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September 1957: Henry und Effie haben sich nur wenige Monate nach ihrem Highschool-Abschluss das Jawort gegeben und fahren für die Flitterwochen nach Cape May, ein Ferienort an der amerikanischen Ostküste. Das Städtchen ist verlassen, die Saison ist zu Ende. Die beiden jungen Leute aus Georgia fühlen sich isoliert und in ihrer Schüchternheit gefangen. Gerade als sie beschließen, den Urlaub zu verkürzen, treffen sie zufällig auf Clara, eine Ferienbekanntschaft Effies aus Kindertagen, die eine glamouröse Gruppe von New Yorkern um sich versammelt. Darunter Max, ein reicher Playboy und Claras Liebhaber, sowie dessen unnahbare und rätselhafte Schwester Alma.

Der verlassene Ort wird zu ihrem Spielplatz, und während sie in leer stehende Ferienhäuser einsteigen, segeln gehen, nackt unter dem Sternenhimmel herumwandern, sich lieben und sich betrinken, geraten Henry und Effie in eine Situation, die den Rest ihres Lebens prägen wird.

Ein hypnotisierender Roman, der im Spiegel von Sexualität und gesellschaftlicher Realität der Fünfzigerjahre aktuelle und zeitlose Fragen zu Ehe, Liebe und Loyalität behandelt.

Chip Cheek, geboren 1976, hat bereits in Literaturzeitschriften Kurzgeschichten veröffentlicht, u.a. in The Southern Review, Harvard Review und Washington Square, und erhielt renommierte Schriftstellerstipendien. Tage in Cape May ist sein erster Roman. Chip Cheek lebt in der Nähe von Los Angeles.

CHIP CHEEK

Tage

in

Cape

May

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Bernhard Robben

Blessing

Originaltitel: Cape May

Originalverlag: Celadon, New York

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Copyright © 2019 by Chip Cheek

Copyright © 2019 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Geviert GbR Grafik & Typografie, Andrea Hollerith

unter Verwendung eines Motivs von: © John Rawlings

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-23127-9
V001

www.blessing-verlag.de

Seit sie sich ihre Liebe erklärten, sieht keiner den anderen ohne Maske; und die Täuschung gelingt auf beiden Seiten so vollkommen und wird später so unvermittelt durchschaut, dass sie beide Grund zu der Annahme haben, in der Hochzeitsnacht sei eine Verwandlung mit ihnen vorgegangen und durch einen seltsamen Schwindel sei wie im Falle Jakobs der eine Mensch umworben, der andere aber geheiratet worden.

Dr. Samuel Johnson, The Rambler, Nr. 45

1

Die Strände waren leer, die Geschäfte geschlossen und die Häuser entlang der New Hampshire Avenue nach Sonnenuntergang dunkel. Monatelang hatte Effie ihm von diesem Ort erzählt, von den vielen Dingen, die sie hier unternehmen würden, doch hatte Effie das Städtchen nur im Sommer gekannt, und jetzt war es Ende September. Sie hatte nicht gewusst, was »außerhalb der Saison« bedeutete. Sie waren mit dem Nachtzug aus Georgia gekommen und wollten für zwei Wochen bleiben, ihre Flitterwochen.

»Mir gefällt’s«, sagte Henry an ihrem ersten Abend. »Man könnte glauben, wir hätten die ganze Stadt für uns.«

Darüber musste Effie lachen. Einen Augenblick später begann sie zu weinen.

»Es ist nichts. Wirklich nicht – du brauchst mich nicht zu trösten. Ich bin nur müde, mehr nicht.« Sie lächelte ihn an. »Aber ich bin froh, dass es dir gefällt. Wir werden hier eine sehr schöne Zeit haben.«

Vor dieser Reise war Henry nie nördlich von Atlanta gewesen, und er hatte noch nie das Meer gesehen. Er war mit Effie in der kleinen Stadt Signal Creek aufgewachsen, eine halbe Stunde östlich von Macon, und im Frühjahr hatten sie beide die Highschool Thomas E. Cobb beendet, Abschlussjahrgang 1957. Sie war achtzehn Jahre alt, er zwanzig – wie viele Kinder vom Land hatte man ihn erst spät eingeschult. Soweit Henry wusste, waren sie beide noch unberührt.

Das Taxi fuhr vom Busbahnhof am Hafen mit seinem Gewimmel von Schiffsmasten vorbei; dahinter wogte das Meer, gewaltig, die Wellen mit weißen Kronen. Vom Hafen bogen sie in die mit Ulmen bestandene Wohngegend ein, und hier fanden sich auch jene prächtigen viktorianischen Häuser, von denen Effie erzählt hatte: Schiefergiebel, konische Türmchen und helle Farben, Witwengänge mit schmiedeeisernem Gitter, an den Veranden kunstvolle Schnitzereien, zum Gehweg hin offene Spaliere, blühende Chrysanthemen. Die Häuser der New Hampshire Avenue waren schlichter, ein- oder zweistöckige Gebäude, wie man sie, von den Farben einmal abgesehen, auch in Signal Creek hätte finden können. Tante Lizzies Haus war eines davon: in fahlem Rosa gestrichen, zwei Stockwerke, nach vorn raus eine in den Garten mit verwelkten Blumen ragende Veranda. So enttäuschend. Doch als Henry aus dem Wagen stieg und von drei Straßen weiter das Meer hörte, ein gedämpftes, tiefes Grollen, da war ihm, als würde sein wahres Leben jetzt erst beginnen und ihm von nun an jede Tür offen stehen. Er nahm Effie auf die Arme – sie schrie, lachte – und trug sie über die Schwelle.

