So meldete beispielsweise der Regierungspräsident von Niederbayern und der Pfalz am 7. August 1939, daß die Gestapo der Regensburger Staatspolizeistelle im Ponholzer Braunkohlenwerk »mehrere Arbeiter wegen Arbeitsverweigerung und Unruhestiftung« habe festnehmen müssen,10 und der Regierungspräsident von Oberbayern berichtete in den gleichen Tagen, daß zahlreiche Arbeiter der Großbaustelle Wolfratshausen nicht nur die Arbeit schwänzten, sondern sich auch weigerten, bestimmte Arbeiten auszuführen.11
Siebzehn Personen wurden allein in Ober- und Mittelfranken wegen »Vergehens gegen die Verordnung über die Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung festgenommen«.12 Daß dies keine Ausnahmen waren, belegen zahlreiche Dokumente. Die schon damals im Zusammenhang mit negativen Ereignissen und Zuständen zitierte Wendung, »wenn das der Führer wüßte«, gehörte nicht zufällig zur nationalsozialistischen Propaganda mit ihrer systematischen Führer-Stilisierung.
In den Zeitungen stand von all dem nichts.13 Hitler allerdings war stets über alle Einzelheiten informiert. Und er erfuhr auch unmittelbar, daß der Krieg die Nation nicht so »zusammengeschweißt« hatte, wie es ihm lieb gewesen wäre. Schon am 9. Oktober 1939 meldete beispielsweise der Münchener Regierungspräsident, daß die Bevölkerung Klagen über Einschränkungen äußerte, die angesichts der Lage der Nation eigentlich nicht zu hören hätten sein dürfen. Die Bauern beschwerten sich über die Reglementierung der Milchwirtschaft, die städtische Bevölkerung darüber, daß Vollmilch nicht mehr an jedermann abgegeben werden durfte. Viele monierten den Mobilmachungs-Modus. Junge Männer, »die daheim oft wenig versäumen würden«, so berichtete der Regierungspräsident, drückten sich in der Heimat herum, während ältere und in der Wirtschaft nur schwer ersetzbare Männer zum Kriegsdienst hätten einrücken müssen. Unzufrieden reagierten Ehefrauen über die verschieden gestaffelten Unterhaltsleistungen des Staates. Katholische Geistliche deuteten den Krieg offen als ein »Gottesurteil für ›Sodom und Gomorrha‹«.14 Hitler wußte, was er sagte, als er am 3. September 1939 in seinem »Aufruf an das deutsche Volk« erklärte: »Solange das deutsche Volk in seiner Geschichte einig war, ist es noch nie besiegt worden … Wer sich daher jetzt an dieser Einigkeit versündigt, hat nichts anderes zu erwarten, als daß er als Feind der Nation vernichtet wird.«15
Die erste Halbzeit der nationalsozialistischen Herrschaft war damit abgeschlossen. Das »Dritte Reich« hatte im amtlichen Schriftwechsel auf Hitlers Wunsch ohnehin bereits zu bestehen aufgehört.
Die Machtübernahme Hitlers und der NSDAP am 30. Januar 1933 war von allen Deutschen wachen Auges erlebt worden. Sie hatte am Abend stattgefunden. Den ersten Schritt in den Untergang dagegen hatte Hitler in aller Frühe getan. Eine makabre Vertauschung der tageszeitlichen Vorzeichen. Umgekehrt hätten sie besser gepaßt.
»Das Jahr 1933 ist nichts anderes als die Erneuerung eines tausendjährigen Zustandes«
Adolf Hitler in der Nacht vom 17. zum 18. Dezember 1941
Während Hitler am Morgen des 1. September 1939 relativ »dünne« »Heil«-Rufe begrüßten, als er über die Straße Unter den Linden zur Krolloper fuhr, mag er vielleicht einen Augenblick lang an die Abend- und Nachtstunden des 30. Januar 1933 gedacht haben, in denen Berlin unter dem Marschtritt schier endloser SA-Kolonnen in einem Taumel zu erbeben schien. »Unübersehbare Menschenmassen wälzen sich«, so berichtete der Reichstagsabgeordnete Fabricius in der NSZ-Rheinfront vom 2. Februar 1933, »durch das Regierungsviertel, die Wilhelmstraße, die Linden … Auf dem Pariser Platz … sind wir auf das Verdeck einer Autodroschke geklettert, um über die Menschenmauern, die den Marschweg säumen, hinwegblicken zu können. Ein Jubelsturm ohnegleichen bricht los, als die Spitze der SA mit leuchtenden Fackeln … sichtbar wird. Und nun ziehen sie vorüber in schier endlosem Zuge. Dröhnende Kampflieder, Trommeln und Pfeifen, Militär-, SchalmaienMusik zerreißen im Wechsel die Luft… dazu die unaufhörlich zum Himmel aufsteigenden Heilrufe der begeisterten Menge … Über 4 Stunden wird dieser Einmarsch währen. Aber noch steht uns der stärkste Eindruck bevor. Wenige Schritte noch, und wir werden unserem geliebten Führer ins Auge sehen dürfen …«
Damals, am 30. Januar 1933, war Hitler vom greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg beauftragt worden, zusammen mit dem Deutschnationalen Franz von Papen eine Regierung zu bilden und als Reichskanzler die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Nun, neunundsiebzig Monate danach, hatte er – unter Vortäuschung von Ereignissen und unausweichlichen Zwangslagen – das Tor zu einer Zukunft aufgestoßen, an deren Schwelle ihm der inzwischen an Überraschungen und außenpolitische Drahtseilakte seiner Regierung gewöhnte Mann auf der Straße schweigend zu verstehen gab, daß er diesen Weg nicht eigentlich habe gehen wollen.
