Buch
Queensland: Nahe des Zeltplatzes in einem Wildpark findet die Journalistin Abby Bardot ein ohnmächtiges junges Mädchen. Abby fällt sofort deren Ähnlichkeit mit mehreren jungen Frauen auf, die vor einigen Jahren im selben Wildpark tot aufgefunden wurden. Die Fälle wurden nie aufgeklärt, der benachbarte Ort Gundara hüllt sich in Schweigen. Dann verschwindet das gerettete Mädchen spurlos, und Abby macht sich gemeinsam mit dem Krimiautor Tom auf die Suche nach ihr. Doch als beide in Toms Haus ein verborgenes Zimmer entdecken, wird Abby mit den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert …
Informationen zu Anna Romer sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Ich bin die Flamme,
und ich bin der vertrocknete Busch.
Und ein Teil von mir
verzehrt den anderen.
Khalil Gibran
Kapitel 1
Jeden Tag nahm ich mir eine andere Strecke vor. Ich brach vor dem Morgengrauen auf und joggte zuerst die vertraute Straße entlang. Wenn ich dann den Wald des Schutzgebietes am Stadtrand erreichte, stieg die Sonne gerade über den Horizont. Langsam wurde der Himmel heller, doch hier im Schatten der Bäume, die die Straße säumten, war es noch dunkel.
Ich verlor mich im Rhythmus. Nur mein leises Keuchen und das dumpfe Geräusch der Joggingschuhe auf dem Seitenstreifen waren zu hören. Zu dieser frühen Stunde herrschte kein Verkehr. Nicht einmal die Flötenvögel waren wach.
Als ich die Straße verließ und in den Feldweg einbog, der in den Wald führte, streiften klebrige Gräser meine Beine, und die Luft war feucht. Um die Bäume herum wuchs dichtes Unterholz, die Schatten wurden dunkler. Nach zehn Minuten hielt ich an, trank einen Schluck Wasser aus meiner Feldflasche und sah mich um.
Hier am Rand des Schutzgebietes scharten sich die Sprösslinge der Eukalyptusbäume zusammen, als suchten sie Schutz in der Menge. Ihre schlanken Stämme waren geschwärzt nach einem Waldbrand, der letztes Jahr hier gewütet hatte.
Tief im Innern des Waldes, wo ich heute hinwollte, erhoben sich die Stämme der gewaltigen Bäume aus dem Granitboden und standen wie Riesen entlang der Schlucht. Das Blackwater-Gorge-Schutzgebiet umfasste 20 000 Hektar zumeist unberührter Wildnis und wurde durch einen Fluss in zwei Hälften geteilt. Wegen der tiefen Schluchten und der hoch aufragenden Granitblöcke wagten sich nur die mutigsten Buschwanderer hierher.
Doch ohnehin verirrte sich nur selten jemand in diese Gegend.
Ich steckte meine Feldflasche in die Jackentasche zurück und lief weiter den Pfad entlang. Ich freute mich darauf, mein Ziel zu erreichen. Ein paar Kilometer weiter im Innern des Schutzgebietes würde ich den Hügel hinauflaufen, in eine Region, in der ich noch nie gewesen war. Sie war mit Teebäumen und Schwarzdornakazien derart zugewachsen, dass ich mir einen Weg hindurch erkämpfen musste. Jeans und Baumwolljacke waren normalerweise beim Joggen ziemlich unpraktisch, doch wenn ich durch die dichten Dornenbüsche lief, würde ich froh darüber sein.
Jetzt hatte ich fast schon den verlassenen Campingplatz erreicht.
Dieser Teil des Weges hatte sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Ich erinnerte mich an jeden Baum oder Felsen. An die ausgewaschenen Hänge an einer Strecke des Pfades. Sie waren mir so vertraut wie mein eigenes Gesicht.
Doch als ich dann wirklich an dem alten Campingplatz ankam, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass noch jemand hier war.
An dem von Unkraut überwucherten Grillplatz mit seinen windgeschützten Mäuerchen aus versengten Backsteinen und den in die Erde eingelassenen Feuerstellen blieb ich zögernd stehen.
Ganz ruhig, Abby, tief durchatmen.
Verstohlen tastete ich nach dem Pfefferspray in meiner Hosentasche. Ich nahm die Kappe ab, ohne die Umgebung aus den Augen zu lassen. Nichts rührte sich. Zumindest konnte ich durch mein plötzlich eingeschränktes Sehvermögen nichts erkennen. Mit trockenem Mund drehte ich mich langsam einmal um die eigene Achse. Als alles still blieb, atmete ich erleichtert auf und entspannte mich. Paranoia, alles nur Einbildung.
Dann sah ich die leuchtende Farbe.
Blut, dachte ich zuerst. Ein dicker Klumpen im Schatten eines hohen roten Eukalyptusbaumes. Ich biss die Zähne zusammen. Hatte hier jemand ein Känguru erlegt und gehäutet?
Zu rot. Und viel zu glänzend.
Ich steckte die Dose mit dem Pfefferspray wieder ein und lief hastig darauf zu.
Auf dem Boden lag ein Mädchen. Zusammengerollt wie ein Fötus, das Gesicht nach vorn gekippt. Aus einer Wunde an der Schläfe sickerte Blut. Es war in ihr langes braunes Haar geronnen und mit schmutzigem Laub und Erde verklebt. Sie trug eine zerfetzte, mit Pailletten bestickte rote Jacke, die hier im düsteren grünen Schatten des Busches völlig fehl am Platz wirkte.
Ich kniete vor ihr nieder, fasste sie an der Schulter und schüttelte sie sanft.
»Hey, wach auf.« Als sie sich nicht rührte, stieß ich sie am Arm an. »Du kannst hier nicht liegen bleiben. Du musst zum Arzt.«
Ihre Kleidung war schmutzig, und sie war barfuß. Ein dünnes Rinnsal von Blut sickerte aus einer Schnittwunde am Kiefer und verlor sich unter dem glänzenden roten Kragen. Es sah aus, als hätte sie die ganze Nacht hier gelegen. Sie roch weder nach Alkohol noch nach Pot, nur säuerlich nach Blut und Schweiß.
»Komm schon, Kleines, wach auf.« Ich stieß sie erneut an. »Kannst du mich hören?«
Noch immer keine Reaktion. Ich drehte vorsichtig ihren Kopf zur Seite, überprüfte ihren Atem und vergewisserte mich, dass Mund und Nase frei waren. Dann schob ich ihr Lid hoch und leuchtete mit der Taschenlampenfunktion meines iPhones ins Auge. Die Pupille zog sich normal zusammen, doch das Mädchen rührte sich nicht. Ich packte ihr Handgelenk und fühlte den Puls, er war gleichmäßig, aber die Haut war kalt und feucht, Hände und Knöchel waren aufgescheuert, einige Fingernägel mit Blut verkrustet.
