Buch
Thomas Treffinger ist Busfahrer. Aus Leidenschaft. Christkindlmarkt, König der Löwen, Pfälzer Weinfeste – hat er alles gemacht. Und jetzt? Bietet sein Chef plötzlich Auslandsreisen an. Die erste soll nach Irland führen, zu den Höhepunkten der Grünen Insel – Burgen, Klöster, historische Pubs. Mit dabei: Reiseleiterin Mara, fünfzig Senioren und Treffingers Tante Emmy, die Stammkundin bei Schuler-Reisen ist. Aber bereits am zweiten Tag stolpern sie über einen Toten. Dann gibt es eine zweite Leiche. Und bald eine dritte. Ganz allmählich keimt in Treffinger ein Verdacht: Könnte es sein, dass er einen Mörder durch Irland fährt?
Autor
Stefan Nink fliegt, fährt und läuft für Magazine, Radiostationen und Verlage über den Planeten. Seine Reportagen wurden vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Er hat drei Romane und über dreißig Reisebücher veröffentlicht. Wenn er zu Hause ist, steht er samstags bei Heimspielen von Mainz05 im P-Block.
Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag
Fünfzehn Jahre zuvor.
Jemand stand vor ihrem Bett, sie konnte ihn sehen, da stand jemand, jemand sehr Großes. Draußen, hinter den Bambusjalousien, war es hell, sie wusste nicht, wie lange schon und ob das noch der gleiche Tag war oder schon wieder ein anderer. Die Jalousien fächerten das Licht in feine Streifen, die an der Wand entlangliefen. Und durch die Gestalt vor ihrem Bett hindurch.
Sie hatte geträumt. Von ihrem Vater. In ihrem Traum war sie wieder ein kleines Kind, sie waren zusammen über einen Strand gelaufen, sie hatten Muscheln gesucht, große Muscheln, in denen man das Meer rauschen hören konnte, wenn man sie ans Ohr hielt. Auch ihre Mutter war in dem Traum am Leben, sie wartete zu Hause auf sie. Als sie ankamen, nahm sie gerade einen Kuchen aus dem Backofen und lächelte ihnen zu.
Dann war sie aufgewacht, für einen Moment oder eine Stunde, schweißnass und zitternd vor Kälte, bevor sie in den nächsten Traum geglitten war. Es kam ihr vor, als sei das immer so weitergegangen, eine Ewigkeit lang, als sei der Schlaf eine träge, fließende Masse, aus der sie ab und an auftauchte, um sich anschließend erneut von ihr fortziehen zu lassen.
Und dann hatte sie das Geräusch der Tür geweckt. Als sie die Augen öffnete, hatte sie ihn gesehen, vor ihrem Bett, einen Augenblick war das nun her oder zwei.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Sie wollte schreien, konnte aber nicht. Als ob sie vergessen hätte, wie das ging, dachte sie noch, aber da war er schon neben ihrem Bett und hatte mit einem einzigen Ruck das Laken heruntergerissen. Jetzt schrie sie, jetzt konnte sie schreien, sie versuchte, auf der anderen Seite aus dem Bett zu kommen, ihn zu treten, ihn zu schlagen, alles gleichzeitig, aber alles nützte nichts, er war über ihr, seine Hände waren überall, rissen an ihren Armen, zogen an ihrem Slip, griffen nach ihren Haaren, sie konnte ihn riechen, seinen Schweiß, wie ein Tier roch er und war auch so stark. Er presste ihre strampelnden Beine zusammen, er umklammerte ihren Oberkörper, und dann hatte er sie im Griff. Er hob sie aus dem Bett und trug sie zur Tür.
Er keuchte, sein Atem ging stoßend, als ob er bereits zuvor gerannt sei. Jetzt lief er wieder, mit ihr in den Armen, durch den Gang vor ihrem Zimmer. Nein, wollte sie schreien, nein, und dass er sie loslassen solle, jetzt, sofort, loslassen, aber schon wieder bekam sie kein Wort heraus, und stattdessen begann sie zu weinen. Der Mann sagte etwas, das sie nicht verstand. Es gelang ihr, den Kopf zu drehen und ihn einen Moment lang anzusehen, er kam ihr irgendwie bekannt vor. Wehr dich, dachte sie, wehr dich endlich! Schlag ihm ins Gesicht! Schrei um Hilfe! Sie ballte ihre rechte Faust und öffnete den Mund und wurde ohnmächtig.
Und saß in einem Sessel. Halb seitlich, die Beine hingen über eine der Lehnen. Für einen Moment brachte sie genügend Kraft auf, die Augen geöffnet zu halten. Sie bemerkte eine Glasfront neben sich, tropische Pflanzen, andere Sessel. Dann begann der Raum sich zu drehen, und sie schloss die Augen wieder. Müde, sie war so müde, ein Sog schien nach ihr zu greifen und sie hinabzuziehen. Sie wehrte sich, riss die Augen auf, sah den leeren Raum, sah niemanden. War das die Lobby? Die Lobby des Hotels? Warum hatte er sie hierhingebracht? Was hatte er mit ihr vor? Ich bin fast nackt, dachte sie, ich muss …
Sie versuchte aufzustehen, schaffte es aber noch nicht einmal, die Beine von der Lehne zu heben. Jetzt hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Hier, wollte sie rufen, ich bin hier, hier hinten, aber mehr als ein Flüstern gelang ihr nicht. Irgendwie schaffte sie es, ein Bein von der Lehne zu bekommen. Jetzt das andere, dachte sie, mach schon, du kannst das. Wieder hörte sie ihren Namen. Und ein Geräusch. Ein Dröhnen, das von überallher zu kommen schien. Das lauter wurde, immer lauter. Sie merkte noch, wie erst der Sessel unter ihr vibrierte und dann die Lobby und dann die gesamte Welt.
Dann zerbrach die Glasfront neben ihr.
»Und diesen Inspector Barnaby lieben doch auch alle. Doch, das wird funktionieren. Ganz sicher. Kein Grund zur Beunruhigung. Ich setz uns mal noch nen Kaffee auf.«
Schuler hob sich aus seinem Stuhl und schob sich am Schreibtisch vorbei Richtung Kaffeemaschine. Dass er dort jetzt erst einmal die Filtertüten suchen musste und dann das Pulver und dann zwei Tassen, gab Treffinger Zeit zum Nachdenken. Theoretisch.