Neunundsiebzig Monate lang war der Mann auf der Straße, dessen Stimme Hitler als »Gottes Stimme« hatte auffassen können, von der Propaganda der NSDAP, ihrer Organisationen und Institutionen ebenso beeinflußt worden wie von den Maßnahmen des Staates, den die Führung der NSDAP im Laufe der Zeit okkupierte.
»Tag des neuen Deutschland. Der erste große Sieg des deutschen Sozialismus«, so hatte die vom pfälzischen Gauleiter Josef Bürckel in Neustadt an der Haardt herausgegebene große Tageszeitung NSZ-Rheinfront1 am 31. Januar 1933 die Titelseite ihrer ersten Ausgabe nach Hitlers Machtübernahme überschrieben und triumphiert: »Deutschlands Führer ist Kanzler – Adolf Hitler Kanzler!« Daß dies den politischen Wünschen bestenfalls der Hälfte der deutschen Bevölkerung im Wahlalter entsprochen hatte, mußte Ende Januar 1933 nicht nur infolge der 1932 vorausgegangenen Wahlen als sicher angesehen werden. Die nicht nationalsozialistisch orientierten Zeitungen hatten dies zunächst auch täglich betont und durch ihre Kommentare unterstrichen. Im sozialdemokratischen Vorwärts war unmittelbar nach Hitlers Berufung von einer »Tobsuchtsperiode der Reaktion« die Rede gewesen und dem Reichspräsidenten von Hindenburg vorgeworfen worden, mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler die furchtbarste Verantwortung übernommen zu haben, die ein Staatsoberhaupt jemals habe übernehmen können. Ähnlich kommentierte Der Deutsche, das Blatt der christlichen Gewerkschaften, die Vorgänge nach der Machtübernahme Hitlers und mahnte seine Leser, kampfbereit zu sein.
Zurückhaltend, nicht aber unbedingt ablehnend, war der Tenor der Kommentare im Zentrumsorgan Germania gewesen, auch wenn für das Zentrum zu jener Zeit bereits feststand, daß es eine »einseitige Parteiherrschaft« unter gar keinen Umständen akzeptieren würde. Entgegenkommender war Hitlers Kanzlerschaft zwangsläufig vom deutschnationalen Berliner Lokalanzeiger beurteilt worden, der die Zusammenfassung der sogenannten »nationalen Kräfte« der NSDAP und der Deutschnationalen Volkspartei, ebenso begrüßte wie die alldeutsch orientierte Deutsche Zeitung. Das Acht-Uhr-Abendblatt, von den Nationalsozialisten geringschätzig als »jüdische Zeitung« diffamiert, was niemand mißverstehen konnte, hatte sich gefragt, ob Hindenburg glaube, daß es Hugenberg, Franz Seldte, Freiherr von Neurath und Graf Schwerin von Krosigk auf die Dauer möglich sein würde, eine nationalsozialistische Parteidiktatur zu verhindern, was der Berliner Börsenzeitung vor allem dank des Engagements Hugenbergs anfänglich noch als sicher erschienen war. Die Deutsche Allgemeine Zeitung, die Hitler in seinem Kabinett 1933 eine faire Chance nicht verweigern zu dürfen meinte, hatte ihre Vorbehalte zwar relativ behutsam abgesteckt, jedoch erklärt, daß kein verantwortungsvoller Politiker ob der Entscheidung Hindenburgs jubeln könnte. Anders Ullsteins Vossische Zeitung, die in der Hitler-Papen-Regierung infolge der Gegensätze unter den Trägern des neuen Regimes eine Gefahr erblickte, die beunruhigen müßte. Die Zeichen, so hatte sie offen erklärt, seien »auf Sturm« gestellt.
Wer immer die neue politische Situation im Reich nach den weniger betroffenen Stimmen aus dem Ausland hatte beurteilen und sich »objektiv« orientieren wollen, war auf geringere Vorbehalte gestoßen. Kein Wunder also, daß die NS-Presse diese ausländischen Stellungnahmen zitierte und herausstellte. Die englische Presse, vor allem die konservative Morning Post, die die Hitler-Papen-Koalition als ein Verdienst des Deutschnationalen Hugenberg darstellte, war danach von den Freudenkundgebungen der Nationalsozialisten in Berlin, von den zahlreichen Hakenkreuzfahnen, »dem Glanz der Fackeln«, den »Instrumenten der Kapellen, den Sturmtrupps« und der begeisterten Menge beeindruckt gewesen.2 Wer den Daily Telegraph als Sprachrohr der Engländer ansah und seine Meinung – auf dem Wege über die nationalsozialistischen Zeitungen – zu registrieren versuchte, mußte feststellen, daß viele Engländer in Neuraths Beteiligung an der Regierung eine Garantie dafür erblickten, daß es weder zur »halbfaschistischen Diktatur« noch zur Verwirklichung der nationalsozialistischen antisemitischen Zielsetzungen kommen würde. Die Leser der NS-Presse mußten in den ersten Februar-Tagen 1933 zu der Überzeugung gelangen, daß trotz aller Vorsicht und Kritik an der Entscheidung des Reichspräsidenten im In- und Ausland die Auffassung überwog, das Übergewicht der Regierungspartner Hitlers werde Unheil verhindern.
