Buch
In der Nacht vor seinem Flug zum Mond rechnete Neil Armstrong die Chancen aus, die er, Buzz Aldrin und Michael Collins hatten, erfolgreich dort zu landen. Fifty-fifty, dachte er. Andere Experten hingegen, darunter auch Wissenschaftler und Techniker der NASA, sahen die Sache weniger optimistisch.
Apollo 11 war die unmögliche Mission, ihr Scheitern wahrscheinlicher als ihr Erfolg. Der Journalist und Historiker James Donovan erzählt die Geschichte der ersten Mondlandung in allen spannenden Details noch einmal neu und legt dabei auch viel Gewicht auf die menschliche Seite.
Autor
James Donovan ist Autor mehrerer Sachbuch-Bestseller zu Themen der amerikanischen Geschichte. Seit 1993 arbeitet er als Literaturagent und lebt in der Nähe von Dallas, Texas.
Für meine Schwestern und Brüder,
zur Erinnerung an ein Zimmer in Brooklyn mit vier Betten:
»Immer wenn der Mond und die Sterne am Firmament sind …«
PROLOG
I NACH OBEN
1 Kosaken im All
2 Von Affen und Menschen
3 »Die heulende Unendlichkeit«1
4 Mann in einer Rakete
II RUNDHERUM
5 Im Orbit
6 Unter Druck
7 Das Gusmobil
8 Der Ausflug und ein wild gewordener Himmel
III NACH DRAUSSEN
9 Inferno
10 Regeneration
11 Phoenix und Erdaufgang
12 »Freundliche Fremde«
13 Übungsflug und Kostümprobe
IV RUNTER
14 »Ihr habt grünes Licht«
15 Der Translunar-Express
16 Abstieg zu Luna
17 Mondstaub
EPILOG
Danksagung
Anmerkungen
Literatur
Register
Bildteil
Weder die Sonne noch den Tod kann man fest ins Auge fassen.
FRANÇOIS DE LA ROCHEFOUCAULD
Cape Kennedy, 15. Juli 1969, 04.15 Uhr
Das Biest – wie einige der ersten Missile Men die Rakete nannten1 – stand auf der Abschussrampe, seine weiße Haut in das Licht von Dutzenden Scheinwerfern gehüllt. Es fauchte, stöhnte, gurgelte und tankte durch dicke Nabelschnüre Kraftstoff, während eine Eisschicht, die sich durch den supergekühlten flüssigen Sauerstoff gebildet hatte, an seinen Seiten herabglitt und sich teilweise in dicke weiße Atemwolken auflöste. Es sah aus, als könnte es jeden Moment die Arme der Abschussrampe abschütteln, sich aus der Verankerung reißen und die Küste Floridas hinabwandern …
Dreizehn Kilometer entfernt, im zweiten Stock von Gebäude 24 des Kennedy Space Center, ging Deke Slayton den Flur der Mannschaftsquartiere entlang. Dreimal blieb er stehen, klopfte an eine Tür und rief fröhlich: »Es ist ein wunderschöner Tag«, und so meinte er es auch.
Slayton war ein schlichter Mann, auf einer Farm aufgewachsen und außerordentlich fürsorglich, wenn es um seine Schützlinge ging – eine Mischung aus Muttertier und Diktator –, zugleich aber wachte er eifersüchtig über jeden Einzelnen. Als ehemaliger Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg, Testpilot und einer der ursprünglichen sieben Mercury-Astronauten – des ersten bemannten Raumfahrtprogramms der USA – war er zum Chef der NASA-Astronautenabteilung ernannt worden, als ein kleines Herzproblem ihn daran hinderte, ins All zu fliegen. Slayton wusste besser als jeder andere, dass das berufliche Schicksal der Astronauten in seinen Händen lag, denn er traf die Auswahl für jede Mission – er entschied über die Karriere der Astronauten. Bei seiner Auswahl war er daher peinlich genau auf Gerechtigkeit bedacht – jedenfalls meistens.
Die Männer hinter den drei Türen waren die Astronauten Neil Armstrong, Edwin »Buzz« Aldrin und Michael Collins. Sie bildeten die Mannschaft der Apollo-11-Mission, die an diesem Morgen starten sollte. In drei Tagen würden sie in ein kleines Raumfahrzeug klettern, das an der Spitze der 111 Meter hohen, dreistufigen Saturn-V-Rakete saß, des kraftvollsten je gebauten Antriebsaggregats, und ins Weltall fliegen. In ein paar Tagen würden zwei von ihnen einen Versuch unternehmen, den vor ihnen noch niemand gewagt hatte: ein kleines, zerbrechliches Raumfahrzeug auf einen anderen Himmelskörper zu lenken und dessen Oberfläche zu betreten, 380 000 Kilometer von der Erde entfernt.
Diese drei Männer und viele andere, die überwiegend aus den Kadern der besten Test- und Kampfpiloten stammten, hatten ihr Leben diesem einen Ziel gewidmet und unablässig auf diesen Moment hingearbeitet.
Bis das Raumfahrtprogramm der USA im Jahr 1958 ins Leben gerufen wurde, hatte sich kein Mensch in die lebensfeindliche Welt des Alls gewagt – ein fast schwereloses Vakuum mit extremen Temperaturschwankungen, dem kein Lebewesen standhalten konnte. Ohne künstliche Lebenserhaltungssysteme wäre jede Kreatur sofort dem Tod geweiht. Doch selbst mit einem solchen System waren die Auswirkungen von Schwerelosigkeit, Strahlung, Meteoriten und den enormen Kräften, die bei Start und Wiedereintritt auf die Astronauten einwirkten, größtenteils unbekannt. Jeder der Astronauten hatte jahrelang trainiert, um diesen und anderen Gefahren zu trotzen.
Im Laufe ihres Trainings hatten sie auch Tausende von Stunden damit verbracht, die Flugkörper kennenzulernen, die sie ins All bringen sollten – Flugkörper, die so viel anspruchsvoller und komplizierter waren als alle ihre Vorgänger und die von einem Kader vorausschauender Wissenschaftler und Ingenieure entwickelt worden waren, die den Traum der Raumfahrt miteinander teilten, eine unstillbare Neugier besaßen und den Willen, ihren Traum zu verwirklichen. Sie alle machten unzählige Überstunden, oft auf Kosten ihres Privatlebens und ihrer Beziehungen. Zusammen mit den 400 000 anderen Männern und Frauen, die diese Raketen zusammenbauten, verschrieben sie sich dem Ziel, ihrem Land zum Triumph gegen die kommunistische Bedrohung zu verhelfen. Auf dem Spiel stand nicht nur die Vorherrschaft im All, sondern auch das Überleben der USA als Demokratie.