Die Realität sah leider anders aus. Er war viel zu müde, um sich zu konzentrieren. Vor gut zwei Stunden war er, mit sechs Stunden Verspätung, aus Hamburg zurückgekehrt. Die übliche Wochenendfahrt, 148 Euro, Drei-Sterne-Hotel, Stadtführung, Hafenrundfahrt und mit Aufpreis Karten für den König der Löwen, Freitagnachmittag hin, Sonntagnachmittag zurück, Ankunft 23 Uhr, plusminus. Wenn alles glattlief. Wenn man nicht in einen Stau geriet. Wenn sich auf der A1 ein paar Kilometer vor einem nicht dreizehn Autos ineinander verkeilten. Sie hatten fünf Stunden gestanden, weil die Autobahn komplett gesperrt worden war und sämtliche Abschleppwagen der Umgebung anrücken mussten, um die Unfallfahrzeuge aus dem Weg zu räumen.
Anschließend waren sie eine weitere Stunde im Schritttempo gekrochen, bis der Stau sich aufgelöst hatte, und aus der Ankunft spätabends war eine frühmorgens geworden. Dann musste ausgeladen und der Bus durchgecheckt werden. Mittlerweile war es acht. Und er war noch immer nicht zu Hause, sondern saß bei seinem Chef.
Schuler hatte ihn vom Parkplatz weg direkt ins Büro gerufen; Treffinger war gerade erst ausgestiegen. Seit wie vielen Jahren arbeitete er jetzt für den Busunternehmer? Seit acht? Neun? Und wie oft war es vorgekommen, dass Schuler ihn nach einer Fahrt abgefangen hatte? Ein einziges Mal. Damals, als es einen Unfall mit einer Rentnerin gegeben hatte und sie ihre Reise um einen Tag hatten verlängern müssen. Und jetzt eben heute.
Treffinger hatte geahnt, dass sein Chef keine guten Nachrichten für ihn hatte. Und im Büro hatte Schuler gleich losgelegt: die Dumpingpreise bei den Billigfliegern, die ständigen »Für 29 Euro quer durch Deutschland«-Angebote bei der Bahn und die neuen Busunternehmen, die eigentlich genau dieser Bahn Konkurrenz machen sollten und nun auch ihnen die Kunden abluchsten. Natürlich hatte er nicht abluchsen gesagt – Schuler verwendete ein Vokabular, als sei er eigentlich Regierungssprecher. Oder Börsenanalyst. »Zielführende Entscheidungen treffen«, »alternativlose Ausgangsbedingungen«, »zeitnah handeln«, mit solchen Floskeln warf er um sich. Wenn Schuler einem mitteilen wollte, dass sein Unternehmen kurz vor dem Bankrott stand, nannte er das »eine Verschlechterung der monetären Perspektive«.
»Am Ende des Tages wird Schuler-Reisen durch die Diversifizierung des Angebotsportfolios aber wieder exzellent aufgestellt sein.« Er stellte eine Tasse vor Treffinger, an der mehrere kleine Ecken fehlten. Außerdem hatte sie Risse. Treffinger fixierte den feinen Strich, der durch die Keramik verlief, als könne er dadurch ein Zerspringen der Tasse verhindern. Er führte sie vorsichtig zum Mund. Der Kaffee schmeckte erstaunlich gut.
»Wir werden im kommenden Quartal beginnen. Mit attraktiven Angeboten außerhalb unserer normalen Produktpalette. Carla wird unsere Webseite überarbeiten.« Schuler klopfte mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm seines Computers, als sei die Webseite des Unternehmens etwas, das seine Tochter dort drinnen untergebracht habe. »Und natürlich bekommen alle unsere Stammkunden regelmäßig einen Newsletter. Ich habe vor zwei oder drei Wochen schon einen rausgeschickt. Die unmittelbare Resonanz war absolut positiv.«
»Ok, Chef.« Nach zwei, drei Schluck Kaffee fühlte sich Treffinger wieder halbwegs wach. So wach jedenfalls, dass er etwas sagen konnte zu Schulers Plänen, die er ihm in den vergangenen Minuten dargestellt hatte. Und die »Goldene Busfahrerregel Nummer 15« hatte er auch eingehalten: Lass den Chef immer ausreden, immer.
Bislang hatte Schulers Unternehmen ausschließlich Inlandstouren angeboten. Reisen wie die nach Hamburg. Wochenendausflüge, drei Tage, maximal. Das Kerngeschäft aber waren die überaus populären Tagesfahrten: Weihnachtsmärkte, Chortreffen, Ausstellungen, morgens hin, abends zurück. Und jetzt wollte sein Chef plötzlich ins Pauschalreisegeschäft einsteigen? Und dann gleich nach Irland? Wieso probierte es Schuler denn nicht zuerst mit einem Reiseziel, das ein bisschen einfacher zu erreichen war? Das Allgäu, Tirol, das Salzkammergut? Warum Schuler ausgerechnet auf Irland gekommen war, konnte sich Treffinger nicht erklären. Wenn er das mit Inspector Barnaby ernst gemeint hatte, handelte es sich eher um eine Verwechslung – die Fernsehserie spielte in England. Irland! Es gab nun wirklich genügend Auslandsziele, bei denen man nicht zuerst ein Meer überqueren musste, bevor es richtig losgehen konnte.
»Ich habe an zwei bis drei Wochen gedacht.« Schuler hatte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee eingeschenkt. »Dem Chef seine« stand auf ihr, darunter war ein Foto zu sehen, das Schuler auf einer Wiese zeigte, angestrengt lächelnd. Wahrscheinlich ein Geburtstagsgeschenk von seinen Golffreunden, dachte Treffinger. Schuler spielte regelmäßig und offenbar ziemlich gut, auf dem Sideboard links neben dem Schreibtisch standen mehrere Pokale. Treffinger konnte sich vorstellen, dass die Redeweise seines Arbeitgebers auch damit zusammenhing, dass er mehrmals in der Woche lange Stunden damit verbrachte, gemeinsam mit irgendwelchen Kreisverwaltungs- und Finanzamtsmenschen über den Golfplatz zu laufen.