Heftigen und aktiven Widerstand hatten unmittelbar nur die Kommunisten der neuen deutschen Regierung entgegengebracht. In Berlin, Hamburg, Halle, Breslau, Harzburg, Leipzig, Essen und Braunschweig, wo Hitler ein Jahr zuvor Regierungsrat gewesen war, hatten sie Protestversammlungen organisiert und zu Streiks aufgerufen. Es kam auch zu tätlichen Auseinandersetzungen. »Kurz nach Mitternacht«, so berichtete beispielsweise die NSZ vom 1. Februar 1933, »kam es auf dem Hall-Markt« in Halle »zu einer Schlägerei zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, an der sich etwa 200 Personen beteiligten. Die Beteiligten waren fast sämtlich mit Stuhlbeinen, Gartenspaten usw. bewaffnet… Die Einrichtung eines kommunistischen Verkehrslokals wurde zerschlagen.« Doch einige Polizeipräsidenten traten den Hitler-Gegnern sofort konsequent entgegen. So ließ das Polizeipräsidium von Leipzig die kommunistische Sächsische Arbeiterzeitung vom 31. Januar beschlagnahmen, weil sie zum Generalstreik aufgerufen hatte.
Der »dritte Tag der Kanzlerschaft des nationalsozialistischen Führers war reich an entscheidenden Ereignissen«, so hieß es am 2. Februar in NS-Zeitungen, die ihre Leser darüber informierten, daß der Reichstag durch ein Dekret des Reichspräsidenten vom 1. Februar 19333 aufgelöst worden sei und am 5. März neu gewählt werde. Rund einen Monat lang gab es nun kein Parlament mehr, was vor allem die linken Gegner der Hitler-Regierung, die Sozialdemokraten und Kommunisten, voller Unbehagen registrieren mußten. So erklärten die Nationalsozialisten denn auch nicht zufällig am 3. Februar in der Presse, daß bereits der »zweite Abschnitt des Kampfes« begonnen habe.4 Die Bekanntmachung, daß Kommunisten in Preußen nicht mehr demonstrieren dürften, und die Ankündigung, daß Splitterparteien fortan nicht mehr zu Wahlen zugelassen würden,5 gehörten zu den ersten Schritten des »zweiten Abschnitts«, an dessen Schwelle das vorübergehende Verbot des Vorwärts und die Auflösung des preußischen Landtages standen, der öffentlich für »das Durcheinander, das augenblicklich in Preußen herrscht«,6 verantwortlich gemacht wurde. »Deutsches Volk, Frauen und Männer«, so hatte der Vorwärts seine Leser angesprochen und sie aufgefordert: »Wehrt Euch. Schützt Euer Selbstbestimmungsrecht als Staatsbürger. Erhebt Euch gegen Eure Bedränger, gegen … die hauchdünne Oberschicht des Großkapitals. Zerbrecht ihre politische und wirtschaftliche Macht.«7 Einige Journalisten und Zeitungen, die Hitler und die NSDAP ebenfalls bekämpft hatten, begannen sich vorsichtig tastend anzupassen und ihre Leser zu verunsichern. »Die Wahlen sind aber auch«, so schrieb beispielsweise der auch nach 1945 recht bekannte Journalist Hans Zehrer in der Täglichen Rundschau, »auf Adolf Hitler zurückzuführen, der als einziger dieser Regierung die Massen des Volkes eingebracht hat… Die NSDAP kann diesmal ihre Wahlen (am 5. März 1933, der Verf.) zum erstenmal unter dem Einsatz der Mittel des Staates durchführen. Der Rundfunk und die Pressestelle, die ihr bisher versperrt waren, stehen ihr zur Verfügung. Und diesmal geht Adolf Hitler… als Kanzler in die Wahlen.«8
Am 27. Februar 1933, eine Woche vor der Wahl vom 5. März, brannte plötzlich, was von der Bevölkerung ganz allgemein zuerst wie ein schlechter Fastnachtsscherz aufgenommen wurde, das Reichstagsgebäude in Berlin. »Ungläubig wird die Nachricht aufgenommen«, schrieb der Vorwärts am 28. Februar und kommentierte: »Möglich, daß im Reichstag etwas brennt. Aber der Reichstag, dieses ungeheure steinerne Gebäude?« Und doch war es so. Aus der vergoldeten Kuppel des mächtigen Bauwerks, das als eines der berühmten Wahrzeichen der Reichshauptstadt angesehen wurde, hatten die Berliner kurz nach 21 Uhr lodernde Flammen in den dunklen Himmel emporschießen sehen. Tausende Schaulustige verstopften bald die Zugangsstraßen. Wilde Gerüchte waren von allen Seiten sofort in Umlauf gesetzt worden. »Fest« stand für alle Gerüchteverbreiter: »Es war Brandstiftung.« Die »Nazis« verdächtigten die Linken, vor allem die Kommunisten, die Kommunisten und die »Sozis« die »Nazis«. »Wenn die Gerüchte recht haben«, erklärte der Vorwärts schon in seiner Ausgabe vom nächsten Tage, »wenn es wirklich Brandstiftung ist, so müssen die Täter in Kreisen zu suchen sein, die durch ihre Tat ihrem Haß gegen das parlamentarische System Ausdruck verleihen wollen.« Wer damit gemeint war, konnte keinem Leser des sozialdemokratischen Zentralorgans, das im Gegensatz zur NS-Presse bereits den Namen des später überführten Brandstifters van der Lubbe nannte,1 fraglich erscheinen: die »Nazis«. Sie dagegen argumentierten am selben Tage: »Ohne Zweifel ist von verbrecherischen Elementen der Brand gelegt worden … Es wird bekannt, daß das Feuer an … fünf Brandstellen auskam, so daß man mit größter Wahrscheinlichkeit auf Brandstiftung schließen kann … In einem Wandelgang nahm die Polizei nach bis jetzt noch unbestimmten Meldungen einen Mann fest, der im Verdacht steht, den Brand angesteckt zu haben. Er erklärte, er sei holländischer Kommunist und habe den Kapitalismus satt… Bei dem Verhafteten soll es sich um einen holländischen Kommunisten namens van Derling handeln.«2 War es Zufall oder Regie, daß man den Namen des später als Brandstifter hingerichteten Holländers zu der Zeit noch nicht nannte?