Sie waren nicht ohne schwere Rückschläge und große Tragödien so weit gekommen. Raketen explodierten. Systeme versagten. Menschen starben. Die Ermordung eines visionären Präsidenten, dessen kühne Pläne das Programm vorangetrieben hatten, wurde zum Ansporn, der nötig war, um die Arbeit zu Ende zu führen.
Doch im Oktober 1957 hatten die Amerikaner, die sich ein Dutzend Jahre nach ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg noch immer für das Maß aller Dinge hielten, keine Ahnung, wie tiefgreifend eine kleine Metallkugel mit einem Funksender die Welt verändern sollte.
NACH OBEN
KOSAKEN IM ALL
Von Beginn an war unser Ziel, den unbegrenzten Weltraum zu erreichen.
Generalmajor Walter Dornberger, Koordinator des deutschen V2-Programms1
Eines Morgens im Oktober 1957 wachte ein vierzehnjähriger Junge in der Kleinstadt Fremont mitten im landwirtschaftlich geprägten Iowa auf und stellte fest, dass die Welt sich radikal verändert hatte. Die Sowjetunion hatte eine Silberkugel von der Größe eines Wasserballs ins All geschossen, die jetzt die Erde umkreiste. Sie nannten sie Sputnik – übersetzt bedeutet das so viel wie »Weggefährte«. Die Russen, dieses steppenbewohnende, wodkasaufende Reitervolk der Kosaken, das man für eine technologisch zweitklassige Weltmacht hielt, hatten die USA in der Raumfahrt überholt.
Der Name des Jungen war Steve Bales. Er war von durchschnittlicher Größe, hatte dichtes braunes Haar und trug eine Brille. Seine Mutter arbeitete in einem Schönheitssalon, und sein Vater, der mit neununddreißig Jahren von der Armee eingezogen worden war und in der 102. Infanteriedivision im Zweiten Weltkrieg gedient hatte, besaß eine Eisenwarenhandlung. Steve sagte zu seinen Eltern, seinen drei jüngeren Brüdern und jedem, der es hören wollte, wie wütend er darüber war, dass nicht die USA den ersten Satelliten ins All geschickt hatten. Er interessierte sich für das Weltall, seit er zehn Jahre alt war. Damals hatten er, sein Vater und seine Brüder viele Sommernächte auf grauen, abgenutzten Decken im Feld hinter ihrem Haus am Stadtrand übernachtet. Wenn es dunkel wurde, zeigte der Vater ihnen den Großen Wagen, Orion und andere Sternbilder. Nichts erschien so wundervoll wie das Universum und seine Geheimnisse. Diese Begeisterung erreichte ihren Höhepunkt, als der Junge 1955 im TV ein Special von Walt Disney sah, in dem ein überschwänglicher Raketenforscher mit leichtem deutschen Akzent auftrat und erklärte, der Mensch werde eines Tages den Mond betreten.2
Jetzt gab es einen künstlichen Satelliten, und er gehörte den Sowjets – dem Feind im Kalten Krieg. Doch der Junge wusste, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis die USA einen eigenen Satelliten ins All schießen und die Weltraumforschung intensivieren würden. Daran wollte er teilhaben.
An diesem Samstag saß Lyndon Johnson, Mehrheitsführer der Demokraten im US-Senat, mit Freunden auf der Familienranch im Texas Hill County zusammen, als er vom Sputnik erfuhr. Nach dem Essen schauten alle während eines Spazierganges auf einer dunklen Straße in den Nachthimmel. »Auf eine ungewohnte Weise«, so erinnerte sich Johnson, »erschien mir der Himmel fast fremd.«3 Er verbrachte den Großteil des Abends damit, Berater und Kollegen anzurufen und sie aufzufordern, sich näher mit den Satelliten- und Raketenprogrammen der Vereinigten Staaten zu beschäftigen. Johnson wusste mehr über dieses neue Forschungsgebiet als jeder andere gewählte Vertreter in Washington – er hatte seit den späten vierziger Jahren Kongressanhörungen und Untersuchungen zum Weltraumprogramm geleitet –, und es widerstrebte ihm zutiefst, sich einzugestehen, dass die USA auf diesem Gebiet hinter ihrem größten Feind herhinkten. Er glaubte, es sei notwendig, unmittelbar auf die sowjetische Herausforderung zu reagieren, und nahm sich vor, den Vorsitz eines Vorbereitungsausschusses im Senat zu übernehmen. Er war sich absolut sicher, dass die USA ein umfassendes Weltraumprogramm brauchten. Dass er aus der Unfähigkeit der Eisenhower-Regierung auf dem Gebiet der Raumfahrt politisches Kapital schlagen konnte, verlieh der Sache natürlich zusätzlichen Reiz.
In den zwölf Jahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs war der einstige Verbündete der USA zum größten Feind geworden. Rund 418 000 Amerikaner hatten im Krieg ihr Leben verloren, doch diese Zahl nahm sich bescheiden aus im Vergleich zu den siebenundzwanzig Millionen russischen Toten. Während die USA mit frischen Kräften als neue Führungsmacht aus dem Krieg hervorgingen, hielt die argwöhnische UdSSR die permanente Einmischung der Amerikaner in die Angelegenheiten anderer Staaten – manchmal offen, meist aber versteckt – für Imperialismus und glaubte, die Westmächte könnten zu Ende bringen, was die Nazis begonnen hatten: die Eroberung ihres Landes. (Immerhin hatte Senator Harry S. Truman im Jahr 1941 öffentlich Hitler-Deutschland mit dem stalinistischen Russland verglichen.) Zur Verstärkung dieser Spannungen trug bei, dass die Sowjets ihrerseits kein Hehl aus ihrem Verlangen nach Weltherrschaft machten (wenn auch vorzugsweise durch eine Reihe von nationalen Revolutionen – »kleinen Befreiungskriegen«4), dass sie ihr Arsenal an Kernwaffen und Interkontinentalraketen ausbauten und keine Gelegenheit zum Säbelrasseln ausließen – etwa als sie England, Frankreich und Israel mit der Wasserstoffbombe drohten, falls sie ihren Krieg gegen Ägypten nicht beendeten. Diese Konstellation führte im Laufe der fünfziger Jahre zu wachsender Paranoia, einer Gemütslage, die sich in den Medien widerspiegelte: einem Science-Fiction-Boom in Filmen, Fernsehserien und Romanen sowie wissenschaftlichen Beiträgen über Raketentechnik und Weltraumreisen in Fernsehsendungen, Büchern und Zeitschriften. All das wurde durch die Erkenntnis verstärkt, dass die existierenden Kernwaffen absolut in der Lage waren, die Menschheit zu vernichten.