Ich stand auf.
Wieder sah ich mich um, und da ich das Gefühl hatte, von wachsamen Augen beobachtet zu werden, rannte ich auf die Mitte des Campingplatzes zu und sprang auf den steinernen alten Picknicktisch. Der wackelte unter meinem Gewicht, als ich das iPhone nach oben hielt, doch es gab kein Signal, nicht einmal die SOS-Funktion funktionierte.
Ich lief zurück zu der Kleinen und kauerte mich neben sie.
Ich wollte sie nicht allein lassen. Aber einen Menschen, der am Kopf verletzt war, durfte man nicht bewegen. Vielleicht hatte sie eine Gehirnerschütterung oder etwas Ernsteres. Solange ich die Schwere ihrer Verletzung nicht kannte, konnte jede Bewegung irreparablen Schaden anrichten. Einen Gehirnschlag auslösen. Sie zum Krüppel machen. Sie umbringen. Bis zur Hauptstraße waren es einige Kilometer über einen holprigen Waldweg. Sie zu tragen oder huckepack zu nehmen kam also nicht infrage. Ich würde sie zurücklassen müssen, während ich Hilfe holte.
Hastig zog ich die Jeansjacke aus und stopfte sie um sie herum fest. Dann fiel mir noch etwas ein, ich nahm die Feldflasche aus der Tasche und stellte sie neben sie auf die Erde.
»Ich beeile mich, Schätzchen, Ehrenwort. Halt durch, bis ich zurück bin, okay?«
Ich sprang auf und taumelte rückwärts, ohne den Blick von ihr nehmen zu können. Dann riss ich mich los, halb keuchend, halb schluchzend, und rannte zur Hauptstraße.
Fünfundzwanzig Minuten vergingen, bis der Krankenwagen kam. Sonst fuhr kein einziger Wagen vorbei, sodass ich schon halb verrückt vor Angst war, als ich endlich den weißen Rettungswagen in der Ferne erkannte. Trotz der frischen Brise lief mir der Schweiß über die Rippen. Mein Atem ging stoßweise, während mir die Gedanken durch den Kopf schossen. Konnte es das sein, wovor ich mich am meisten fürchtete? Trieb sich nach zwanzig Jahren Abwesenheit erneut eine mörderische Bestie im Schutzgebiet herum? Oder erfand meine wilde Fantasie ihre eigenen Ungeheuer?
Mit rotierender Kennleuchte hielt der Rettungswagen neben mir an. Ich sprang hinein und lotste den Fahrer über den Feldweg bis zum Campingplatz. Während wir die mit Schlaglöchern übersäte Piste entlangholperten, erzählte ich den Sanitätern alles, woran ich mich erinnern konnte. Wie alt das Mädchen ungefähr war, was sie anhatte, beschrieb ihre Verletzungen.
»Sie hatte sich ganz zusammengerollt. Als wollte sie sich warm halten. Ihr armer Kopf. Und das Blut …«
Ich plapperte atemlos, ohne Punkt und Komma, zappelte unruhig, während mein Blick an dem Pfad vor uns klebte.
»Kennen Sie sie?«, fragte der Fahrer. »Ist sie aus der Gegend?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Der Assistent pfiff durch die Zähne. »Und Sie gehen hier allein joggen?«
»Fast jeden Morgen.«
»Sind Sie aus Gundara?«, fragte der Fahrer und warf mir einen Blick zu. »Ich bin mir sicher, dass ich Sie irgendwoher kenne.«
Erst jetzt riss ich mich zusammen, richtete mich auf und musterte den Fahrer. Er war ein kräftiger Kerl, knapp über zwanzig, mit kantigem Gesicht und Bürstenhaarschnitt. Er kam mir bekannt vor, doch dieses Gefühl hatte ich bei fast jedem, der mir jetzt in den Straßen von Gundara über den Weg lief.
»Ich war eine Weile weg.«
Wir holperten über ein Schlagloch, der Fahrer fluchte, und der andere Sanitäter sah mich an.
»Hey, ich weiß, wer Sie sind. Duncans Schwester. Duncan Radley? Gail, stimmt’s? Abigail?«
»Inzwischen Abigail Bardot.« Ich zeigte ihm meinen Ehering. Obwohl ich seit Jahren geschieden war, trug ich ihn, um unerbetenes Interesse zu verhindern, und seit der Rückkehr nach Gundara, um lästigen Fragen nach dem Grund meiner Namensänderung aus dem Weg zu gehen. Ich wollte ihn schon fragen, woher er meinen Bruder kannte. Doch Duncan arbeitete halbtags als Pfleger im Krankenhaus, wahrscheinlich waren sie sich dort begegnet. In diesem Augenblick kam der Campingplatz in Sicht.
»Da!« Ich zeigte auf den großen Eukalyptusbaum. »Da drüben liegt sie.«
Als der Krankenwagen seine Fahrt verlangsamte, schob ich die Tür auf, sprang hinaus und lief über das unebene Gelände auf den Baum zu, wo ich das Mädchen zurückgelassen hatte. Ich drehte mich um die eigene Achse und suchte den Boden ab, meine Feldflasche war umgekippt. Ich drang etwas tiefer in den Wald ein, kehrte dann zum Campingplatz zurück und lief zu dem Grillplatz mit dem Backsteinmäuerchen. Ich durchsuchte jeden Winkel des verbrannten Inneren ab. Danach lief ich eine Runde um den Platz herum, suchte unter dem Gebüsch und hinter den umgefallenen Baumstämmen und ließ den Blick über die Bäume in der Umgebung schweifen.
Das Mädchen war verschwunden.
Der Krach zerriss die morgendliche Stille: Jemand hämmerte mit der Faust an meine Haustür.
»Abby, ich bin’s. Bist du auf?«
Stöhnend stolperte ich aus der Dusche, wickelte mir ein Handtuch ums Haar und schlüpfte in den Bademantel. Es war Freitagmorgen, acht Uhr. Meine Beine prickelten noch nach dem morgendlichen Joggen, doch heute blieben die Glücksgefühle aus. Mein Kopf war voller albtraumhafter Bilder, durch meine Adern schoss noch immer Adrenalin, und das heiße Wasser der Dusche hatte weder das eine noch das andere vertreiben können. Ich rieb mir die Augen, blinzelte wie eine Eule und lief schwankend durch den Flur.