»Die Touren der Mitbewerber sind meistens kürzer. Aber wir wollen uns ja abgrenzen, und die Leute wollen ja auch was sehen für ihr Geld. Eine von Carlas Freundinnen ist Spezialistin. Hat offenbar irische Geschichte studiert oder etwas ähnlich Abstruses. Und auch schon das eine oder andere Mal als Reiseleiterin gearbeitet. Carla meinte, die sei super geeignet; hat wohl auch ein Händchen im Umgang mit schwierigen Charakteren. Sie heißt … Sekunde …« Schuler griff nach einem Stoß Zettelchen neben dem Computermonitor. Treffinger entdeckte einen Lottoschein und einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel, auf dem mehrere Golfspieler zu sehen waren. »Tellke heißt die Frau.« Schuler hatte das gesuchte Post-it gefunden. »Mara Tellke. Ich habe sie angefragt, ob sie Zeit hat, die Reiseleitung zu übernehmen. Und wie viel sie für den Job haben will.«
Was wahrscheinlich der entscheidende Faktor sein wird, ob sie den Job bekommt, dachte Treffinger. Er wusste nicht, wie genau es um die finanzielle Situation der Firma stand, konnte sich aber in etwa vorstellen, wie eng es für Schuler-Reisen in den vergangenen Monaten geworden war. Was überhaupt nichts mit den Kunden zu tun hatte. Bei so gut wie allen Fahrten, die Treffinger in den vergangenen Wochen gemacht hatte, war sein Bus bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Oft genug gab es eine Warteliste mit Interessenten. Bei den Spottpreisen, die Schuler für solche Touren verlangte, um gegen die neue Fernbuskonkurrenz anzukommen, war das aber nicht weiter verwunderlich. 30 oder 40 Euro für eine Tagesfahrt konnten sich viele leisten. Die 148 Euro für ein Wochenende Hamburg mit zwei Übernachtungen waren mit Sicherheit auch äußerst knapp kalkuliert. Und weil Schuler solche Trips minutiös plante und es so gut wie immer schaffte, einen charismatischen oder zumindest sehr sympathischen Reiseführer aufzugabeln, bekamen die Leute einiges für ihr Geld. Dementsprechend viele Stammgäste hatten sie. Und dementsprechend mager fiel der Gewinn wahrscheinlich aus. Am Ende des Tages, wie Schuler sagen würde.
»Und wie soll das ablaufen? Setzen wir die Leute hier schon in den Bus und nehmen sie mit auf die Fähre?« Treffinger stellte sich vor, wie er mit einem Bus voller Rentner in den Wellen der Irischen See unterwegs war. Es war keine besonders Mut machende Vision. Überhaupt gefiel ihm die Idee nicht besonders, und je mehr Details er von Schuler erfuhr, desto mehr sträubte sich etwas tief in ihm drin gegen eine solche Reise. Er fuhr gerne Bus, sehr gerne, und er fuhr auch gerne für Schuler, aber mal im Ernst: Zwei oder drei Wochen? Im Ausland? Verantwortlich für dreißig Passagiere?
Treffinger hatte sehr lange gebraucht, bis er sich mit den Wochenendfahrten hatte anfreunden können. Hotels in lauten Innenstädten, fremde Betten, schlechte Matratzen und schon vor dem ersten Schluck Kaffee morgens die ersten Probleme – das alles empfand er als sehr anstrengend. Am liebsten war er bei den Tagestouren von Schuler-Reisen im Einsatz, bei denen war er abends wieder zu Hause und konnte in seinem eigenen Bett übernachten. Und jetzt wochenlang Irland? Und womöglich noch per Fähre?
»Ja, so habe ich mir das gedacht. Eine Anreise mit dem Flugzeug wäre viel zu teuer, ich habe das durchgerechnet.« Schuler stellte die Tasse ganz an den Rand des Schreibtisches, auf dem es zwischen Papierstapeln, Zeitungen und Prospekten nirgendwo sonst einen Platz für sie gab. Er begann, in den Papierbergen nach etwas zu suchen. »Ich hab dir mal eine Liste zusammengestellt … mit denen, die sich bereits gemeldet haben. Ein paar Leute müsstest du schon kennen.«
»Chef? Können wir das morgen besprechen?« Treffinger merkte, wie er unruhig wurde. Und ungeduldig. Das kam bei ihm nur in zwei Situationen vor: wenn er lange Zeit nichts gegessen hatte, und wenn er vollkommen übermüdet war. Gerade im Moment traten beide Auslöser gemeinsam auf. Dazu kamen seine immer stärker werdenden Vorbehalte gegen die geplante Reise. Alles, was er jetzt wollte, war ein deftiges Frühstück und anschließend sein Bett. Alles, was Schuler wollte, war die Liste mit den möglichen Passagieren.
»Sekunde. Irgendwo muss sie sein.« Schuler hatte begonnen, komplette Stapel hin und her zu schichten. Sobald die neuen Gebilde dreißig oder vierzig Zentimeter hoch waren, begannen sie, langsam zu verrutschen. Wenn das so weitergeht, findet er am Ende überhaupt nichts mehr, dachte Treffinger. Er wünschte sich, Schuler würde es an dieser Stelle gut sein lassen. Es gab nämlich auch Stammgäste, deren Namen Treffinger in seinem momentanen Zustand nicht gerne lesen würde.
»Ah, da ist sie ja!« Schuler reichte ihm ein Blatt, auf dem eine lange Reihe Namen stand. Treffinger überflog sie. Theo Mannweiler, Heiko Tamm, Erika Schellgang, sagte ihm alles nichts. Winfried Hoxheimer, Gudrun und Claudia Salm sowie Josefine Weber ebenfalls nicht. Offenbar hatte Schuler sich da tatsächlich eine neue Klientel erschlossen. Weiter unten entdeckte er dann Namen, die er kannte. Die Wagners. Maier und Stern, zwei äußerst anstrengende Amateurfotografen. Die Rosshofers. Das Ehepaar Brandt und die Mariakrönchen, klar, die durften natürlich nicht fehlen. Treffinger nannte die vier alten Damen insgeheim so, seit er sie vor Jahren einmal dabei beobachtet hatte, wie sie auf einem windigen Parkplatz an einer norddeutschen Autobahn heimlich eine Flasche besagten Weinbrands und vier Plastikbecher aus ihren Handtaschen hervorgeholt hatten. Er stellte sich vor, wie die Freundinnen in eine irische Whiskey-Destillerie einfallen würden. Vorneweg die zwei, die mit ihren Stöcken noch ganz gut zu Fuß waren, dahinter die beiden anderen mit ihren Rollatoren. Flankiert von seiner Tante. Die stand nämlich auch auf der Liste.
Emmy Klarwein war über achtzig und Stammkundin bei Schuler-Reisen. Seit ihr Neffe bei der Firma war. Natürlich erzählte sie jedem von ihrem Verwandtschaftsverhältnis zu dem »jungen Mann, der uns chauffiert«. Dazu gab es immer neue Anekdoten von Geschehnissen aus seiner Kindheit, an die sich Treffinger in der Regel nicht erinnern konnte. Wahrscheinlich waren die meisten frei erfunden. Tante Emmy konnte manchmal ziemlich anstrengend sein. Treffinger mochte sie trotzdem sehr. Er hatte ihr viel zu verdanken.
»Da sind bestimmt eine Menge Bekannte dabei, oder?« Schuler hatte begonnen, die Papierstöße auf seinem Schreibtisch in Ordnung zu bringen. Er sah seinen Busfahrer erwartungsvoll an.
