Annie Darling lebt in einer winzigen Londoner Wohnung, in der man vor lauter Bücherstapeln kaum laufen kann. Ihre großen Leidenschaften sind Liebesromane und ihre Katze. Nach »Der kleine Laden in Bloomsbury« und »Sommer in Bloomsbury« ist dies Annie Darlings drittes Buch in deutscher Sprache.
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ANNIE DARLING
Verliebt
in
ROMAN
Aus dem Englischen
von Ivana Marinovic

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Crazy in Love at the Lonely Hearts Bookshop« bei HarperCollins, London.
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Das Buch enthält etliche Zitate aus Emily Brontës Sturmhöhe.
Diese stammen aus der Übersetzung von Siegfried Lang, erschienen im Manesse Verlag.
Das Zitat aus Charlotte Brontës Jane Eyre auf S. 334 stammt aus der Übersetzung von Andrea Ott, erschienen im Manesse Verlag.
Die Zitate aus Jane Austens Stolz und Vorurteil stammen aus der Übersetzung von Andrea Ott, erschienen im Manesse Verlag. Alle Zitate wurden der neuen Rechtschreibung angeglichen.

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von Penguin Books Limited und werden
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1. Auflage 2019
Copyright © 2018 by Annie Darling
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by
Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: FAVORITBUERO GbR
Covermotiv: shutterstock/Gnilenkov Aleksey/Ljupco Smokovski/Pushish Images/vw11wat/Thada Fuangnakhon/bigacis
Redaktion: Lisa Wolf
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-20586-7
V002
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Gewidmet Mr. Mackenzie, dem knautschigsten Kater der Welt
»Ein wildes, ungezogenes Gör war sie.«
Es war früh am Morgen. Ganz offensichtlich. Schwache Sonnenstrahlen mühten sich ab, die Dunkelheit in der kleinen Wohnung über der Happy-Ends-Buchhandlung zu durchdringen.
Nina O’Kelly verfluchte die Sonne, die matt durch ihr Schlafzimmerfenster fiel, und gleich darauf sich selbst, weil sie die Vorhänge in der Nacht zuvor nicht zugezogen hatte. Eigentlich war sie sogar überrascht, dass sie überhaupt in ihrem eigenen Bett lag, denn sie hatte keinen blassen Schimmer, wie sie nach Hause gekommen war.
Sie war nicht verkatert. Nicht wirklich. Nur etwas müde und angeschlagen, und das Getrampel ihrer Mitbewohnerin, Verity, die von ihrem Zimmer in die Küche ging, klang, als hätte man eine Elefantenherde losgelassen, obwohl Very sonst nie so einen Lärm machte. Mit einem elenden Wimmern drehte Nina sich auf die andere Seite. Noch zehn Minuten konnten nicht schaden. Vielleicht auch fünfzehn. Womöglich sollte sie versuchen, ganz langsam ein Augenlid anzuheben, nur um zu sehen, wie viel Uhr es war, aber sie konnte es auch einfach bleiben lassen und ein klitzekleines bisschen weiterschlummern …
Ein sanftes Klopfen an der Tür. »Nina? Es ist schon neun. Und du brauchst immerhin eine ganze Stunde für dein Make-up«, gurrte Verity. »Ich komme jetzt rein, und dann will ich deine beiden Füße auf dem Boden stehen sehen.« Sie ließ sich von der sanften Stimme nicht täuschen – Verity war eine Frau, mit der man sich nicht anlegen sollte. Einmal, als Nina noch viel später dran war als heute und im Bett herumgammelte, hatte Verity sie mit einem Glas Wasser aus dem Land der Träume gerissen. Was Ninas Frisur völlig ruiniert hatte.
Obwohl jede Faser ihres Körpers sich sträubte, richtete sie sich schwerfällig auf und schwang ihre Beine über die Bettkante, damit alle ihre zehn Zehen, die in einem fröhlichen Türkisgrün lackiert waren, den Boden berührten, wenn Verity die Tür öffnete.
Veritys obligatorische Leidensmiene nahm Nina nur ganz verschwommen wahr, da sie ihre Augen immer noch nicht richtig aufbekam. »Ich bin schon wach«, brummte sie, nahm den Becher Kaffee entgegen, den Verity ihr reichte, und öffnete den Mund, damit Verity ein Stück Toast hineinschieben konnte, denn eigentlich war sie die beste Mitbewohnerin, die man sich vorstellen konnte.
Danach, weil sie ein geübtes Multitasking-Talent war, trank Nina ihren Kaffee, während sie gleichzeitig duschte und es schaffte, ihr Haar dabei nicht nass zu machen. Es war momentan bonbonrosa gefärbt und in Marilyn-Monroe-mäßigen Retrolocken frisiert. Jeden Montag und Freitag ging Nina in der Mittagspause zu dem altmodischen Omafriseur an der Ecke, um sich die Haare waschen und legen zu lassen, wobei sie unter einer Trockenhaube saß, die locker doppelt so alt war wie sie selbst. Es gab kaum etwas, das ihre bombenfeste Frisur zwischen diesen Besuchen aus der Form bringen konnte. Alles, was es brauchte, war ein dezentes Zupfen am Ansatz, ein großzügiger Sprühstoß Elnett, und Nina war ausgehbereit.
Na ja, nicht ganz. Sie hatte sich gestern nicht abgeschminkt, bevor sie ins Bett gefallen war, aber da die Zeit drängte – Verity war bereits runtergegangen, um den Arbeitstag zu beginnen, obwohl sie den Laden theoretisch erst um zehn öffneten und es gerade mal neun Uhr siebenundfünfzig war –, beschloss Nina, ihr Make-up vom Vortag als Basis zu verwenden.
Eine Schicht Primer, ein großzügiger Klacks Foundation und eine unverschämte Menge Concealer, danach machte sie sich mit flüssigem Eyeliner, Wimperntusche und noch mehr Eyeliner an die Feinarbeit. Zum Schluss noch ein Hauch Rouge und mehrere Lagen dunkelroten Lippenstifts, und Nina hatte getan, was mit ihrem Gesicht möglich war. Nicht dass es ein übles Gesicht gewesen wäre – Nina verfügte über alles, was es brauchte, Augen, Nase, Mund und Kinn, allesamt ganz normal angeordnet –, doch jetzt hatte sie ihm ihre persönliche Vision von Retro-Glamour verliehen.