Erneut klopfte es an der Tür. »Abby, ich weiß, dass du da bist. Mach endlich auf!«
Es gab nur einen Menschen, der wie ein Polizist an die Tür hämmerte, statt höflich zu klopfen.
Ich schob den Riegel auf und ließ meinen Bruder rein.
»Mein Gott, Dunc. Willst du die ganze Nachbarschaft aufscheuchen?«
Er drückte mir einen braunen Umschlag in die Hand und drängte sich an mir vorbei in die Küche. Schlaksige Arme und Beine, die Jeans voller weißer Farbflecken, der Kapuzenpulli an den Ellbogen zerrissen, das sandfarbene Haar zu Spikes gestylt. Er füllte den Kessel mit Wasser und durchwühlte meinen Vorratsschrank nach Schokokeksen – vergeblich – und Tee. Dann hielt er eine Packung Seetangcracker in die Luft und schüttelte sie vorwurfsvoll. »Seetang, das ist doch wohl ein Witz, oder? Was ist aus dem Mädchen geworden, das Tim Tams liebte?«
»Sie ist gestorben und kam in die Hölle.« Ich riss ihm die Crackerpackung aus der Hand, legte sie zurück ins Regal und schob ihn mit dem Ellbogen beiseite. »Wenn du einen Grund hast, um diese Zeit herzukommen, dann ist es hoffentlich ein guter, Dunc.«
»Ich hab von deinem Abenteuer heute Morgen im Schutzgebiet gehört.«
Ich ließ die Schultern fallen. »Oh.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja, warum auch nicht?«
Als das Wasser kochte, schnappte sich Duncan einen Becher aus dem Schrank und knallte ihn auf die Küchenablage. Er kippte das kochende Wasser in die Teekanne, rührte einmal um und füllte seinen Becher. Dann gab er Milch hinzu, stürzte das heiße Gebräu in einem Zug hinunter, als wäre es Whisky, und zuckte zusammen.
»Und die Kleine, die du gefunden hast, ist einfach aufgestanden und hat sich aus dem Staub gemacht?«
»Sieht ganz danach aus.«
»Vielleicht hat sie in der Nacht davor zu heftig gefeiert und sich dabei den Kopf angeschlagen. Manche Kids treiben sich noch immer auf dem alten Campingplatz herum, weißt du?«
»Auch wenn sie am nächsten Tag Schule haben?«
»Die missratenen schon. Haben wir auch gemacht.«
»Du vielleicht. Ich war da schon lange weg.«
Duncan stellte seinen leeren Becher auf den Rand des Spülbeckens. »Bestimmt ist sie gesund und munter wieder zu Hause und schläft ihren Kater aus.«
»Na, hoffentlich hast du recht, Dunc. Wir haben die ganze Gegend abgesucht, aber da war keine Spur. Nachdem der Rettungswagen weggefahren ist, bin ich noch eine Weile geblieben. Bin zur Schlucht runtergelaufen und dann über den Hügel wieder hoch. Diesen Teil von Blackwater kenne ich wie meine Westentasche. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.«
Duncan schien von seinem leeren Becher fasziniert zu sein. »Sei lieber vorsichtig, okay? Jeden Morgen da draußen zu joggen ist gefährlich.«
Bei seinem Tonfall sträubte sich etwas in mir. »Wieso denn? Hältst du mich für ein potenzielles Opfer, nur weil ich eine Frau bin? Wieso sind wir immer selbst schuld, wenn uns etwas zustößt? Wieso schnallen die Männer nicht endlich, dass sie uns respektieren sollen, statt uns ständig irgendwelche Vorschriften zu machen?«
»Mein Gott, Abby. Du hast ja recht, wirklich. Aber die Leute reden halt.«
Ich verschränkte die Arme. »Was reden die Leute?«
»Gazza meinte, du könntest ausgeflippt sein und hättest Gespenster gesehen. Du hättest dir nur eingebildet, dass du was gesehen hast. Du weißt schon. Nach allem, was da passiert ist.«
»Ich bin nicht ausgeflippt!«
»Schon klar, Schwesterchen. Trotzdem …«
Der Boden war eiskalt unter meinen nackten Füßen. Ich fröstelte.
»Ich weiß, was ich gesehen habe.«
Duncan seufzte und zeigte auf den Umschlag, den ich immer noch in der Hand hielt. »Willst du ihn nicht aufmachen?«
Ich riss ihn auf. Darin befand sich ein gerahmtes Farbfoto von uns beiden als Kinder. Wahrscheinlich war ich damals um die zehn, Duncan sechs oder sieben gewesen. Wir standen mit unseren Eltern auf einem der weniger bekannten Aussichtspunkte von Blackwater. Hoch über dem Fluss mit Blick über die Schlucht auf die blaugrünen Hügel in der Ferne. Mum hatte den Arm über Duncan gelegt, Dads Hand ruhte auf meiner Schulter. Als ich uns so sah – eine Familie auf einer Wanderung, die Picknickkörbe zu unseren Füßen und Dad mit einer zerknitterten Landkarte, die aus seiner Brusttasche hervorlugte – , schnappte ich nach Luft.
»Wo hast du das her?«
»Es hing in Dads Wohnzimmer an der Wand.«
»Oh.«
Seit der Beerdigung unseres Vaters vor fünf Monaten hatte Duncan die Entrümpelung des alten Hauses übernommen. Ich hatte ihm keine Hilfe angeboten, obwohl es eine Ewigkeit dauern würde, und mein Bruder hatte mich auch nicht darum gebeten. Trotzdem brachte er mir jede Woche ein kleines Geschenk mit. Dinge, die Dad seit Jahren gehortet hatte und von denen mein unvergleichlicher Bruder meinte, sie könnten mir gefallen. Dads Kompass, ein abgegriffenes Exemplar von Charles Dickens’ Große Erwartungen. Sogar einen Stapel Liebesbriefe von Mum aus früheren Zeiten. Die hatte ich verbrannt.
Duncan rempelte mich an. »Cooles Foto, was?«
»Hmmm.«
»Dad hätte sich gewünscht, dass du es kriegst.«
Ich hielt meinem Bruder das Foto hin. »Ich weiß nicht, Dunc. Vielleicht solltest du es lieber selbst behalten.«
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und trat einen Schritt zurück.
