Cover

Zum Buch

Es beginnt wie in einem Traum. Um halb acht Uhr abends betritt Sabrina ein New Yorker Restaurant, um nach guter alter Tradition mit ihrer besten Freundin Jessica Geburtstag zu feiern. Als sie durch die Tür tritt, traut sie ihren Augen nicht: Neben Jess erwarten sie dort in bester Feierlaune Sabrinas ehemaliger Philosophie-Professor, ihr Vater, ihr Ex-Verlobter Tobias – und Audrey Hepburn. Sie alle sind Wunschgäste einer geheimen Liste, die Sabrina vor langer Zeit anfertigte. Sabrina ist verzaubert und verwirrt, ihren Vater hat sie seit 20 Jahren nicht gesehen, und Tobias, ihre große Liebe, stahl sich urplötzlich aus ihrem Leben. Darf sie auf eine zweite Chance hoffen? Und dann ist da ja auch noch Audrey Hepburn …

Zur Autorin

REBECCA SERLE ist Autorin und Drehbuchschreiberin und lebt in New York und Los Angeles. Bekannt wurde sie durch ihre Jugendbuchreihe »Famous in Love«, die erfolgreich verfilmt wurde.

Rebecca Serle

Roman

Aus dem Englischen
von Judith Schwaab

Die Originalausgabe erschien 2018
unter dem Titel »The Dinner List« bei Flatiron Books, New York.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2019,

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Rebecca Serle

Covergestaltung: semper smile, München

nach einem Entwurf von Nancy Rouemy unter Verwendung
von Illustrationen von © Laura Worthington

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-23151-4
V002

www.btb-verlag.de

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Für meine Großmutter Sylvia Pesin, die mir eins beigebracht hat: Zuallererst musst du dich selbst lieben, Baby.


Und für ihren Sam – die erste Person auf meiner Liste.

Wieviel Meilen nach Babylon?
Siebzig. Wenn’s hoch kommt, noch zehn.
Kann ich dorthin bei Kerzenlicht?
Ja, auch zurück kannst du gehen;
Wenn deine Fersen flink sind und leicht,
Kommst du bei Kerzenlicht hin vielleicht.

Englischer Kinderreim

Die Sterne, die du bei Nacht siehst,
sind die Augen schlummernder Elefanten.
Sie schlafen mit offenen Augen,
ohne zu blinzeln,
um besser über uns zu wachen.

Gregory Colbert, Ashes and Snow

19 UHR 30

Wir warten schon seit einer Stunde«, sagt Audrey. Sie sagt es ein wenig spitz, es klingt wie ein Tadel. Das ist das Erste, was ich denke. Nicht: Audrey Hepburn ist bei meinem Geburtstagsessen zu Gast, sondern: Audrey Hepburn ist verärgert.

Ihre Haare sind länger, als ich sie in Erinnerung habe. Allem Anschein nach trägt sie einen Hosenanzug, was jedoch nicht genau zu erkennen ist, weil ihre Beine unter dem Tisch verborgen sind. Das Top darunter ist schwarz, hat einen cremefarbenen Kragen und darunter drei runde Knöpfe. Eine Strickjacke hängt über ihrem Stuhlrücken.

Ich bleibe stehen. Schaue sie mir an. Schaue sie mir alle an. Sie sitzen an einem runden Tisch, genau in der Mitte des Restaurants. Audrey gegenüber der Tür, Professor Conrad zu ihrer Rechten, Robert links von ihr. Tobias sitzt auf der anderen Seite von Robert, links von ihm Jessica. Der leere Stuhl zwischen den beiden ist meiner.

»Wir haben schon mal ohne dich angefangen, Sabrina«, sagt Conrad und hebt sein Weinglas. Er trinkt einen schweren Rotwein, genau wie Jessica. Audrey hat einen Scotch im Glas, ohne Eis; Tobias ein Bier; Robert nichts.

»Willst du dich nicht setzen?«, fragt mich Tobias. Seine Stimme klingt ein wenig rau; vermutlich raucht er immer noch.

»Ich weiß nicht«, sage ich. Ich wundere mich selbst darüber, dass ich sprechen kann, denn das hier ist völlig verrückt. Vielleicht träume ich nur. Vielleicht ist das hier so etwas wie ein Nervenzusammenbruch. Ich blinzele. Wenn ich die Augen wieder aufmache, sitzt vielleicht wirklich nur Jessica am Tisch, damit habe ich gerechnet. Auf einmal verspüre ich den deutlichen Drang, das Lokal fluchtartig zu verlassen, oder vielleicht auf die Toilette zu gehen und mir ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Vielleicht finde ich so ja heraus, ob sie wirklich da sind oder nicht – ob wir tatsächlich alle hier zusammensitzen.