Die Zeit reichte gerade noch, um das verhasste Arbeits-T-Shirt überzuziehen, auf dem in pinker Schreibschrift der Name der Buchhandlung, Happy Ends, prangte. Es war ziemlich knifflig, etwas Passendes dazu anzuziehen. Kleider gingen schon mal gar nicht, und Jeans trug Nina so gut wie nie, also zwängte sie sich in einen knallengen Bleistiftrock, schlüpfte in ihre Pumps, und als sie unten im Laden eintraf, war sie nur …
»Fünfzehn Minuten zu spät!«, schimpfte Posy, die Besitzerin des Happy Ends mit unnötig lauter Stimme. »Du wohnst direkt über dem Laden, dein Arbeitsweg dauert ganze zehn Sekunden. Wie also schaffst du es, trotzdem eine Viertelstunde zu spät zu kommen?«
»Ganz offensichtlich hinkt meine innere Uhr fünfzehn Minuten hinter deiner her«, erklärte Nina. »Man kann mich wohl kaum für meine biologischen Bedürfnisse verantwortlich machen. Apropos Bedürfnisse … Kaffee!«, stieß sie stöhnend hervor. »Sei ein Schatz und geh in die Teestube und bring mir den größten Becher, den du finden kannst.«
»Ich bin ein Schatz, aber ich bin auch deine Chefin«, erwiderte Posy streng, doch sie schaffte es nie, das mit dem Strengsein durchzuziehen. Ihr sanftes, hübsches Gesicht war einfach nicht dafür gemacht. »Ein Stück Zucker?«
»Lieber gleich zwei«, beschloss Nina. »Außerdem würde ich an deiner Stelle heute bis zur Mittagspause nicht allzu viel von mir erwarten.«
Posy schüttelte resigniert den Kopf, während sie durch den Türbogen verschwand, der zu mehreren Nebenräumen führte, die wiederum zu der Teestube führten, aus welcher der göttliche Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee und selbst gebackenem Kuchen durch den Laden waberte.
Und was für ein hübscher Laden es war. Das Happy Ends war die einzige Buchhandlung Englands, womöglich sogar der ganzen Welt, die sich ausschließlich Büchern über die Liebe verschrieben hatte. Ihr Laden für romantische Lesebedürfnisse, wie auf den Lesezeichen stand, die Nina in jedes Buch steckte, das sie verkaufte. Schon bevor sie über dem Geschäft eingezogen war, hatte das Happy Ends sich für Nina wie ein Zuhause angefühlt, und von ihrem Hocker hinter dem Verkaufstresen aus betrachtete sie ihr kleines Reich. In der Mitte des Hauptverkaufsraums standen drei Sofas in verschiedenen Stadien des Verfalls um einen Tisch herum, auf dem sich die Bücher türmten. Es gab eine Regalwand mit Neuerscheinungen und Bestsellern, deren oberste Fächer mithilfe einer rollbaren Leiter erreicht werden konnten, während sich an der gegenüberliegenden Wand noch mehr Bücher sowie eine Reihe altmodischer Vitrinen befanden, in denen romantisch-literarische Geschenkartikel ausgestellt waren – von Tassen über Postkarten bis hin zu T-Shirts und Schmuck.
Dann gab es zu beiden Seiten noch die bogenförmigen Durchgänge, die zu einer Reihe kleinerer Räume führten, die allesamt bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft waren. Es war einer dieser Läden, in denen man glücklich und zufrieden eine Stunde oder länger mit Stöbern zubringen konnte – auch wenn Nina in diesem Moment weit von glücklich und zufrieden entfernt war.
»Dieser Kaffee, den du mir heute Morgen ans Bett gebracht hast … Ich meine, ich will mich echt nicht beschweren, aber der war ungefähr so stark wie ein Katzenpups!«, rief sie von ihrem Platz Verity zu, die im Büro im hinteren Teil des Ladens an ihrem Schreibtisch saß. Die Tür war angelehnt, deswegen musste sie so schreien. »Ist Tom heute da?«
»Also, für mich hört sich das ziemlich nach beschweren an, und, nein, Tom kommt heute nicht. Er hat angerufen und meint, es gäbe ein riesiges Problem mit den Fußnoten in seiner Doktorarbeit«, rief Verity. »Und Posy trifft sich heute Vormittag mit dem Buchhalter, also musst du die Stellung allein halten.«
»Tja, wenn es arg stressig wird, musst du eben vorne einspringen.« Dafür würde Nina schon sorgen. Schließlich konnte Verity sich nicht einfach im Büro verkriechen und Nina sich selbst überlassen, falls sie plötzlich von einem Kundenansturm überrannt werden sollten. Obwohl – sie spähte durch die bogenförmigen Fenster nach draußen –, es war ein diesiger grauer Dienstagmorgen, und so hoffte Nina, dass es ruhig bleiben würde, bis ihre Lebensgeister wieder zurückgekehrt wären.
Aus leidiger Erfahrung wusste sie, dass sie sich in der Regel erst wieder blicken ließen, wenn Nina mindestens drei Stück Backwerk verzehrt und sich in der Mittagspause ein paar Spiegeleier mit Speck gegönnt hatte, die sie entweder kurierten oder komplett ausknockten. Aber da kam ja schon Posy mit Ninas Kaffee und einem riesigen Muffin zurück.
»Ist der für mich?«, fragte Nina hoffnungsfroh.
War er. Und außerdem mit Blaubeeren gespickt, was, wie jeder Idiot wusste, ein Superfood war, also war es ein äußerst gesunder Muffin, überlegte Nina, während sie sich dicke Stücke abriss und in den Mund stopfte und den schwankenden Bücherstapel vor sich in Angriff nahm, der darauf wartete, in die Regale eingeräumt zu werden.
»Mach ja keine Fettfinger drauf«, ermahnte sie Posy, dabei futterte Nina nun schon seit drei Jahren professionell Kuchen und versorgte gleichzeitig Bücher, also beachtete sie ihre Chefin nicht weiter.
War ja nicht so, als würde sie in den Büchern blättern. Nina las lediglich die Klappentexte, damit sie, falls eine Kundin reinkam und meinte, sie suche eine paranormale Romanze mit einem zeitreisenden, gestaltwandelnden Herzog/Werwolf, die höchstwahrscheinlich ein blaues Cover hatte, diese zum richtigen Regal schicken konnte.
Sobald sie alles verdaut hatte (die Klappentexte, den Muffin weniger), sortierte Nina die Bücher in verschiedene Stapel, um sie leichter einräumen zu können: historisch, Regency-Epoche (die ihr eigenes Regal hatte), Erotika, Jugendbuch …
»Was genau machen Sie da?«, fragte eine Stimme zu ihrer Linken. Es war eine Männerstimme. Dabei bekamen sie im Happy Ends nicht oft Männerstimmen zu hören; und das hier war nicht Toms lebensüberdrüssiger Tonfall und auch nicht der versnobte Privatschulakzent von Sebastian Thorndyke, Posys Ehemann. Es war eine leise Stimme – höflich, neugierig und doch mit einem stählernen Unterton, bei dem sich alles in Nina sofort sträubte.