Das Haus sieht anders aus, sagte Effie, als er sie wieder absetzte. Sie hatte es seit drei Jahren nicht mehr gesehen, zuletzt im Sommer vor Tante Lizzies Ableben. Die Rohrstühle waren neu, ebenso Gasherd, Kühlschrank und Gefriertruhe; damals hatte es noch keine dieser Annehmlichkeiten gegeben. Sie schienen Effie zu irritieren. Im ersten Stock gab es vier Schlafzimmer – auch die sahen anders aus –, und Effie bestand darauf, in der Dachkammer zu übernachten, wo sie als Kind schon geschlafen hatte. Nachdem sie oben am Ende der Treppe eine schwere Glastür aufgeschoben hatte, traten sie ein. Zum Glück war dieses Zimmer unverändert, die Wände steile Schrägen, die Holzbalken unverkleidet. In der Mitte stand ein einzelnes Bett, außerdem gab es eine Kommode und einen verstaubten Schminktisch mit Spiegel. In einer der Ecken entdeckten sie einen kleinen, vertrockneten Weihnachtsbaum, an den Zweigen noch Lametta. Den hatte es damals auch schon gegeben. Effie beugte sich zu den Fenstern auf Bodenhöhe hinab und stieß sie auf. Von hier aus konnte man über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg das Meer sehen; Henry bückte sich, um hinauszuschauen.

»Es ist ein bisschen seltsam, ich weiß«, sagte Effie, »aber mir zuliebe? Nur für eine Nacht?«

Ihr zuliebe würde er für den Rest seines Lebens einfach alles tun, hätte er gern geantwortet, aber Effie lachte oft nur, wenn er ihr seine tiefsten Gefühle offenbarte; während der Hochzeitszeremonie hatte sie Mühe gehabt, nicht laut loszuprusten. Stattdessen küsste er sie also und legte ihr eine Hand auf den Schenkel; sein ganzer Körper vibrierte. All die Monate der Vorfreude, und jetzt waren sie endlich hier. Sie kannten sich bereits seit ihrer Kindheit aus Kirche und Schule, nur hatten sie die meiste Zeit kaum aneinander gedacht. Er erinnerte sich, wie sie in der vierten Klasse in weißen Söckchen und ihren Riemchenschuhen vor Mrs. Mobly gestanden hatte, um eine Zeile aus den Psalmen an die Tafel zu schreiben: Mayor Tarletons hochnäsige kleine Tochter. Und er, einer der Jungs von außerhalb, von jenseits der Stadtgrenze. Jetzt waren sie hier, zusammen und allein. Und das ausgerechnet in New Jersey.

Sie legte ihre Hand auf seine Finger. »Lass mich erst ein Bad nehmen«, sagte sie.

Es geschah nicht in der Dachkammer, die zu voll mit Erinnerungen war, sondern in einem der renovierten Schlafzimmer im ersten Stock. Sie entschieden sich für das mit der Rosentapete. Er zog die Vorhänge zu. Effie hatte gebadet, und wie sie nun reglos vor ihm stand, öffnete er den lockeren Gürtel und streifte ihr das Kleid von den Schultern. Das wenige, was sie bislang gewagt hatten, war daheim in verstohlenen Momenten geschehen: ein Nachmittag an der Biegung des Flusses, als er die Träger ihres Badeanzugs herabgezogen und zum ersten Mal ihre Brüste gesehen hatte; der Abend kurz nach der Verlobung auf dem Rücksitz ihres Buicks, als er unter Effies Rock gefasst und sie es zugelassen hatte – die weiche Haut oberhalb der Strümpfe, der elastische Bund des Schlüpfers, der Geruch an seinen Fingern –; jedes Detail brannte sich in sein Gedächtnis ein und war zugleich doch so unwirklich, als hätte er es nur geträumt. In diesem dämmrigen Zimmer, an einem Sonntagnachmittag, wenn sie gewöhnlich in ihren besten Kleidern mit den Familien zusammen aßen, lag Effie nun nackt auf der rosengemusterten Bettdecke. Sie wandte den Blick ab, während er die Hose öffnete, sie zu Boden fallen ließ, nach kurzem Zögern auch die Unterhose auszog und neben ihr ins Bett glitt. Sie küssten sich lang, Haut auf Haut, weich und kühl, dann warm, ehe er sich auf sie legte, weshalb er nicht mehr sah, was er da eigentlich tat. Er beugte sich über sie und fummelte zwischen ihren Beinen herum, bis sie nach unten schaute, seinen Penis behutsam zwischen die Fingerspitzen nahm und ihn an die richtige Stelle führte – und da war sie, ihm nah wie nie. Sein Atem stockte. Sie verhielt sich still. In wenigen Sekunden war es vorbei.

