Cover

Autor

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Seine Thriller wurden in über 40 Sprachen übersetzt und erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde – dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award –, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in New Jersey. Mehr zum Autor und seinen Büchern unter www.harlancoben.com.

Buch

Sara Lowell und ­Michael Silverman sind eines der bekanntesten Paare New Yorks: sie eine beliebte TV-Journalistin, er ein erfolgreicher Basketballspieler, beide jung und attraktiv und aus zwei der besten Familien der Stadt. Eine glorreiche Zukunft liegt vor ihnen. Bis Sara bei den Recherchen zu einer Mordserie eine erschreckende Entdeckung macht: Alle Opfer waren HIV-positiv und bei einem Arzt in Behandlung, der ein Heilmittel für die tödliche Krankheit gefunden zu haben scheint. Kurz darauf wird auch er ermordet. Als Sara der Sache auf den Grund gehen will, werden ihre Nachforschungen schnell gefährlich – und sehr persönlich …

HARLAN COBEN

Totgesagt

Thriller

Deutsch von
Charlotte Breuer und Norbert Möllemann

Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel »Miracle Cure« bei British American Publishing, Latham, NY.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.




Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © 1991, 1992 der Originalausgabe by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Äste: © FinePic®, München

Haus: © GettyImages/Busà Photography

Redaktion: Anja Lademacher

An · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-17851-2
V001

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Vorbemerkung des Autors

Okay, wenn dies das erste Buch von mir ist, das Sie in der Hand haben, legen Sie es am besten gleich wieder weg. Geben Sie es zurück. Suchen Sie sich ein anderes aus. Kein Problem. Ich warte.

Falls Sie aber immer noch da sind, sollten Sie wissen, dass ich Totgesagt seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr gelesen habe. Es ist mein zweiter Roman, und ich habe ihn mit Anfang zwanzig geschrieben, als naiver junger Kerl, der in der Reisebranche arbeitete und sich fragte, ob er in die Fußstapfen seines Vaters und seines Bruders treten und – o Graus – Jura studieren sollte.

Ich urteile hart – aber tun wir das nicht alle –, wenn es um unsere frühen Werke geht? Erinnern Sie sich noch an den Schulaufsatz, für den Sie eine Eins bekommen haben, den Aufsatz, unter den Ihr Lehrer »großartig!« geschrieben hat? Wenn Ihnen dieser Aufsatz dann irgendwann beim Aufräumen in die Finger fällt und Sie ihn lesen, denken Sie sicher: »Gott, was hab ich mir denn dabei gedacht?«

So geht es manchen Autoren auch mit ihren ersten Romanen. Dieser hier ist an manchen Stellen ein wenig ­moralisierend und oft überholt (obwohl ich mir wünschen würde, das medizinische Problem wäre tatsächlich überholt, aber das ist ein anderes Thema). Sie könnten vielleicht annehmen, dass sich ein gewisser Teil des Buchs auf ein Ereignis bezieht, das wirklich stattgefunden hat. Das ist nicht der Fall. Dieses Buch ist vor dem realen Ereignis entstanden. Mehr verrate ich nicht – ich möchte schließlich nichts vorwegnehmen. Im Lauf der Jahre habe ich mir das eine oder andere aus diesem Buch hier geborgt – ­Namen, Orte, sogar die eine oder andere Figur. Einigen meiner treuen Leserinnen und Leser wird das vielleicht auffallen, und es wird ihnen hoffentlich ein Lächeln entlocken.

Aber letztlich mag ich dieses Buch – mit all seinen Fehlern und Schwächen. Totgesagt hat eine Energie und Risikobereitschaft, die ich heute nicht mehr besitze. Dieser junge Mensch bin ich einfach nicht mehr – was in Ordnung ist. Wir alle entwickeln uns weiter, wenn es um unsere Leidenschaften und unsere Werke geht. Und das ist gut so.

Genießen Sie es.