Sie drehte sich um und sah einen Mann hinter dem Verkaufstresen stehen. Er hatte rotes Haar – ein kastanienroter, rostbrauner Rita-Hayworth-mäßiger Farbton, den Nina vor einigen Monaten vergeblich versucht hatte, bei sich selbst hinzukriegen. Passend zu dem roten Haar hatte er einen blassen, großzügig mit Sommersprossen übersäten Teint und grüne Augen, die zugegebenermaßen ganz hübsch waren, aber das spielte momentan keine Rolle. Viel wichtiger war, dass er hinter dem Verkaufstresen stand.
»Was ich hier mache?«, gab Nina ungläubig zurück. »Was machen Sie hier?«
»Observieren«, sagte der Mann mit einem Seitenblick auf den kleinen Stapel Erotika, den Nina eben durchgeschaut hatte (sie war sich ziemlich sicher, dass sie irgendwann zwischendrin laut »Oooh! Ein schöner Dreier ist immer gut« gesagt hatte), und notierte etwas auf sein iPad. »Tun Sie einfach so, als wäre ich nicht hier. Bisher haben Sie Ihre Sache sehr gut gemacht, ich stehe hier schon seit einer halben Stunde.«
»Sie hätten was sagen sollen«, protestierte Nina. Irgendwie war dieser Kerl … übergriffig. Sie hatte dagesessen, sich den Muffin reingestopft, womöglich sogar mit offenem Mund gekaut, ihren Kaffee laut geschlürft, lüsterne Kommentare zu den Büchern abgegeben … und die ganze Zeit über hatte dieser fremde Mann hinter ihr gestanden. »Was observieren? Mich? Was solche Dinge angeht, gibt es klare Gesetze.«
»Tatsächlich handelt es sich hier um einen öffentlichen Raum, und …«
Nina konnte Leute nicht ausstehen, die ihre Sätze mit »Tatsächlich …« anfingen, wenn man sie herausforderte. Es hieß doch nur, dass sie keine guten Argumente hatten und gleich mit noch mehr aufgeblasenen Wörtern um sich schmeißen würden.
»Das hier ist Privatbesitz«, fuhr sie ihm über den Mund. »Sie befinden sich hier auf Einladung der Besitzerin, apropos Besitzerin … POSY!« Doch herumzubrüllen wie eine Londoner Fischhändlerin reichte offenbar nicht. Nina war gezwungen, von ihrem Hocker zu hüpfen, was in so einem knallengen Bleistiftrock immer ein etwas heikles Unterfangen war, und die Bürotür aufzustoßen, während dieser karottenköpfige Eindringling in aller Seelenruhe noch eine Notiz auf seinem iPad machte. »POSY! Hier ist ein schräger Vogel, der sich im Laden rumtreibt.«
Der schräge Vogel brummelte etwas, wobei die blasse Haut unter seinen Sommersprossen knallpink anlief. »Ich habe das Recht, hier zu sein«, erklärte er steif, und Nina war sich sicher, dass er sie an jemanden erinnerte, aber ihr wollte ums Verrecken nicht einfallen, an wen. Vielleicht dieser rothaarige Typ aus dem Finale von The Great British Bake Off letztes Jahr?
»Ja, hat er«, meldete sich Posy, die ihren Kopf durch die Bürotür streckte. »Das ist Noah. Habe ich euch nicht vorgestellt?«
»Nein, hast du nicht.« Nina ließ den Blick noch mal über diesen Noah schweifen. Er trug einen Anzug – einen marineblauen Anzug mit weißem Hemd und marineblauer Krawatte. Jetzt mal im Ernst, wer bitte trug heutzutage in diesem Alter noch Anzug und Krawatte? Außer natürlich Posys Göttergatte, Sebastian, der aber seine spießigen Anzüge wenigstens mit gepunkteten Einstecktüchern und knallbunten Socken aufpeppte. Nicht wie dieser Kerl, der seine Anzugfarbe auf die seiner Krawatte abstimmte. Warum taten Menschen so was?
»Also, ich könnte schwören, dass ich ihn vorgestellt habe. Ganz sicher. Geschieht dir aber recht, wenn du eine Viertelstunde zu spät kommst«, sagte Posy ungerührt. »Noah arbeitet als Business-Analytiker. Und er ist hier, um unser Unternehmen zu analysieren. Wir haben das doch gestern beim Mitarbeitertreffen besprochen.«
»Das war gestern. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viel Wodka ich seitdem getrunken habe? Und überhaupt, du weißt doch, dass die Business-Angelegenheiten dieses Unternehmens nichts mit mir zu tun haben.«
Nina war genetisch so angelegt, dass sie gewisse Worte wie »Business« und »Analytiker« automatisch ausblendete. Genauso wie »inflationsbereinigte Rente«, »Slipper« und »früh ins Bett«.
»Nina!«, sagte Posy mit einem schweren Seufzen. »Du weißt doch, dass wir nach Wegen suchen, unser Geschäft auszubauen. Effizienteres Arbeiten. Digitales Dingsda und der ganze Kram.«
Noah, der Business-Analytiker, von dem Nina immer noch sicher war, nie etwas gehört zu haben, war während dieses Gesprächs ruhig geblieben, doch jetzt trat er einen Schritt vor.
»Ich bin nur hier, um Ihre Geschäftspraktiken in Augenschein zu nehmen«, sagte er, auch wenn Nina sich nicht sicher war, ob sie so etwas wie Geschäftspraktiken hatte. Sie kam einfach in den Laden spaziert, verkaufte ein paar Bücher und düste bei Feierabend sofort wieder nach oben, um sich ausgehfertig zu machen und ihr Gehalt für Männer, Moscow Mules und … ähm, andere Sachen mit M zu verprassen.
»Es ist trotzdem ziemlich schräg, einfach nur dazustehen und jemanden zu beobachten, der davon nichts mitbekommt«, beharrte Nina.
»Ich habe Hallo gesagt, aber Sie haben gerade nach Kaffee gerufen und mich vielleicht nicht gehört«, erwiderte Noah. »Wie auch immer, jetzt wurde ja klargestellt, dass ich Noah und Sie Nina sind. Posy hat mich schon über den Rest aufgeklärt.«
»Das stimmt«, sagte Posy vage, was ungefähr alles bedeuten konnte. Es war ja nicht so, als hätte Nina die letzten Jahre ein untadeliges Leben geführt. Nicht mal ansatzweise. »Nina, ich muss jetzt wirklich los, ich treffe mich mit dem Buchhalter. Er wird immer so pampig, wenn ich auch nur eine Minute zu spät komme.«
Nina war ebenfalls ziemlich pampig, und vielleicht kam die Botschaft bei Noah ja an, denn als Posy panisch davonwuselte, beschloss er, seinen Posten ins Büro zu verlegen. Verity, die eher still und ruhig war, würde von dem stummen Beobachter sicher ebenfalls alles andere als begeistert sein. Doch als Nina wieder auf ihren Hocker kraxelte und auf den ersten Kunden des Tages wartete, konnte sie verstörende Laute hinter sich vernehmen.