Und es herrschte tatsächlich Krieg – die Temperatur einmal beiseitegelassen –, ein Krieg, bei dem viel auf dem Spiel stand. Die meisten Amerikaner erwarteten, dass die kleineren Staaten der Welt schrittweise der schleichenden Gefahr des Kommunismus anheimfallen würden, einer nach dem anderen. Im November 1956 erklärte der etwas derbe und ungestüme sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow den versammelten westlichen Diplomaten auf einem Fest der polnischen Botschaft in Moskau: »Wir werden euch begraben!« Mochte der Satz auch in der Übersetzung etwas missverständlich sein, die Absichtserklärung, die ihm zugrunde lag, war eindeutig. Sie deckte sich mit Chruschtschows Prophezeiung, dass die Enkel des US-Präsidenten Dwight Eisenhower unter dem Sozialismus aufwachsen würden, da der Kapitalismus dem Tod geweiht sei. Doch nicht nur die Sowjets rasselten mit ihren Atombomben. Bereits 1953 hatte Eisenhower damit gedroht, eine Wasserstoffbombe gegen China einzusetzen, und wiederholt hatten US-Senatoren öffentlich gefordert, über Russland eine Atombombe abzuwerfen.
Kurz nachdem die Sowjetunion ihre eigene Nuklearwaffe gezündet hatte, begannen die beiden Supermächte nach einer ungeschriebenen, aber von beiden akzeptierten Doktrin zu koexistieren, der »wechselseitig zugesicherten Vernichtung«: dem vollständigen Einsatz aller Kernwaffen, der die fast vollständige Vernichtung sowohl der Angreifer wie der Verteidiger bewirkt hätte. Diese Erkenntnis – und die Angst eines jeden Landes vor einem massiven Präventivschlag der anderen Seite – war alles, was den Kalten Krieg davor bewahrte, ein »heißer Krieg« zu werden. Beide Seiten entwickelten ein riesiges Arsenal von Nuklearwaffen sowie Langstreckenbombern und – raketen – jeweils mehr als tausend pro Land, obwohl der russische Langstreckenbomber Tu-4, ein direktes Abbild des amerikanischen B-29, dem Gros der US-Bomberstaffel unterlegen war.
Doch die Amerikaner hatten sich immer damit getröstet, dass ihr Land in jeder Hinsicht überlegen sei, auch auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik. Immerhin waren es die Amerikaner gewesen, die das Atom gespalten und das atomare Monster geschaffen hatten, durch das der Krieg beendet wurde – mochten die Russen auch 1949 ihre eigene Atombombe entwickelt und 1953 die wesentlich stärkere Wasserstoffbombe getestet haben, nur ein Jahr nach den USA.
Als also die Amerikaner am 5. Oktober 1957 beim Frühstück die Nachricht vernahmen, dass eine glänzende, knapp 84 Kilogramm schwere Stahlkugel, die vier Antennen hinter sich herzog und zwei Funksender bei sich trug, piepsend ihre Kreise um die Erde zog – wer hatte je von so einem Ding gehört? – und dass dieser russische Mond sieben Mal am Tag, Hunderte von Kilometern über ihren Köpfen, direkt über die USA hinwegzog, waren die meisten von ihnen entsetzt.
Die Leiter des US-Satellitenprogramms hingegen waren von der Nachricht nicht überrascht. Schon 1955 hatten sowohl Russland als auch die USA ihre Absicht bekundet, einen Satelliten während des Internationalen Geophysikalischen Jahres zu starten. Dabei handelte es sich um ein multilaterales Abkommen über den Austausch wissenschaftlicher Informationen im Rahmen verschiedener geowissenschaftlicher Projekte zwischen dem 1. Juli 1957 und dem 31. Dezember 1958, das insgesamt siebenundsechzig Nationen umfasste. Und nur wenige Wochen vor dem Start hatten die Sowjets sogar die Frequenzen mitgeteilt, auf denen die elektronischen Daten von Sputnik telemetrisch erfasst werden konnten.
Nicht die komplette US-Militärführung war eingeschüchtert: Ein US-Admiral nannte den Sputnik einen »Haufen Eisen, den fast jeder hätte starten können«.5 Ein paar andere, auch Eisenhower, versuchten seine Bedeutung herunterzuspielen, eine Position, die nur zwei Tage später geschwächt wurde, als die USA den Vereinten Nationen einen »Plan zur Kontrolle von Waffen im Weltall« anbot.6 Ike hatte nicht die Absicht, in ein teures Raumfahrt-Wettrennen einzusteigen, zumal es doch den Anschein hatte, dass die Sowjets ihnen weit voraus seien. Und der Sputnik, so wurde betont, war nicht groß genug, um nukleare Waffen zu transportieren.
Doch die Presse sowie Johnson und seine demokratischen Kollegen – Letztere eine Möglichkeit witternd, ihren Opponenten zu schaden – widersprachen vehement. »Die Sowjets haben einen riesigen Schritt ins All getan«, verkündete die New York Times,7 und Senator Henry M. Jackson aus Washington nannte den Start einen »vernichtenden Schlag für das wissenschaftliche, industrielle und technische Ansehen der USA in der Welt«.8 Die Zeitschrift Missiles and Rockets formulierte es noch zugespitzter: »Die Nation, die das Weltall kontrolliert, wird auch die Welt kontrollieren. Man hat die Wahl zwischen Demokratie und Sklaverei.«9 Außerdem veröffentlichte das Magazin den sowjetischen Plan, einen kleinen Panzer auf dem Mond zu landen, der ständig umherfahren, dabei die Erde filmen und die Bilder an die Russen zurückschicken würde.10 Mehr als sechs Wochen lang präsentierte Johnsons Vorbereitungsausschuss der Öffentlichkeit eine beeindruckende Zahl von Flug-, Militär- und Raketenexperten. Jeder von ihnen betonte, wie gefährlich es sei, Erfolg und Bedeutung des Sputniks zu ignorieren. Am 8. Januar, nach Abschluss der Anhörungen im Ausschuss, hielt Johnson eine Brandrede, die einer Kampfansage gleichkam. »Die Kontrolle des Alls bedeutet die Kontrolle der Welt«, erklärte Johnson in Anlehnung an den Leitartikel in Missiles and Rockets. Er verknüpfte die Frage mit dem Schicksal der freien Welt und ließ keine die Kosten betreffenden Bedenken gelten: »Die Sorgen der Finanzexperten über die Ausgaben sind irrelevant.«11
»Ansehen« war ein Codewort für politische Stärke. Regelmäßig tauchte es in den Reden und Berichten auf und hatte für alle Regierungen vorrangige Bedeutung. Im weltweiten Tauziehen zwischen der Freien Welt, angeführt von den USA, und den kommunistischen Staaten, die sich hinter der UdSSR aufreihten, gab es Dutzende von Entwicklungsländern in der Dritten Welt, viele von ihnen gerade erst entkolonialisiert, die sich noch nicht entschieden hatten, welche Seite des ideologischen Taus sie ergreifen sollten. Offenbar warteten sie ab, um herauszufinden, welches Team vorne lag. Niemand wusste genau, was sie überzeugen konnte, obwohl Überlegenheit in der wissenschaftlichen Forschung – und vor allem in deren militärischer Anwendung – eine große Rolle spielte. Jeder Fortschritt in diesen entscheidenden Bereichen wurde deshalb lauthals verkündet, und Westeuropa war ein williges Publikum. Wenn es gelang, Amerikas Verbündete in der North Atlantic Treaty Organization – der NATO – abspenstig zu machen, wären der Sputnik und alle seine Nachfolger jeden einzelnen Rubel wert gewesen.