»Bitte«, sagt er. Seine Stimme klingt einen Hauch verzweifelt.

Bitte. Bevor er wegging, war das das Wort, das ich verwendet habe. Bitte. Damals hat es nicht gewirkt.

Ich denke darüber nach. Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Weil Conrad gerade Merlot aus der Flasche einschenkt und weil ich nicht ewig hier stehen bleiben kann.

»Das ist doch vollkommen verrückt«, sage ich. »Was ist hier los?«

»Du hast Geburtstag«, sagt Audrey.

»Ich liebe dieses Restaurant«, sagt Conrad. »Hat sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht verändert.«

»Dass ich kommen würde, wusstest du doch«, sagt Jessica. »Wir machen einfach Platz für ein paar mehr Leute.« Ich frage mich, was sie gesagt hat, als sie herkam. Ob sie überrascht war oder erfreut.

»Wir könnten uns unterhalten«, sagt Robert.

Tobias sagt nichts. Das war immer unser Problem. Er ist ein großer Anhänger des beredten Schweigens. Ihn so nah bei mir zu haben, irritiert mich mehr als diese ganze unfassbare Situation. Ich setze mich.

Um uns herum herrscht Trubel, die Gäste lassen sich nicht von dem beirren, was an unserem Tisch vorgeht. Ein Vater versucht ein kleines Kind zu beruhigen, ein Kellner gießt Wein ein. Es ist ein kleines Restaurant, insgesamt vielleicht zwanzig Tische. An der Tür stehen mehrere Töpfe mit roten Hortensien, und oben, zwischen Wand und Decke, baumeln weihnachtliche Lichterketten und spenden ein weiches Licht. Immerhin ist es Dezember.

»Ich brauch was zu trinken«, erkläre ich.

Professor Conrad klatscht in die Hände. Ich erinnere mich, dass er das immer getan hat, wenn der Unterricht zu Ende war oder er etwas zu verkünden hatte. Es war seine Art, zum Handeln aufzufordern. »Ich hab zu diesem ganz besonderen Anlass den weiten Weg aus Kalifornien angetreten, also könntest du mich wenigstens davon in Kenntnis setzen, was eigentlich aus dir geworden ist. Ich weiß nicht mal mehr, was dein Hauptfach war.«

»Kurzes Update über mein Leben gefällig?«, frage ich.

Neben mir rollt Jessica mit den Augen. »Kommunikationswissenschaften«, erklärt sie an meiner Stelle.

Professor Conrad legt in gespieltem Entsetzen die Hand an die Brust.

»Ich bin Lektorin bei einem Verlag«, rechtfertige ich mich. »Jessica, was ist hier los?«

Jessica schüttelt den Kopf. »Das hier ist dein großes Dinner.« Meine Liste. Natürlich kennt sie die. Sie war dabei, als ich die Liste aufgestellt habe, es war ihre Idee. Die fünf Menschen, lebendig oder tot, mit denen man gerne einmal zu Abend essen würde.

»Findest du nicht, dass das verrückt ist?«, frage ich.

Sie trinkt einen Schluck Wein. »Ein bisschen. Aber es passieren jeden Tag verrückte Dinge. Habe ich dir das nicht immer schon gesagt?«

Als wir damals in diesem vollgestopften Apartment in der Twenty-First Street zusammenwohnten, hängte sie überall in der Wohnung inspirierende Sprüche auf. Am Badezimmerspiegel. Auf dem Ikea-Tisch, wo unser Fernseher stand. Direkt neben der Tür. Sorgen ziehen das an, was man sich nicht wünscht. Der Mensch plant, und Gott lacht.

»Sind jetzt alle da?«, fragt Robert.

Audrey hebt die Hände. »Ich hoffe es sehr«, sagt sie.

Ich nehme einen Schluck Wein. Hole tief Luft.

»Ja«, antworte ich. »Wir sind vollzählig.«

Sie schauen mich an. Alle fünf. Erwartungsvoll, hoffnungsvoll. Als wäre es an mir, ihnen zu sagen, warum sie hier sind.

Aber das kann ich nicht. Jedenfalls noch nicht. Deshalb klappe ich stattdessen meine Speisekarte auf.

»Dann lasst uns mal bestellen««, sage ich. Das tun wir dann auch.