»Ja. Einige. Aber viele Namen sagen mir gar nichts. Sieht ganz so aus, als hättest du deinen Kundenstamm tatsächlich vergrößert.« Er beschloss, Schuler erst einmal nichts von seinen Einwänden zu sagen. Das konnte er immer noch morgen machen, dachte er. Wenn er ausgeschlafen hatte.
»Durch Portfolio-Erweiterung neue Marktsegmente erschließen«, sagte Schuler. »Man muss eben seine Hausaufgaben machen.«
»Was heißt das: Du willst nicht? Wer soll uns denn sonst fahren?«
»Das ist mir ehrlich gesagt egal. Es gibt ja noch ein paar andere, die für dieses Unternehmen arbeiten … Schuler soll eben … oh … Warte mal einen Augenblick …«
Treffinger legte den Hörer aufs Sofa, ging auf die Knie und hielt unter dem Tisch nach der Olive Ausschau, die ihm von der Gabel gerollt war. Natürlich war sie nirgendwo zu sehen. Warum nur hatte er sich bei seinem hektischen Wohnungswechsel damals diesen verdammten Teppich von seinem Vormieter aufschwatzen lassen? Und warum hatte er das Ding seitdem noch nicht ausgetauscht? Die Maschen waren so lang, dass selbst Münzen spurlos zwischen ihnen verschwanden, als wären sie in hohes Gras gefallen. Der fliegt demnächst raus, dachte er, während er zwischen den Maschen herumfingerte, ich brauche was Neues. Er entdeckte den verschollenen Stöpsel seines Ohrhörers und eine Kaper von der letzten oder vorletzten Pizza. Keine Olive. Also gut, dachte er, ich suche dich später. Er setzte sich zurück aufs Sofa.
»Bin wieder da. Entschuldige. Also: Ich finde, das soll jemand anderes machen. Nach Irland fahren.«
Walter zum Beispiel, dachte Treffinger, für den wäre das genau das Richtige. Walter war einer von Schulers Aushilfsfahrern, ein Zwei-Zentner-Mann, mit Bierbauch, Hosenträgern und jener stoischen Gelassenheit, die man braucht, um eine seit Jahrzehnten nörgelnde Ehefrau zu ertragen – den würde auch auf einer mehrwöchigen Tour nichts aus der Ruhe bringen. Anders als ihn selbst.
»Zwei oder drei Wochen durch Irland – das ist mir zu anstrengend. Wenn ich mir vorstelle, was da alles schiefgehen kann … nein, danke. Das tue ich mir nicht an.«
»Was soll denn da schiefgehen? Du kennst den Bus doch in- und auswendig. Und ob du jetzt an einer irischen Burg einen Stopp einlegst oder irgendwo am Rhein, das macht doch keinen Unterschied.«
»Darum geht es mir auch überhaupt nicht. Mit dreißig älteren und – verzeih! – alten Herrschaften durch ein Land zu fahren, in dem sich die meisten wahrscheinlich nur radebrechend verständigen können – um das geht es mir. Um Notfälle aller Art.«
»Notfälle? Wie oft gab es denn auf deinen Touren schon Notfälle? Mein lieber Thomas, jetzt überleg doch mal! Was du alles verpassen würdest! Das muss ein ganz bezauberndes Land sein, dieses Irland.«
»Ist es bestimmt. Aber wenn ich mir ein Land anschauen möchte, kann ich da auch in meinem nächsten Urlaub hinfahren.«
»Was du aber ja nicht machst. Du unternimmst doch nie was. Bleibst doch immer nur zu Hause, wenn du frei hast. Sitzt immer bloß auf dem Sofa. Wann bist du denn das letzte Mal verreist? Seit damals überhaupt schon?«
Bin ich nicht, dachte Treffinger. Sagte es aber nicht.
»Du bist doch noch jung, du musst doch noch was von der Welt sehen! Zu Hause hocken kannst du auch noch, wenn du alt bist. Da bleibt Zeit genug für sowas.«
Treffinger stocherte mit der Gabel in einem Rührei herum, das längst kalt geworden war. Das Telefon hatte geklingelt, unmittelbar nachdem er sich nach seiner Rückkehr von Schuler im Wohnzimmer aufs Sofa gesetzt hatte. Seine Tante schien einen sechsten Sinn dafür zu besitzen, wann ihr geliebter Neffe zu Hause eintraf. Mindestens einmal in der Woche rief sie ihn an. Um ihm zu erzählen, was sich seit ihrem letzten Telefonat alles an Ungeheuerlichkeiten im Leben der Emmy Klarwein zugetragen hatte. Wer aus ihrem komplett unübersichtlichen Bekanntenkreis von welcher Krankheit erwischt worden war, dass um die Ecke ein neuer Discounter eröffnet hatte und der Frisör doch tatsächlich schon wieder fünf Euro mehr verlangte. Und das, obwohl die Andrea mittlerweile nicht mehr dort arbeitete und stattdessen diese Mandy sie frisierte, die das nun wirklich überhaupt nicht konnte, kein Talent, kein bisschen – solche Sachen erzählte sie ihm. Normalerweise. Nun aber befand sie sich auf einer Mission.
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, natürlich.«
»Und du sagst nichts, weil du insgeheim weißt, dass ich recht habe, oder?«
»Ich sage nichts, weil ich über deinen Satz nachdenke. Dass man im Alter noch genug Zeit hat, zu Hause zu bleiben. Dass du das beste Gegenbeispiel dafür bist.«
»Ich bin ja auch noch nicht alt. Zumindest fühle ich mich nicht so.«
Schon klar, dachte Treffinger. Locker über achtzig, aber so tun, als müsse man irgendwann demnächst mal den 60. Geburtstag planen. Er bewunderte das an seiner Tante.
»Bist du noch da?« Obendrein klang Tante Emmy auch noch jung, fiel ihm auf. »Schaust du etwa Fernsehen? Hast du einen dieser Wildwestfilme laufen, während du mit mir telefonierst? Glaub ja nicht, dass ich so etwas nicht mitbekomme!«
»Nein, der Fernseher ist aus. Und ja, ich bin noch da.«
Seine Tante hatte seine Leidenschaft für Western noch nie nachvollziehen können. Treffinger liebte solche Filme seit seinen Kindheitstagen. An Sonntagen hatte er so lange gequengelt, bis er sich den – natürlich immer jugendfreien – Western ansehen durfte, den das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Nachmittagsprogramm zeigte. Abends hatte er heimlich Groschenromane von C. F. Unger unter der Bettdecke gelesen. Bis heute versorgte er sich mit zwei oder drei neuen Heften, bevor er auf Bustour ging. Außerdem besaß Treffinger eine ziemlich umfangreiche Sammlung an Hollywood-Klassikern auf DVD. Er konnte komplette Dialoge mitsprechen. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er bestimmte Situationen in Gedanken mit einem Zitat aus einem Western kommentierte.