Prolog

Freitag, 30. August

Dr. Bruce Grey zwang sich, nicht zu schnell zu gehen. Am liebsten wäre er durch die schmuddelige Ankunftshalle des Kennedy Airport International gerannt, vorbei am Zoll und hinaus in die feuchte Abendluft. Sein Blick wanderte unruhig hin und her. Er tat so, als hätte er einen verspannten Nacken, um sich immer wieder umdrehen zu können, um zu sehen, ob ihm jemand folgte.

Schluss jetzt!, schalt sich Bruce. Hör auf, dich zu benehmen wie ein Möchtegern-James-Bond. Du zitterst ja, als hättest du Malaria, Herrgott noch mal. Da wäre es ja weniger ver­dächtig, wenn du ein Schild mit deinem Namen hochhalten würdest.

Er schlenderte am Gepäckband vorbei und nickte der kleinen alten Dame höflich zu, die im Flieger neben ihm gesessen hatte. Während des gesamten Flugs hatte sie ununterbrochen geplappert, über ihre Familie, wie gern sie flog und über ihre letzten Reisen nach Übersee. Sie war eigentlich ganz nett, eine liebe Oma eben, aber Bruce hatte die Augen zugemacht und so getan, als würde er schlafen, um ein bisschen abzuschalten. Aber natürlich hatte er keinen Schlaf gefunden. Und daran würde sich vorläufig auch nichts ändern.

Aber vielleicht war sie ja gar keine liebe Oma. Vielleicht hat sie dich ja verfolgt …

Er verscheuchte seine innere Stimme mit einem nervösen Kopfschütteln. Diese ganze Geschichte vernebelte ihm das Gehirn. Zuerst hatte er gedacht, der Mann mit dem Bart würde ihn verfolgen. Dann der hünenhafte Typ mit dem gegelten Haar im Armani-Anzug in der Telefonzelle. Nicht zu vergessen die hübsche Blondine am Ausgangsgate. Auch sie war hinter ihm her gewesen.

Und jetzt auch noch diese kleine alte Dame.

Reiß dich zusammen, Brucie. Paranoia ist das Letzte, was du jetzt gebrauchen kannst. Klar denken, alter Junge – das ist es, was dir jetzt hilft.

Er ging am Gepäckband vorbei zur Zollkontrolle.

»Ihren Pass bitte.«

Bruce reichte dem Mann seinen Pass.

»Kein Gepäck, Sir?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur das Handgepäck hier.«

Der Angestellte betrachtete erst den Pass, dann musterte er Bruce. »Sie haben nicht viel Ähnlichkeit mit dem Foto.«

Bruce bemühte sich um ein müdes Lächeln, aber es gelang ihm nicht. Die Schwüle war fast unerträglich. Das Hemd klebte ihm auf der Haut, und seine Krawatte hing auf Halbmast. Schweiß perlte ihm von der Stirn. »Ich habe mich ein bisschen verändert.«

»Ein bisschen? Auf diesem Bild sind Sie dunkelhaarig und tragen einen Bart.«

»Ich weiß …«

»Jetzt sind Sie blond und glatt rasiert.«

»Wie gesagt, ich habe mich ein bisschen verändert.« Zum Glück kann man auf einem Passfoto die Augenfarbe nicht erkennen, sonst würdest du noch wissen wollen, wieso meine Augen jetzt blau und nicht mehr braun sind.

Der Mann wirkte nicht überzeugt.

»Waren Sie geschäftlich unterwegs oder im Urlaub?«

»Im Urlaub.«

»Reisen Sie immer mit so wenig Gepäck?«

Bruce schluckte. »Ich kann es nicht leiden, auf das Gepäck zu warten«, erwiderte er achselzuckend.

Immer noch verglich der Mann das Passfoto mit Bruce’ Gesicht. »Würden Sie bitte Ihre Tasche öffnen?«

Mit zitternden Händen versuchte Bruce, die Zahlenkombination einzustellen. Er brauchte drei Anläufe, um das Schloss zu öffnen. »Bitte sehr.«

Misstrauisch durchwühlte der Zollangestellte die Tasche. »Was ist das hier?«, fragte er.