Während die Menschen noch engagiert darüber rätselten, wer der Brandstifter gewesen sein mochte, erließen der Reichspräsident und die Reichsregierung am 28. Februar, einen Tag nach dem Brand, die »Verordnung … zum Schutz von Volk und Staat«.3 Die verfassungsmäßig garantierten bürgerlichen Freiheiten wurden aufgehoben, zahlreiche Artikel der Verfassung des Deutschen Reiches außer Kraft gesetzt, Beschränkungen der »persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen (als) zulässig« erklärt.
Verhaftungen, vor allem von Kommunisten, waren die ersten Konsequenzen aus dem Brandanschlag, dessen Hintergründe für die Nationalsozialisten von vornherein feststanden, zumal ihnen das Ereignis sehr gelegen kam. Schon einen Monat nach der Machtübernahme sahen sie sich so in die Lage versetzt, unliebsame und oppositionelle Personen aus dem Verkehr zu ziehen und die Verhaftungslisten hervorzuholen, die von ihnen bereits »lange Zeit vorher«4 vorbereitet worden waren, wie Hermann Göring am 13. Oktober 1945 während des Nürnberger Prozesses zugab.
Im Frühjahr 1933 waren Hitler und die NSDAP trotz drastischer – oft lokaler – Maßnahmen gegen oppositionelle Politiker und Beamte und gegen die hinter ihnen stehende Presse noch nicht soweit, daß sie die gesamten nichtnationalsozialistischen Blätter einfach ausschalten und als meinungsbildende Medien aus dem Verkehr ziehen konnten. So mußten sie sich gefallen lassen, daß beispielsweise die Osnabrücker Volkszeitung, ein dem Zentrum nahestehendes Blatt, ihre Leser am 5. März 1933 aufrief, nicht die Kommunisten oder die Nationalsozialisten, sondern das Zentrum zu wählen. »Katholiken! Augen auf! In der ›Osnabrücker Zeitung‹ vom 7. März«, einer zunächst der Deutschen Volkspartei (DVP), dann der NSDAP nahestehenden Zeitung, hieß es vier Tage später im selben Blatt, »veröffentlicht der Kreisleiter der NSDAP, Wagner, einen Aufruf, in dem es heißt: ›In Staat, Kommunen und Betrieben haben Vertreter machtpolitisch-internationaler, also ultramontaner, marxistischer und weltkapitalistischer Einstellung als verantwortliche Leiter nichts mehr zu suchen.‹ Ihr wißt, was mit dem Schimpfwort ›ultramontan‹ gemeint ist. Uns Katholiken soll unser Vaterland genommen werden. Der Einfluß des katholischen Volksteiles soll vernichtet werden. Wehrt Euch mit dem Stimmzettel! Seid einig! Wählt am 12. März Zentrum!«5
Zwar gingen die Stimmen für die KPD in den zum Landkreis Osnabrück gehörenden Orten Georgsmarienhütte, Harderberg, Holzhausen, Holsten-Mündrup, Malbergen, Ohrbeck, Oesede, Kloster Oesede und Dröper innerhalb einer Woche von 645 (8,40%) bei den Reichstagswahlen vom 5. März auf 318 (4,88%) bei den Kreistagswahlen vom 12. März zurück, doch die NSDAP, die am 5. März nur 14,96 % der Stimmen erhalten hatte, konnte ihren Anteil am 12. März auf 16,45% der abgegebenen gültigen Stimmen steigern und profitierte damit in gleichem Maße wie das Zentrum.6
Der von den Nationalsozialisten erhoffte sichtbare und propagandistisch auswertbare Erfolg blieb, um bei diesem Beispiel zu bleiben, beiden März-Wahlen dennoch aus, soweit es sich um die Zunahme von Direktstimmen für die NSDAP handelte. Die NS-Funktionäre, die die politische Einstellung der Wähler ihrer Bezirke natürlich kannten, hatten unmittelbar vor den Wahlen zwar noch einmal alles getan, was ihnen nach ihrer Auffassung zur »Umorientierung« der nichtnationalsozialistischen Wähler in »letzter Stunde« angemessen und geboten erschienen war; aber mehr als eine Bestätigung der bis dahin erreichten Ergebnisse konnten die Stimmenzähler schließlich nicht registrieren.7 Der Versuch der Nationalsozialisten, neue Stimmen dadurch zu gewinnen, daß sie – ganz gegen Hitlers Grundkonzept von der Beteiligung der NSDAP an Wahlen – vielerorts im Namen prominenter Bürger zur Konzentration auf die »Nationale Einheitsliste« aufriefen, war fruchtlos geblieben.