»Ich habe noch andere. Aber das ist ein ganz besonderes. Guck mal, wie breit du grinst! Du hast unsere Campingtouren geliebt.«
Erneut sah ich mir das Foto an, die Gesichter von Menschen, die ich wiedererkannte, die mir heute jedoch nichts mehr sagten. Wir sahen alle so glücklich aus. Und angesichts dessen, was später geschah, wirkte es auf mich einfach nur falsch.
Ich steckte das gerahmte Foto in den Umschlag zurück und warf es in den Mülleimer. Beim Splittern des Glases verzog ich das Gesicht.
»Übertriebene Nostalgie«, sagte ich großmäuliger, als ich mich tatsächlich fühlte. »Das Letzte, woran ich mich erinnern will, ist, wie sauer Dad auf mich war.«
»Mein Gott, Abb.« Duncan kam auf mich zu und starrte in den Mülleimer. Dann sah er mich an. »Er war nicht sauer auf dich.«
Ich machte mich an der Spüle zu schaffen, spülte den Becher meines Bruders unter dem Wasserstrahl ab und stellte ihn auf das Abtropfgitter. Anschließend kippte ich die Teeblätter aus der Kanne in den Kübel mit dem Kompost.
»Doch, das war er.«
»Er war einfach nur traurig, nachdem Mum fort war.«
Ich trocknete mir die Hände an einem Küchentuch ab, ignorierte das Zittern und kämpfte gegen den Drang an, das alte Foto aus dem Mülleimer zu fischen.
»Er war ein Säufer. Er hat unser ganzes Geld für Alkohol ausgegeben und Mum aus dem Haus getrieben. Und statt es zuzugeben, hat er mir die Schuld in die Schuhe geschoben.«
»Hat er nicht. Und getrunken hat er nur, weil er ein gebrochenes Herz hatte.«
»Er war schwach. So was kann passieren, wenn man liebt.«
Duncan schüttelte gespielt traurig den Kopf. »Du hörst dich wirklich zynisch an.«
Ich packte ihn an seinem sehnigen Arm, bugsierte ihn aus der Küche und durch die Haustür nach draußen. »Sei mir nicht böse, aber ich habe zu tun. Und noch was, Dunc: Tu mir einen Gefallen.«
Er schüttelte mich ab. »Was denn?«
»Hör dich im Krankenhaus um. Achte darauf, ob in den nächsten Tagen ein Mädchen mit einer Kopfverletzung oder einer Gehirnerschütterung dort auftaucht. Und wenn ja, sag mir Bescheid, okay?«
Er sah mich an. »Dann musst du aber auch was für mich tun.«
»Was denn?«
»Halt dich von diesem schrecklichen Ort fern, okay?«
»Du weißt doch, dass ich das nicht kann.«
»Im Ernst, Abby. Wie wahrscheinlich ist es denn, dass du nach all dieser Zeit noch was herausfindest?«
»Vermutlich gleich null. Trotzdem muss ich es weiter versuchen.«
Er sah mir lange forschend ins Gesicht. Dann beugte er sich vor und küsste mich auf die Wange. »Sei bitte vorsichtig.«
Er stieg auf sein Fahrrad und winkte mir zu, während er in Richtung Stadt davonstrampelte.
Ich stand mit nackten Füßen auf den Stufen, stampfte ein paarmal auf und warf einen Blick über die leeren Koppeln. Einige benachbarte Cottages drängten sich hinter Zwergkieferhecken zusammen, aus ihren Schornsteinen stiegen Rauchschwaden auf. Die Luft war kühl, die Landschaft noch in ein dunstiges Nachtgewand gehüllt. Die Sonne tauchte die fernen Hügel in goldenes Licht. Der Tag versprach warm zu werden, und trotzdem zitterte ich am ganzen Leib.
Ich ging ins Haus zurück, schloss die Tür und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Meine Beine fühlten sich wacklig an. Ich glitt zu Boden, legte den Kopf auf die Knie und schloss die Augen. Duncans Stimme hallte in meinem Kopf wider.
Halt dich von diesem schrecklichen Ort fern, okay?
Ich rieb mir mit zitternden Händen das Gesicht. Dann fuhr ich mir mit den Fingern durch das Haar, hinter dem Ohr entlang bis zum Hinterkopf. Über die Narbe. Und plötzlich taumelte ich in der Zeit zurück zu einem anderen Apriltag vor zwanzig Jahren.
Nass bis auf die Haut, sodass die rosa Lieblingsjeans an meinen Beinen klebte, stapfte ich im Regen den schlammigen Pfad zurück, über den ich gekommen war. Dabei blinzelte ich mit zusammengekniffenen Augen in die Bäume auf der Suche nach irgendwas, das ich wiedererkannte. Egal was.
Als ich einige Stunden zuvor ins Schutzgebiet gekommen war, hatte ich mir einen großen weißen Baumstamm gemerkt, an dem ich mich orientieren konnte. Jetzt sahen alle Baumstämme gleich aus, die Rinde düster grau in der Nässe und mit violetten Flecken übersät, wie kalte, blutunterlaufene Haut.
Ein Ast brach ab und fiel krachend zu Boden. Ich fuhr herum und starrte in den Wald. Nichts. Ich versuchte zu lachen, weil ich so schreckhaft war, doch meine Augen füllten sich mit heißen Tränen. Seit Stunden irrte ich umher. Mein Magen knurrte, und meine Haut schmerzte vor Kälte. Ich wollte nur den Pfad wiederfinden, der mich zurück zum Parkplatz führte, um nach Hause zu gehen. Doch die Lage wurde immer brenzliger. Was, wenn ich ihn nicht fand? Was, wenn ich mich immer nur im Kreis drehte?
»Hey, Kleines.«
Ich schnellte herum, fast hätten meine Beine unter mir nachgegeben, so erleichtert war ich. Ich erwartete, einen meiner Mitschüler oder Lehrer zu sehen. Doch es war niemand da. Ich schaute mich um und drehte mich taumelnd im Kreis. Dann richtete ich mich auf. In welche Richtung war ich gegangen? Der schmale Feldweg sah jetzt in beiden Richtungen gleich aus. Er war mit schlammigen Pfützen und feuchten Blättern übersät und verschwand hinter einem dichten Regenvorhang. Und während ich noch dastand und in den Dunst starrte, tauchte aus dem Schatten der Bäume plötzlich eine Gestalt auf.
Ein zerlumpter junger Mann.
Er hielt etwas in der Faust. Etwas, das im spärlichen Licht aufblitzte. War es eine Axt? Meine Alarmglocken schrillten. Ich versuchte, einen Schritt zurückzutreten, sagte mir, dass ich kehrtmachen und davonlaufen sollte. Doch ich war wie erstarrt. Meine Glieder waren eisig vom Regen, meine Gedanken schossen wie aufgeschreckte Vögel hin und her, das Herz schlug mir bis zum Hals.