Bruce schloss die Augen, sein Atem ging flach. »Akten.«

»Das sehe ich«, erwiderte der Mann. »Aber wofür sind die?«

»Ich bin Arzt«, krächzte Bruce. »Ich wollte mir im ­Urlaub ein paar Krankenakten ansehen.«

»Machen Sie das immer, wenn Sie in Urlaub fahren?«

»Nicht immer.«

»Was für ein Arzt sind Sie?«

»Internist am Columbia Presbyterian«, antwortete Bruce. Es war die halbe Wahrheit. Er verschwieg die Tatsache, dass er auch Epidemiologe war und als Spezialist für die Gesundheitsbehörde arbeitete.

»Aha«, erwiderte der Angestellte. »Ich wünschte, mein Arzt wäre auch so gewissenhaft.«

Erneut versuchte Bruce, sich ein Lächeln abzuringen. Es gelang ihm nicht.

»Und was ist in diesem verschlossenen Umschlag hier?«

Bruce bekam weiche Knie. »Wie bitte?«

»Was ist in dem wattierten Umschlag?«

Bruce bemühte sich um einen entspannten Gesichtsausdruck. »Ach, das sind bloß ein paar medizinische Informationen, die ich einem Kollegen schicken muss.«

Der Zollangestellte musterte Bruce’ gerötete Augen. »Verstehe«, sagte er und legte den Umschlag zurück in die Tasche. Nachdem er den Rest des Handgepäcks inspiziert hatte, unterschrieb er Bruce’ Zollerklärung und gab ihm den Pass zurück. »Diesen Zettel geben Sie bitte der Frau am Ausgang.«

Bruce nahm die Tasche. »Danke.«

»Dr. Grey?«

Bruce schaute den Mann an.

»Sie sollten mal einen Kollegen aufsuchen«, bemerkte der Zollangestellte. »Falls Sie die Meinung eines medizinischen Laien hören wollen, Sie sehen furchtbar aus.«

»Ich werde Ihren Rat beherzigen.«

Bruce blickte sich noch einmal um. Die kleine alte Dame wartete noch auf ihr Gepäck. Der Mann mit dem Bart und die hübsche Blondine waren nirgendwo zu sehen. Der Hüne im Armani-Anzug telefonierte immer noch.

Bruce machte sich auf den Weg Richtung Ausgang, seine Tasche in der rechten Hand, während er sich mit der linken das Gesicht rieb. Er gab die Zollerklärung ab und trat durch die automatische Glasschiebetür in den Warte­bereich, wo ein Meer erwartungsvoller Gesichter wartete. Die Leute reckten die Hälse, um einen Blick durch die Schiebetür zu erhaschen, und ließen jedes Mal enttäuscht den Kopf hängen, wenn wieder nur ein Unbekannter durch die Tür kam.

Bruce ging gemessenen Schritts vorbei an all den Wartenden und den gelangweilten Chauffeuren, die Namensschilder hochhielten, und steuerte den Ticketschalter von Japan Airlines an.

»Gibt es hier einen Briefkasten?«, fragte er.

»Da hinten rechts«, erwiderte die Angestellte. »Neben dem Air-France-Schalter.«

»Danke.«

Als er an einem Papierkorb vorbeikam, warf er beiläufig seine zerrissene Bordkarte hinein. Er war sich ziemlich clever vorgekommen, als er den Flug unter einem falschen Namen gebucht hatte, bis man ihm am Flughafen erklärt hatte, dass der Name auf einem internationalen Flugticket mit dem im Reisepass übereinstimmen musste.

Dumm gelaufen.

Zum Glück war der Flieger nur zur Hälfte ausgebucht gewesen. Auch wenn er ein neues Ticket hatte kaufen müssen, war es letztlich gar nicht so dumm gewesen, noch eins auf einen anderen Namen zu haben, denn so hatte bis zu seinem Abflug niemand herausfinden können, welchen Flug er gebucht hatte: Schließlich war sein Name ja nicht im Computer gespeichert. Ein genialer Schachzug.