Überall im Reich reagierten enttäuschte NS-Funktionäre und Schlägerkolonnen der SA während und unmittelbar nach den März-Wahlen mit Terror ihren Verdruß darüber ab, daß viele »Volksgenossen« sich nachweislich nicht zu ihrem »Glück« hatten überreden lassen. Im Wahlbezirk Düsseldorf nahm die Polizei bereits am Tage der Reichstagswahlen zahlreiche Durchsuchungen vor und inhaftierte 40 Personen.8 Zu Schießereien zwischen Kommunisten und der Polizei kam es – ebenfalls am 5. März 1933 – beispielsweise in Brigittenthal in Breslau, wobei ein Polizist sein Leben verlor und ein weiterer schwer verletzt wurde.9 Katholische Zeitungen wurden verboten, ihre Redaktionsräume – vor allem in München und in der Pfalz – von der SA besetzt,10 Abgeordnete und Minister nicht nur der Bayerischen Volkspartei verhaftet,11 jüdische Geschäfte beschädigt und ihre Inhaber mißhandelt,12 Funktionäre anderer Parteien verprügelt, mit Schußwaffen bedroht und an ihrer Tätigkeit gehindert und Racheakte für Aufrufe verübt, in denen beispielsweise von Pfarrern gegen die Nationalsozialisten Stellung bezogen worden war.
Daß die Nationalsozialisten im März 1933 nicht nur einen besonders hohen Wahlsieg erringen, sondern nach den Wahlen in allen Ländern des Reiches zugleich auch die Macht ergreifen wollten, war kein Geheimnis. Schon am 6. Februar,1 vier Tage nach dem im preußischen Landtag gescheiterten Antrag der seit einer Woche als Regierungspartei fungierenden NSDAP, das preußische Landesparlament aufzulösen, hatte die Kommissariatsregierung des Reiches eine neue Vertretung für Preußen in den Reichsrat entsandt,2 der sich nur halbherzig gegen diesen verfassungswidrigen Eingriff wehrte. Zwar sollte die Entscheidung über die Frage der Legalität der willkürlich zusammengesetzten Kommissariatsregierung unter von Papen gemäß einem Mehrheitsbeschluß des Reichsrates vom 16. Februar vom Staatsgerichtshof gefällt werden – was der Regierung einen Prestigeverlust eintrug –, doch die Öffentlichkeit konnte auch erkennen, daß der Reichsrat infolge seiner legalistischen Haltung dabei war, sich selbst auszuschalten. Auf usurpierende Aktionen brauchten die Nationalsozialisten, und dies sahen sie schon im Februar deutlich, nicht zu verzichten. Und sie hielten sich daran.
Die Organisationen der NSDAP, allen voran die SA, gingen auf die Straßen und setzten die noch amtierenden nichtnationalsozialistischen Regierungen unter anderem in Hessen, Sachsen, Hamburg, Bremen, Lübeck, Bayern, Baden und Württemberg systematisch unter Druck, was nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland auf Vorbehalte und Kritik stieß. Hitler, um ein möglichst gutes Image bemüht, appellierte daher an amerikanische und englische Pressevertreter, die »neue Regierung nach ihren Taten zu richten und die Taten selbst in ihrer Gesamtheit zu nehmen und nicht etwa in isolierte Teilabschnitte zu zerpflücken«.3 Er gestand, wenn auch verklausuliert, illegale Aktionen der NSDAP und ihrer Organisationen ein und »bat« um Verständnis und Unterstützung. Die NSDAP hatte – auch in kleinsten Orten – einen massiven Wahlkampf betrieben, sich besonders um die Bauern bemüht und vor allem das Zentrum und die SPD beschuldigt, die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse verursacht zu haben. Fahnenweihen, SA-Aufmärsche, Versammlungen und »Kundgebungen« aller Art warben für Hitler und die NSDAP, was noch nicht überall ohne die organisierte Gegenwehr politisch Andersdenkender geschehen konnte. Während die Sozialdemokraten bei den März-Wahlen noch »für den Sieg« ihrer Partei gekämpft hatten,4 begannen sich die zwar sehr aktiven, aber immer mehr isolierten Kommunisten vielerorts, vor allem in Gegenden mit vorwiegend katholischer Bevölkerung, bereits im Februar auf die Illegalität vorzubereiten.5 Überall hörte die Bevölkerung aus dem Munde von NS-Funktionären, daß die Stunde der völligen Machtergreifung nahe und die Tage des Widerstandes gegen Hitler und die NSDAP gezählt seien.6