»Wenn du noch da bist, dann sprich bitte mit mir, mein lieber Thomas. Das macht man so, wenn man telefoniert.«
»Stimmt. Pass auf, ich überlege es mir nochmal, ok?«
»Na also! Das freut mich sehr, dass du die Tour jetzt doch übernehmen willst. Das ist wunderbar! Dann kommst du endlich mal raus aus deinem Trott.«
»Emmy, ich hab doch gar nicht …«
»Das wird dir gefallen, da bin ich mir sicher. Und wer weiß schon, was alles passieren wird? Reisen in die weite Welt können einen verändern, mein lieber Thomas. Lass es dir von deiner Tante gesagt sein: Die können ein ganzes Leben verändern.«
Ein paar Stunden später, nachdem er geschlafen und geduscht hatte, saß Treffinger auf seinem Sofa, nippte an einem Whiskey und blätterte in Heinrich Bölls Irisches Tagebuch. Dass er die Ausgabe noch irgendwo haben musste, war ihm kurz nach dem Telefonat mit seiner Tante eingefallen. Er hatte das Buch dann schneller im Regal entdeckt als die verlorene Olive, die sich nicht im Teppich verfangen hatte, sondern unter das Sofa gerollt war. »Thomas Treffinger, September 1984« stand vorne auf der ersten Seite. Früher hatte er das Kaufdatum in jedem neuen Buch vermerkt. Wenn er Jahre später diese Daten sah, kamen meistens Erinnerungen in ihm hoch, und er fühlte sich in der Zeit zurückversetzt. Mitte der Achtziger, das war seine Böll-Phase gewesen. Damals hatte er alles gelesen, was der Mann geschrieben hatte. Der Schriftsteller, über den heute niemand mehr sprach und der wahrscheinlich auch kaum noch gelesen wurde, war damals ungemein populär gewesen. Treffinger hatte ihn einmal live erlebt, ein kleiner, beinahe unscheinbarer Mann mit schräg sitzender Baskenmütze, bei einer Kundgebung in Bonn, wo Böll zusammen mit anderen Prominenten gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert hatte. Treffinger konnte sich erinnern, wie still die Menschenmenge gewesen war, als der Schriftsteller ans Mikrofon trat. Dass 300 000 Menschen ihm wie gebannt zugehört hatten. Jetzt bekam man seine Bücher für zehn Cent über Amazons Secondhand-Plattform. Plus drei Euro Versandkosten.
In den Fünfzigern hatte Böll mehrere Sommer auf einer Insel im Westen Irlands verbracht und später besagtes Tagebuch veröffentlicht. Treffinger erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass der Schriftsteller in den wenigen Kurzgeschichten des Bandes die Seele des Landes erfasst hätte. Er klappte das Taschenbuch hinten auf. 144 Seiten. An keine konnte er sich erinnern. Na gut, dachte er. Deine Westernfilme kennst du ja mittlerweile. Und wenn du schon nach Irland sollst, dann kannst du das hier auch noch mal lesen. Vielleicht überzeugt es dich ja.
Sechs Wochen später parkte Treffinger seinen klapprigen Fiat Cinquecento auf dem Firmengelände seines Arbeitgebers. Bereits um kurz nach sieben am Morgen herrschte eine derartige Schwüle, dass man den Eindruck haben konnte, irgendetwas schnüre dem Tag die Luft ab. Aus den Kronen der Platanen, in denen um diese Uhrzeit normalerweise eine Armada Vögel randalierte, hörte man keinen Pieps. Hinter dem Flachbau mit dem Schuler-Reisen-Schriftzug türmten sich mächtige Gewitterwolken. In die andere Richtung sah der Himmel farblich aus, als sei ihm schrecklich übel. Ein heftiger Windstoß rüttelte an den Platanen.
Eine Stunde später war die Schwüle kaum noch auszuhalten. Treffinger öffnete einen weiteren Knopf an seinem Diensthemd: hellblau, Button-down-Kragen, dezentes Unternehmenslogo auf der Brusttasche. Und wahrscheinlich ein Sonderangebot, jedenfalls pappte es unangenehm an der Haut, sobald man zu schwitzen begann. Der Mai war auch schon mal kühler, dachte Treffinger – gerade mal acht Uhr, und das waren jetzt garantiert schon über 25 Grad. Aber nach allem, was er über das Wetter in Irland gelesen hatte, würden hohe Temperaturen so ziemlich das Letzte sein, was sie in den kommenden Tagen zu erwarten hatten.
Die ersten Passagiere waren kurz nach ihm eingetroffen. Viel zu früh und viel zu aufgeregt. Nach und nach hatte Treffinger Koffer, Reisetaschen sowie Rollatoren verstaut. Mara Tellke, ihre Reiseleiterin, würde erst später an einer Raststätte zusteigen, deswegen hatte er auch schon etliche Fragen beantworten müssen. Jetzt lehnte er mit verschränkten Armen neben den geöffneten Ladeklappen und sah einer jungen Katze zu, die mit den dürren Ästen spielte, die der Wind aus den Bäumen gerissen hatte. Die allermeisten Passagiere saßen bereits im Bus und warteten darauf, dass die Fahrt beginnen würde. Allerdings fehlten noch zwei Reiseteilnehmer. Treffinger sah hinauf zum Himmel und dann auf seine Uhr. Noch fünf Minuten bis zur offiziellen Abfahrtszeit.
Vor etlichen Jahren hatte Schuler entschieden, seine Kunden nicht an diversen Sammelpunkten abholen zu lassen, für deren Anfahrt seine Fahrer quer durch die Stadt fahren mussten. Stattdessen bot er ihnen kostenlose Parkplätze auf dem Firmengelände im Industriegebiet an. Wer nicht mit dem eigenen Auto kommen und sich nicht absetzen lassen wollte, konnte einfach den Linienbus an den Rand der Stadt nutzen: Die 74 hielt gleich gegenüber.
Es dauerte, bis Tante Emmy ausgestiegen war. Natürlich, dachte Treffinger, als er sah, dass sie sich noch auf den Stufen des Fahrzeugs mit dem Linienbusfahrer unterhielt, wahrscheinlich muss sie ihm noch schnell erzählen, wie untalentiert ihre neue Frisörin ist. Der Fahrer der 74 sah auf seine Uhr und nickte. Er stand auf, ging nach hinten in den Bus, kam mit einem Koffer zurück, trug ihn die Stufen hinunter und platzierte ihn auf dem Gehsteig. Treffinger sah, wie seine Tante den Unterarm des Mannes tätschelte.