Vor Sputnik – gestartet etwa sechs Wochen nach der russischen Ankündigung, dass eine sowjetische Interkontinentalrakete eine große Reichweite erreicht hatte – schienen die USA weit in Führung zu liegen. »Man befürchtet, die Sowjetunion sei offenbar bemüht, andere Länder, vor allem in Asien und Afrika, davon zu überzeugen, dass Moskau die Führung im Bereich der Wissenschaft übernommen habe«, warnte die New York Times auf ihrer Titelseite,12 und in einem weiteren Leitartikel wurde noch düsterer formuliert: »Bei den neutralen Nationen würde sich möglicherweise die Überzeugung durchsetzen, die Zukunft sei russisch; selbst unsere Freunde und Verbündeten könnten sich von uns abwenden.«13 Der Kampf um die Herzen und Köpfe dieser Unentschlossenen – und ihrer Portemonnaies, da es auch um das Interesse an einem internationalen Markt für amerikanische Waren und Werkzeuge ging – war ein sehr realer Teil des Kalten Krieges,14 obwohl es schwierig war, die Erfolge zu messen. Ein vertraulicher Regierungsbericht, der nur eine Woche nach Sputnik angefertigt wurde, scheint diese Annahme zu bestätigen. Dort heißt es abschließend, das Ansehen der USA habe empfindliche Einbußen erlitten, was anhand einer Reihe von Beispielen belegt wird.15 In einem weiteren Bericht ist die Rede davon, dass »binnen weniger Wochen in der Bevölkerung Westdeutschlands, Frankreichs und Italiens ›die Zustimmung zum Westen‹ und zur NATO abgenommen hat«.16
Doch Ansehen war nicht nur ein politisches Schlagwort, sondern auch eine politische Sorge. Der Durchschnittsamerikaner fürchtete um sein Leben, und Johnsons Rede traf einen Nerv. Anscheinend waren die USA nicht mehr sicher vor einem atomaren Angriff. Was kam als Nächstes? Sowjetische Militärbasen auf dem Mond oder solche, die die Erde umrundeten? 1956 erschien im Magazin Collier’s ein Artikel, der genau dieses Szenario anschaulich beschrieb, mit Farbzeichnungen von einem New York City, worauf Brandbomben herabregnen. Ja, das war möglicherweise als Nächstes zu erwarten, und es erschien sogar noch wahrscheinlicher, nachdem die Sowjets Sputnik 2 gestartet hatten – nur zweiunddreißig Tage nach seinem Vorgänger. Der Satellit hatte eine kleine Mischlingshündin namens Laika an Bord, doch sie starb nur wenige Stunden nach dem Eintritt in die Erdumlaufbahn an Überhitzung. (Damals behaupteten die Sowjets, sie hätte eine ganze Woche überlebt; die Wahrheit wurde erst Jahrzehnte später enthüllt.) Das Ladegewicht von etwas über 500 Gramm – schwerer als ein sowjetischer Atomsprengkopf – legte die Tatsache offen, dass die Sowjets jetzt in der Lage waren, die USA mit einer Atombombe zu erreichen. Und es gab nur einen Grund, einen Hund in die Umlaufbahn der Erde zu schicken. Folglich war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Russe ins All flog – und das würde bedeuten, dass er sich direkt über Amerika befände.
Nachdem die Demokraten in Washington noch ein paar weitere Wochen lang ihren Unmut geäußert und die Medien ihre Sticheleien fortgesetzt hatten – »Warum ziehen die USA noch immer in einem Wettstreit den Kürzeren, der entscheiden könnte, ob die Freiheit eine Zukunft hat?«, fragte das Time-Magazin17 –, begannen selbst die Amerikaner, die sich ursprünglich nicht durch den Sputnik hatten beeindrucken lassen, Anzeichen von Hysterie zu zeigen. Die USA erwiesen sich bislang in einem Wettstreit unterlegen, der mit der Zerstörung des American Way of Life enden mochte … oder auch schlicht der Zerstörung der USA. Die Paranoia nahm zu – es überrascht wohl kaum, dass sich die UFO-Sichtungen in der Zeit direkt nach dem Sputnik vervierfachten.18 Marsbewohner? Russen? Beide Theorien wurden verfochten.
Wie hatten die primitiven Kosaken eine solche Leistung zustande bringen können? Es wurde viel Tinte und Zeit darauf verwendet, die Tatsache zu beklagen, dass die USA innerhalb nur eines Jahrzehnts nach dem Ende des Krieges verweichlicht waren. Zeitungsartikel beklagten das »Bildungsgefälle«, und ein Regierungsbericht stellte fest, dass Kinder in der UdSSR an den höheren Schulen mehr Unterricht in Naturwissenschaft und Mathematik erhielten, während in Amerika die läppische Rock’n’Roll-Generation mit jedem Tag mehr verdummte. Also war klar, dass die sowjetischen Triumphe sich fortsetzen würden. Diese kollektive Selbstzerfleischung mündete in den National Defense Education Act, ein Gesetz, das von Eisenhower im September 1958 unterzeichnet wurde. Es zielte darauf ab, das US-amerikanische Bildungssystem durch Stipendien, niedrig verzinste Darlehen und ähnliche finanzielle Hilfen zu beleben. Eisenhower hatte auf einer Pressekonferenz wenige Tage nach Sputnik 1 behauptet, dass es nicht die Russen gewesen seien, die den Satelliten gebaut hatten – es »waren all die deutschen Wissenschaftler«, die bei Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft geraten seien.19
Nichts hätte falscher sein können. Die besten deutschen Raketenforscher und – ingenieure waren, mit Ausnahme von etwa einem Dutzend, nicht in sowjetische, sondern in amerikanische Gefangenschaft gekommen und im Rahmen des wenig bekannten Projektes Paperclip zur Mitarbeit angeworben worden. Seit 1945 lebten sie in den USA. Führend unter ihnen war Wernher von Braun, ein ehemaliger SS-Offizier von gewinnendem Wesen und Äußeren. Er hatte ein ambitioniertes Raketenprogramm geleitet, dem während des Krieges Tausende von Menschen zum Opfer gefallen waren – und vermittelte nun den Amerikanern die Botschaft von der Raumfahrt in einer Walt-Disney-Fernsehreihe.