Nicht nur in Preußen griffen, die Nationalsozialisten im März 1933 zuerst nach der Polizei. So hißten Hamburger Polizisten, die der NSDAP angehörten, am 5. März, dem Tag der Reichstagswahl, kurzerhand Hakenkreuzfahnen auf Polizeikasernen und anderen Gebäuden der Polizei, was in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken mußte, daß die Polizei als sichtbarster Repräsentant der Exekutive bereits nationalsozialistisch sei, zumal am Tage zuvor der sozialdemokratische Kommandeur der Ordnungspolizei vom amtierenden Rumpf-Senat7 beurlaubt worden war. Diesen »revolutionären« Akt seiner Parteigenossen nutzend, ordnete der in ständigem Kontakt mit der Hamburger Gauleitung stehende Reichsinnenminister Wilhelm Frick am 5. März 1933 unter Berufung auf die (Reichstagsbrand-) Notverordnung vom 28. Februar telegraphisch an, daß der SA-Standartenführer und Polizeioberleutnant a. D. Alfred Richter ab sofort als Kommissarischer Polizeibeauftragter des Reiches zu fungieren habe.8 In Bremen, wo die Gauleitung der NSDAP das gleiche Ziel anstrebte und die Exekutive mit Hilfe von Massenkundgebungen selbst in der für Demonstrationen gewöhnlich gesperrten Bannmeile in der Umgebung der Regierungsgebäude und des Domhofes massiv unter Druck setzte, erzwang »das Volk« den Szenenwechsel. Seit dem 6. März amtierte ein nationalsozialistischer Kommissarischer Polizeibeauftragter des Reiches unter der Hakenkreuzfahne.9 In Lübeck, wo der Senat einer Entscheidung Wilhelm Fricks10 zuvorzukommen und einen Reichskommissar dadurch zu verhindern versuchte, daß er den nationalsozialistischen Gauinspektor Walter Schröder mit der Übernahme der Polizeiführung beauftragte, vollzog sich trotz des Kniefalls der Senatoren eine Woche später derselbe Prozeß.
Diesen spektakulären Fällen folgend, pflanzten sich die Machtergreifung und die Methoden der Gleichschaltung – meist nach vorangehenden Weigerungen der Bürgermeister, Hakenkreuzfahnen11 auf ihren Rathäusern zu hissen12 – bis hinunter in die kleineren Gemeinden fort. So wurde beispielsweise der Bürgermeister Fritz Wenz aus dem badischen Eberbach nach seiner Rückkehr von einer Dienstreise nach Hamburg vom Eberbacher NS-Ortsgruppenleiter Engelhardt aufgefordert, die Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus hissen zu lassen. Obwohl als Parteiloser den Nationalsozialisten nahestehend, weigerte er sich nach den persönlichen Erlebnissen in Hamburg, dies zu veranlassen. Die Folge war, daß er seinen Stuhl augenblicklich räumen mußte. Seinen Posten übernahm der in Eberbach ansässige Ortsgruppenleiter der NSDAP, obwohl er von der Tätigkeit, die er zu übernehmen sich anschickte, kaum mehr als nur eine diffuse Ahnung hatte, was allerdings den bald die Effektivität der Bürgermeister prüfenden Reichsstatthalter bewog, ihn durch einen anderen Parteigenossen zu ersetzen. In ungezählten Fällen zwangen nach den März-Wahlen die mit besonderen Vollmachten ausgerüsteten NS-Sonderkommissare bei den Bezirksämtern, SA-Führer und andere NS-Funktionäre im ganzen Reich amtierende Bürgermeister zu »freiwilligen« Rücktritten, wenn sie nicht der NSDAP angehörten.
Frick, der als sehr früher Mitkämpfer Hitlers über ein gerüttelt Maß an Erfahrungen mit der NSDAP, ihrer Strategie und ihren Funktionsträgern verfügte,13 ging ebenso zielstrebig und energisch wie Göring vor. Überall folgte er den jeweiligen Vorarbeiten der Gauleiter, höheren SA-Führer und Organisationen der NSDAP. Politisch nicht genehme Staatsbeamte wurden abgelöst und durch Nationalsozialisten ersetzt. Die Einsetzung von Reichskommissaren ging allerdings nicht überall so reibungslos vor sich wie beispielsweise in Lübeck.