Hinterher lagen sie nebeneinander und sahen zur Kassettendecke hoch. Er überlegte, ob er sich unwiderruflich verändert hatte.

»Tja«, sagte Effie. »Ich denke mal, wir haben es getan.«

Als sie danach, noch früh am Abend, am Strand spazieren gingen, hielten sie Händchen und hatten sich wenig zu sagen. Was gab es auch zu sagen? Sie kannten sich jetzt, kannten einander im biblischen Sinne. Er lächelte sie an; sie lächelte zurück. Das Kleid, das sie trug, hatte sie oft in der Schule angehabt, auch schon ehe ihm der Gedanke gekommen war, mit ihr auszugehen, und dieser vertraute Anblick rückte sie jetzt von ihm ab: Sie war beides, das Mädchen, das er damals auf den Fluren der Thomas E. Cobb gesehen hatte, und die junge Frau, die er nun kannte, viel intimer, hier in Cape May, New Jersey. Seine Frau. Mit der er bereits einen Moment der Würdelosigkeit teilte: Sie hatten auf der rosengemusterten Bettdecke eine ziemliche Ferkelei veranstaltet, aber Effie, die Gute, war so anständig gewesen, darüber zu lachen und ihn zu bitten, ihr doch ein Handtuch zu holen. Dafür war er dankbar.

Unten an der Promenade blieben sie eine Weile stehen und schauten aufs Meer. Die Wellen brachen sich und schlugen ans Ufer, eine nach der anderen in endloser Folge. So viel Wasser: ein Wunder, dass es sie nicht verschlang. Der Himmel war bedeckt; es ging ein scharfer Wind. Über ihren Köpfen kreischten Möwen.

»Ist schon komisch«, sagte Effie. »Im Sommer wimmelt es hier von Leuten.« Sie zeigte auf einen Landungssteg, der von der Promenade abging und an dessen Ende eine Halle stand, in der es, erzählte sie, im Sommer Spiele und Musik gab. Ganze Nachmittage hatte sie mit ihren Freundinnen dort verbracht, bis abends die Lichter angingen. Auf der Promenade hatten Akrobaten und Kraftmenschen ihre Kunststücke gezeigt, standen Buden mit Zuckerwatte und Salzwassertoffee, und Jungen surften in den Wellen.

»Müssen wir eben im Sommer noch mal herkommen«, sagte Henry.

Sie griff wieder nach seiner Hand, und sie folgten der Promenade zurück in die Stadt. Entlang der Beach Avenue zu ihrer Rechten waren alle Läden ausnahmslos dunkel und verschlossen, auf Schildern in den Fenstern stand: Über den Winter geschlossen. Auf Wiedersehen im Mai!

Schließlich fanden sie doch noch ein Restaurant, das geöffnet hatte, und sie setzten sich in eine Nische ans Fenster. Ihr Kellner war ein Junge mit einem Akzent, wie ihn Henry bislang nur aus dem Radio kannte. Er fragte sich, ob er ihnen anmerkte, dass sie gerade Sex gehabt hatten.

»Wenn Sie von so weit herkommen«, fragte der Junge, »warum sind Sie dann nicht gleich nach Florida gefahren?«

»Weil es hier so schön ist«, erwiderte Effie.

Henry bestellte sich einen Hackbraten, Effie Fisch und Chips, und als der Junge den Notizblock wieder in die Gesäßtasche steckte, sagte er: »Tja, wenn Sie mal alles hinter sich lassen wollen, sind Sie hier genau richtig.«

Sie aßen schweigend. »Ich bin so froh, dass wir hergekommen sind«, sagte Henry.

An jenem Abend gingen sie früh hinauf in die Dachkammer und zu Bett. Es war noch nicht einmal acht Uhr.

Effie betete, wie ihre Großmutter es stets getan hatte: auf den Knien neben dem Bett, die Hände gefaltet, so murmelte sie vor sich hin. Henry wandte den Blick ab. Sie trug ein Nachthemd, ihre Brüste schwangen leicht hin und her, doch umgab sie nach dem Gebet eine Aura aus Frömmigkeit, die sein Verlangen dämpfte. Sie küsste ihn und sagte: »Ist es in Ordnung, wenn wir jetzt einfach nur schlafen?« Ihn ärgerte ihr mitleidiger Blick.

»Natürlich«, sagte er, »mehr will ich auch gar nicht.«

Im Dunkeln faltete er die Hände vor der Brust und betete stumm. Er dankte Gott für diesen Tag. Er bat um Glück und betete für ihre Zukunft. Er versprach, ein guter Ehemann zu sein. Dann lag er steif im Bett und horchte auf den Wind und das Geräusch der Wellen, das durch die offenen Fenster drang – er hatte einen Blähbauch, fürchtete, er könnte nachts einen fahren lassen, und wünschte sich, er wäre für eine Weile allein.

Der nächste Tag verlief besser. Es regnete, aber sie waren hungrig, und da es im Haus nichts zu essen gab, mussten sie nach draußen gehen. Sie wurden klitschnass, ehe sie in der Stadt ein Lebensmittelgeschäft fanden.