Und natürlich hatte sie ihren Neffen bereits entdeckt. Zielstrebig kam sie auf ihn zu, Handtasche über der Schulter, eine Hand am Rollkoffer, die andere an einem imposanten dunkelroten Hut, den sie festhielt, damit der Wind ihn ihr nicht vom Kopf blies. Tante Emmy trug eine der Kombinationen, die Treffinger Queen-Lisbeth-Kostüme nannte und von denen sie eine reichliche Auswahl besaß. Für die Fahrt nach Irland hatte sie ein hellbraunes Modell gewählt, das Treffinger noch nicht kannte.
»Da sieht man nicht alles drauf, mein lieber Thomas, so eine gedeckte Farbe ist dankbar auf einer Reise.« Offensichtlich hatte sie seinen Blick bemerkt. »Ich weiß, dass dir das taubenblaue besser gefällt. Das ist im Koffer.«
Emmy umarmte ihn. Wie immer roch sie nach Kölnisch Wasser. Und wie immer wurde er nach der Begrüßung als Erstes aufmerksam inspiziert. Emmys Habichtblick fürchtete er seit seiner Kindheit.
»Hast du das nicht heiß genug gebügelt?« Tante Emmy strich seinen Hemdkragen glatt. »Mit dem Kragen musst du anfangen, dann die Knopfleiste, dann den Rest. Am besten machst du auch alle Knöpfe zu, wenn du das Hemd zum Trocknen auf einen Bügel hängst.« Sie trat einen Schritt zurück und zog die Augen zusammen, als habe noch etwas ihr Missfallen erregt. Die Tätowierung, dachte Treffinger, er hatte einen Knopf zu viel geöffnet. Oder die Koteletten, auch möglich. Wahrscheinlich würde das nie aufhören. Seine Tante kommentierte sein Äußeres noch immer so, als sei er elf oder zwölf. Gleich würde sie ihm wahrscheinlich die Haare aus der Stirn streichen. Zum Glück kam Schuler soeben aus dem Büro. Mit einem Klemmbrett, auf dem er die Teilnehmerliste befestigt hatte. Er reichte Treffingers Tante die Hand.
»Frau Klarwein! Seien Sie gegrüßt! Sie sehen jedes Mal jünger aus, wenn ich das sagen darf.« Schuler schaute auf sein Klemmbrett und verpasste so den Blick, mit dem Tante Emmy sein zerknittertes Kurzarmhemd bedachte, das ihm halb aus der Hose hing. »Jetzt warten wir nur noch auf einen Passagier … Tamm, Moment … Heiko Tamm. Wieso ist der denn noch nicht da?«
Schuler blickte zum Himmel, der sich mittlerweile gelblich-grau verfärbt hatte. Eine Böe fuhr in die Platanen, die hin und her schwankten und dabei ächzten. Das wird gleich krachen, dachte Treffinger, und zwar ordentlich. Die Katze unter den Bäumen war von all dem unbeeindruckt und tat so, als sei ein Stück Baumrinde eine Maus, die unbedingt gefangen und zerlegt werden müsse. Eine neue Böe fegte ein steifes, zerfetztes Blatt Papier über den Parkplatz, offenbar ein abgerissenes Plakat für einen Zirkus. Die Reste eines gemalten Clownsgesichts grinsten, als das Plakat vorbeiwirbelte.
Heiko Tamm traf dann mit fast einer Viertelstunde Verspätung ein. In einem Taxi. Ihm sei noch etwas Geschäftliches dazwischengekommen, entschuldigte er sich, als er seinen Koffer vor dem offen stehenden Gepäckfach abstellte. Schuler, der einer kleinen Gruppe männlicher Passagiere vor dem Bus gerade erklärte, wie man eine Pauschalreise organisiert (»Kaltakquise«, »Gegengeschäft im Anzeigensektor«, »antizyklische Buchungsmechanismen«), begrüßte den verspäteten Kunden erleichtert. Er kämpfte kurz mit den flatternden Blättern auf seinem Klemmbrett und hakte dann den letzten Namen auf seiner Liste ab. In diesem Moment fielen die ersten dicken Tropfen. Ruckartig drückte Schuler das Klemmbrett gegen den Oberkörper, als halte er ungemein wertvolle Dokumente in den Händen.
»Kann passieren. Hauptsache, Sie sind jetzt da.« Der Busreiseunternehmer gab Tamm die Hand.
»Aber hätten Sie denn nicht zumindest anrufen können?« Ein Mann mit lang gezogenem Gesicht und abstehenden Ohren wandte sich an Tamm. Einer, der Schulers Vortrag gelauscht hatte. »Immerhin warten hier 29 Personen seit geraumer Zeit auf Sie!«
»Tut mir leid.« Heiko Tamm hob entschuldigend die Hand. »Ich bin einfach zu spät losgekommen.«
»Und da konnten Sie nicht mal kurz anrufen? Wir haben doch alle gesehen, dass Sie mit dem Taxi gekommen sind! Da kann man sich doch einfach kurz melden!«
Du lieber Gott, dachte Treffinger. Wir sind noch nicht mal im Bus, und schon gibt es den ersten Streit. Er sah zu Schuler. Schuler sah zum Himmel. Es blitzte. Kurz darauf donnerte es laut. Weit entfernt ist das nicht mehr, dachte Treffinger.
»Die Unterlagen mit der Telefonnummer waren im Koffer.« Heiko Tamm zog ein schuldbewusstes Gesicht. »Im Kofferraum. Wir sind über die Autobahn gekommen, da konnte man nicht einfach so anhalten.«
»Natürlich kann man das. Auf dem Standstreifen. Der ist für solche Notfälle. Ich finde, das ist ein Gebot der Höflichkeit. Dass man kurz Bescheid sagt, dass man später kommt.«
»Er hat sich doch soeben entschuldigt, Herr Mannweiler.« Schuler versuchte, die Männer mit ausgebreiteten Armen zum Einsteigen zu bewegen. Die Männer blieben wie angewurzelt stehen.
»Ja, aber nur bei Ihnen.« Der Passagier, der Mannweiler hieß, hob zur Betonung seiner Worte einen Zeigefinger in die Luft. »Nur bei Ihnen. Gewartet haben wir aber alle!«
»Schluss jetzt!« Ein anderer Reiseteilnehmer fuhr unvermittelt dazwischen, ein älterer, drahtiger Herr mit weißen Haaren und merkwürdig schrägem Pony. »Jetzt reden Sie mal nicht so ein dummes Zeug!« Die Stimme des Mannes zitterte vor Erregung. Er machte einen Schritt auf Mannweiler zu; an seinen Schläfen waren die Adern hervorgetreten.
Mannweiler wich erschrocken zurück. Tamm nickte Schuler zu und stieg in den Bus, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Mannweiler folgte ihm wortlos, ebenfalls schweigend. Bebend sah der Weißhaarige ihnen nach. Als die beiden eingestiegen waren, ging auch er zur Bustür. Das wird was werden, dachte Treffinger, als er die drei durch die Fenster zu den freien Plätzen im hinteren Teil gehen sah, hoffentlich sitzen die nicht zu eng beieinander.