In Hessen, wo Werner Best schließlich Sonderkommissar der Polizei und Prinz Philipp von Hessen auf Betreiben Görings im Juni 1933 Oberpräsident14 wurde, glich die Machtergreifung der Nationalsozialisten einem Mittelding zwischen Revolution und Theaterdemonstration. SA- und SS-Einheiten aus Darmstadt und Umgebung demonstrierten am 6. März in der Landeshauptstadt und stellten bewaffnete Hilfspolizei-Einheiten auf, die das Bild in den Straßen und auf den Plätzen beherrschten. Da die ratlose Schutzpolizei sie flankierte, gewann die Darmstädter Bevölkerung den Eindruck, daß die bewaffneten NS-Organisationen, deren Mitglieder seit Ende Februar in verschiedenen Ländern des Reiches nach dem in Preußen praktizierten Muster als Hilfspolizei Dienst taten, bereits insgesamt und grundsätzlich legale Bestandteile der Polizei und damit einer neuen Exekutive seien. Nachdem es der SA und SS schließlich gelungen war, an Regierungsgebäuden gewaltsam Hakenkreuzfahnen aufzuziehen, was den Eindruck einer inzwischen vollzogenen nationalsozialistischen Machtergreifung noch verstärken mußte, wagte die NSDAP den nächsten Schritt. Sie ließ das Innenministerium besetzen und forderte die Übergabe der Polizei. Daß die Polizei erst in diesem Augenblick Widerstand leistete (eine Bereitschaft der Schutzpolizei wurde von der SA und SS entwaffnet), zeigt exemplarisch, wie leicht es der NSDAP und ihren Organisationen eigentlich fiel, auf eigene Faust die ermattete alte Staatsmacht zu usurpieren und die Exekutive in die Hand zu bekommen. SA-Angehörige stellten sowohl den Ministerpräsidenten Bernhard Adelung als auch den Innenminister Wilhelm Leuschner unter Hausarrest und unterbanden deren Telefonleitungen, ohne daß die Polizei sie daran hinderte. Der Machtwechsel hatte sich vollzogen.
Durch die Stimmenthaltungen der Sozialdemokraten begünstigt, die kommunistischen Sitze waren ohnehin vakant, gelangten neue – durch die zuständigen Parlamente zwischen dem 8. und 13. März 1933 »legal« gewählte – nationalsozialistische Landesregierungen außer in Hessen noch in Hamburg und Württemberg an die Macht. Wo und wann immer in den übrigen Ländern des Reiches Absichten laut wurden, verfassungsmäßig legale Regierungen zu bilden, erstickten die nationalsozialistischen Polizeibeauftragten sie, während die in den einzelnen Ressorts der Regierungen installierten NS-Sonderkommissare von ihren »Vollmachten« Gebrauch machten und die noch amtierenden nichtnationalsozialistischen Regierangen ebenso zum Rücktritt zwangen, wie die Sonderkommissare in den Bezirksämtern dies mit den unliebsamen Bürgermeistern taten.
Wo die NSDAP am 5. März nicht die ausreichende Stimmenmehrheit bekommen hatte, wurden die Schwierigkeiten bei der von der Partei geforderten Umbildung der Stadt- und Gemeinderäte illegal und schließlich auch unter Berufung auf das Gleichschaltungsgesetz vom 31.März 193315 »bereinigt«: Orte, in denen die Gemeinderäte trotz der Umbildung erneut keine NS-Bürgermeister wählten, was beispielsweise verschiedentlich in bayerischen Gemeinden der Fall war, in denen sich die Bayerische Volkspartei gegen die NSDAP durchgesetzt hatte, erhielten diese sie dennoch nicht, weil die Bezirksämter ihre Zustimmung versagten.
Daß sich die Verhältnisse nach den Wahlen gravierend ändern würden, hatten die Nationalsozialisten der Bevölkerung unmißverständlich vor allem seit Ende Februar prophezeit. »Die Kreisleitung« der NSDAP bittet ihre Leser, schrieb eine Heilbronner NS-Zeitung, ihre »Aufräumungswünsche noch eine kurze Zeitlang zu zügeln. Außerdem scheint es für die Gründlichkeit der bevorstehenden Abrechnung recht wertvoll, daß gewisse Leute unter dem Alpdruck ihres Ahnungsvermögens von den kommenden Dingen ihre Selbstbeherrschung bis zu einem Grade verloren haben, daß sie voll Verzweiflung ganz aus sich herausgehen und ihre ureigenste Wesenshaftigkeit sozusagen im Geburtstagskleidchen zur Schau stellen … Gemach also, ihr Ungeduldigen, die … ersehnte Reinigung kommt in allernächster Zeit. Die wenigen Nächte bis zum 5. März mögt ihr ruhig schlafen. Es gibt genug Leute, die der Schlaf bis dahin noch fliehen wird …«l6 Nicht einen Augenblick gaben sich die Nationalsozialisten die Mühe, auch nur den Anschein zu erwecken, als sei ihnen daran gelegen, auch politisch Andersdenkenden eine Heimat zu bieten. Ihr Kurs war seit Anbeginn auf offene und gnadenlose Konfrontation ohne Bereitschaft zu Zugeständnissen und Kompromissen gerichtet.17 So war es denn schließlich auch kein Wunder, daß nicht wenige Deutsche, die dies erkannten, den Weg des geringsten Widerstandes gingen und zumindest nach außen hin so taten, als seien sie über Nacht überzeugte Nationalsozialisten geworden. Nicht nur die alten und späteren »Nazis« nannten sie bald pointensicher und herablassend »März-Gefallene«. Daß mancher von ihnen rasch politische Karriere machen und in Einzelfällen sogar bis in die obersten Etagen der Partei- und Staatsführang aufsteigen konnte, bewies primär nur, wie sehr die Nationalsozialisten anfänglich überall auf bestimmte Fachleute angewiesen waren.