Jawoll, Brucie. Du bist ein Genie.

Von wegen Genie. Lachhaft.

Er entdeckte den Briefschlitz neben dem Air-France-Schalter. Ein paar Reisende unterhielten sich mit der Dame am Schalter. Niemand interessierte sich für ihn. Die alte Dame, der Bärtige und die hübsche Blondine waren entweder schon weg oder wurden noch beim Zoll aufgehalten. Der einzige »Spion«, den er entdecken konnte, war der Hüne im Armani-Anzug, der gerade durch die Glas­türen aus dem Terminal eilte.

Bruce atmete erleichtert auf. Niemand beachtete ihn, als er sich dem Briefschlitz näherte. Er nahm den dicken Umschlag aus seiner Reisetasche und ließ ihn durch den Schlitz gleiten. Seine Lebensversicherung war gerettet.

Und jetzt?

Er konnte auf keinen Fall nach Hause. Falls irgendjemand ihn suchte, wäre sein Apartment an der Upper West Side die erste Adresse. Die Klinik war um diese Zeit auch nicht der geeignete Ort. Dort konnte man ihn genauso leicht finden.

Hören Sie, ich bin darin nicht besonders gut. Ich bin ein ganz durchschnittlicher Arzt. Ich hab Medizin studiert, geheiratet, ein Kind in die Welt gesetzt, meinen Facharzt gemacht, bin geschieden, hab das Sorgerecht für mein Kind verloren und arbeite zu viel. Ich bin nicht dafür geschaffen, den Spion zu spielen.

Aber was blieb ihm sonst übrig? Er konnte zur Polizei gehen, aber wer würde ihm glauben? Er hatte noch keinen eindeutigen Beweis. Verdammt, er war sich selbst nicht mal sicher, was überhaupt vor sich ging. Was hätte er der Polizei erzählen sollen?

Wie wär’s mit: »Hilfe! Beschützen Sie mich! Zwei Menschen sind schon ermordet worden, und zahllose andere könnten folgen – mich eingeschlossen!«

Vielleicht war da was dran. Vielleicht auch nicht. Frage: Was wusste er mit Sicherheit? Antwort: fast nichts. Weniger als nichts. Würde er zur Polizei gehen, würde er damit die Klinik und all die wichtige Arbeit zunichtemachen, die sie dort leisteten, da war Bruce sich ganz sicher. Er hatte die letzten drei Jahre der Forschung gewidmet, und er würde diesen verdammten Frömmlern nicht die Waffe in die Hand spielen, die sie brauchten, um das Projekt sterben zu lassen. Nein, er würde diese Sache auf andere Weise handhaben.

Aber wie?

Er vergewisserte sich ein weiteres Mal, dass er nicht verfolgt wurde. Alle potenziellen Spione waren inzwischen verschwunden. Gut. Erleichtert winkte er ein Taxi heran und nahm auf dem Rücksitz Platz.

»Wo soll es hingehen?«

Bruce versuchte, sich an all die Thriller zu erinnern, die er gelesen hatte. Wo würde George Smiley hingehen, oder noch besser Travis McGee oder Spenser? »Das Plaza ­Hotel, bitte.«

Das Taxi fuhr los. Bruce warf noch einen Blick durch die Heckscheibe. Kein Auto schien ihnen zu folgen, als sie über den Van Wyck Expressway Richtung Manhattan fuhren. Bruce lehnte sich zurück. Er versuchte, tief zu atmen und sich zu entspannen, aber er zitterte immer noch vor Angst.

Denk nach, verdammt noch mal. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für ein Nickerchen.

Als Erstes brauchte er eine neue Identität. Sein unruhiger Blick blieb schließlich auf der Lizenz des Taxifahrers hängen, die im Wagen hing. Benjamin Johnson. Bruce drehte den Namen um. John Benson. Das würde bis morgen sein Name sein. John Benson. Nur bis morgen. Wenn es ihm gelang, bis dahin am Leben zu bleiben …

So weit traute er sich gar nicht zu denken.