EINS

Zum ersten Mal begegnete ich Tobias bei einer Kunstausstellung am Pier von Santa Monica. Vier Jahre später tauschten wir unsere Handynummern in einer New Yorker U-Bahn, die wegen Stromausfall auf Höhe der Fourteenth Street stecken geblieben war, und hatten unser erstes Rendezvous auf der Brooklyn Bridge. Unsere Liebesgeschichte dauerte exakt zehn Jahre, auf den Tag genau. Doch wie man so schön sagt – hinterher ist man immer schlauer, und es ist leichter, den Anfang zu betrachten als das Ende.

Ich war damals am College, zweites Studienjahr an der University of Southern California, und nahm gerade an Professor Conrads Philosophieseminar teil. Zu dem Kurs gehörte auch ein wöchentlicher Ausflug, den die Studenten im Wechsel organisierten. Einmal besuchten wir gemeinsam den Hollywood-Schriftzug in den Hügeln von Santa Monica, ein anderes Mal besichtigten wir ein verlassenes Haus am Mulholland Drive, entworfen von einem berühmten Architekten, von dem ich vorher noch nie gehört hatte. Ich war mir nicht ganz sicher, was er damit bezweckte, außer dass Conrad, wie er selbst zugab, den Seminarraum gerne verließ. »Das ist kein Ort, an dem man etwas lernen kann«, sagte er oft.

Als ich an der Reihe war, fiel meine Wahl auf die Ausstellung Ashes and Snow. Ich hatte von einigen Freunden darüber gehört, die sie sich am Wochenende zuvor angesehen hatten. Am Strand direkt neben dem Pier waren zwei große Zelte aufgebaut worden, in denen der Künstler Gregory Colbert sein Werk ausstellte – große, wunderschöne Fotos von Menschen, die in Harmonie mit wilden Tieren lebten. Das ganze Jahr 2006 über hatte eine riesige Plakatwand am Sunset Boulevard mit einem dieser Fotos geworben – mit dem Bild eines kleinen Jungen, der einem knienden Elefanten vorliest.

Es war die Woche vor Thanksgiving. Am nächsten Tag würde ich nach Philadelphia fliegen, um die Feiertage bei der weit verzweigten Familie meiner Mutter zu verbringen. Mom überlegte gerade, wieder zurück an die Ostküste zu ziehen, woher sie stammte. Seit ich sechs war und mein Vater uns verlassen hatte, lebten wir in Kalifornien.

Meine Stimmung war gedämpft. Ich weiß noch, dass ich mich über mich selbst ärgerte, weil ich mir die Organisation der Exkursion aufgehalst hatte, obwohl so viel anderes zu tun war. Außerdem hatte ich Zoff mit Anthony – einem Wirtschaftsstudenten, mit dem ich locker liiert war und der das Wohnheim seiner Studentenverbindung nur selten verließ, es sei denn für eine dieser Saufpartys, die »Reise um die Welt« genannt wurden, obwohl man bestenfalls den Weg zum Klo zurücklegen musste, nachdem man zu viel durcheinander getrunken hatte. Unsere Beziehung war reine Illusion, genährt von SMS und den Nächten im Suff, die wir gelegentlich auf der Suche nach etwas Nähe miteinander verbrachten. In Wirklichkeit warteten wir beide auf etwas Besseres. Anthony war zwei Jahre älter als ich, schon im Hauptstudium und hatte bereits einen Bankerjob in New York in der Tasche. Insgeheim dachte ich, vielleicht würden wir ja irgendwann doch mit dem Geplänkel aufhören und eine ernsthafte Beziehung beginnen, aber das passierte natürlich nie.

Ashes and Snow war atemberaubend. Im Zelt herrschten Drama und Ruhe zugleich – als würde man auf einer Klippe am Abgrund Yoga machen.

Unsere Gruppe zerstreute sich schnell, fasziniert von der enormen Kraft der Bilder. Ein Kind, das einen Löwen küsst; ein kleiner Junge, der an einen Luchs gekuschelt schläft; ein Mann, der mit Walen schwimmt. Dann sah ich ihn. Er stand vor einem Foto, das selbst in der Erinnerung mein Herz so sehr in Aufruhr versetzt, dass ich mich zusammenreißen muss. Es zeigte einen jungen Mönch mit geschlossenen Augen, hinter sich die ausgebreiteten Schwingen eines Adlers.

Ich fühlte mich ganz unmittelbar in einen Zustand größter Ehrfurcht versetzt. Ehrfurcht vor den Fotos, besonders diesem, und vor dem jungen Mann, der vor dem Foto stand. Struppiges braunes Haar. Tief sitzende Jeans. Zwei braune Shirts übereinander wie Schichten von getrocknetem Schlamm. Seine Augen sah ich nicht sofort. Ich wusste noch nicht, dass sie von einem sengenden Grün waren, wie Edelsteine, so geschliffen scharf, dass man das Gefühl hatte, von ihnen durchbohrt zu werden.