Und wie es der Zufall wollte, trafen sie hier sogar einige Leute. Wettergegerbte Männer in erbsengrünen Mänteln – Fischer vermutlich. Eine Gruppe Kadetten der Küstenwache von der Ausbildungskaserne im Norden der Stadt. Einige Männer und Frauen mit Regenschirmen, die Besorgungen erledigten. Sie kamen an einer Grundschule vorbei, und hinter mindestens einem ihrer Fenster brannte Licht, allerdings sahen sie keine Kinder. In der Stadtmitte, einige Straßen weiter landeinwärts, war ein Süßwarenladen geöffnet, eine Kurzwarenhandlung, ein Lebensmittelgeschäft in der Washington Street, außerdem noch ein Eisenwarenladen und ein Spirituosengeschäft. Der alte Verkäufer im Lebensmittelgeschäft schien sich über ihren Anblick ebenso zu freuen, wie sie sich freuten, ihn zu sehen, und Effie rief ihm ihre Bestellungen zu, als wollte sie ein Festessen veranstalten: eine Schweinelende, ein Pfund Rotbarsch, ein Laib Brot, ein Pfund Butter, Schinken in Scheiben, Käse, Kartoffeln, Eier, Pfirsichmarmelade, Pflaumen, Äpfel, Erdbeeren – sie würde die Küche mit diesem Überreichtum füllen. Auf dem Rückweg wurde der Regen zum Wolkenbruch, und sie fingen an zu rennen, jeder eine Tüte mit Lebensmitteln an sich gepresst, deren Papier in ihren Armen weich wurde und dunkel anlief. Außer Atem kamen sie an und krümmten sich vor Lachen. Sie stellten die Einkäufe ab, schälten sich in der Dachkammer aus den nassen Sachen, pfiffen auf die Erinnerungen und liebten sich auf dem Badehandtuch, das sie übers Laken gelegt hatten.

Hinterher schmiegte sie sich nackt an ihn – so beiläufig, als wäre jetzt schon nichts weiter dabei. »Tut mir leid, dass ich gestern so mies gelaunt war«, sagte sie.

»Warst du doch gar nicht, Eff«, erwiderte er. Sein Penis lag an ihren Schenkel gekippt. Ihm gefiel, wie das aussah. »Du bist nur müde gewesen. Jetzt sind wir angekommen.«

Sie nickte, ihr Kopf bewegte sich an seiner Schulter. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen. »Ich finde es nur merkwürdig, wieder hier zu sein, weil es so ganz anders ist, als ich es in Erinnerung habe.«

Er küsste ihren Scheitel – das Haar war noch feucht – und tätschelte ihren nackten Hintern. »Was soll’s? Wir machen uns jetzt neue Erinnerungen.«

Sie schaute ihn an und lächelte. »Du bist wirklich süß, Henry.« Dann küsste sie ihn sanft, bedächtig, sodass er nach einer Minute wieder so weit war, und obwohl sie sich neckisch sträubte – »Ich habe dir doch gesagt, Henry, ich sterbe vor Hunger« –, legte sie sich nach einem leichten Stups über ihn, und sie fanden einander auf Anhieb.

Nach dem Essen saßen sie auf der vorderen Veranda und schauten in den kühlen, duftenden Regen, während Effie auf die Häuser in der Straße zeigte und ihm von den Leuten erzählte, die in den Sommern darin gewohnt hatten. Da waren die Woods im Haus gleich gegenüber, deren Tochter Betsy manchmal auf sie aufgepasst hatte, als sie noch klein gewesen war. Neben den Woods, in dem großen Haus mit dem Scheunendach, hatte ihre Freundin Vivian Healy gewohnt, deren älterer Bruder Charles in Korea gefallen war. Ein paar Häuser weiter auf derselben Straßenseite, in dem großen, dunkelroten viktorianischen Haus, wohnte ein älteres Ehepaar, das stets für sich blieb. Ihre Namen sollte sie nie erfahren. »Man hat sie immer nur gesehen, wie sie Hand in Hand auf dem Gehweg spazierten, und sie haben einen angelächelt und Hallo gesagt, mehr aber auch nicht. Da war niemand sonst, keine Kinder, keine Enkel. Nur die beiden.«

»Das werden wir beide eines Tages sein«, sagte Henry.

Effie lachte. »Sag so was nicht. Das ist so traurig.«

»Wieso traurig? Ich finde das schön.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Du und ich – ich fürchte, für uns wird es keinen Frieden geben. Wir werden eine ganze Rasselbande um uns haben.«

»Um Gottes willen«, sagte Henry. Sie hatte ihm längst deutlich gemacht, dass sie mindestens fünf Kinder haben wollte, alles Jungen, wenn es nach ihr ginge, dass sie sich auf ein Haus freute, das nie zur Ruhe kam, dass sie und Henry im hohen Alter im Mittelpunkt eines Mahlstroms quirligen Lebens stehen würden (Hunde wollte sie auch noch), und obwohl Henry Kinder eigentlich egal waren, Hunde auch – Effies Vorstellung ihrer Zukunft hatte ihn in den Wochen vor ihrer Hochzeit sogar erschreckt, wenn er ernsthaft darüber nachdachte –, machte ihn dieser Gedanke jetzt ganz leicht und einen kurzen Moment lang rasend glücklich. Sie würden es schon schaffen.