Verity plauderte munter drauf los. Lachte. Einmal prustete sie sogar ausgelassen. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich. In der Gegenwart Fremder bekam sie sonst kaum einen Ton heraus, ganz zu schweigen davon, dass sie lachte oder ausgelassen losprustete. »Kannst du glauben, dass wir unsere Waren immer noch in ein Bestandsbuch eintragen?«, kicherte sie.
»Du meinst, ihr notiert es handschriftlich auf Papier?«, fragte Noah, der angebliche Business-Experte, ungläubig.
»Ja, und wenn wir ein Buch verkaufen, haken wir es im Bestandsbuch ab.«
»Ich habe auf eurem Verkaufstresen keinen Barcode-Scanner gesehen, und eure Kasse … gehört eher in ein Museum, oder?«
Nina tätschelte liebevoll die altmodische Registrierkasse. Bertha war mindestens vierzig Jahre alt und hatte ihre Macken. Das Geldfach klemmte hin und wieder, aber man musste nur auf eine bestimmte Stelle hauen, wenn es passierte, und schon funktionierte sie wieder einwandfrei.
»Lavinia, die ehemalige Besitzerin des Bookends, die den Laden an Posy vermacht hat, die ihn wiederum ins Happy Ends verwandelt hat, hatte sehr festgefahrene Vorstellungen«, erklärte Verity ernst. »Vor allem nach dem Tod ihres Mannes. Sie mochte schlicht keine Dinge, die piepten und blinkten. Mir gefällt der urige Charme des Ladens zwar auch, aber …, aber …«
»Aber was?«, hakte Noah nach. »Du kannst es mir ruhig sagen. Ich bin nur hier, um zu beobachten. Ich urteile nicht, ich lege keine Konsequenzen fest.«
Vertrau ihm nicht!, wollte Nina rufen, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür mit einem Bimmeln, und zwei Frauen traten ein, sodass sie gezwungen war, mit dem Lauschen aufzuhören und ein freundliches Lächeln aufzusetzen. »Willkommen im Happy Ends. Lassen Sie es mich wissen, falls Sie nach etwas Bestimmtem suchen.«
Die Frauen waren beide im besten Alter und trugen praktisches Schuhwerk, Stoffhosen und Regenjacken, aber Nina wusste, dass man die Lesevorlieben der Kundschaft nicht anhand ihrer äußeren Erscheinung erraten konnte.
»Führen Sie auch erotische Vampirgeschichten?«, erkundigte sich eine der Frauen und bestätigte damit Ninas Theorie.
»Gehen Sie einfach rechts durch, die Erotikabteilung befindet sich im hintersten Raum. Paranormale Erotika gleich zu Ihrer Linken, und die Vampire in den oberen zwei Regalfächern«, erklärte Nina. »Wir haben erst letzte Woche ein neues Buch von einer Dame namens Julietta Jacobs reinbekommen, über einen Vampir-Mafiaboss. Durch und durch schmutzig.«
»Oooh, klingt ganz nach meinem Geschmack«, erwiderte die Frau und verschwand mit ihrer Freundin durch den Türbogen.
Währenddessen beschwerte sich Verity bei Noah munter weiter, wie schrecklich es im Happy Ends war. »… und alles muss man händisch eingeben, also dauert es dreimal länger, als es sollte. Bestandsaufnahme, Inventur, Kasse machen … eigentlich ist es ein einziger Albtraum.«
»Ja, klingt mir nicht besonders zeiteffizient«, pflichtete Noah ihr mitfühlend bei, obwohl er gerade gesagt hatte, dass er nicht da war, um zu urteilen.
Nina konnte ihn jetzt schon nicht leiden, dabei hatte sie, was Männer anging, bekanntermaßen eher niedrige Standards. Ihre düsteren Gedanken wurden von der nächsten Kundin unterbrochen. Lucy, eine hübsche Frau, die im Gemeindebüro in der Nähe arbeitete, kam durch die Tür spaziert. Sie las einen Liebesroman pro Tag und drei an den Wochenenden. Nina befürchtete schon, dass irgendwann der Tag kommen könnte, an dem Lucy jeden jemals gedruckten Liebesroman verschlungen hätte.
Doch jener Tag war nicht heute. »Sind das die Neuerscheinungen?«, fragte Lucy, und ihre Augen erstrahlten beim Blick auf den Bücherstapel neben der Kasse.
»Ganz genau«, bestätigte Nina. »Hau rein!«
Verity kicherte schon wieder – sie war wirklich nicht mehr ganz bei Sinnen, seit sie sich vor ein paar Monaten verliebt hatte –, und Noah murmelte wieder etwas, aber da bimmelte das Glöckchen an der Tür erneut und weitere Kundinnen strömten herein. Ninas Kater war mittlerweile so weit abgeflaut, dass sie sich fit genug fühlte, ihren Platz auf dem Hocker zu verlassen und sich in den Verkaufsraum zu wagen, um ihre Hilfe anzubieten.
»Sie brannte zu hell für diese Welt.«
Noah und sein teuflisches iPad verabschiedeten sich noch vor der Mittagspause. Nina hoffte inständig, dass er mit seinem gruseligen, stummen Beobachten fertig war, doch als Posy von ihrem Termin beim Buchhalter zurückkam, sagte sie, dass Noah gleich am nächsten Morgen wieder da sein würde.
»Er scheint ganz nett zu sein, oder?«, beharrte sie. »Er ist ein guter Freund von Sebastian.«
»Ach ja, wirklich? Sebastian hat Freunde?« Nina schüttelte den Kopf. Sebastian Thorndyke war so einiges – erfolgreicher IT-Unternehmer, Posys Erzfeind aus Kindertagen und seit Neuestem ihr angetrauter Ehemann –, doch er war vor allem der unverschämteste Kerl Londons, dem jedes Gespür für Anstand fehlte. Bei ihrer neuen bonbonrosa Frisur hatte er zum Beispiel unkontrolliert losgekichert.
»Heiße Nacht mit einer Zuckerwattemaschine verbracht, was?«, war sein Kommentar gewesen.
Nach dieser und vielen anderen Beleidigungen konnte Nina sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sebastian viele Freunde hatte, doch hier stand Posy und behauptete, dass dieser Noah einer von ihnen war. Vielleicht hatte Nina deswegen immer noch dieses komische Gefühl, dass sie Noah von irgendwoher kannte, auch wenn sie sich lieber umbringen würde, als mit Posys Mann auf irgendwelchen IT-Veranstaltungen abzuhängen. Er war aber ganz sicher nicht auf Posys und Sebastians Hochzeit gewesen – einer Feier im engsten Kreis, die innerhalb von nur drei Wochen auf die Beine gestellt worden war.
