«Man thut wohl, es alle Jahre einmal zu lesen.» Johann Wolfgang von Goethe
Als Findelkinder von zwei Hirtenfamilien aufgenommen, wachsen die beiden Jugendlichen Daphnis und Chloe in der idyllischen Berglandschaft der Insel Lesbos auf. Spielerisch und im Einklang mit den Jahreszeiten entdecken sie über viele Monate hinweg ihre Körper und ihre Leidenschaft. Alle anfängliche Unbeholfenheit in praktischen Fragen der Liebe weicht, als sie sich paarende Tiere zum Vorbild nehmen, die Natur gleichsam zu ihrem bukolischen Kamasutra machen.
Daphnis und Chloe, Liebes-, Entwicklungs- und Hirtenroman in einem, besticht durch seine unverkrampfte Freude am Sinnlichen und Natürlichen. Selbst präzise geschilderte Liebeslektionen, die dem Buch einst den Vorwurf der Frivolität einbrachten, sind durchdrungen von größtmöglicher Dezenz und wissender Ironie. Longos’ zartfühlendes, über 1800 Jahre altes Meisterwerk – hier vorgelegt in eine kundigen Neuübersetzung von Kurt Steinmann – singt das hohe Lied der Liebe und feiert den Zauber der Natur.
LONGOS
DAPHNIS UND CHLOE
Ein Liebesroman
Aus dem Griechischen übersetzt
und mit einem Nachwort
von Kurt Steinmann
MANESSE VERLAG
Vorrede
Als ich auf Lesbos1 jagen war, erblickte ich in einem Nymphenhain2 ein Schaustück, wie ich es schöner nie gesehen hatte, ein Gemälde3, das eine Liebesgeschichte darstellte. Schön war zwar auch der Hain: baumreich, blumenprangend und üppig bewässert. Eine einzelne Quelle nährte alles, die Blumen wie die Bäume. Aber noch entzückender war das Bild, zeigte es doch außergewöhnliche Kunstfertigkeit und die Wechselfälle einer Liebe. So kamen denn aufgrund seiner hohen Wertschätzung auch viele Fremde dorthin, teils, um zu den Nymphen zu beten, teils, um das Bild zu betrachten. Gebärende Frauen waren darauf dargestellt und andere, die Babys schmucke Windeln4 anlegten, ausgesetzte Kinder, Mutterschafe, die sie nährten, Hirten, die sie aufhoben, junge Leute, die einen Liebesbund schlossen, ein Überfall von Piraten, ein Einfall von Kriegsfeinden. Während ich nun noch viele andere Szenen, die alle um die Liebe kreisten, staunend betrachtete, ergriff mich der brennende Wunsch, wetteifernd mit dem Gemälde dessen Inhalt in Worte zu fassen.
Ich machte also jemanden ausfindig, der das Bild deuten konnte, und arbeitete vier Bücher aus: als Weihegeschenk für Eros, die Nymphen und Pan5 und allen Menschen zum bezaubernden Besitz, der Kranke heilen, Trauernde trösten, in der Liebe Erfahrene hold erinnern und darin noch Unerfahrene einführen wird.
Denn noch keiner ist dem Eros völlig entronnen oder wird ihm je entrinnen, solange es Schönheit gibt und Augen, die sehen. Uns6 aber verleihe der Gott, besonnen die Liebesgeschichte anderer aufzuschreiben.