»Was lächelst du da?«, fragte sie.

»Ich lächle über dich.«

»Hör sofort damit auf!«, sagte sie und küsste ihn, ehe er etwas erwidern konnte.

Sie tranken Onkel Georges Brandy. In den Anweisungen, die er ihnen auf den Tisch im Esszimmer gelegt hatte, stand, sie dürften sich an der Hausbar bedienen, sollten sie aber mehr als eine halbe Flasche trinken, erwarte er, dass sie für Nachschub sorgten, und nannte die Adresse des Spirituosengeschäfts in der Washington Street. »Wir sollten in jeder Flasche genau die Hälfte übrig lassen«, sagte Henry, und Effie lachte. Dieser Onkel George, Tante Lizzies Witwer, wohnte in Philadelphia und war kein Blutsverwandter. Effie hatte nie viel über ihn erzählt, hatte nur die praktischen Fragen ihrer Reise mit ihm geklärt und wann das Haus verfügbar war. Henry meinte zu spüren, dass sie ihn nicht besonders mochte.

Zum Abendessen bereitete Effie den Rotbarsch zu – er klebte an der Pfanne und zerfiel, aber er schmeckte –, und hinterher stellten sie das Radio an, fanden einen Sender ohne allzu viel statisches Rauschen und tanzten in der Dachkammer zu »Chances Are«. Danach spielten sie eine Partie Dame, die Effie mühelos gewann. Mit dem nächsten Glas hatten sie die Flasche Brandy mehr als zur Hälfte geleert.

»Was kann er schon tun? Uns eine Rechnung schicken?«, fragte Henry.

»Zur Hölle mit King George«, sagte Effie. »Auf ex!«

Am Dienstag kam die Sonne zum Vorschein, und die Straßen und Plätze der Stadt glitzerten im Licht. Sie spazierten zum Leuchtturm, der auf einem felsigen Streifen am Ufer stand. Diese Stelle markierte, sofern Henry die Lage der Stadt richtig im Kopf hatte, das südlichste Ende von New Jersey. Vor ihnen lag das offene Meer, linker Hand lag das offene Meer, und irgendwo rechts von ihnen, auf der anderen Seite der Halbinsel, war Delaware Bay. Und jetzt, da die Sonne schien, leuchtete das Meer königsblau. »Denk nur«, sagte er und zeigte zum Horizont, »zehntausend Meilen in diese Richtung liegt die Antarktis oder Südafrika oder was auch immer. Wir könnten schwimmen und schwimmen und würden doch nie irgendwo ankommen.«

Als sie keine Antwort gab, schaute er sie an und sah, dass sie die Stirn runzelte. Effie war seit dem Morgen ein wenig mürrisch. Sie hatten beide zu viel getrunken. »Aber das stimmt nicht«, sagte sie. »Da geht’s nach Westen.«

Unmut flammte in ihm auf. Er hatte doch nur versucht, die Stimmung ein wenig aufzuheitern. »Wieso sollte das Westen sein? Man sieht nur Meer, so weit das Auge reicht.«

»Nein, drüben liegt Delaware«, sagte sie. »Mit einem Fernglas könnte man es erkennen – wenn wir nach Hause kommen, zeige ich es dir auf der Karte.« Sie zeigte nach links. »Das da ist Süden. Würdest du in diese Richtung schwimmen, kämest du irgendwann zur Antarktis, nach Südafrika oder wohin auch immer. Aber ehrlich gesagt, ich fürchte, du würdest vorher noch auf Venezuela stoßen.«

Egal. Er schlang die Arme um sie und küsste sie auf den Kopf. »Na schön, mein kleiner Weltatlas, Süden ist Westen und Osten ist Norden.« Lächelnd schob sie ihn von sich fort.

Sie liebten sich jeden Morgen vor dem Aufstehen und dann wieder am späten Nachmittag. Sie waren sanft zueinander und rücksichtsvoll. Er streichelte sie zwischen den Beinen, war aber zu schüchtern, genauer hinzusehen. Er küsste ihre Brüste, ihren weichen, rundlichen Bauch, ihr beeindruckendes Schamhaarnest, das nach Leinen roch, aber weiter wagte er sich nicht vor, da er fürchtete, sie zu verletzen, fürchtete, sie könnte vor ihm zurückschrecken, ihn auslachen oder pervers nennen. Wie könnte er sie fragen, was sie wollte? Wie könnte er ihr sagen, was er wollte? Manchmal nahm sie behutsam seinen Penis in die Hand, und er hob die Hüfte an, um sie zu ermutigen – er wollte, dass sie ihn fester hielt (wenn auch nicht zu fest), träumte davon, dass sie ihn in den Mund nahm –, doch sie scheute davor zurück, hatte Angst, ihm wehzutun, oder mochte nicht, war vielleicht angewidert. Er wusste es nicht. Doch sie liebten sich, Worte waren unnötig, und von Mal zu Mal fanden sie es selbstverständlicher. Er bewegte sich langsam, behutsam, hielt sich so lang wie nur möglich zurück. Das Kopfende vom Bett tippte rhythmisch an die Wand. Sie atmete ihm ins Ohr, ihre Finger in seinem Haar.