Dann hörte ich ein Flüstern. Oder war es das Rauschen des Windes in den Bäumen?
War es da oder später?
Sieh dir ein letztes Mal den Mond an, Vögelchen.
Seine Zähne strahlten weiß im trüben Licht, als er auf mich zukam, doch erst, als er ganz nah war, fielen mir seine Augen auf. Leuchtend blau wie das Gefieder eines Eisvogels. Blitzblau wie der Himmel im Herbst. Blau wie ein Edelstein. Fast strahlend, während der Rest der Welt im Dunkeln versank.
Kapitel 2
Kendra Nixon-Jones erhob sich hinter ihrem gewaltigen schimmernden Schreibtisch und starrte mich böse an. Ihr Gesicht war gerötet, ihr maßgeschneidertes Kleid verknittert, eine weißgoldene Haarsträhne hatte sich aus ihrem makellosen Haarknoten gelöst.
»Ich bin in fünf Minuten zum Essen verabredet.« Ihre Augen funkelten hinter ihrer Nickelbrille. »Heute Morgen ist hier die Hölle los. Ich kann nur hoffen, dass du einen guten Grund hast, mich sprechen zu wollen.«
Kendra war Chefredakteurin des Gundara Express, der Lokalzeitung. Seit ich vor zwei Jahren zurückgekehrt war, schrieb ich regelmäßig eine Kolumne für den Express. Lifestyle, Mode, Landwirtschaft und Tourismus.
Ich betrachtete mich als Verbindung zum Puls unserer Stadt. Sammelte lokale Geschichten, um sie der Gemeinde zurückzugeben, die Menschen auf dem Laufenden zu halten, zu berichten, was vor sich ging. Die Bewohner miteinander zu verbinden.
Und manchmal, so wie heute, um sie zu beschützen.
Ich warf meinen USB-Stick auf Kendras Schreibtisch.
»Mein Beitrag zum Festival. Mit neuen Aufnahmen von den lohnendsten Sehenswürdigkeiten der Umgebung.«
»Zwei Tage vor dem Abgabetermin.« Kendra nahm den Deckel von ihrem Pappbecher, trank den Kaffee in einem Zug aus und warf den leeren Becher in den Papierkorb. »Du hättest ihn mir mailen können.«
»Ich wollte auch noch was anderes mit dir besprechen.«
Sie zog die Brauen hoch. Dann musterte sie meine lässige Aufmachung: das viel zu enge Moulin-Rouge-Tanktop, die abgewetzten Jeans, die kirschroten Doc-Martens-Schuhe. Mein zerzaustes braunes Haar, das sich nur schwer zu einem Pferdeschwanz bändigen ließ.
Sie trommelte mit einem Bleistift auf den Schreibtisch. »Was denn?«
Ich holte tief Luft. »Ich will einen Artikel über Blackwater Gorge schreiben. Darüber, was dort wirklich geschah, die Wahrheit. Um mit diesem ganzen Unfug aufzuräumen, von wegen, dass es auf dem alten Campingplatz spuken soll und so weiter. Wusstest du, dass eine Firma dort nächtliche Geistertouren organisiert? Sie führen ihre Gruppen in der Nacht zu den Stellen, wo die Opfer gefunden wurden. Ohne Genehmigung des Gemeinderates. Ohne Rücksicht auf die Gefühle der betroffenen Familien. Das ist nicht nur illegal, sondern geschmacklos. Und jetzt, so kurz vor dem Festival, sollten wir die Leute auf die Gefahren aufmerksam machen, finde ich.«
»Abby.«
»Bestimmt weißt du, dass Schulkinder den Ort immer noch aufsuchen und sich einen Jux daraus machen, die Nacht dort zu verbringen. Eine Mutprobe, die alles andere als ungefährlich ist. Heute Morgen war ich auf dem Campingplatz. Und weißt du, was ich dort gesehen habe? Ein verletztes Mädchen. Das arme Ding muss gestürzt sein und …«
»Abby!«
Ich machte einen Schritt auf sie zu und zog ein Blatt aus meiner Jeanstasche. »Ich habe einen Entwurf geschrieben. Du könntest den fertigen Artikel Mitte nächster Woche auf deinem Schreibtisch haben.«
Kendra riss mir den Entwurf aus den Fingern, knüllte ihn zusammen und warf ihn zielsicher in den Papierkorb.
»Mit einem Wort, nein.«
»Aber …«
»Hör mir gut zu, Abby.« Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. »Deine Arbeit gefällt mir. Unsere Leser himmeln dich an. Du gibst dem Express ein gewisses Format. Trotzdem muss dir klar sein, dass ich hier das Sagen habe. Und wenn ich dir sage, dass du diesen Rummel um Blackwater vergessen sollst, dann erwarte ich, dass du dich daran hältst. Verstanden?«
Ich presste die Lippen aufeinander.
Wir waren zusammen auf der Highschool gewesen, Kendra und ich. Sie war mehrere Klassen über mir, gehörte zu den cooleren Mädchen, war beliebt und sportlich, aber auch gebildet. Schon damals war sie immer wie aus dem Ei gepellt gewesen. Blitzblank gewienerte Schuhe, tadellos gebügelte Uniform, das strahlend goldblonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebürstet, der glänzte, wenn sie sich mit ihren besten Freundinnen unterhielt und lachte. Hey, Shabby Abby, kann dein Alter dir keine ordentlichen Schuhe kaufen? Mach dir nichts draus, ich schenk dir meine alten, wenn ich sie satthabe.
Ich verstand.
Vollkommen. Aber ich hatte sie vor zwei Jahren um diesen Job gebeten, und ich wollte ihn unbedingt behalten, egal, wie blöd sie mir kam. Die Arbeit beim Express half mir, über bestimmte Dinge in der Gemeinde auf dem Laufenden zu bleiben, und ich würde nicht zulassen, dass mir mein Stolz jetzt einen Strich durch die Rechnung machte.
»Klar, ich hab’s kapiert.«
Kendra musterte mich und tippte sich mit dem Bleistift gegen das Kinn.