Diese Gruppe sogenannter »Nazi-Wissenschaftler« – eine irreführende Bezeichnung, da weniger als die Hälfte von ihnen Mitglieder der NSDAP und die meisten von ihnen Ingenieure oder Techniker und nicht Wissenschaftler waren – verfügte über bemerkenswerte Fähigkeiten: Ihre 14 Meter lange V2-Rakete, ein beeindruckendes Produkt wissenschaftlichen und technischen Erfindungsgeistes, war das erste von Menschen gefertigte Objekt, das ins All geschossen wurde. Das Problem war nur, dass den Schöpfern dieses Wunderwerks trotz beredter Bemühungen ihres Chefs von den amerikanischen Kontrolleuren praktisch Handschellen angelegt wurden. Fast zehn Jahre lang mussten sie relativ belanglose Experimente in der oberen Atmosphäre vornehmen, da die Militärs Langstreckenbomber für die überlegenen Waffen hielten. Eines der Weltraumprojekte, die von Braun vorgeschlagen hatte, betraf den Bau eines Satelliten, den er noch vor dem Sputnik ins All schießen wollte. Weiter reichende Pläne sahen die Konstruktion einer Weltraum-Plattform vor, die sich auf einer Erdumlaufbahn bewegte – entweder als Tankstelle auf halber Strecke zum Mond oder als Kampfstation, von der aus man Atomraketen auf die Erde niederregnen lassen konnte. Der erste Plan wurde aus finanziellen Gründen gestrichen, der zweite noch nicht einmal in Erwägung gezogen. Ende der vierziger Jahre wurde jeder, der davon sprach, ins All zu fliegen, als Spinner abgetan. Von Braun war entschlossen, diese Einstellungen zu ändern, wusste aber auch, dass sich das nicht von heute auf morgen bewerkstelligen ließ.
Von Braun wurde 1912 in eine Adelsfamilie hineingeboren – sein Vater war in den zwanziger Jahren Landwirtschaftsminister der Weimarer Republik, seine Mutter konnte ihre Familie bis zu den mittelalterlichen Königen von vier verschiedenen Ländern zurückverfolgen. Er selbst träumte seit seiner verwöhnten Kindheit von Reisen zu den Himmelskörpern unseres Sonnensystems. Seine Mutter, eine Laien-Astronomin, schenkte ihm zur Konfirmation statt der bei den Lutheranern sonst üblichen langen Hosen20 ein Teleskop, er selbst verschlang die Weltraumromane von H. G. Wells und Jules Verne. Als Teenager entdeckte er die frühen Raketentheoretiker – den weitgehend unbekannten russischen Lehrer Konstantin Ziolkowski, den deutschen Mathematiker Hermann Oberth sowie den amerikanischen Physiker und Erfinder Robert Goddard. Von Braun begann mit Feuerwerkskörpern und wandte sich dann bald eigenen Erfindungen und Plänen zu, nicht nur für Raketen, sondern auch für Weltraumgefährte und ihre Piloten. Mit sechzehn Jahren gründete er an seiner Schule einen Astronomieclub und bekam genügend Spenden zusammen, um ein größeres Refraktorteleskop anzuschaffen. In den zwanziger Jahren entwickelte sich eine deutsche Raumfahrtbewegung, der sich von Braun schon bald anschloss. Dort arbeitete er mit Oberth und anderen führenden deutschen Raketenforschern zusammen. Als der hochgewachsene, blauäugige und blonde Adelsspross – ein naturwissenschaftliches und mathematisches Wunderkind – an die Universität kam, entschied er sich für die Raketenforschung und war entschlossen, seinen Traum von den Reisen zum Mond und den Planeten zu verwirklichen.
Mit zwanzig Jahren erwarb er sein Diplom als Ingenieur für Mechanik an der Technischen Hochschule in Berlin und begann ein Physikstudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, doch seine Studien sollten von höheren Mächten abgekürzt werden. Im Sommer 1932, einige Monate vor der Machtübernahme der Nazis, suchte die deutsche Armee nach Langstreckenwaffen, die nicht unter das Verbot des Versailler Vertrags von 1919 fielen – jenes Friedensabkommens, das verhindern sollte, dass Deutschland wieder Kriege führen konnte. Das Militär kannte das zerstörerische Potenzial von großen Langstreckenraketen und bat von Braun, an der geheimen Forschung für militärische Anwendungen teilzunehmen. Anfangs war er von Adolf Hitler, seinen nationalistischen Ideen und seinen »erstaunlichen geistigen Fähigkeiten«21 beeindruckt. Vor allem aber war von Braun ein Opportunist, und ein Krieg erschien zu dieser Zeit höchst unwahrscheinlich. Die Armee teilte seinen Traum von der Raumfahrt nicht, aber wenn sie ihm dabei half, Raketen zu entwickeln, dann würde er Raketen für sie bauen – bedenkt man, an welche kostspielige Art von Raketen er dachte, war das Angebot der Nazis eine verführerische Aussicht und darüber hinaus eine alternativlose, da zivile Raketenforschung sehr bald verboten wurde. Er nahm das Angebot an und wurde der führende zivile Experte der neuen (und einzigen) militärischen Raketenstation, einem Übungsplatz, der versteckt in einem Nadelwald bei Kummersdorf lag, knapp hundert Kilometer südlich von Berlin. Sein Labor bestand zur Hälfte aus einem Betonschacht und sein Stab aus einem einzigen Mechaniker.
Ende 1934 wurde er mit einer Dissertation über Raketentechnik promoviert, obwohl die Arbeit, als geheim eingestuft, von der Armee unter Verschluss gehalten wurde. Zu dieser Zeit hatte seine Gruppe, zu der einige Männer gehörten, die auch im folgenden Jahrzehnt und darüber hinaus eng mit ihm zusammenarbeiten sollten, zwei kleine mit Flüssigtreibstoff betriebene Raketen gestartet. Der jugendliche Direktor des Programmes war gerade einmal zweiundzwanzig.