»Sie haben sich während ihres Studiums in Oxford kennengelernt«, erklärte Posy, wobei ihr Gesicht diesen weichen, schmelzenden Ausdruck annahm, wie immer, wenn sie an Sebastian dachte. »Und sind seitdem Freunde geblieben. Noah lässt sich von Sebastians Gequatsche nicht beeindrucken. Findest du nicht auch, dass er irgendwie sexy ist, auf diese nerdige Art?«
»Würg! Nein! Hallo!? Der Typ trägt Krawatte!«, rief Nina und schüttelte sich übertrieben. »Plus Anzug. So was von nicht mein Typ. Ich mach’s mit Bad Boys. Nicht mit Nerds.«
»Hast du nie daran gedacht, auch anderen Männern mal eine Chance zu geben?«, fragte Verity aus dem Mundwinkel heraus, da sie gerade Kasse machte und beim Zählen durcheinanderkam, wenn sie sich zu sehr ablenken ließ.
»Warum sollte ich?«, gab Nina zurück. »Das wäre so, als würde man mich bitten, braune statt blaue Augen zu haben. Oder nicht mehr ein Meter achtundsechzig groß zu sein. Ich bin, wie ich bin, das lässt sich nicht ändern.«
»Veränderungen können was Gutes sein«, beharrte Posy, während sie die Bücher aufsammelte, die auf den drei Sofas liegen gelassen worden waren, und sie wieder in die Regale einsortierte. »In den letzten Monaten gab es hier einige Veränderungen, und sie waren eigentlich alle positiv.«
Da hatte sie recht. Erst letzten Sommer war die alte, angeschlagene Bookends-Buchhandlung ins Happy Ends verwandelt worden – sie hatten sich auf romantische Literatur spezialisiert, den Laden renoviert, frisch gestrichen und die Teestube nach langer Zeit wieder eröffnet. Nina war viel glücklicher damit, Liebesromane an die verschiedensten Frauen zu verkaufen, als so gut wie gar nichts an irgendwelche zufälligen Kunden loszuwerden, die sich hin und wieder in den Laden verirrten.
Doch bevor aus dem Bookends das Happy Ends wurde, war Lavinia, ihre liebe Chefin und Mentorin, gestorben, und Nina vermisste sie heute noch so sehr wie an jenem furchtbaren Morgen vor ein paar Monaten, als sie die traurige Nachricht bekommen hatte, dass sie gestorben war. Der Auslagentisch in der Mitte des Raumes war daher auch nach wie vor eine Art Schrein für ihre geliebte Freundin. Jedes Mal, wenn Ninas Blick auf eines von Lavinias Lieblingsbüchern fiel, das dort lag, oder sie den schweren Duft von Lavinias rosa Lieblingsrosen einatmete, die in der Glasvase steckten, die sie einst in den Sechzigern bei Woolworths erstanden hatte, verspürte sie denselben süßen, stechenden Schmerz.
Gleichzeitig hatte Posy eine radikale Wandlung vollzogen – vom Mädchen, das niemals mit Jungs ausging (außer Nina nötigte sie dazu), zur Ehefrau von Lavinias Enkelsohn, Sebastian –, und das in einem gefühlten Zeitraum von fünf Minuten. Posy behauptete, die Sache hätte sich über die Jahre angekündigt, aber soweit Nina das überblickte, war es so gewesen, dass Posy und Sebastian sich in der einen Minute noch anbrüllten, wie üblich, nur um in der nächsten auf dem Standesamt von Camden feierlich ihr Ehegelöbnis zu sprechen.
Doch auf gewisse Art und Weise war auch das eine gute Veränderung gewesen, denn offensichtlich machte Sebastian ihre Freundin sehr glücklich. Das Stirnrunzeln, das sie früher stets aufgesetzt hatte, war durch ein leicht duseliges Lächeln ersetzt worden, und, was noch besser war, Posy und ihr kleiner Bruder, Sam, hatten die Wohnung über dem Buchladen geräumt, um gemeinsam mit Sebastian in Lavinias ehemaliges Haus an einem hübschen begrünten Platz am anderen Ende von Bloomsbury zu ziehen. Nina vermisste Sam schrecklich – er hatte sich immer breitschlagen lassen, ihr Schokolade zu holen oder ihr iPhone wieder zum Laufen zu bringen, wenn es sich aufhängte –, doch dafür hatte Posy ihre alte Wohnung mietfrei Nina und Verity überlassen.
Nina hatte sich nicht zweimal bitten lassen. Die monatliche Miete hatte einen Riesenbatzen ihres ohnehin nicht besonders üppigen Buchhändlergehalts verschlungen. Ganz zu schweigen davon, dass Nina draußen in Southfields in einer WG mit fünf Mitbewohnern, ohne Wohnzimmer, aber dafür mit hartnäckigem Silberfischbefall in der Küche, gehaust hatte. Ihr Arbeitsweg war die reinste Hölle gewesen, vor allem, wenn die District Line eine Betriebsstörung hatte, was ziemlich oft der Fall war. Außerdem musste sie ständig bei Freunden auf dem Sofa übernachten, wenn sie mal wieder die letzte U-Bahn nach Hause verpasst hatte.
Also glichen die guten Veränderungen und die schlechten Veränderungen sich gerade so aus. Aber manche Dinge änderten sich nie – so wie Nina, die darauf wartete, dass Posy die Bücher wieder einräumte und Verity die Tageseinnahmen abrechnete, bevor sie hoffnungsfroh fragte: »Pub?«
Nach getaner Arbeit ins Pub zu gehen, war ein altehrwürdiger Brauch, nur dass es auch so eine Sache war, die sich geändert hatte … und zwar nicht zum Guten.
»Ich würde ja …«, setzte Posy an, um gleich wieder den Kopf zu schütteln. »Aber ich sollte wirklich nach Hause. Sebastian war auf einer Geschäftsreise, und ich habe ihn drei ganze Tage nicht gesehen. Immerhin befinden wir uns praktisch immer noch in den Flitterwochen.«
Nina war nicht der Meinung, dass es immer noch unter Flitterwochen lief, wenn man im vergangenen Juni geheiratet hatte und es nun verflixt noch mal Februar war, aber sie beschloss, dass es weiser war, sie nicht darauf hinzuweisen. Stattdessen wandte sie sich mit flehendem Blick an Verity. »Du, ins Pub, Very?«
»Ich kann nicht. Ich muss mich eine halbe Stunde hinlegen, um runterzukommen, danach gehe ich mit Johnny zu einer Vorlesung über das Art déco am Courtauld Institute«, erwiderte Verity, denn eine der anderen gravierenden Veränderungen war die, dass Verity – ja, Verity, die hoffnungslos introvertiert war, wie sie selbst zugab – bis über beide Ohren in ihren noch recht neuen Freund, einen attraktiven Architekten namens Johnny, verliebt war und Nina sie kaum noch zu Gesicht bekam. Sie hatte es viel lieber gehabt, als Verity noch mit diesem Ozeanografen namens Peter Hardy ging, der meist unterwegs war, um irgendwelche Ozeane zu erforschen, sodass Verity sich öfter dazu überreden ließ, ins Pub zu gehen.