Alle in der Klinik glaubten, er wäre immer noch im Urlaub in Cancún, Mexiko. Niemand – absolut niemand – wusste, dass die ganze Urlaubsidee ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Bruce hatte sehr überzeugend den glück­lichen Urlauber gespielt. Er hatte sich Strandklamotten gekauft, war letzten Freitag nach Cancún geflogen, hatte im Hotel Oasis eingecheckt, die Woche im Voraus gezahlt und dem Hotelportier erklärt, er wolle ein Boot mieten und sei nicht zu erreichen. Dann hatte er sich den Bart abrasiert, sein Haar geschnitten und gebleicht und sich blaue Kontaktlinsen eingesetzt. Er hatte sich im Spiegel fast nicht wiedererkannt. Dann war er zum Flughafen zurückgefahren, in ein anderes Land geflogen, hatte dort unter dem Namen Rex Veneto eingecheckt und war seinem fürchterlichen Verdacht nachgegangen.

Die Wahrheit war noch schockierender gewesen, als er je gedacht hatte.

Das Taxi hielt vor dem Plaza Hotel in der Fifth Avenue. Auf der anderen Straßenseite glitzerten die Lichter des Central Park. Bruce zahlte, gab dem Fahrer ein angemessenes Trinkgeld und betrat die luxuriöse Lobby des Hotels. Trotz seines Designeranzugs kam er sich nachlässig gekleidet vor. Jackett und Hose waren total zerknittert. Der Anzug sah aus, als hätte er eine Woche lang ganz unten im Wäschekorb einer Reinigung gelegen – nicht gerade das, was seine Mutter als präsentabel bezeichnet hätte.

Er wollte gerade auf die Rezeption zugehen, als er aus dem Augenwinkel heraus etwas wahrnahm. Er blieb stehen.

Das bildest du dir ein, Bruce. Das ist nicht derselbe Typ. Das kann nicht sein.

Bruce spürte, wie sein Puls zu rasen begann. Er wirbelte herum, aber der Hüne im Armani-Anzug war nirgends mehr zu sehen. War es wirklich derselbe Mann gewesen? Wahrscheinlich nicht, aber er konnte kein Risiko eingehen. Er verließ das Hotel durch den Hinterausgang und ging zur U-Bahn. Dort kaufte er sich ein Ticket, fuhr mit der Linie 1 zur 14th Street, dann weiter mit der Linie A zur 42nd Street, durchquerte die Stadt mit der Linie 7 und sprang, kurz bevor die Türen schlossen, an der 3rd Avenue aus dem Wagen. Eine halbe Stunde lang wechselte er wahllos die Züge, stieg jeweils erst im letzten Moment aus oder ein und landete schließlich Ecke 56th Street und 8th Avenue. Dann ging »John Benson« ein paar Blocks weiter und nahm sich ein Zimmer im Days Inn, einem Hotel, in dem Dr. Bruce Grey noch nie gewesen war.

Er ging in sein Zimmer im elften Stock, verriegelte die Tür und hängte die Sicherheitskette ein.

Und nun?

Ein Anruf war riskant, aber Bruce beschloss, das Risiko einzugehen. Er würde nur ganz kurz mit Harvey sprechen und dann auflegen. Er nahm das Telefon und wählte die Privatnummer seines Partners. Harvey nahm beim zweiten Läuten ab.

»Hallo?«

»Harvey, ich bin’s.«

»Bruce?« Harvey klang überrascht. »Wie geht’s dir so in Cancún?«

Bruce ignorierte die Frage. »Ich muss mit dir sprechen.«

»Gott, du klingst ja furchtbar. Was ist los?«

Bruce schloss die Augen. »Nicht am Telefon.«

»Was redest du da?«, fragte Harvey. »Bist du noch

»Nicht am Telefon«, wiederholte Bruce. »Ich erzähle es dir morgen.«

»Morgen? Was zum Teufel …?«

»Keine weiteren Fragen. Wir sehen uns morgen früh um halb sieben?«

»Wo?«

»In der Klinik.«

»Gott, bist du in Gefahr? Hat das etwas mit den Morden zu tun?«

»Ich muss jetzt …«

Klick.