»Na gut. Ich habe nämlich den perfekten Auftrag für dich.« Sie öffnete ihren prall gefüllten Terminkalender und blätterte darin. »Gerüchten zufolge ist ein berühmter Schriftsteller aus Sydney in unsere Gegend gezogen. Er hat vor Kurzem ein baufälliges Anwesen in den Hügeln nordöstlich von Gundara erworben. Die hiesigen Makler reiben sich schon die Hände und hoffen auf einen Immobilienboom.«
Ich sackte gelangweilt zusammen. »Jemand, den ich kenne?«
»Er heißt Tom Gabriel.« Dann schob sie mir einen Computerausdruck über den Tisch. »Hier ist das letzte Interview, das er gegeben hat. Es ist vor langer Zeit, 2004, im Sydney Morning Herald erschienen. Tom ist so was wie ein Einsiedler, heißt es. Es soll furchtbar schwer sein, an ihn ranzukommen.«
Ohne einen Blick auf den körnigen Ausdruck zu werfen, steckte ich ihn in die Tasche. Ich hatte von diesem Tom Gabriel gehört. Er schrieb Romane über wahre Verbrechen. Seine Bücher waren Bestseller auf der ganzen Welt, die meisten wurden verfilmt oder zu Fernsehserien verarbeitet, aber ich hatte sie immer gemieden. Verbrechen waren nicht mein Ding. Zu viel Tod und Gewalt, zu düster. Ich stand mehr auf heitere, lockere Themen.
»Und wie kommst du darauf, dass er ausgerechnet mit mir reden wird?«
Kendra rieb sich die manikürten Hände und schenkte mir ihr süffisantes, selbstgefälliges Lächeln. »Ich bin mir absolut sicher, dass er nicht mit dir reden wird, Abby. Er mag keine Journalisten. Er hasst sie. Vor zehn Jahren wurde er verklagt, weil er einem aufdringlichen Reporter die Kamera zertrümmert hat.«
»Netter Kerl.«
Kendra lehnte sich zurück. »Bring mir die Story, Abby. Den ganzen Dreck, den ganzen skandalösen Tratsch. Warum seine Ehe derart spektakulär in die Brüche gegangen ist. Mit wem er im Moment liiert ist. Wie viel er verdient. Warum er so lange braucht, um ein neues Buch zu schreiben. Alles. Der Kerl garantiert Schlagzeilen. Fette Schlagzeilen. Und wenn er uns vor dem Festival im Herbst ins Netz geht, kommt Gundara ganz groß raus. Ich will auch Fotos. Jede Menge Fotos.«
»Und wenn er nicht anbeißt?«
»Ach, dir fällt schon was ein.«
»Wie kommst du darauf?«
Sie lehnte sich zurück und musterte mich mit gesenkten Lidern.
»Weil du, wenn es klappt, deine Geschichte über Blackwater schreiben darfst. Sie kommt auf die Titelseite mit allem Drum und Dran.«
Ich biss mir auf die Lippen und spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg.
»Einverstanden!« Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür, doch Kendra rief mich noch einmal zurück. »Dieses Mädchen, das du heute Morgen gefunden hast, wer war das?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Dann belassen wir es dabei, ja?«
»Was meinst du?«
»Behalt es für dich, mehr sage ich nicht. Zumindest bis nach dem Festival.«
»Und was hat das mit dem Festival zu tun?«
»Nun, es lockt Jahr für Jahr Touristen nach Gundara. Jede Menge Touristen. Und all diese Urlauber haben dicke Brieftaschen.«
»Du machst dir Sorgen um Geld?«
Kendra fuchtelte mit ihrem Bleistift herum, als wäre es ein Zauberstab. »Alle machen sich Sorgen um Geld, Abby. Gundara ist jetzt eine richtige Stadt, und die zwanzigtausend Seelen, die hier wohnen, sind auf die eine oder andere Art auf den Tourismus angewiesen. Der Express kann nicht einfach Gruselgeschichten über eine unserer Hauptattraktionen drucken. Wir wollen doch weiß Gott nicht die Leute mit Schauergeschichten abschrecken, noch ehe sie überhaupt da sind.«
Auf dem Weg zu meinem Wagen sah ich mich um. Ich hatte die Hände in den Taschen vergraben und die Schultern hochgezogen, während ich die Gesichter der Menschen studierte, an denen ich vorbeikam. Ein Pärchen kannte ich, und es grüßte mich mit einem Kopfnicken, doch die meisten waren mir fremd.
Seit zwei Jahren war ich also zurück in Gundara, nach mehr als zehn Jahren Abwesenheit. In dieser Zeit hatte sich meine Heimatstadt von einem staubigen Kaff zu einem Mekka für Leute gemausert, die sich für Antiquitätengeschäfte und die Kultur des Landes interessierten. Familien und Start-ups aus Sydney kamen wegen der billigen Grundstücke hierher und brachten den Duft der Großstadt mit sich. Skurrile Cafés waren zwischen den Eckkneipen und soliden Steinhäusern, die noch aus der Ära des Goldrausches stammten, wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Die Region war als landwirtschaftliches Zentrum entstanden, doch seit man in den 1850er-Jahren Gold fand, hatten sich Gundara und die umliegenden Kleinstädte rasant entwickelt. Heute waren die meisten Goldminen geschlossen, und das Schürfen war nur noch eine Touristenattraktion, trotzdem wuchs Gundara weiter.
Inzwischen war es eine mittelgroße Stadt auf dem Land, doch während ich durch die offene Mall marschierte, fiel mir auf, wie ruhig es hier war. Die kühle Herbstsonne knallte auf fast menschenleere Straßen. Kein gutes Zeichen für zehn Uhr an einem Freitagmorgen. Genauso wie die vielen leer stehenden Geschäfte, die pleitegegangen und geschlossen worden waren.
In einer Hinsicht hatte Kendra recht.
Die Leute machten sich Sorgen.
Ich zog die klimpernden Wagenschlüssel aus der Hosentasche, nahm die Abkürzung hinter der Stadtbibliothek vorbei und ging geradewegs auf meinen glänzenden Ford Fiesta zu, der im gesprenkelten Schatten einer verkrüppelten Eiche stand. Natürlich konnte ich Kendras Bedenken verstehen. Das Herbstfestival war wichtig für Gundara. Der städtische Haushalt hing vom Geld der Touristen ab. Ohne sie würden die Straßen endgültig irreparabel, und die lokale Feuerwehr müsste um ihre Finanzierung bangen. Die ganze Gemeinde würde darunter leiden. Allerdings – was hätte eine blühende Gemeinde davon, wenn sie über den mutmaßlichen Überfall auf ein junges Mädchen hinwegsah? Ich vermutete, dass die meisten Einwohner von Gundara dasselbe dachten wie ich. Dass die Geschichte von Blackwater Gorge erzählt werden musste. Doch anscheinend waren diejenigen, die hier das Sagen hatten, anderer Meinung.