Ich stand neben ihm. Wir schauten uns nicht an. Minutenlang. Fünf Minuten, vielleicht mehr. Ich hätte nicht sagen können, was ich sah – ihn oder den Jungen auf dem Foto. Aber ich spürte eine Art elektrischer Spannung zwischen uns; auch der aufgewühlte Sand zu unseren Füßen war wie aufgeladen. Alles lief in diesem einen Augenblick zusammen. Einen wunderschönen, köstlichen Moment lang gab es nichts, was uns trennte.

»Ich war schon viermal hier«, sagte er zu mir, ohne den Blick von dem Bild abzuwenden. »Kann mich einfach nicht von ihm trennen.«

»Er ist schön«, sagte ich.

»Die ganze Ausstellung ist ziemlich unglaublich.«

»Gehst du auf die Uni?«, fragte ich.

»Mm-hm«, bejahte er. Jetzt schaute er mich an. »UCLA. University of California.«

»USC.« Ich tippte auf meine Brust.

Wäre er ein anderer Typ gewesen – sagen wir, Anthony –, hätte er das Gesicht verzogen und über die Rivalität zwischen den beiden Universitäten gesprochen. Aber ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt wusste, dass unsere Sportmannschaften verfeindet waren – Trojans gegen Bruins.

»Was studierst du?«, fragte ich ihn.

Er wies auf das Bild vor uns. »Ich bin Fotograf«, sagte er.

»Und was fotografierst du?«

»Ich bin mir noch nicht so sicher. Im Moment gelingt mir eher selten was.«

Er lachte, und ich lachte mit. »Das möchte ich bezweifeln.«

»Und wieso?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich und schaute zum Foto zurück. »Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.«

Eine Gruppe junger Mädchen lungerte in der Nähe herum und starrte ihn an. Als ich zu ihnen hinüberschaute, kicherten sie und verschwanden. Ich konnte es ihnen nicht verübeln – er war einfach atemberaubend.

»Und was ist mit dir?«, fragte er. »Lass mich raten. Theater.«

»Haha. Knapp daneben. Kommunikationswissenschaften.«

»Eben. Dachte ich’s mir doch.« Er zeigte mit dem Finger auf mich. Am liebsten hätte ich danach gegriffen. »Kommunikativ zu sein kann jedenfalls nicht schaden.«

Das Allerwichtigste bei der Kommunikation ist es, das zu hören, was unausgesprochen bleibt.

»Sagt meine Mom auch immer.«

In diesem Moment drehte er sich zu mir, und seine Augen öffneten sich unter meinem Blick. Anders kann ich es nicht beschreiben. Als würde man einen Schlüssel im Schloss umdrehen. Auf einmal war die Tür offen.

Eine Brise kam auf, und meine Haare flatterten im Wind. Damals waren sie noch länger, viel länger als heute. Ich versuchte, sie mit den Händen zusammenzuhalten, aber es war, als wollte man einen Schmetterling fangen. Sie entwischten mir immer wieder.

»Du siehst aus wie ein Löwe«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte meine Kamera dabei.«

»Sie sind zu lang«, sagte ich und spürte, wie ich rot wurde. Hoffentlich war das hinter meiner Mähne nicht zu sehen.

Er lächelte mich nur an. »Ich muss jetzt los«, sagte er. »Auch wenn ich das eigentlich noch gar nicht will.«

Ich konnte Conrad hinter ihm sehen, der vier Studenten aus meiner Gruppe vor dem fast lebensgroßen Bild einer Giraffe einen Vortrag hielt. Conrad winkte mich herüber. »Ich auch«, sagte ich. »Ich meine, ich auch nicht.«

Ich hätte gern noch mehr gesagt oder hoffte, er würde es tun. Ich stand reglos da und wartete darauf, dass er mich nach meiner Nummer fragte. Oder nach sonst irgendwas. Doch er tat es nicht. Er winkte mir nur kurz zu und ging weiter, zuerst auf Conrad zu, dann aus dem Zelt. Ich wusste nicht einmal, wie er hieß.

Jessica war zu Hause, als ich in unser Wohnheim zurückkam. Wir waren die beiden letzten Studenten des zweiten Studienjahres der USC, die immer noch auf dem Campus wohnten. Aber es war einfach billiger so, und keine von uns konnte sich eine richtige Wohnung leisten. Im Gegensatz zu den meisten unserer Kommilitonen aus Orange County oder Hollywood stammten wir beide nicht aus vermögenden Familien.