»Was ist denn das? Was höre ich denn da?« Nina legte sich theatralisch die Hand hinters Ohr. »Oh ja! Das ist der Klang von Hochzeitsglocken, die meine alte Clique sprengen.«
»Ich war erst gestern mit dir im Pub«, merkte Posy an.
»Und ich bin weder verheiratet, noch habe ich es vor«, fügte Verity hinzu.
»Alkohol?«, fragte eine Stimme mit schwerem Akzent, und Nina wandte sich dankbar zu Paloma um, der Barista aus der Teestube, die mit hoffnungsfroher Miene im Türbogen zu ihrer Rechten stand. »Alkohol? Nina? Alkohol?«
»Alkohol!«, bestätigte Nina dankbar. »Sí! Alkohol!«
Paloma war eine Spanierin aus Barcelona und lebte noch nicht sehr lange in London. Ihr Englisch war eher rudimentär, aber sie behauptete immer, dass Kaffee eine ziemlich universale Sprache sei. Außerdem hatte sie mehr Piercings als Nina (die immerhin sieben Löcher in einem Ohr und einen Metallstecker in der Zunge hatte) und sogar mehr als Ninas Kumpel Claude, dessen Beruf es war, Leute zu piercen. Paloma hatte zudem eine On-off-Beziehung mit einem Kubaner namens Jesús, der keineswegs so fromm war, wie sein Name vermuten ließ. In Ninas Ohren klang es meist so, als würden sie sich erbittert streiten, so auch zehn Minuten später, sobald sie sich an einen Tisch in der Tapas-Bar in der Grays Inn Road gesetzt hatten.
Wie üblich schrien Paloma und Jesús einander an und gestikulierten wild mit den Händen, während Nina dasaß und an ihrem Wodka Tonic nippte, um die letzten Überreste ihres Katers zu vertreiben. »Leute«, sagte sie, als sich endlich eine Pause in dem Wortgefecht auftat. »Im Ernst jetzt, ich bin eine große Verfechterin leidenschaftlicher Liebe, aber könnten wir einen winzigen Gang runterschalten?«
»¿Qué?« Jesús zuckte die Achseln.
»Wir sprechen nur, ob wir brauchen den … den papel de baño …«
»Den papel de was?«, fragte Nina.
»Wie sagt ihr noch mal …« Paloma macht eine Wischbewegung auf Höhe ihres Schritts, wo sie angeblich ebenfalls das eine oder andere Piercing hatte. »Na, wenn du pinkeln warst.«
»Oh, du meinst Klopapier.«
»Sí! Klopapier!«
Gerade als Nina ihren Dienstagabend beerdigen wollte, ging die Tür auf und ließ einen Windstoß samt einer Gruppe von Palomas und Jesús’ Freunden herein. Es gab einen Haufen Umarmungen und Küsschen, laute Rufe und wildes Gestikulieren. Es war ein wahres Meer an unbekannten, aber lächelnden Gesichtern.
Die Freunde organisierten zwei zusätzliche Tische, bestellten gefühlt hundert kleine Tellerchen mit leckeren Tapas und brüllten einander auf Spanisch an. Sie gaben sich Mühe, Nina mit ihrem holprigen Englisch in das Gespräch miteinzubeziehen, aber letzten Endes überließ man sie sich selbst und einer Schale patatas bravas. So musste Paloma sich die meiste Zeit fühlen, wenn alle um sie herum in einer anderen Sprache drauflosplapperten, daher nahm Nina ihr Schicksal geduldig auf sich. Sie bemerkte außerdem die interessierten Blicke von Javier, einem Kumpel von Jesús, die sie nur zu gerne erwiderte.
Javier hatte wuscheliges schwarzes Haar – die Art von Haar, das einzig und allein dazu geschaffen war, von der Hand einer Liebhaberin zerzaust zu werden – und dunkle Augen, in denen ein Mädchen sich verlieren konnte. Er hatte außerdem ein Lächeln, das Sex pur verströmte, und da er Nina gegenübersaß, war sie ziemlich sicher, dass es Javiers Bein war, das sich unter dem Tisch an ihrem rieb.
Nina blickte Javier unter dem Schleier ihrer Wimpern an, während ihre Fingerspitzen aufreizend die Kontur ihres Halses nachfuhren, um ihr Dekolleté zu betonen, das in dem schwarzen Vintage-Kleid, in das sie sich vor dem Ausgehen noch schnell geworfen hatte, äußerst vorteilhaft zur Schau gestellt wurde.
Doch als Javiers Zunge etwas recht Obszönes mit seiner Bierflasche anstellte, fragte Nina sich bereits, wie sie bei der Sache vorankommen sollten, wo sie doch keine fünf Worte Spanisch sprach. Und als er es abermals tat, dieses Mal mit einem zusätzlichen, äußerst unerotischen Schlürfen am Flaschenhals, konnte sie förmlich spüren, wie sie innerlich erkaltete.
Nina wusste rein gar nichts über Javier, außer dass er aus Spanien kam (obwohl sie auch diesbezüglich nicht ganz sicher war, da er auch einfach aus einem spanischsprechenden Land kommen könnte), dass er Palomas Kumpel war und dass er, in Anbetracht dessen, was er mit seiner armen Bierflasche anstellte, verzweifelt auf der Suche nach einer schnellen Nummer war.
Oh Gott, sie war diese ewigen Spielchen so satt. Es war an der Zeit, sich zu verabschieden und zu gehen, denn Nina pflegte die Regel, auf drei Dates Minimum zu gehen, bevor sie mit jemandem in die Kiste sprang. Aber wie sollte man drei Verabredungen überstehen, wenn man nur eine Handvoll Worte von dem verstand, was der andere sagte? Und außerdem, falls sie und Javier es je über die drei Dates hinausschaffen und miteinander intim werden sollten, nur damit danach alles wieder im Sande verlief (immerhin war ein intimes Verhältnis keine Garantie für ein Happy End), könnte es zwischen Nina und Paloma unangenehm werden. Paloma machte göttlichen Kaffee, und Nina fände es schade, wenn sie anfangen würde, ihr in die Tasse zu spucken, oder, noch schlimmer, ihr gar keinen Kaffee mehr zu servieren. Das war auch der Grund, warum ihre liebe, alte Lavinia immer gesagt hatte: »Hol deine Eier nie dort, wo du auch dein Brot holst«, oder, wie Ninas Vater es etwas direkter ausdrücken würde: »Man schläft nicht dort, wo man scheißt.«
Was Javier jetzt mit der Flasche anstellte, bescherte ihr tatsächlich ein Gefühl von Übelkeit und Überdruss. Wann war Flirten eigentlich so … langweilig geworden? Wenn es eine Sache gab, auf die Nina nicht stand, dann auf langweilig. »Langweilig« war nicht der Grund, warum sie vor dem Ausgehen ihr Tages-Make-up zu einem dramatischen Abend-Look aufgepimpt hatte, mit deutlich mehr Eyeliner, stärker definierten Augenbrauen und knallrotem Lippenstift. »Langweilig« war nicht der Grund, warum sie sich in ein schwarzes körperbetontes Satinkleid gezwängt hatte und in Zwölf-Zentimeter-Absätzen in diese Tapas-Bar gestöckelt war.