Wenn sie danach dann frühstückten oder einen neuen Weg in die Stadt ausprobierten, wirkte sie abwesend, und manchmal gingen sie eine halbe Stunde, ohne ein einziges Wort zu reden. Er musste sich daran erinnern, dass solch ein Schweigen nicht unbedingt peinlich war, dass es sogar ein Zeichen ihrer Vertrautheit sein konnte, wenn sie nicht immerzu reden mussten. Trotzdem fragte er sich unwillkürlich, ob Effie, wäre er nur ein aufgeweckterer Mensch, nicht so still und in sich gekehrt – eher lustig und so gesellig wie sein bester Freund Hoke, den Effie vergötterte –, ob sie dann nicht vielleicht glücklicher wäre.

Die Tage waren lang. Es gab wenig zu tun. Effie machte nachmittags ein Nickerchen, und Henry genoss die Zeit allein. Seit der Hochzeit litt er unter Verstopfung, und nur wenn sie schlief, traute er sich, es zu versuchen – weit fort von ihr auf der Toilette neben der Küche. Das Resultat blieb stets unbefriedigend. Anschließend fühlte er sich weiterhin wie aufgebläht und saß bei offenem Fenster in der Dachkammer oder auf der hinteren Veranda, wo die Birken beruhigend rauschten.

Er las Boswells Dr. Samuel Johnson, Leben und Meinungen, ein Buch, das ihm von Onkel Carswall zur Hochzeit geschenkt worden war. Carswall hatte es als junger Mann gelesen, und es sei ihm, sagte er, ein guter Leitfaden gewesen. »Du wirst ständig an dir arbeiten, junger Mann, und es wird immer ein Kampf sein, aber es ist dieser Kampf, der dich zu einem guten Menschen macht.« Henry gefiel die Idee; er hatte eine Vorstellung von dem Mann, der er sein wollte – tugendhaft, bescheiden, stark und mutig, stets gut gelaunt, doch all das in gesunder Dosierung –, und er war durchaus bereit zu lernen. Bislang aber fand er das Buch enorm langweilig, weshalb er nie mehr als einige Sätze lesen konnte, ehe seine Gedanken abschweiften.

Am Donnerstagmorgen spazierten sie zum Hafen, um sich die Schiffe anzusehen. Am Ende des Piers stand ein achteckiges Gebäude mit großen Fenstern auf allen Seiten. Effie meinte sich zu erinnern, dort auf Partys gewesen zu sein. Der Eingang war mit einem Vorhängeschloss gesichert; ein neu aussehendes Poster, das einen Halloweenkürbis mit Seemannsmütze zeigte, warb allerdings für ein Kostümfest am Freitag, den elften Oktober.

»Ist das nicht morgen?«, fragte Henry, aber Effie verneinte und meinte, das sei erst nächsten Freitag.

»Hey«, sagte er, »unser letzter Abend.« Er griff nach ihrer Hand. »Und es wird getanzt. Das wäre doch was, oder?«

Seine Begeisterung schien sie kaltzulassen. Sie strich mit den Fingerspitzen über das Plakat. »Mein Gott«, sagte sie, »ich kann gar nicht glauben, dass wir noch so lange hier sind.«

Sie gingen runter zum Strand und liefen am Wasser entlang, die Schuhe in der Hand.

»Weißt du«, sagte sie nach langem Schweigen, »wir müssen ja nicht die ganzen zwei Wochen hierbleiben. Wenn wir den Zug am Sonntag nehmen, sind wir Montagfrüh wieder zu Hause.«

»Willst du denn abreisen?«, fragte er.

»Vielleicht?«

Von hier aus gesehen, war Cape May wunderschön. Das Meeresufer verlor sich vor ihnen in der Ferne, auf der einen Seite der Strand mit dem hohen Gras und weiter fort die großen viktorianischen Hotels mit ihren Säulen und gestreiften Markisen. Verglichen damit wirkte Signal Creek trostlos. Kiefernwälder, Baumwoll- und Erdnussfelder, der Courthouse Square, das karamellfarbene Flüsschen. Carswall und Henrys Mutter ließen einen Anbau des Hauses – großspurig »der alte Flügel« genannt – für sie renovieren. Ein Wohnzimmer mit einem Bullerofen, Schlafzimmer, Bad, dazu ein winziges, hoffnungsfroh für ein künftiges Baby gedachtes Kinderzimmer. Der Gedanke, ihr Leben dort aufzunehmen – so bald schon –, deprimierte ihn. »Ich will noch nicht weg«, sagte er. »Ich könnte noch ewig bleiben.«

Effie lächelte ihn an. »Freut mich, dass es dir so geht.« Sie blieb stehen, um eine Muschel aus dem flachen, feuchten Sand zu ihren Füßen aufzuheben und in der Hand umzudrehen. »Ich find’s hier nur traurig, Henry. Traurig und – ich weiß nicht.« Sie sah an ihm vorbei. »Langweilig, glaube ich.«

Das tat weh, und er machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber sie redete nichts ahnend weiter:

»Tante Lizzie ist tot. Von meinen alten Freundinnen ist keine mehr da. Onkel George … Hast du gewusst, dass er Miete fürs Haus haben wollte und Mama ihm das ausreden musste? Sie erinnerte ihn daran, dass wir technisch gesehen zu seiner Familie gehören. Es war ihr so peinlich.« Henry verstand nicht, was das damit zu tun hatte, sagte aber nichts. »Es ist mir schleierhaft, was ich mir dabei gedacht habe. Der Junge beim Abendessen hatte recht: Wir hätten nach Florida fahren sollen.«

»Eff«, sagte er und sammelte sich, »wir können nicht früher nach Hause fahren.«

»Ach, Henry …«

»Nein, hör zu«, erwiderte er, war sich aber nicht sicher, was er eigentlich sagen wollte. Wie erniedrigend es sein würde. Wie alle darin ein Scheitern sehen würden, obwohl es das eigentlich doch nicht war: Sie würden es jedenfalls denken, und das setzte sich fest, und irgendwann wäre es dann wahr. »Denk nur an deine Mama«, sagte er. »An meine Mama. Was die sagen würden.«

Seine Worte schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Effie nickte und warf die Muschel fort. Sie gingen weiter, und Henry glaubte, sich durchgesetzt zu haben, auch wenn er nicht wusste, wozu das gut sein sollte, wenn Effie für den Rest ihrer Zeit hier in Cape May deprimiert und gelangweilt sein würde. Nach wenigen Minuten aber sagte sie: »Ist mir egal, was die Leute reden, Henry. Ich will einfach wieder nach Hause.«

Also würden sie am Sonntagnachmittag abreisen. Wenigstens blieb ihnen noch das Wochenende. Anfangs war Henry verletzt und wütend – nach alldem, was sie hier gemeinsam erlebt hatten, fand er es gemein von ihr, jetzt zu behaupten, sie sei traurig und langweile sich –, bald aber fühlte er sich wie von einem Leichentuch befreit, nun, da ihre Flitterwochen ruiniert waren. Nach dem Abendessen – die Schweinelende schmeckte köstlich – griffen sie wieder zu Onkel Georges Brandy, und ein Gefühl von Abschied legte sich über den Abend. Sie nahmen die Flasche mit auf die vordere Veranda und sahen zu, wie das Licht aus den Ulmen schwand. Sie erzählten sich Geschichten. Dass Betty Moody von Maynard Givens ein Baby wollte. Dass Suzie Blanchard krachende Fürze fahren lassen konnte, wenn sie nur unter Mädchen war. Dass Hoke versucht hatte, mit dem Fahrrad über Lords Güllegrube zu springen. Henry liebte diese seltenen Gelegenheiten, in denen er Effie zum Lachen bringen konnte, wenn sie für einen Moment die Fassung verlor und ihr ganzer Oberkörper bebte. »Hör auf, hör auf«, rief sie, »sonst mache ich mir noch in die Hose.« Sie tranken den Brandy aus und öffneten den Scotch, dessen Namen sie nicht aussprechen konnten. »Ist bestimmt teuer«, sagte er, und sie prosteten sich zu. Draußen war es jetzt dunkel; sie stellten das Radio an, und leise, beschwingte Musik drang zu ihnen auf die vordere Veranda. Sie schwiegen selig – eine angenehme Stille diesmal, betrunken und zufrieden –, als Henry ein Licht am Ende der Straße bemerkte.

Er stand auf und trat ans Geländer, um besser sehen zu können. Hinter den Fenstern des Eckhauses brannte Licht – drei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite, an der Kreuzung New Hampshire Avenue und Madison Avenue. Er rief Effie.

»Ist das zu fassen?«, sagte sie.

Sie waren nicht länger allein.

»Von dem Haus hast du nie was erzählt«, sagte er. »Weißt du noch, wer da gewohnt hat?«

Sie dachte nach. »Nein«, sagte sie. »Ist zu lange her.«

Mit dem Drink in der Hand gingen sie den Bürgersteig entlang, bis sie direkt vor dem Haus standen. Im Dunkeln blieb der größte Teil davon unsichtbar, nur die unteren Fenster leuchteten hell. Sie beobachteten, lauschten auf ein Lebenszeichen, doch nichts regte sich hinter den Vorhängen, und sie konnten nur die Brandung und den Wind in den Bäumen hören.

»Sollen wir Hallo sagen?«, fragte Henry.

Effie strich sich über ihr Haar. »Nein, um Himmels willen, nein. Es ist viel zu spät.« Sie hielt ihr Glas hoch. »Wir sähen doch aus, als wären wir betrunken, oder?«

»Dann vielleicht morgen.«

Sie nickte. Einige Sekunden blieben sie noch stehen und starrten in die Fenster, bis Effie meinte, sie benähmen sich wie Spanner, woraufhin sie zurück zu ihrem Haus gingen.

Auf ihrem Weg zum Strand – endlich war es mal ein milder Tag, weshalb Effie meinte, sie könnten vielleicht sogar baden gehen – kamen sie am nächsten Morgen an dem Eckhaus vorbei und sahen in der Auffahrt drei nebeneinander geparkte Autos stehen: einen kleinen roten Sportwagen, ein babyblaues Cadillac-Cabrio und eines, das Henry für einen Rolls-Royce hielt, auch wenn er selbst noch nie einen gesehen hatte. Sie waren reich, diese Leute. Allerdings wuchs das Unkraut auf dem Rasen noch höher als in den übrigen Gärten an der Straße, und das ein wenig ins Dämmerlicht der Bäume zurückgesetzte Haus wirkte wie verdammt.