»So, darf ich Sie jetzt alle bitten einzusteigen?« Schuler schob die übrigen Männer nun energisch Richtung Tür. »Ich würde vorschlagen, Sie gehen in Dublin alle zusammen ein Versöhnungsbierchen trinken, was meinen Sie?«
Und dann saßen endlich alle im Bus, und der Bus – blieb stehen. Über dem Parkplatz von Schuler-Reisen ging an diesem Morgen im Mai eines der heftigsten Gewitter nieder, an das sich Treffinger erinnern konnte. Das Unwetter musste mehr oder weniger genau über ihnen sein. Die Blitze waren gleißend und grell, die Donnerschläge krachten ohrenbetäubend. Aus den Windböen war ein Sturm geworden, der derart heftig an ihrem Bus rüttelte, dass die Teilnehmer der ersten Auslandsfahrt von Schuler-Reisen mehrmals entsetzt aufschrien, zumindest die weiblichen, zumindest einige.
Der Regen ließ so plötzlich nach, wie er zuvor eingesetzt hatte. Treffinger startete den Motor und schaltete die Scheinwischer an. Da wird der Chef die nächsten Tage ordentlich was zu tun haben, dachte er beim Anblick all der abgebrochenen Zweige und Äste, die auf dem Parkplatz lagen. Dann steuerte er den Bus aus der Ausfahrt hinaus auf die Straße, Richtung Irland. Vorbei an einem dicken Ast, unter dem der Schwanz der kleinen Katze hervorschaute, was Treffinger aber zum Glück nicht sah.
»Wer möchte, kann sich gerne noch die Füße vertreten. Wie schon gesagt, sind wir hier ziemlich zentral untergebracht, man ist in zehn Minuten mitten in der Stadt. Aber bitte daran denken: Abfahrt morgen früh ist um halb neun.«
Zwei Reisetage später stand Mara Tellke nachmittags inmitten ihrer Passagiere in der Hotellobby und bemühte sich, Fragen zu beantworten, andere ins Englische zu übersetzen und Taschen aus dem Weg zu räumen. »Wir haben morgen einiges vor«, erklärte sie, »und für Dublin ist auch am Ende unserer Reise noch Zeit. Dann sind wir ja noch einmal hier!«
Bis auf die Rosshofers und die Brandts hatten mittlerweile alle ihre Zimmerschlüssel. Die beiden Paare standen nicht auf der Liste, die der Hotelangestellte an der Rezeption gerade zum etwa siebten Mal kontrollierte, und sie standen auch nicht im Buchungssystem des Computers. Mara Tellke hatte die entstehende Unruhe bemerkt und versuchte nun, alle übrigen Reiseteilnehmer auf ihre Zimmer zu schicken oder zum Bummeln in die Stadt. Die Reiseleiterin war solche Situationen offenbar gewöhnt und wusste, dass man sie keinesfalls löste, indem man dreißig aufgeregte Touristen vor einer Rezeption stehen ließ, hinter der sich die Angestellten des Hotels konzentrieren mussten.
Während ihrer bisher zwei gemeinsamen Tage hatte Treffinger bereits einige Male bemerkt, dass die junge Frau mit den leicht orientalischen Gesichtszügen einen ziemlich kompetenten Eindruck machte, wenn es um organisatorische Dinge ging. Mara Tellke schien ein ausgesprochen gutes Gespür dafür zu haben, atmosphärische Störungen im zwischenmenschlichen Bereich aufzuspüren und abzustellen, bevor sie zu größeren Problemen wurden. Bei sämtlichen Stopps war es ihr gelungen, kleine Streitigkeiten im Keim zu ersticken. Sie hatte eine Diskussion zwischen den Wagners elegant beendet (Frau Wagner hatte herausgefunden, dass ihr Mann das Dachfenster zu Hause nicht geschlossen hatte) und bei unzähligen Bestellungen übersetzt und vermittelt (wie erwartet sprachen etliche der Irlandreisenden so gut wie kein Englisch). Als die beiden Stammgäste Maier und Stern auf der Fahrt durch Wales wollten, dass der Bus einen Umweg über einen Ort mit dem absurden Namen Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch machen sollte, hatte Mara salomonisch entschieden: Umweg: ja, längerer Stopp: nein. Tatsächlich hatten die beiden Meisterfotografen dann nicht länger als fünf Minuten für ihre wahrscheinlich bahnbrechenden Kunstaufnahmen des Ortsnamenschriftzugs benötigt. Anschließend ließen sie sich von ihrer Reiseleiterin zurück in den Bus dirigieren und waren dabei bester Laune.
Treffinger fand das alles umso bewundernswerter, weil Mara Tellke sonst eigentlich einen unkonzentrierten, fahrigen Eindruck machte. Schon als sie kurz nach ihrer Abfahrt an einer Autobahnraststätte zugestiegen war, hatte sie auf ihrem Handy herumgetippt. Auf der langen Fahrt nach Irland hatte es dann kaum einen Moment gegeben, an dem sie nicht zu telefonieren schien. Oder sie schickte SMS oder WhatsApps, und jedes Mal musste es sich ihrem Gesichtsausdruck zufolge dabei um eine dringliche, sensible Kommunikation handeln. Weil sie auf dem Sitz auf der anderen Gangseite saß, hatte Treffinger die eine oder andere Unterhaltung bruchstückhaft mitbekommen. Er wusste jetzt, dass Mara Tellke ein Kind hatte, das bei seiner Großmutter wohnte, solange die Mutter unterwegs war. In ihrer Wohnung gab es Probleme mit einem Wasseranschluss. Und offensichtlich spielten auch zwei oder drei Männer eine mehr oder weniger wichtige Rolle im Leben der Reiseleiterin. Und genauso offensichtlich war diese komplexe Gemengelage der Grund für all ihre Telefonate.
»So, alles erledigt.« Sowohl das Ehepaar Rosshofer als auch das Ehepaar Brandt waren soeben im Buchungssystem lokalisiert worden und erhielten ihre Zimmerschlüssel. Mara legte der sichtlich erleichterten Rosemarie Rosshofer den Arm um die Schultern. Norbert Rosshofer bedankte sich in unbeholfenem Englisch beim Rezeptionisten. Treffinger, der sämtliche Koffer aus dem Bus geholt und fein säuberlich im Foyer aufgereiht hatte, drückte den vier Passagieren ihr Gepäck in die Hand. Als sich die Aufzugstür hinter den beiden Paaren schloss, atmete er tief durch. Dann ging auch er zur Rezeption und ließ sich seinen Zimmerschlüssel geben. Mit einem »bis morgen früh« verabschiedete er sich von Mara und ging die Treppe hinauf in den ersten Stock. Himmel, war er müde.