Am 10. März 1933 erklärte Hitler in einem Aufruf an die SA und SS, daß »mit dem heutigen Tag … in ganz Deutschland die nationale Regierung die vollziehende Gewalt in Händen« hielte. Die »braunen Bataillone« hatten ihre Pflicht getan. Von nun an, so ließ er die Öffentlichkeit wissen, werde der »weitere Vollzug der nationalen Erhebung ein von oben geleiteter, planmäßiger« sein.18 Diejenigen, die von »unten« her »planmäßig« geholfen hatten, waren soeben sichtbar ausgezeichnet worden. In der Nacht vom 9. zum 10. März war Ernst Röhm Staatskommissar z. b. V. geworden, Heinrich Himmler19 wurde Leiter der Polizeidirektion München, zu der auch Reinhard Heydrichs Zentrale der bayerischen Politischen Polizei gehörte.
Daß das herkömmliche Recht und Gesetz keinen großen Stellenwert mehr hatte und neue Normen an ihre Stelle getreten waren, konnte jedermann nun täglich erfahren. Als sich beispielsweise der einstige bayerische USPD-Abgeordnete und spätere »Nationalbolschewist« Ernst Niekisch im Frühjahr 1933 im preußischen Innenministerium beim Staatssekretär Herbert von Bismarck über Übergriffe der SA beschwerte, erfuhr er von ihm – dem von der Regierung Schleicher berufenen und von Göring im Amt belassenen Deutschnationalen, der sich bereits mit Rücktrittsabsichten trug –, daß es keine Möglichkeit mehr gebe, Unrechtmäßigkeiten nationalsozialistischer Organisationen zu verhindern oder gar zu bestrafen.20 Die SA, die seit Jahr und Tag »die Straßen frei den braunen Bataillonen« sang, im März die nationalsozialistische Machtergreifung durchgesetzt hatte und sich nun auf dem Wege befand, auch die Büros der staatlichen Ämter und Behörden in »die Straße« einzubeziehen, konnte infolge ihrer Zusammensetzung, Herkunft, Organisation, Ausbildung, Erwartungen und Leistungen für die Partei nicht wie Militär diszipliniert werden.
Wilhelm Frick, der sich bei der nationalsozialistischen Machtergreifung in den Ländern der »braunen Bataillone« bedient hatte, sah bald, daß Schleusen geöffnet worden waren, die jede gesetzliche Ordnung zu gefährden drohten. Schon Ende März saßen Gauleiter der NSDAP und höhere SA-Führer – als ständige Vertreter der Staatsregierung in den Provinzen – auf den Stühlen der Oberpräsidenten. In Brandenburg war es der Gauleiter Wilhelm Kube, in Schlesien der Gauleiter Helmut Brückner, in Schleswig-Holstein der Gauleiter Hinrich Lohse und in Hannover der SA-Gruppenführer Viktor Lutze. Bald folgten ihnen in Ostpreußen der Gauleiter Erich Koch, in Sachsen der SA-Obergruppenführer Curt von Ulrich und in Pommern der Gauleiter Franz Schwede.
Rechtsstaatlich denkende Kritiker des neuen Regimes warnten Hitler, Frick und Göring, dieser Entwicklung ihren Lauf zu lassen. Einige taten es offen. So hatte beispielsweise Friedrich von Winterfeld, der stellvertretende Vorsitzende der Deutschnationalen Volkspartei, die zunächst noch in der Regierung Hitler vertreten war, unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in den einzelnen Ländern besorgt und beschwörend an Hitler einen Brief geschrieben, den der Schwäbische Merkur veröffentlichte. Er, von Winterfeld, sei der Auffassung, so erklärte er diplomatisch, daß Hitler sicher den »unverletzlichen Charakter des Rechtsstaates, wie ihn das alte Preußen Friedrich des Großen bereits gehabt habe und wie ihn Reich und Staat vor der Novemberrevolution darstellten«, verewigen werde; aber er bitte ihn doch, auch »die unerläßlichen Maßnahmen« anzuordnen.21
Die um die Entwicklung besorgten Deutschen lasen dies – und hofften, daß der Reichskanzler entsprechend reagieren und den Ungesetzlichkeiten Einhalt gebieten werde, zumal die Urheber seine eigenen Leute waren. Doch Hitler, der die Dinge lieber laufen ließ, als seine alten Mitkämpfer zur Rede zu stellen oder sie gar »an die Zügel« zu nehmen, beschränkte sich lange Zeit hindurch auf mahnende Reden, die die Bevölkerung von dem Augenblick an nicht mehr ernst zu nehmen begann, als sich an den Verhältnissen nichts änderte. Aber am 29. März 1933 gab Hitler den Anstoß zur Durchsetzung einer Entscheidung, zu der er sich nach langen Überlegungen durchgerungen hatte. Während der Sitzung des Reichskabinetts schlug er vor, umgehend »Staatspräsidenten« mit besonderen Vollmachten in den Ländern des Reiches einzusetzen. Franz von Papen, Wilhelm Frick, der preußische Finanzminister Johannes Popitz und der Kölner Staats- und Völkerrechtslehrer Carl Schmitt bildeten unter von Papens Leitung eine Regierungskommission, die Hitlers Vorschlag rasch in gesetzliche Form umwandelte.22
Seit dem 7. April 1933 gab es daraufhin eine (bis zum Ende des Hitler-Reiches nicht mehr rückgängig gemachte) neue Führungsinstanz: die Reichsstatthalter.23 Die ihr von Hitler zugedachte Funktion war, die bis dahin von Parteistellen und Parteiorganisationen unter dem Zeichen des Hakenkreuzes betriebene »wilde Revolution« zu stoppen.