Damals hatte Jessica langes braunes Haar, eine große Brille und trug fast immer lange, fließende Gewänder, selbst im Winter. Allerdings wurde es hier auch nur selten kälter als fünfzehn Grad.

»Wie war die Ausstellung?«, fragte sie. »Hast du Lust, heute Abend ins PI Kapp zu gehen? Sumir sagt, die schmeißen eine Beachparty, aber man muss sich nicht in Schale werfen.«

Ich warf meine Tasche auf den Boden und ließ mich in den Wohnzimmersessel sinken. Platz für eine Couch hatten wir nicht. Jessica saß auf dem Boden.

»Vielleicht«, sagte ich.

»Ruf Anthony an«, erwiderte sie und nahm den Teekessel von der Platte, der zu pfeifen begonnen hatte.

»Ich glaube, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein will«, sagte ich.

Ich hörte, wie sie das heiße Wasser auf einen Teebeutel goss. »Was meinst du damit, du glaubst?«

Ich zupfte am Saum meiner Jeansshorts herum. »Da war heute so ein Typ in der Ausstellung.«

Jessica kam zurück, in der Hand eine Tasse mit dampfendem Inhalt. Sie hielt sie mir hin. Ich schüttelte den Kopf. »Nun sag schon«, sagte sie. »Einer aus dem Kurs?«

»Nein, er war einfach nur da.«

»Und was ist mit ihm?«

»Er ist Fotograf und studiert an der UCLA

Jessica pustete auf ihren Tee und ließ sich wieder auf dem Boden nieder. »Dann wirst du dich also mit ihm treffen?«

»Nein«, sagte ich. »Ich weiß nicht mal, wie er heißt.«

Jessica runzelte die Stirn. Sie hatte in ihrem ganzen Leben genau einen Freund gehabt – Sumir Bedi, der Mann, der wenige Jahre später ihr Ehemann werden würde. Ihre Beziehung war mir noch nie besonders romantisch vorgekommen; daran hat sich nichts geändert. Als Erstsemester hatten sie im selben Wohnheim gewohnt; er hatte sie zu einer Party seiner Verbindung eingeladen, sie hatte zugesagt, danach verabredeten sie sich regelmäßig. Ein Jahr später waren sie zum ersten Mal miteinander ins Bett gegangen, es war für beide das erste Mal gewesen. Wenn Jessica über ihn redete, geriet sie nicht gerade ins Schwärmen, aber sie stritten auch selten. Ich hatte den Verdacht, das lag daran, dass keiner von ihnen jemals zu tief ins Glas schaute. Trotzdem war sie eine romantische Person und schwer an meinem Liebesleben interessiert. Sie wollte alles bis ins kleinste Detail wissen. Manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich alles ein bisschen ausschmückte, nur um ihr eine Freude zu machen.

»Ich glaube einfach nicht, dass ich noch mit Anthony zusammen sein will.« Wie konnte ich ihr erklären, was passiert war? Dass ich von einem Moment auf den anderen mein Herz an einen Wildfremden verloren hatte, den ich wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde?

Sie stellte ihre Teetasse auf dem Couchtisch ab. »Na gut«, sagte sie. »Dann müssen wir diesen Typen eben finden.«

Mir wurde ganz warm ums Herz. Das war Jessica – ihr fiel immer etwas ein. »Du bist verrückt«, sagte ich. Ich stand auf und schaute aus unserem Fenster im einundzwanzigsten Stock. Draußen gingen Studenten über den Campus, in alle Richtungen. Sie sahen aus wie Spielzeugsoldaten auf einer Mission, alle so zielstrebig, als wüsste jeder genau, was er zu tun hatte. »Er geht ja noch nicht mal auf die USC. Es ist unmöglich, ihn zu finden.«

»Hab einfach ein bisschen Vertrauen«, sagte sie. »Ich glaube, dein Problem ist, dass du nicht an das Schicksal glaubst.«

Jessica stammte aus einer traditionsbewussten Familie in Michigan. Ich hatte ihre Entwicklung vom gläubigen Mädchen aus dem Mittelwesten zum freizügigen Hippie genauestens verfolgt, ebenso wie – viele Jahre später – ihre scharfe Rechtskurve in Richtung konservative Ostküstenfrau.

Erst eine Woche zuvor war sie mit einem Stapel Zeitschriften, Papier und Buntstiften nach Hause gekommen. »Wir basteln uns jetzt ein Vision Board«, hatte sie verkündet.

Ich warf einen Blick auf die Utensilien und wandte mich dann wieder meinem Buch zu. »Nein, danke.«

Jessica hatte damals diesen spirituellen Kurs belegt – so was in der Richtung »Entfessle die Kraft in dir«, geleitet von einer Art Tony Robbins für Arme, einer Frau, die sich einen Hindu-Namen zugelegt hatte.