Trotz des holprigen Starts und kleineren Reibereien unterwegs war ihre lange Anreise eigentlich problemlos verlaufen. Bis Calais waren sie staufrei durchgekommen und so frühzeitig an der Fähre, dass sämtliche Möwen in diesem Teil Frankreichs von den Passagieren mit Keksen versorgt werden konnten. Auf der Fahrt hinüber nach Dover hatte Treffinger tief und fest geschlafen und den Bus anschließend durch Kent, an London vorbei und bis Coventry gefahren, wo sie übernachtet hatten. Am folgenden Morgen waren sie nach Holyhead in Wales aufgebrochen. Dort legten die Fähren hinüber nach Irland ab. Sechs Stunden später war der Bus in Dublin.
Viele der Tages- und Wochenendtouren, die Treffinger in den vergangenen Jahren absolviert hatte, waren sich auf eine bestimmte Art ähnlich gewesen. Wenn sie frühmorgens losfuhren, zur Johannisnacht nach Mainz oder später im Jahr zum Christkindlmarkt nach Nürnberg, herrschte im Bus meistens dreißig, vierzig Minuten lang eine ausgelassene Heiterkeit. Dann nickten die ersten ein, irgendwer begann, leise zu schnarchen, und eine halbe Stunde später herrschte meistens Stille im Bus.
Das war die Phase, die Treffinger liebte: am Steuer, hoch über der Straße, den Tag vor sich, ein Lied im Kopf. Weil seine Passagiere fast immer Schlagerfans waren, hatte er es sich angewöhnt, am Abend vor jeder Fahrt seine Lieblingsalben zu hören, Bing Crosby, Chet Baker, viel vom frühen Sinatra, und die Lieder unbewusst irgendwo im Kopf abzuspeichern. Derart vollgepumpt mit solchen Klassikern ertrug er die musikalischen Vorlieben seiner Passagiere besser: Andrea Berg. Helene Fischer. Semino Rossi. Schuler hatte den Bus mit einem Stapel CDs ausgestattet und dabei etwas von »Kundenbindung« und »zielgruppenadäquaten Ausstattungsmerkmalen« erzählt. Jedes Mal, bevor Treffinger eine Fahrt begann, ließ er die größten Erfolge der Damen Berg und Fischer zusammen mit allen anderen verschwinden. Was nicht immer etwas half. Die Stammgäste von Schuler-Reisen brachten ihre Lieblingsaufnahmen nämlich gerne auch mit. Auf selbstgebrannten CDs, die sie mit Edding beschriftet hatten.
Es gab Touren, bei denen einige Passagiere bereits am Vormittag Alkohol tranken. Die Mariakrönchen hatten regelmäßig Piccolos dabei, die bis zur Mittagszeit geleert wurden (ihr Namensgeber-Getränk nahmen die vier erst ab dem Nachmittag zu sich). Manche männlichen Passagiere besorgten sich an der ersten Raststätte Dosenbier und Kurze. Hin und wieder gab es auch Touren, auf denen Treffinger das charakteristische Plopp von gezogenen Weinflaschenkorken hinter sich hörte.
Dieses Mal aber war es außergewöhnlich gesittet zugegangen. Über lange Fahrstunden hatte eine angenehme Ruhe im Bus geherrscht. Als ob die Leute Kraft sammelten für die kommenden Tage, hatte Treffinger mehrfach gedacht. Die Mariakrönchen saßen weit hinten und waren so schweigsam, dass Treffinger jedes Mal überrascht war, wenn er das Damenquartett während einer Rast bemerkte. Die Rosshofers und die Brandts schienen durchgehend zu schlafen, im Rückspiegel konnte man die offenen Münder der Herren sehen. Selbst Maier und Stern waren ungewöhnlich still. Sie saßen auf den Plätzen unmittelbar hinter dem Fahrersitz und unterhielten sich leise über Speicherkarten und neue Spiegelreflex-Modelle.
Die Neuen konnte Treffinger noch nicht wirklich einschätzen. Die meisten schienen ganz in Ordnung zu sein. Andere konnten sicherlich anstrengend werden, wenn die Reise nicht so verlief, wie sie sich das gedacht hatten. Der weißhaarige Choleriker zum Beispiel. Oder der Typ mit den abstehenden Ohren, der sich vor der Abfahrt so echauffiert hatte. Wie hieß der noch mal? Mannheimer oder so? Das war auch so ein Kandidat. Typ notorischer Besserwisser. Und vorlaut dazu. Könnte früher Oberstudienrat gewesen sein, Latein und Altgriechisch wahrscheinlich. Während der Fahrt war er mehrere Male nach vorne gekommen und hatte Treffinger in Gespräche zu verwickeln versucht. Am Übergang zur Fahrerkabine klebte ein großes Schild: »Während der Fahrt sind Unterhaltungen mit dem Fahrer nicht gestattet!«, aber daran hatte sich noch kein Passagier gehalten, der sich gerne während der Fahrt mit dem Fahrer unterhalten wollte. Und Mannweiler schon gar nicht. Bereits auf der Strecke durch das Ruhrgebiet hatte er sich über die Polsterung seines Sitzes beschwert und darüber, dass auch die deutsche Reisebusindustrie immer öfter in China fertigen lasse. Später hatte er versucht, Treffinger in ein Gespräch über diverse Autobahnmautmodelle zu verwickeln. Als sie durch Wales fuhren, war die britische Energiepolitik unter Margret Thatcher Thema gewesen und das, was Mannweiler »Großmannsuchtgehabe einer ehemaligen Weltmacht« nannte. Treffinger fand es bemerkenswert, dass sich der Mann Einzelheiten der abwegigsten Themenbereiche merken konnte, aber offensichtlich nicht den Namen seines Busfahrers: Dieser Mannweiler nannte ihn Pletzinger oder Nettinger oder irgendwie sonst, bloß nie beim richtigen Namen. Mara sprach er mit Karin an.
Treffinger schloss die Tür seines Hotelzimmers, stellte seine Reisetasche auf die Gepäckablage, zog die Schuhe aus und die Vorhänge auf und sah hinaus. Dublin. Oder besser: Das, was man aus dem preiswertesten Zimmer des Hotels von Dublin sah. Was immerhin ein Streifen grauer Himmel war, der kleine Parkplatz ihres Hotels und die Rückseite einer kompletten Häuserzeile plus Hinterhöfe. Der gegenüber gehörte offenbar zu einem Restaurant; ein schwergewichtiger Mann mit weißer Kochmütze lehnte zwischen einer Reihe Mülltonnen an der Rückwand des Gebäudes und rauchte.