In den Jahren darauf zeigte sich sein größtes Talent – das Management technischer Großprojekte. Es gibt nur wenige Visionäre, die ihre Träume mit den praktischen Zwängen solcher Projekte vereinbaren können, doch von Braun hatte ein begnadetes Talent dafür. Durch eine Mischung aus Charisma, Enthusiasmus und Wissen erzeugte er bei seinen Leuten ein hohes Maß an Loyalität und Arbeitsbereitschaft. Das machte ihn zu einem ausgezeichneten Leiter einer großen Gruppe von Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern. 1937 wurde er zum technischen Direktor der Heeresversuchsanstalt ernannt, nachdem sie nach Peenemünde auf Usedom verlegt worden war. Drei Jahre später, als der Zweite Weltkrieg schon begonnen hatte, leitete er eine Belegschaft von mehr als tausend Mann. Im Frühjahr 1940 wurde er vom Reichsführer Heinrich Himmler gedrängt, der SS beizutreten, deren Hauptaufgabe es war, neben polizeilichen und geheimdienstlichen Tätigkeiten. die Rassenpolitik der Nazis durchzusetzen. Nach einiger Überlegung gab er nach – eine Weigerung hätte seiner Karriere und Forschungstätigkeit schaden können; er wurde im Rang eines Untersturmbannführers in die Organisation aufgenommen. Seine Mitgliedschaft beschränkte sich auf die monatlichen Versammlungen, und auch die besuchte er nur sehr unregelmäßig.
Das Team in Peenemünde hatte im Jahr 1942 die erste ballistische Langstrecken-Lenkwaffe der Welt entwickelt, die fast 15 Meter lange A4 (schon bald umbenannt in V2, wobei das »V« für Vergeltung steht) – ein wahres Monstrum und ein Riesenfortschritt in der Raketentechnik, von dem mächtigen Antrieb bis zum hochentwickelten Lenksystem. Die V2 konnte eine Ladung von 1000 Kilogramm Sprengstoff über eine Entfernung von 320 Kilometern transportieren, und das sogar sehr zielgenau, zumindest gegen Ende des Krieges, nachdem das Lenksystem verbessert worden war. Die Rakete erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 5600 Stundenkilometern und konnte daher auf keinen Fall abgeschossen werden. Nur eine Explosion beim Start vermochte sie aufzuhalten.
Aber all das lag noch in der Zukunft. Im Oktober 1942 standen von Braun und seine Kollegen unter extremem Druck. Die ersten beiden Startversuche waren gescheitert. Wenn der dritte ebenfalls fehlschlug, bedeutete das vermutlich das Aus für das Programm und Fronteinsatz für alle Mitarbeiter – wahrscheinlich in Russland, was einem Todeskommando nahekam. Am 3. Oktober stand eine schwarz-weiße A4 auf einem einfachen, anderthalb Meter hohem Gerüst, dessen Hülle wegen des supergekühlten Flüssigsauerstoffs mit einer Reifschicht überzogen war. Der Startbefehl erfolgte, ein Schalter wurde umgelegt, und unter den Augen von Hunderten gespannter Beobachter löste sich die Rakete mit ohrenbetäubendem Grollen von ihrem Gerüst, erst langsam, dann immer schneller, bis sie schließlich mehr als 80 Kilometer jenseits der Stratosphäre in die Mesosphäre eintrat. Von Braun und sein Team tanzten und weinten vor Freude. Es hatte sie fast ein Jahrzehnt harter Arbeit gekostet, aber schließlich hatten sie ihr hochgestecktes Ziel erreicht. Selbst der General, der die Raketenentwicklung beaufsichtigt hatte, Walter Dornberger – ein kleiner, glatzköpfiger Ingenieur und ehemaliger Artillerieoffizier, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und der nach zwölf Jahren Zusammenarbeit mit von Braun viel Verständnis für dessen Traum von einer interplanetarischen Raumfahrt entwickelt hatte –, wusste, was es für sie bedeutete. »Heute Nachmittag wurde ein Raumschiff geboren«, sagte er.22
Die Wehrmacht, die in einem schon fast verlorenen Krieg verzweifelt nach einem Rettungsanker suchte, sah den einzigen Daseinszweck der Rakete in ihrer Zerstörungskraft und gab diese Richtung für die weitere Arbeit vor. Hitler stand der neuen Technik anfangs skeptisch gegenüber und hatte nur wenig finanzielle Mittel für Personal und Material bewilligt. Doch im Sommer 1943, angesichts der düsteren Aussichten für den weiteren Kriegsverlauf, hatte Hitler beschlossen, dem Projekt die höchste nationale Priorität zu einzuräumen, woraufhin das Budget entsprechend erhöht wurde. Im September 1944 bombardierten bereits Hunderte von V2-Raketen, alle in der Lage, eine Tonne Sprengstoff zu transportieren, Ziele in England, Frankreich und Belgien. Die Wirkung war schrecklich: Im November 1944 wurden bei einem Treffer in London 160 Menschen getötet und 108 verwundet. Am Ende des Krieges betrug die Bilanz der V2-Raketen 2754 tote und 6523 verwundete britsche Zivilisten – schlimm genug, aber nicht das furchtbare Vernichtungswerkzeug, das sich Hitler erhofft hatte, die Wunderwaffe.23
Im August 1943 bombardierte die Royal Air Force Peenemünde und tötete dabei etwa 500 zivile Arbeiter – die meisten von ihnen polnische und russische Kriegsgefangene, die bei der Fertigung halfen, während nur zwei der führenden Wissenschaftler aus von Brauns Team ums Leben kamen.24 Allerdings war der Schaden an der Anlage so verheerend, dass Hitler die Produktion der Rakete in eine unterirdische Einrichtung etwa 400 Kilometer südlich in den Harz verlegen ließ – ins Mittelwerk, das in einem verlassenen Gips-Abbaustollen errichtet wurde. Zehntausende Zwangsarbeiter – wieder überwiegend polnische und russische Gefangene aus dem nahe gelegenen Arbeitslager Dora – bauten die ausgedehnten, geräumigen Tunnel der Produktionsstätte etwa anderthalb Kilometer in den Hügel hinein. Diese Arbeiter und weitere 50 000 Leidensgenossen mussten unter unmenschlichen Bedingungen schuften, um das ehrgeizige Produktionsziel des Werks zu erfüllen – 900 V2-Raketen im Monat –, ein Ziel, das allerdings nie ganz erreicht wurde. Als im März 1945 die Produktion eingestellt wurde, waren 20 000 Arbeiter an den Folgen von Hunger, Krankheiten und Misshandlungen gestorben.25
Von Braun, der inzwischen groß und breitschultrig war und dichtes braunes Haar hatte, fand trotz der vielen Arbeit noch Zeit für sein Vergnügen. Mit der umgebauten Messerschmitt, die man ihm für seinen Privatgebrauch bereitgestellt hatte, flog er häufig in das 250 Kilometer entfernte Berlin, um eine Freundin zu besuchen – wenn er nicht gerade eine Affäre mit einer der Sekretärinnen in Peenemünde hatte. Manchmal wurde er von seinem Bruder Magnus begleitet, den er als Assistenten eingestellt hatte, um ihn vor dem Kriegsdienst zu bewahren. Manchmal machte er Radtouren mit seiner attraktiven Privatsekretärin oder eine Segeltour auf der Ostsee mit seinem Boot, auf dem er auch fast nie allein war. Ab und zu ließen er und sein Team es bei einem Wochenendtreffen richtig krachen.