Bruce erstarrte. Er hatte ein Geräusch an der Tür gehört.

»Bruce?«, rief Harvey. »Was ist los? Was hast du denn?«

Bruce bekam Herzrasen. Er hielt den Blick auf die Tür gerichtet. »Morgen«, flüsterte er. »Dann erkläre ich dir alles.«

»Aber …«

Vorsichtig legte Bruce den Hörer auf.

Ich bin für so was nicht geschaffen. Bitte, lieber Gott, mach, dass das nur meine blühende Phantasie ist. Ich kann das nicht. Ich bin für so was nicht geschaffen …

Es war nichts mehr zu hören, und einen kurzen Moment lang fragte sich Bruce, ob seine überreizten Gehirnzellen ihm einen Streich gespielt hatten. Wahrscheinlich war da gar nichts gewesen. Und selbst wenn er ein Geräusch auf dem Flur gehört hatte, was war daran schon sonderbar? Schließlich befand er sich in einem Hotel in New York und nicht in einem schalldichten Tonstudio. Vielleicht war es ja ein Zimmermädchen gewesen. Oder ein Hotelboy.

Oder aber ein Hüne mit gegeltem Haar und einem maßgeschneiderten seidenen Armani-Anzug.

Bruce schlich zur Tür. Widerstrebend setzte er einen Fuß vor den anderen. Er war nie besonders sportlich gewesen und seine Bewegungen nie sehr geschmeidig. Aber im Augenblick kam er sich regelrecht behindert vor.

Klick.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Beine drohten unter ihm nachzugeben. Es bestand kein Zweifel, woher das Geräusch diesmal gekommen war.

Von seiner Tür.

Er stand wie angewurzelt da. Sein Atem hallte so laut in seinen Ohren wider, dass man es auf dem Flur garantiert hören konnte.

Klick.

Ein kurzes, schnelles Klicken. Da fummelte nicht irgend­ein Dilettant am Schloss herum, dieses Klicken verriet den Profi.

Hau ab, Bruce. Hau ab und versteck dich.

Aber wo sollte er hin? Er befand sich in einem kleinen Zimmer im elften Stock eines Hotels. Wohin sollte er abhauen und sich verstecken? Er machte noch einen Schritt auf die Tür zu.

Ich könnte sie schnell aufreißen, mir die Seele aus dem Leib schreien und den Flur runterrennen, als wäre ich aus der Psychiatrie entflohen. Ich könnte

Das Klopfen kam so plötzlich, dass Bruce beinahe aufgeschrien hätte.

»Wer ist da?«, rief er panisch.

»Handtücher«, sagte ein Mann.

Bruce ging näher an die Tür. Handtücher, von wegen. »Ich brauch keine«, rief er, ohne die Tür zu öffnen.

Nichts. Dann: »Okay. Gute Nacht, Sir.«

Er hörte, wie sich die Schritte von Mr Handtuch entfernten. Mit dem Rücken an der Wand schob Bruce sich weiter Richtung Tür. Er zitterte am ganzen Körper. Obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, waren seine Kleider nass geschwitzt, und die Haare klebten ihm an der Stirn.

Und jetzt?

Der Türspion, Mr James Bond. Schau durch den verdammten Spion.

Bruce gehorchte der Stimme in seinem Kopf. Langsam drehte er sich und lugte mit einem Auge durch den Spion. Nichts. Nada, wie die Mexikaner sagen würden. Da war niemand, da war überhaupt nichts. Er versuchte, nach links zu blicken, dann nach rechts …

In diesem Moment flog die Tür auf.

Die Kette riss, als wäre sie ein dünner Faden. Der Metallknauf traf Bruce so heftig an der Hüfte, dass ihm vor Schmerzen übel wurde. Instinktiv versuchte er, seine Hüfte mit der Hand zu schützen. Das war ein Fehler. Eine riesige Faust schoss auf Bruce’ Gesicht zu. Er versuchte, sich wegzuducken, doch er war zu langsam. Die Faust prallte mit einem grauenhaften Geräusch auf die Nase, zerschmetterte Knochen und Knorpel. Blut lief ihm übers Kinn.