»Hey«, rief ein Mann.
Ich verscheuchte meine Gedanken und sah auf.
Er saß am Steuer eines ramponierten Hilux mit heruntergelassenem Fenster. Auf dem Beifahrersitz spitzte ein schwarz-weißer Border Collie mit langem verfilztem Fell die Ohren. Der Mann war Mitte sechzig, hatte eine schwarze Hornbrille auf der Nase und strähnig graues Haar, das ihm bis zum Kragen reichte. Er drückte die Schulter gegen die Wagentür, schob sie auf und stieg aus. Nachdem er sich kurz den Staub abgeklopft hatte, blinzelte er mich mit zusammengekniffenen Augen an. Die ausgebeulten und an den Knien zerrissenen King Gees hatten schon bessere Zeiten gesehen. Die Ärmelaufschläge seines Flanellhemds waren zerschlissen. Er winkte und schlurfte über den Parkplatz auf mich zu.
»Du bist doch das Radley-Mädchen, stimmt’s?«
Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört.
Stattdessen schloss ich die Wagentür auf, sprang hastig auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Während ich mir mit einer Hand den Gurt anlegte, bahnte ich mir zwischen den Reihen der parkenden Wagen einen Weg auf den Ausgang zu. Dann bog ich in eine schmale Gasse hinter der Stadtbibliothek ein. Meine Reifen wirbelten Schotter auf, als ich einem anderen Fahrer die Vorfahrt nahm.
Auf dem Weg nach Hause sah ich den Mann im Geiste noch immer vor mir.
Er stand auf dem Parkplatz und starrte mir hinterher. Sein alter Hund im Hilux wedelte mit dem Schwanz und fiepte aufgeregt. Doch Roy Horton schien nichts anderes wahrzunehmen als meine überhastete Flucht. Sein zerfurchtes Gesicht war verzerrt, der Hemdsärmel des erhobenen Arms über den Ellbogen gerutscht.
Die Worte, die er nicht hatte aussprechen müssen, hallten mir immer noch durch den Kopf.
Du bist es doch, nicht wahr? Diejenige, die meinen Sohn in den Knast gebracht und mit ihren Lügen sein Leben ruiniert hat. Das Mädchen, das entkommen ist.
Es war schon zwei Uhr nachmittags, als ich in meinem Cottage am Stadtrand ankam. Mir war schwindelig, ich hatte schlechte Laune und wollte nur meine Klamotten abstreifen, den Vormittag unter der Dusche wegspülen und mich mit meinem zerfledderten Mills-&-Boon-Schmöker ins Wohnzimmer verziehen.
Tja.
Ich warf meine Tasche auf einen Stuhl und ging in die Küche. An der Tür blieb ich unentschlossen stehen und trat dann zum Mülleimer. Eine Weile starrte ich auf den braunen Umschlag, den ich am Morgen weggeworfen hatte. Dann bekam ich Gewissensbisse. Ich fischte ihn heraus und zog das Foto aus dem zerbrochenen Rahmen. Beim Anblick unserer vierköpfigen Familie sank meine Stimmung auf den Nullpunkt. Ich riss meinen Vater aus dem Foto heraus und ließ ihn erneut in den Mülleimer flattern. Weil ich nicht wusste, was ich mit dem Rest anstellen sollte, schob ich ihn im Vorratsschrank unter die Packung mit den Seetangcrackern.
Dann kochte ich Tee, toastete eine Scheibe Brot, stellte beides auf den Esstisch und nahm Kendras Ausdruck aus meiner Jeanstasche.
Einen grantigen alten Schriftsteller zu recherchieren war das Letzte, wozu ich Lust hatte. Möglich, dass er Megaseller schrieb, aber mal ehrlich, wer zerschmettert schon eine Fernsehkamera, einfach so? Bisschen überempfindlich, oder? Wie würde er dann reagieren, wenn eine Provinzjournalistin wie ich bei ihm aufschlug und um ein Interview bat? War es die Mühe überhaupt wert?
Ich verschlang meinen Toast und trank den Tee aus, dann faltete ich den Ausdruck auseinander und strich ihn glatt. Der Artikel enthielt ein Foto: ein auffallend gut aussehender Mann mit Baseballmütze und einem T-Shirt voller Falten blickte missmutig in die Kamera, die Augen vom Schirm seiner Mütze verdunkelt.
Ich beugte mich vor und ließ mir den Namen auf der Zunge zergehen. »Tom Gabriel.«
Nicht so langweilig und alt, wie ich gedacht hatte. Dem Artikel zufolge erst achtunddreißig und alles andere als unansehnlich. Ein bisschen verwildert, als hätte er mehrere Wochenenden in Klausur verbracht, und die angedeutete Ironie in seinem Grinsen passte nicht zu dem sinnlichen Mund. Lediglich die Augen verrieten, dass er Schriftsteller war, der unerschrockene durchdringende Blick.
Während ich noch seine Gesichtszüge bewunderte, überfiel mich ein seltsames Gefühl.
Ich kannte ihn. Von ganz früher. Es hatte nichts mit Büchern oder Lesen zu tun. Ich erinnerte mich nicht an das Bild eines distanzierten Autors oder ein Pressefoto. Ich hatte auch nicht an einer Signierstunde teilgenommen.
Ich war ihm persönlich begegnet. Aber wo?
Der Mann auf dem Foto wirkte wettergegerbt, er hatte Krähenfüße und ein zerklüftetes Gesicht. Die Erinnerung, die mir durch den Kopf ging, war eine jüngere Version dieses Gesichts. Das Gesicht eines Teenagers – glatt und frei von Bartstoppeln, aber dieselbe hohe Stirn, dasselbe wachsame Lächeln, dasselbe zerzauste Haar, das ihm bis zum Kragen fiel. Derselbe bohrende Blick.
Vor allem der Blick.
Ich lief ins Gästezimmer. Ich nannte es meine »Bibliothek«, obwohl das ein Witz war. Es war eher so was wie das naturhistorische Museum einer Übergeschnappten. Die Nachmittagssonne fiel durch die Fenster auf die gerahmte Sammlung von Nachtfaltern und Insekten an der Wand. Auf die unter Glasglocken konservierten Vogelnester, das Büschel gesprenkelter Kuckuckskauzfedern und meine Sammlung von winzigen Schädeln – Mäuse, Brillenvögel, sogar eine Schlange war darunter. Unter dem Fenster stapelten sich seltene Gartenbücher aus einer anderen Zeit.