Nina hatte all diese Mühen auf sich genommen, weil sie den Mann ihrer Träume bezirzen und betören wollte, und sie hatte eine ganz klare Vorstellung davon, wer dieser Mann war. Etwa zehn Jahre zuvor hatte Nina Sturmhöhe von Emily Brontë gelesen, und dieses Buch hatte ihr Leben für immer verändert. Heathcliff und Cathy waren die tragischen Liebenden von Wuthering Heights, die nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander leben konnten. Es war Leidenschaft und Verzweiflung pur, das Ganze vor der Kulisse der kargen Heidelandschaft Yorkshires. Obwohl Heathcliff in seinen schlimmsten Momenten die absolute Verkörperung toxischer Männlichkeit war, erblickte Nina in seinen besten Momenten die Art von Mann, der sie glücklich machen würde. Ein Mann, der zugleich ihr Seelenverwandter wäre. Ihre einzig wahre Liebe. Ein rastloses Herz, das zu ihrem passte. Ein Mann, der versuchen würde, sie bei ihrem eigenen Spiel zu schlagen – was ihm jedoch nur dienstags, donnerstags, samstags und an jedem zweiten Sonntag im Monat gelingen würde. Ein Mann, der all die Höhen und Tiefen einer Liebe mit ihr teilen würde, die zu groß war, um gebändigt zu werden. Ein Mann, der mit jeder Faser seines Seins liebte und sich nie mit etwas Zweitklassigem begnügen würde – warum also sollte Nina das tun? Und genau das war der Grund, warum sie in der Hoffnung auf ihren Heathcliff ausharrte und keinen Abklatsch davon akzeptierte.
Doch wie sich herausstellte, waren Heathcliffs im echten Leben rar gesät, und Nina wusste, ohne die Spur eines Zweifels, dass ein Heathcliff niemals an einem Dienstagabend den Hals einer billigen Bierflasche mit der Zunge bearbeiten würde.
Nina zog mit einem bedauernden Lächeln ihre Beine unter den Stuhl zurück, bevor sie von Javiers Gerubbel noch Ausschlag bekam, und holte ihr Handy hervor.
Die Nacht war jung, dachte sie, als sie sich bei HookUpp einloggte – vielleicht würde sich ja heute Abend ein romantischer Held in den Algorithmen verbergen. HookUpp war eine Dating-App, die von Sebastians Firma ZingerMedia entwickelt worden war, daher hatte Nina immer etwas Angst, dass er Zugang zu ihren Anmeldedaten hatte und Posy beim Abendessen auf den neuesten Stand brachte.
»Ich würde das Tattoo-Girl morgen nicht pünktlich bei der Arbeit erwarten«, würde er sagen, während er Ninas Metadaten studierte. »Sie hat gerade einen Grafikdesigner hochgewischt, der jeden Abend eine andere trifft und von den Damen nie mit weniger als vier Sternen bewertet wird.«
Dennoch hatte Nina nicht genug Angst, um die App zu deinstallieren. Nicht solange auch nur die geringste Chance bestand, dass die große Liebe direkt hinter der nächsten Ecke auf sie wartete … oder vielmehr Steven, einunddreißig, Schriftsteller, der anscheinend nur dreihundert Meter entfernt war und Nina bereits hochgewischt und ihr eine Nachricht geschickt hatte: Lust auf einen Drink?
Die Tapas-Bar war schummrig beleuchtet, und Nina musste sich ihr Display ziemlich nah unter die Nase halten, um Stevens Foto zu inspizieren. Nicht, dass sie oberflächlich gewesen wäre, sie wollte nur nicht mit einem Typen was trinken gehen, der aussah, als hätte er seine vier letzten HookUpp-Bekanntschaften irgendwo im Wald verbuddelt.
Steven sah ganz in Ordnung aus. Er posierte mit einem total süßen Labrador. Wie schlimm konnte Steven sein, wenn er gut mit Hunden konnte? Hunde waren ein großartiger Indikator, wenn es um Charaktereinschätzungen ging.
Nina wischte Steven ebenfalls hoch und antwortete auf seine Nachricht. Im Thornton Arms, zehn Minuten?
Steven schrieb zurück. Ich warte davor.
Es war nicht sehr romantisch, aber die Suche nach Liebe, selbst die Suche nach einem Heathcliff, war eben ein Zahlenspiel. Ein Mädchen musste an vielen Fröschen vorbei, um ihren Prinzen zu finden. Ninas jahrelanger Erfahrung nach war es das Beste, das erste Kennenlerntreffen so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, damit sie und Steven danach dazu übergehen konnten, sich ineinander zu verlieben.
Mit frischem Optimismus schob Nina ihren Stuhl zurück und stand auf. »Leute! Ich muss leider los«, sagte sie, woraufhin netterweise ein Chor aus Neins ertönte, begleitet von händeringenden Gesten. Javier jedoch zuckte nur die Achseln und stellte das Liebesspiel mit seiner Bierflasche ein, daher wusste Nina, dass sie recht daran getan hatte, auf ihren Instinkt zu vertrauen. Würde Javier über das Heathcliff-Gen verfügen, hätte er sich vor Nina auf den Boden geworfen, um sie davon abzuhalten zu gehen, oder er hätte zumindest angeboten, ihr einen Drink zu spendieren, wenn sie bliebe.
Sie hatte gerade noch Zeit, sich auf der Toilette frischzumachen, um sicherzustellen, dass ihre Frisur immer noch tadellos saß und ihr Lippenstift sich dort befand, wo er sollte.
Alles war super. Nimm dich in Acht, Steven, einunddreißig, Schriftsteller, mach dich darauf gefasst, dein Herz zu verlieren.
Nina verließ die Tapas-Bar und spazierte die Straße hinunter, bog dann nach links, und selbst jetzt, nach Jahren der Blind Dates und Treffen mit Männern, deren Gesichter nur kleine Avatare auf ihrem Handydisplay waren, verspürte sie immer noch dieses Gefühl in ihrem Magen – ein kribbeliges Durcheinander aus Aufregung, Spannung und, ja, auch ein bisschen Bammel. Ganz gleich, wie oft Nina loszog, um sich mit einem Mann zu treffen, nie verließ sie diese Schmetterlingskolonie, die tief in ihrem Inneren aufflatterte, weil sie auf dem Weg zu einer schicksalhaften Begegnung sein könnte. Dieser hier … könnte … der … Richtige … sein.