O Gott, nein …

Während er nach hinten stolperte, fasste Bruce sich ans Gesicht. Der Hüne im Armani-Anzug kam ins Zimmer und schloss die Tür. Er bewegte sich mit einer Schnelligkeit und Geschmeidigkeit, die man einem so massigen Mann nicht zugetraut hätte.

»Bitte …«, stieß Bruce hervor, aber eine riesige Pranke hielt ihm den Mund zu. Die Hand drückte brutal gegen Bruce’ gebrochene Nase, sodass ihm vor Schmerzen übel wurde.

Der Mann lächelte und nickte ihm höflich zu, als hätten sie sich gerade bei einer Cocktailparty kennengelernt. Dann holte er mit dem Fuß aus und trat mit geübter Präzision zu. Der Tritt zerschmetterte Bruce’ Kniescheibe, und er hörte, wie der Knochen unterhalb des Knies brach. Sein Schrei wurde von der Hand gedämpft, die noch fester zupackte. Dann schlug der Mann so hart zu, dass sich ­mehrere Zähne lösten und der Kieferknochen brach. Anschließend packte der Mann ihm mit den Fingern in den Mund und zog den Unterkiefer ruckartig nach unten, bis die Sehnen rissen.

O Gott, nein …

Der Hüne im Armani-Anzug ließ Bruce wie einen Sack Kartoffeln auf den Boden fallen. Wie durch einen Nebel sah er, dass der Mann einen Blutfleck auf seinem Anzug betrachtete. Es schien ihn wütend zu machen, dass der Fleck in der Reinigung nicht rausgehen würde. Kopfschüttelnd trat der Mann ans Fenster und zog den Vorhang auf.

»Sie haben sich ein Zimmer schön weit oben ausgesucht«, bemerkte er. »Das macht die Sache einfacher.«

Der Mann wandte sich vom Fenster ab und ging wieder zu Bruce, der sich auf dem Boden vor Schmerzen wand. Er ergriff Bruce’ Fußgelenk und hob langsam das gebrochene Bein hoch. Ein unerträglicher Schmerz schoss durch Bruce’ Körper.

Lieber Gott, bitte lass es enden

Plötzlich begriff Bruce, was der Mann vorhatte. Er versuchte zu fragen, was er von ihm wollte. Er konnte alles von ihm haben. Er wollte ihn um Gnade anflehen, aber aus seinem Mund kam nur ein gurgelndes Geräusch. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Mann aus angstvoll aufgerissenen Augen anzuschauen. Blut troff ihm aus dem Mund und der Nase über das Kinn, den Hals und die Brust.

Benommen vor Schmerzen sah er den Blick in den Augen des Mannes. Es war kein wütender, wahnsinniger Blick, nicht hasserfüllt noch blutrünstig, es war nicht der Blick eines psychopathischen Killers. Der Mann war ganz ruhig. Geschäftsmäßig. Er erledigte einen lästigen Job. Gleichgültig. Ohne jedes Gefühl.

Das hier bedeutet diesem Typen überhaupt nichts, dachte Bruce. Für ihn ist das ein Arbeitstag wie jeder andere.

Der Mann nahm einen Stift und ein Blatt Papier aus der Brusttasche seines Jacketts und warf beides auf den Boden. Dann packte er Bruce’ Fuß mit beiden Händen. Bruce bäumte sich vor Schmerzen auf.

Der Mann lockerte den Griff und sagte: »Ich werde Ihren Fuß jetzt um hundertachtzig Grad drehen, bis er nach hinten zeigt und der Knochen durch die Haut dringt.«

Mit einem gelangweilten Lächeln änderte er seinen Griff, um einen besseren Hebel zu haben.

»Sobald Sie Ihren Abschiedsbrief unterschrieben haben, lass ich los, okay?«

Bruce unterschrieb, ohne zu zögern.