Ich setzte mich an den Tisch und fuhr den Laptop hoch. Meine Beine zappelten nervös, bis ich endlich online war, dann gab ich den Namen ein: Tom Gabriel.
Massenhaft Links erschienen. Ich klickte auf die Webseite seines Verlages, wo ich eine kurze Biografie fand. Er war von einer Literaturagentin entdeckt worden, als er noch studierte, sein erster Roman hatte Preise gewonnen und hervorragende Kritiken bekommen. Im Laufe seiner Karriere war er zum Einsiedler geworden; es galt als extrem schwierig, ihn zu einem Interview oder Fotoshooting zu bewegen.
Auf Goodreads fand ich ein paar Klappentexte. In seinen Büchern behandelte er immer wieder dieselben schaurigen Themen: Entführung, Menschenraub, Mord. Jede Menge Morde.
Ich wand mich auf dem Stuhl. »Kein Wunder, dass ich dir aus dem Weg gegangen bin.«
Beim letzten Klappentext lief es mir eiskalt über den Rücken. Er war für einen Roman, den er vor Jahren geschrieben hatte. Beim Lesen trocknete mir der Mund aus.
Die verschlafene Kleinstadt Colton wird belagert. Vier junge Frauen sind verschwunden, und jetzt wird auch noch die Tochter des Bürgermeisters vermisst. Trotz der wochenlangen Suche ist sie wie vom Erdboden verschluckt, die ganze Stadt ist beunruhigt. Nur ein Mensch kann den Mörder stoppen, ein junges Mädchen, das einer versuchten Entführung entkommen konnte. Doch sie hat zu viel Angst, um zu sprechen.
Ich klappte den Deckel des Laptops zu und rieb mir die Arme.
Fiktion. Bloß eine erfundene Geschichte.
Doch wie all seine Romane war auch dieser von einer wahren Geschichte inspiriert. Überall auf der Welt wurden junge Mädchen vermisst. Auch in Australien. Wie konnte ich sichergehen, dass es dieser bestimmte Fall war – die einzig wirklich entsetzliche Leiche im Keller unserer Stadt? Tom Gabriel stammte aus Sydney, nichts deutete darauf hin, dass es einen Zusammenhang mit Gundara gab.
Aber da war dieses eine Detail: Ein junges Mädchen war einer Entführung entgangen.
Das Mädchen, das entkommen war.
Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Plötzlich wurde es so stickig im Raum, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich nahm den Ausdruck und starrte erneut auf das ovale Gesicht mit den kräftigen Backenknochen und dem muskulösen Kiefer. Auf die geblähten Nasenflügel, die gerunzelte Stirn und den wachsamen Blick.
»Woher kenne ich dich?«
Ich stand auf, zerknüllte das Blatt, warf es in den Mülleimer. Dann lief ich hastig die Treppe in den Flur hinunter und durch die Hintertür in den hellen Nachmittag hinaus.
Auf das Geländer gestützt suchte ich den Horizont im Nordwesten ab. Irgendwo hinter den Hügeln hatte der Blackwater River eine tiefe Schlucht durch den uralten Wald aus weißen Zypressen und roten Eukalyptusbäumen gegraben. Ein nierenförmiges unzugängliches Stück davon war in der Gegend als »Schutzgebiet« bekannt.
Vor zwanzig Jahren war ein dunkler Schatten auf diesen wilden Teil des Waldes gefallen. Camper hatten an einer entlegenen Stelle die sterblichen Überreste eines jungen Mädchens gefunden. Die Leiche hatte seit mindestens zehn Jahren dort gelegen und sich in ihrem seichten Grab gut erhalten. Einige Wochen später entdeckten die Ermittler eine weitere weibliche Leiche etwa zehn Meilen entfernt. Ausreißer, folgerten die Leute; die beiden Mädchen wurden nie identifiziert. Doch dann verschwand im darauffolgenden Frühling ein junges Mädchen, diesmal aus der Gegend, und jetzt horchten die Bewohner auf.
Vier Wochen nach ihrem Verschwinden fand man ihre Leiche. Obwohl sie schon seit einem Monat vermisst wurde, war sie noch nicht so lange tot, höchstens ein oder zwei Tage. Sie war schmutzig und unterernährt; die Fingernägel eingerissen und blutverkrustet. Man erzählte sich, dass sie irgendwo gefangen gehalten worden sein musste. Die Polizei durchsuchte das gesamte Schutzgebiet und ging von Haus zu Haus. Innerhalb von wenigen Monaten wurde ein junger Mann aus der Gegend festgenommen, Gundara atmete erleichtert auf, und die Menschen taten ihr Bestes, um das Ganze so schnell wie möglich zu vergessen.
Fröstelnd rieb ich mir die Arme und dachte an das Mädchen, das ich heute morgen unter dem Baum auf dem Campingplatz gefunden hatte. An das blutverschmierte strähnige Haar und das hübsche blasse Gesicht. Die wunden Fingerknöchel und die schwarzen Fingernägel. Sie hatte so klein und verletzlich ausgesehen, als ich losgelaufen war, um Hilfe zu holen. Mein Verstand sagte mir, dass sie wahrscheinlich gefallen war und sich dabei den Kopf verletzt hatte; die Wunde war sicher halb so schlimm, wie sie aussah. Sie war wieder zu sich gekommen und nach Hause gegangen. Ende der Story. Trotzdem nagte der Gedanke an mir: Wiederholte sich hier etwas?
Unmöglich. Der Mörder saß im Gefängnis, schon seit zwei Jahrzehnten. Ich selbst hatte dabei geholfen, ihn hinter Gitter zu bringen.
Ich griff in die Tasche, holte Kendras Ausdruck heraus, strich ihn erneut glatt und starrte auf das unscharfe Foto von Tom Gabriel.
»Woher kenne ich dich?«
Und wieso erfüllte mich der Anblick seines Gesichts – die hohe Stirn, die durchdringenden Augen – mit einem Durcheinander von Gefühlen, die ich nicht einordnen konnte? Grauen und tiefe Ruhe, Panik und Sehnsucht. Angst und Trost vermischten sich.
Noch vor einer Stunde war ein Interview mit ihm das Letzte gewesen, was ich wollte. Jetzt konnte ich es kaum erwarten, ihm Auge in Auge gegenüberzutreten und ihn auszufragen. War ich nur paranoid, weil ich das Mädchen gefunden hatte? Oder gab es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Tom Gabriel und jenem längst vergangenen regnerischen Tag in Blackwater Gorge? Vielleicht war ein Interview der beste Weg, um das herauszufinden.