»Du bist Nina?«, fragte der Mann im Anzug, der vor dem Thornton Arms wartete. »Auf dem Foto sahst du dünner aus.«
Tja, und er hatte wenigstens zehn Jahre jünger, zwölf Zentimeter größer und definitiv weniger kahlköpfig ausgesehen. »Steven«, bestätigte Nina mit einem strahlenden Lächeln, auch wenn die Schmetterlinge abrupt aufhörten zu flattern und sie sich fragte, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, hierfür ihren Lippenstift aufzufrischen.
»Sollen wir?« Steven öffnete die Tür zum Pub, jedoch nicht für Nina, sondern damit er zuerst eintreten konnte, was schlicht und einfach von schlechten Manieren zeugte. Wenigstens ließ er ihr die Tür nicht vor der Nase zufallen, trotzdem gab es Punktabzug.
»Lass uns einen Tisch finden«, schlug Nina vor, doch Steven war zu beschäftigt mit Fleischbeschau, um zu antworten.
Sein Blick verweilte auf ihren Kügelchen, wie Nina sie liebevoll nannte: Brüste, Bauch und Po. Und zwar nicht mit Bewunderung oder Verlangen, sondern mit offensichtlicher Abscheu.
»Weißt du, du solltest echt ein Ganzkörper-Foto auf deinem HookUpp-Profil hochladen. Spart eine Menge Zeit. Normalerweise kontaktiere ich keine Frauen, die nur ihr Gesicht posten.«
Nina verzichtete darauf, anzumerken, dass er selbst ein Foto aus den dunklen fernen Tagen hochgeladen hatte, als er noch über eine vollständige Haarpracht verfügte. »Tut mir leid, dass meine Kurven dich überfordern«, entgegnete sie mit eisigem Tonfall, wobei sie sich aufrichtete, um genau die im besten Licht zu präsentieren.
Sie trug Größe 42. Größe 44. Größe 42. Okay, dann war sie eben irgendwo zwischen 42 und 44, je nachdem, welche Zeit des Monats gerade war, in welchem Laden sie sich befand und wie viele leckere Kuchenstücke aus der Teestube sie in der jeweiligen Woche verdrückt hatte. Und Nina fühlte sich absolut wohl damit. Sie mochte ihren Körper. Er sah gut aus in ihren geliebten Vintage-Kleidern. Und er sah auch gut aus, wenn sie gar keine Kleider trug. Er konnte sie auf ihren schwindelerregenden Pumps über weite Strecken durch die Gegend tragen. Und noch viel weiter, wenn sie ganz selten mal Ballerinas anzog. Wenn sie sich wegen ihres Körpers schlecht fühlen wollte, konnte sie jederzeit ihre Mutter besuchen, doch sie würde ganz sicher nicht zulassen, dass dieser Steven, in seinem billigen Anzug und mit der schwitzigen Oberlippe, ihr das Gefühl gab, B-Ware zu sein.
»Weißt du was, lassen wir es doch gleich bleiben«, sagte sie, was sehr vernünftig von ihr war.
»Warum denn? Ich kann dir einen Drink besorgen«, schlug Steven vor, doch er klang äußerst uncharmant, so als würde er Nina damit einen riesengroßen Gefallen erweisen. »Danach kannst du es ja wiedergutmachen.«
Was wiedergutmachen? Dass kein ICH TRAGE NICHT GRÖSSE SECHSUNDDREISSIG
echt
DamenPrivat
»Operation Frosch«, bestätigte Nina. »Ich könnte ihn ab sofort bis in alle Ewigkeit küssen, und er würde doch nur ein totales Arschloch bleiben.«
Er führte Nina weiter den Flur entlang bis zu einer Tür, die er aufschloss, damit Nina ungesehen durch den Hinterausgang schlüpfen konnte, während Steven immer noch darauf wartete, ihr einen großen Wodka Tonic zu bestellen.
»Du schuldest mir mehr als einen«, erwiderte Chris grinsend. »Ist echt an der Zeit, dass du dir einen netten Kerl suchst und dich zur Ruhe setzt.«
»Na dann, viel Glück dabei, Schätzchen.« Chris schüttelte den Kopf und schloss die Tür hinter sich.
Sie könnte aber auch einfach nach Hause gehen. Das Happy Ends lag gleich um die Ecke, und als hätten ihre Füße einen eigenen Willen, schwenkten sie nach links ab, die Rochester Street entlang und auf direktem Weg in die Rochester Mews. Nina seufzte, als sie den Code für das Tor eingab, das nach Ladenschluss unerwünschte Besucher aus der Gasse fernhielt.
Sie tapste barfuß durch den Hauptraum, am Verkaufstresen vorbei und zu der Tür, die zur Treppe führte. Oben brannte kein Licht, doch das hieß nicht unbedingt, dass Verity schon wieder bei Johnny übernachtete. Sie konnte genauso gut zu Hause sein und Yoga machen, was sie gerne bei Kerzenlicht tat. Oder sie las, was noch so ein stiller Zeitvertreib war, und zudem einer, den sie problemlos unterbrechen könnte, um Ninas ausführlichem Bericht über die Abenteuer des heutigen Abends zu lauschen.
»Rooooaaaaarrrrrrr!«, ertönte die klagende Antwort. Nicht von Verity, sondern von Strumpet, Veritys fettleibigem, liebesbedürftigem Kater, der wartete, bis Nina den Treppenabsatz erreicht hatte, um sich sogleich auf ihre Schienbeine zu stürzen.
Am Kühlschrank hing eine Notiz: Hey, Nina, bleibe heute Nacht wahrscheinlich bei Johnny. Strumpet hat schon Futter bekommen, egal, was er dir erzählt. Mach’s gut. Bis Morgen. Küsschen, Very
Obwohl sie lieber sterben würde, als eine dieser selbstgefälligen verheirateten Frauen zu werden, wäre es doch schön, jemanden zu haben, zu dem man nach Hause kommen konnte. Und, oh Gott, aber eine leidenschaftliche Liebesnacht mit ihrem persönlichen Heathcliff wäre im Moment genau das Richtige. Stattdessen hatte Nina heute Nacht einen dicken, fordernden Kater als Gefährten, gerade so, als wäre sie eine verrückte alte Katzenmutti, die nichts Besseres zu tun hatte, als in ihren Pyjama zu schlüpfen, den Kühlschrank nach etwas Essbarem zu durchstöbern und in die neueste Folge von Tattoo Fixers reinzuschalten.
Sturmhöhe