»Du hast noch keine einzige Übung mit mir gemacht«, hatte sie sich beschwert und sich auf ein Kissen auf unserem Boden fallen lassen.

Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Hast du denn was mit weniger Bling-Bling?«

Ihre Augen begannen zu leuchten. »Swani hat uns gebeten, eine Liste mit fünf Leuten – lebendig oder tot – anzulegen, mit denen wir gerne mal zu Abend essen würden.« Sie kramte in ihrer Tasche mit den Bastelsachen und zog ein Blöckchen Post-its hervor. »Schau, kein Bling-Bling.«

»Wird dich das glücklich machen?«, fragte ich und klappte resigniert mein Buch zu.

»Zumindest für eine Stunde«, sagte sie, aber ich sah das freudige Funkeln in ihren Augen. Eigentlich war ich für solche Sachen sonst nie zu haben, obwohl sie mich ständig damit nervte.

Dann fing sie an zu reden wie ein Wasserfall. Über diese Übung und was sie bedeutete, über die Tatsache, dass dieses fiktive Abendessen zu einer Aussprache der Teile in dir selbst führen soll, mit denen du gerne ins Reine kommen möchtest – blablabla. Ich hörte gar nicht richtig zu. Ich fing einfach an.

Die ersten paar waren einfach. Audrey Hepburn, weil ich ein Mädchen und gerade neunzehn war. Platon, weil ich Der Staat seit der Highschool dreimal gelesen hatte und davon begeistert war – und weil Professor Conrad in den höchsten Tönen von ihm sprach. Roberts Namen schrieb ich hin, ohne groß nachzudenken. Als ich ihn da stehen sah, hätte ich ihn am liebsten wieder gestrichen, aber ich tat es nicht. Er war immer noch mein Vater, auch wenn ich mich kaum mehr an ihn erinnern konnte.

Fehlten noch zwei.

Ich liebte die Mutter meiner Mutter. Sie hieß Sylvia und war vor zwei Jahren verstorben. Sie fehlte mir. Ich schrieb ihren Namen hin. Ein fünfter fiel mir nicht ein.

Ich schaute zu Jessica hinüber, die konzentriert wie ein kleines Mädchen dabei war, ihre Liste in Gold und Rot auf ein Stück Pergamentpapier zu schreiben.

Ich reichte ihr meine Liste. Sie las sie durch, nickte und gab sie mir zurück. Ich steckte sie in meine Tasche und wandte mich wieder meinem Buch zu. Jessica schien zufrieden zu sein.

Jetzt jedoch, als es um Tobias ging, war sie es nicht. »Ich glaube an das Schicksal«, erklärte ich ihr. Bisher hatte ich das nicht, aber jetzt tat ich es. Es war schwer zu erklären. Wie sich große Überzeugungen über das Leben und die Liebe in den zehn Minuten, die ich neben ihm gestanden hatte, in mir verankert hatten. »Ich hätte gar nichts sagen sollen. Es war dumm von mir. Das war nur ein einziger Moment.«

Aber es war ein Moment gewesen, aus dem ich mehr machen wollte, und so gingen wir doch auf die Suche nach ihm. Online konnten wir ihn nicht finden (bei Eingabe der Schlagworte »grüne Augen« und »UCLA« auf Facebook kam nicht viel heraus, zumal ich sowieso den Eindruck hatte, dass er nicht der Typ für Social Media war), weshalb wir uns in Sumirs Toyota Corolla setzten, der auf der Autobahn nicht viel schneller als sechzig fuhr, und uns auf den Weg zum Campus der UCLA machten.

»Was ist dein Plan, wenn wir dort sind?«, fragte ich Jessica. »Willst du rumlaufen und ›Junge mit braunem Haar‹ schreien?«

»Entspann dich«, sagte sie. »Ich schreie überhaupt nichts.«

Sie parkte in Westwood, und wir gingen zu Fuß zur nördlichen Seite des Campus, wo sich die Reihenhäuser und Studentenwohnungen befanden. Sie lagen alle an baumbestandenen Straßen, die sich zum Sunset Boulevard und bis hoch in die makellosen Hügel von Bel Air erstreckten. Ich trottete hinter Jessica her, dankbar dafür, dass es ein sonniger Tag war, an dem jede Menge Leute unterwegs waren und wir nicht weiter auffielen.