Das Meer war zum Schwimmen zu aufgewühlt, also kletterten sie auf einen der hohen Rettungsschwimmersitze und schauten hinaus auf die Brandung. Effie versuchte, sich daran zu erinnern, wer in dem Haus gewohnt hatte, dabei hielt sie die breite Krempe ihres Huts mit beiden Händen fest, damit er nicht davonflog. »Ich denke, es könnten die Richards gewesen sein. Sie hatten eine Tochter, Mattie, die war ein paar Jahre älter als ich, aber genau weiß ich das nicht, vielleicht haben sie auch drüben in der Maryland Avenue gewohnt. Womöglich ist es auch niemand von früher. Viele dieser Grundstücke haben den Besitzer gewechselt.«

Als sie auf dem Rückweg wieder an dem Haus vorbeikamen, parkten auf der Straße zwei weitere Autos – ein lang gezogener, blitzender Buick und noch ein Cadillac. »Da findet bestimmt eine Party statt«, sagte Henry.

»Oder eine Familienfeier. Könnte unhöflich sein, einfach so reinzuplatzen.«

»Wer redet denn von reinplatzen? Wir wollen doch nur Hallo sagen.«

Sie beschlossen, um fünf hinzugehen, das sei früh genug, dachte Effie, um die Neuankömmlinge nicht beim Abendessen zu stören. »Wir schauen nur vorbei«, sagte sie. »Wenn sie uns einladen, schön. Wenn nicht – nun, dann sehen wir uns in der Stadt um, ob da nicht wenigstens an einem Freitag ein bisschen Leben herrscht.«

Aus irgendeinem Grund waren sie nervös; er merkte Effie jedenfalls an, dass es ihr so ging wie ihm. Vielleicht lag es am Rolls-Royce in der Auffahrt. Vielleicht aber auch daran, dass sie sich absurderweise eine Art Rettung erhofften und die nicht vermasseln wollten. Henry trug seine gute Hose, Halbschuhe und einen grauen Blazer. Effie hatte ihr dunkelblaues Kleid mit dem weißen Kragen angezogen, ein weißer Gürtel schnürte sich eng um ihre Taille. Sie hatte das Haar hochgesteckt und sah hübsch aus, besonders im Licht dieses späten Nachmittags, wenn auch nicht so, als hätte sie sich für eine Party zurechtgemacht, was vielleicht etwas anmaßend gewirkt hätte.

Am Bürgersteig parkte ein weiteres Auto. Das machte insgesamt nun sechs. Sie folgten dem fast vollständig von Unkraut überwucherten Kiesweg zur Haustür.

Die Tür stand offen, und durch das Fliegengitter konnten sie bis zu den rückwärtigen Fenstern sehen, entdeckten aber niemanden im Haus. Effie zog an dem Strang neben der Tür, und innen ertönte eine Glocke. Sie warteten. Nach einer Minute zog sie erneut, und endlich rief eine Stimme von irgendwo tief aus dem Innern – »Komme schon!« Eine adrette Frau mit blondem, elegant frisiertem Haar und einem weißen, schulterfreien Kleid stieß das Fliegengitter auf. »Hallo!«, rief sie und schaute dabei Henry an, dessen Blick unwillkürlich zu ihren Brüsten wanderte. »Sie müssen …« – sie schien nach dem richtigen Namen zu suchen, bereit, sich höchst erfreut zu zeigen, wer immer da auch vor ihr stehen mochte.

»Wir wohnen ein paar Häuser weiter«, sagte Effie, »und wollten gerade essen gehen, als wir die Autos sahen und dachten, wir stellen uns einfach mal vor. Ich hoffe, das ist Ihnen nicht unangenehm.«

Bei Effies Worten schwand die Begeisterung aus dem Gesicht der Frau, und sie beugte sich vor, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. »Nein«, sagte sie dann. »Nein, das darf ja nicht wahr sein – das darf einfach nicht wahr sein. Ist das etwa meine kleine Belle?«

Effie schaute zu Henry, als müsste er die Antwort darauf wissen.

»Du meine Güte!«, rief die Frau. »Du bist es! Du bist das kleine Südstaatenmädchen vom Ende der Straße! Mein Gott – ich werde gleich ohnmächtig!« Die Frau schlang ihre Arme um Effie und drückte sie an sich; Effie aber reckte den Kopf, als bekäme sie keine Luft mehr. Sie wirkte erschrocken. Endlich ließ die Frau sie los und sagte: »Erinnerst du dich nicht an mich? Du brichst mir das Herz, wenn du dich nicht mehr an mich erinnerst.«

Und plötzlich schien Effie ein Licht aufzugehen. »Clara?«, fragte sie. »Clara Strauss?«

»Ja!«, schrie die Frau und klatschte in die Hände.

Effie lächelte über das ganze Gesicht, doch Henry kannte sie gut genug, um es besser zu wissen: Sie bereute es, dass sie hergekommen waren.