Bei einer solchen Party im März 1944 äußerten ein angetrunkener von Braun und zwei seiner Kollegen Bedenken angesichts der Tatsache, dass der Krieg keinen günstigen Verlauf für Deutschland nehme, und zeigten sich enttäuscht darüber, dass sie nicht auf einem Raumschiff arbeiten könnten. Von Brauns Drang, jedem, ob er es hören wollte oder nicht, zu versichern, er würde gerne auf den Mond fliegen, hatte ihn eingeholt. Eine ortsansässige Physikerin, die als Agentin für die Gestapo arbeitete, bekam davon Wind und machte Meldung. Zehn Tage darauf wurden von Braun und vier andere Männer von der Gestapo wegen des Verdachts auf Landesverrat und Sabotage verhaftet, was für sie Gefängnis- oder sogar die Todesstrafe hätte bedeuten können. Die Raketenforscher wurden eine Woche lang festgehalten, bis General Dornberger und Rüstungsminister Albert Speer, der, obwohl Hitlers Favorit, relativ gemäßigt war, mit vereinten Kräften erreichten, dass sie von allen Anschuldigungen freigesprochen und entlassen wurden. Vor allem von Braun, so das Argument, sei für die Kriegsanstrengungen zu wertvoll. Selbst Hitler gab Speer gegenüber zu, dass von Braun »unverzichtbar« sei. Doch bei Heinrich Himmler war von Braun in Ungnade gefallen und musste fortan mit dem Misstrauen des Reichsführers-SS und seiner Lakaien leben. Von diesem Zeitpunkt an begann von Braun Pläne für das Kriegsende zu schmieden.
Ende 1944 war abzusehen, dass die V2 den Ausgang des Krieges nicht wesentlich beeinflussen konnte – mit anderen Worten: die Niederlage Deutschlands nicht verhindern konnte –, worüber von Braun sich keine Illusionen machte. Klar war ebenfalls, dass seine Pläne für eine transatlantische Raketenwaffe, die fähig war, New York, Washington, D. C., und andere Städte in den USA zu erreichen – das Projektil Amerika – sich nicht mehr verwirklichen ließen. Da man offenbar die Tage zählen konnte, bis die alliierten Truppen das Nazi-Regime stürzten, gab es für von Braun nur eine Frage: Welche der Siegermächte wäre am ehesten bereit, seine Raumfahrtpläne zu unterstützen – England, Frankreich, die USA oder die Sowjetunion? Die Antwort bedurfte keiner langen Überlegung. Die ersten beiden kamen nicht infrage, da sie nicht über die nötigen Mittel verfügten. Die USA hingegen besaßen eine relativ friedliche Demokratie, eine blühende Wirtschaft und standen in dem Ruf, rücksichtsvoll mit ihren Kriegsgefangenen umzugehen, daher waren sie seine erste Wahl. Die Neue Welt und ihr Sirenengesang von Freiheit und einem besseren Leben hatten die Deutschen schon vor anderthalb Jahrhunderten in ihren Bann gezogen – sechs Millionen waren zwischen 1820 und dem Ersten Weltkrieg dorthin ausgewandert –, und der sich dem Ende zuneigende jüngste Konflikt hatte diesen Träumen nichts anhaben können. Russland war nicht sehr verlockend. Nur wenige der Raketenforscher zogen es vor, sich von den sehr schnell nach Westen vordringenden Russen gefangen nehmen zu lassen; Geschichten von Morden, Vergewaltigungen und Plünderungen als Rache für die deutsche Invasion machten immer häufiger die Runde. Darüber hinaus hatte Deutschland zu Brauns Lebzeiten bereits zwei Kriege verloren. »Das nächste Mal wollte ich auf der Siegerseite stehen«, erinnerte er sich später.26 Er besprach sich mit seinen engsten Vertrauten, dann stimmten sie ab. Alle bis auf einen entschieden sich für die Amerikaner. Als er das Thema mit dem Rest seines Teams besprach, waren die meisten seiner Meinung, nur einige wenige entschlossen sich, ihr Glück bei den Russen zu versuchen.
Zu Beginn des Jahres 1945 wurden von Braun und seine Mitarbeiter in die Mitte Deutschlands verlegt, aus Sicherheitsgründen – oder auch, wie einige von ihnen argwöhnten, um dort von der SS umgebracht zu werden, damit ihr wertvolles Wissen nicht in die Hände der Feinde gelangen konnte. Von Braun bewerkstelligte den Umzug gen Süden mit gefälschten Dokumenten – Befehle auf offiziellem SS-Papier, die er an sich selber schickte – und einer Reihe von Tricks, einschließlich des erfundenen Kürzels V2BV, das angeblich für eine streng geheime, Himmler direkt untergeordnete Dienststelle stand und das auf alle Kisten und Kästen und Autos gemalt wurde. Tausende von Mitarbeitern, Tonnen von Material, Teile der V2 und wichtige Dokumente wurden per Maultier, Pferd, Zug oder Lkw-Konvoi transportiert. Wochen später, als die Techniker sich in den leeren Fabriken und Gebäuden in den Orten um das Mittelwerk herum eingerichtet hatten, versteckten sich von Braun und etwa zwei Dutzend seiner engsten Mitarbeiter in einem Skiort in den bayerischen Alpen. Die wichtigsten Materialien und Dokumente waren in einem stillgelegten Gipsstollen verborgen, und von Braun begann nun die Kapitulation von 500 seiner Mitarbeiter gegenüber der U. S. Army vorzubereiten. Als ihn am folgenden Tag, dem 30. April, die Nachricht von Hitlers Tod erreichte, wurden seine Pläne dadurch erleichtert, dass die SS-Truppen, die das Raketenteam beaufsichtigten, sich nach und nach aus dem Staub machten.