»Ich weiß, dass wir das eigentlich nicht sagen sollten«, maulte ich, »aber die UCLA ist viel schöner als die USC

»Das ist bloß wegen der Lage«, sagte Jessica. Sie blieb vor dem schwarzen Brett an einem Campus-Gebäude stehen – der Bibliothek? Ich war mir nicht sicher.

»Aha«, sagte sie. »Wie ich gehofft hatte.«

Ich schaute genauer hin. Es war das Schwarze Brett der Clubs. Kochclub, Gedichtclub. Ich folgte Jessicas Finger. Er tippte auf ein gelbes Flugblatt. »Fotoclub«, las ich.

Jessica strahlte. »Gern geschehen.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte ich. »Aber das heißt noch gar nichts. Wahrscheinlich ist er nicht mal Mitglied. Er kam mir nicht wie ein Typ vor, der in so einem Club ist. Und was sollen wir überhaupt machen, in ihr Meeting reinplatzen?«

Jessica rollte mit den Augen. »So charmant ich deine negative Einstellung auch finde – nächsten Dienstag haben sie so eine Art Tag der offenen Tür, da kannst du einfach hingehen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wie stehe ich denn da, wenn er wirklich dort ist? Vollkommen bekloppt.«

Jessica zuckte mit den Achseln. »Oder ihr werdet glücklich bis ans Ende eurer Tage.«

»Genau«, sagte ich. »Eins von beidem.« Trotzdem spürte ich, wie sich Erregung in mir ausbreitete. Was, wenn ich ihn wirklich wiedersehen würde? Was würde ich zu ihm sagen?

In diesem Moment knurrte mein Magen.

»Wollen wir ins In-N-Out, was essen gehen?«, fragte Jessica.

»Absolut.«

Wir schlenderten zum Corolla zurück, aber vorher schnappte ich mir schnell den Flyer und steckte ihn in meine Tasche.

»Ich hab nichts gesehen«, sagte Jessica und hängte sich bei mir ein.

Als wir zu Hause waren, holte ich den Post-it-Block hervor und fügte eine fünfte Person hinzu. Ihn.

19 UHR 45

Mag noch jemand von euch Karpfen?«, fragt Conrad. Wir haben noch nicht bestellt, weil wir uns bislang noch nicht über das Prozedere einigen konnten. Conrad ist wild entschlossen, gemeinsam zu ordern und alles zu teilen, Robert möchte getrennt bestellen, Audrey ist nicht begeistert von der Speisekarte, und Jessica und Tobias haben bereits zwei Brotkörbchen leer gegessen. Mich irritiert es, dass er Appetit hat.

»Ich stille immer noch«, teilt Jessica der Runde mit. »Ich brauche die Kohlehydrate.«

Der Kellner kommt zum zweiten Mal, und ich beschließe, den Anfang zu machen. »Ich nehme den Friséesalat und das Risotto«, sage ich. Ich werfe Conrad einen Blick zu. Er nickt.

»Die Jakobsmuscheln«, sagt er. »Und ein paar von diesen potenzfördernden Dingern.«

Der Kellner sieht verwirrt aus. Er macht den Mund auf und klappt ihn wieder zu.

»Austern«, klärt Audrey ihn auf und wirkt etwas pikiert. »Die nehme ich auch, mit dem Friséesalat.«

Professor Conrad stupst sie mit dem Ellbogen an. »Audrey, ich wollte doch nicht …«

Sie geht nicht darauf ein. Man sieht ihr an, dass sie immer noch irritiert ist.

Während jeder seine Bestellung aufgibt – Pasta und Suppe für Jessica, Steak und Salat für Robert –, fällt mir auf, dass ich das alles nicht wirklich durchdacht habe. Als ich diese fünf Leute für meine Liste ausgewählt habe, ging es ausschließlich um mich. Die Probleme, die ich mit diesen Menschen hatte, und den unterschiedlich motivierten Wunsch, sie bei mir zu haben. Wie sie alle miteinander auskommen würden, hatte ich überhaupt nicht bedacht.

Ich gestatte mir einen Blick nach links, zu Tobias. Ich weiß bereits, was er bestellen wird. Das wusste ich in dem Moment, als ich die Speisekarte aufgeklappt habe. In letzter Zeit mache ich das manchmal, wenn ich in einem Restaurant bin: Ich schaue mir die Speisekarte an und bestelle das, was er nehmen würde. Ich weiß, er wird den Burger mit Fritten nehmen, mit extra Senf. Und den Rote-Bete-Salat. Tobias liebt Rote Bete. Eine Weile war er Vegetarier, aber das hat sich wieder gelegt.

»Den Prosciutto Crudo und die Jakobsmuscheln«, sagt er.