Am Morgen des 2. Mai 1945 radelte Magnus von Braun – dazu auserwählt, weil er recht gut Englisch sprach, seit sein britisches Kindermädchen es ihm noch vor seiner Muttersprache Deutsch beigebracht hatte27 – auf einem Fahrrad mit einem weißen Taschentuch am Lenker einen Bergpfad herunter. Als er einem amerikanischen Trupp der Panzerabwehr begegnete, hielt er an und ging zu einem einfachen Soldaten namens Fred Schneikert. Er erzählte ihm, dass die Erfinder der V2, einschließlich seines Bruders Wernher von Braun, oben in einem Berghotel saßen und dass sie gern zu »Ike« – General Dwight Eisenhower, dem Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Europa – gebracht werden würden. »Sie sind verrückt«, sagte der Soldat, doch nach Überwindung einiger Missverständnisse und einer gehörigen Portion Unglaubens wurde Magnus wieder auf den Berg geschickt, um die V2-Wissenschaftler zu holen. Später an diesem Nachmittag fuhren Wernher und sechs weitere Männer den Berg herunter und wurden zum Geheimdienst der Armee gebracht. Sie wurden gut behandelt, und man gab ihnen eine Mahlzeit bestehend aus Rühreiern, Brot, Butter und echtem Kaffee, zu dieser Zeit in Deutschland eine Rarität. Er posierte für ein Foto mit den GIs und benahm sich wie ein Würdenträger auf Besuch. Die Amerikanisierung des Wernher von Braun hatte begonnen.
Es dauerte ein paar Wochen, bis von Braun und sein Team sich mit den amerikanischen Siegern einigen konnten, doch am Ende gelang es ihnen. Die Deutschen waren den Amerikanern auf dem Gebiet der Raketentechnik mindestens zwanzig Jahre voraus, und die Forscher begriffen rasch, dass ihr Wissen – nebst dem technischen Material der V2 und den unschätzbaren Dokumenten – ihre wertvollsten Trumpfkarten in den Verhandlungen waren. Nach den Bedingungen der Konferenz von Jalta würde dieser Teil Deutschlands der sowjetischen Besatzungszone einverleibt werden. Die Russen waren noch nicht eingetroffen, doch damit war nun jeden Tag zu rechnen. In einem Wettlauf gegen die Zeit transportierten die Amerikaner etwa hundert unfertige V2s und Einzelteile ab, die Hunderte von Zugwaggons hatten füllen können. Außerdem fanden sie die Stollen, in denen von Braun die wichtigsten Pläne und Blaupausen des Programms hatte verstecken lassen – Kisten, die insgesamt 14 Tonnen wogen –, und entdeckten im letzten Moment ein weiteres Versteck mit wertvollen V2-Dokumenten, die Dornberger selbst dort untergebracht hatte. Die letzten Schätze wurden nur zwei Tage vor dem 1. Juni verschifft, dem vereinbarten Übergabetermin des Gebiets an die Sowjets.
Einige Wochen später wurde die Überstellung von Wernher von Braun und 12628 weiteren seiner führenden Raketenforscher in die USA offiziell als Teil der Operation Paperclip genehmigt, einer in großer Eile geplanten und durchgeführten Evakuierung Tausender deutscher Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker in den Westen. Sehr schnell wurde bei ihnen die Sicherheitsüberprüfung abgeschlossen, sodass sie schon im September »im Gewahrsam der Army« in die USA gelangten, ohne Einwanderungspapiere zu benötigten.29 Zuvor hatte man sie mit falschen Lebensläufen ausgestattet und ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus gelöscht. Das US-Militär behauptete, keine »überzeugten Nazis« ins Land gebracht zu haben, doch es schien viele Möglichkeiten zu geben, eine solche Klassifizierung zu umgehen.
Ursprünglich hatte man vorgehabt, die Männer für ein halbes Jahr in die USA zu bringen, damit sie zum Sieg über die Japaner beitragen konnten. Eine verlustreiche Invasion der japanischen Inseln erschien unvermeidlich, da sie die Aufforderung der Alliierten, sich bedingungslos zu ergeben, ignoriert hatten. Die V2, so dachte man, könnte im Pazifik durchaus hilfreich sein. Doch nachdem die B-29-Bomber der US-Luftwaffe am 6. August und am 9. August je eine Atombombe über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten, was insgesamt 130 000 Tote und die komplette Zerstörung beider Städte zur Folge hatte, hisste Japan sechs Tage später die weiße Flagge. Inzwischen schien sich die Sowjetunion zu einem Respekt einflößenden Nachkriegsgegner zu entwickeln. Und so bekamen die deutschen Raketentechniker Fünfjahresverträge.
Im September 1945 trafen von Braun und seine Kollegen in Fort Bliss ein, nördlich von El Paso in Texas. In leerstehenden Baracken standen sie unter einem nicht allzu strengen Hausarrest – »Friedensgefangene«, so nannten sie sich halb scherzhaft selber. Sie durften die Basis nicht ohne eine militärische Begleitperson verlassen. Ihre Familien sollten noch im selben Jahr nachfolgen, bis dahin hatten die Wissenschaftler genug Zeit, die exotische Landschaft rundherum zu erkunden. Die texanische Wüste übte auf die meisten nur wenig Reiz aus, doch von Braun fand sie wunderschön, denn sie verkörperte für ihn den alten Westen. Wie viele andere Deutsche liebte er Indianergeschichten, was vor allem Karl May und seinen außerordentlich beliebten Büchern über den Wilden Westen zu verdanken war, auch wenn der Schriftsteller nie in Amerika gewesen war.
In den nächsten fünf Jahren verbrachten von Braun und seine Kollegen die meiste Zeit damit, V2s zusammenzubauen und sie vom White Sands Proving Ground in New Mexico, etwa 125 Kilometer nördlich von Fort Bliss, zu starten. Außerdem unterwiesen sie das Personal im Umgang mit den Raketen und Lenkwaffen, während sie sich bemühten, das Thema NS-Kriegsverbrechen zu vermeiden und sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. 1947 wurde es dem damals vierunddreißigjährigen von Braun gestattet, nach Deutschland zurückzukehren, um dort Maria von Quistorp, seine schöne blonde Cousine ersten Grades, zu heiraten, die gerade achtzehn geworden war. Die Heirat zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades war in der alten europäischen Aristokratie nicht ungewöhnlich. (Er wurde von amerikanischen Agenten begleitet, die ihn vor russischen Entführungsversuchen beschützen sollten, und an seiner Hochzeitsreise nahmen amerikanische Militärpolizisten teil.) Ein paar Wochen später kehrte er mit seiner Braut und seinen Eltern in die USA zurück – Baron und Baroness von Braun hatten im Krieg fast alles verloren, einschließlich des Familiengutes, das von den Russen beschlagnahmt worden war.
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