Ich schaue ihn verblüfft an. Er zuckt mit den Achseln. »Burger hat auch gut ausgesehen«, sagt er. »Aber jetzt hab ich schon das ganze Brot gegessen.«

Tobias hatte eine eher merkwürdige Art, auf seine Gesundheit zu achten. Manchmal dachte ich, es ginge ihm darum, dünn zu bleiben – vielleicht, weil er dann aussah wie ein Künstler, der am Hungertuch nagt. Er machte keinen Sport, er ging nicht mal Laufen, aber manchmal ließ er eine Mahlzeit ausfallen oder kam mit einem neuen Entsafter nach Hause und behauptete, nie wieder verarbeitete Lebensmittel essen zu wollen. Er war ein ausgezeichneter Koch. Der Crudo … Hätte ich mir denken können.

Der Kellner nimmt unsere Bestellungen auf, dann beugt Audrey sich vor. Zum ersten Mal sehe ich die feinen Fältchen rund um ihre Augen. Sie muss Ende vierzig sein.

»Ich habe mir ein paar Gesprächsthemen ausgedacht«, sagt sie zu mir. Sie spricht mit dieser leisen, hauchenden Stimme, die wir alle so gut kennen. Dabei sieht sie so zart und feminin aus, dass es fast schmerzt, und einen Moment lang bedauere ich, dass sie hier mit uns an diesem Tisch sitzen muss. Sie sollte nicht hier sein; ihre Zeit ist viel zu schade.

»Wir brauchen keine Gesprächsthemen«, fällt Conrad ihr ins Wort. »Wir brauchen nur Wein und ein paar Stichworte.«

»Stichworte?«, fragt Robert. Er blickt von seinem Wasser auf. Er ist ein kleiner Mann, sehr klein. Das merkt man sogar, wenn er sitzt. Meine Mutter war fünf Zentimeter größer als er. Wenn ich mir die wenigen alten Fotos ansah, die ich noch besaß, dachte ich immer, ich würde irgendwo in der Mitte landen, aber jetzt sehe ich, dass ich ganz nach ihm geraten bin.

Wir haben die gleichen grünen Augen, die gleiche lange Nase, das gleiche schiefe Lächeln und das gleiche rötlich-braune, lockige Haar. Er ist nie aufs College gegangen. Keiner aus seiner Familie war dort. Als er neunzehn war, bekam er Tuberkulose und verbrachte anderthalb Jahre im Krankenhaus. In Isolation; selbst seine Mutter konnte ihn nur durch eine Glasscheibe sehen, wenn sie ihn besuchte.

»Dann mal los«, ruft Conrad. »Jeder wirft ein Stichwort in die Runde!«

»Entwicklungshilfe«, sagt Audrey.

Conrad nickt. Er zieht Notizbuch und Stift aus seiner Brusttasche. Er hatte schon immer ein Notizbuch dabei, für den Fall, dass er sich inspiriert fühlt. Während des Unterrichts zog er oft seine Kladde hervor und kritzelte irgendetwas hinein.

»Julie!«, sagt Conrad. »Du bist dran!«

Jessica schaut ihn an. Sie kaut an einem Stück Baguette. »Jessica, ich heiße Jessica«, sagt sie.

»Jessica, natürlich.«

»Familie«, sagt sie mit einem Seufzen. »Aber ich glaube nicht, dass es darum geht.«

»Verantwortung«, meldet sich Robert zu Wort. Ich kann mir nur mit Mühe ein höhnisches Lachen verkneifen. Verantwortung? Lächerlich.

Dann Tobias. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Liebe«, sagt er. Er sagt es so schlicht, so leichthin. Als läge es auf der Hand. Als wäre das die einzig mögliche Antwort auf Conrads Frage.

Aber das ist sie natürlich nicht. Denn wenn das so wäre, würde ich ihn bei diesem Dinner nicht brauchen, dann wären wir immer noch zusammen.

Ich räuspere mich. »Geschichte«, kontere ich.

Conrad nickt. Audrey nippt. Jessica schüttelt den Kopf.

»Das haben wir doch schon alles durch«, sagt sie und schaut Tobias und mich finster an. »Ihr könnt nicht ewig in der Vergangenheit leben.«

Loslassen können.

»Manchmal ist es unmöglich, weiterzumachen, ohne zu verstehen, was eigentlich passiert ist.« Conrad.

»Was ist denn passiert?«, will Audrey wissen.

Ich schaue auf den Tisch hinab, spüre aber noch seinen Blick auf mir. Ich wünschte, er säße auf Conrads Platz. Ich wünschte, ich könnte ihn nicht riechen – seinen ganz eigenen, berauschenden Duft – oder würde nicht immer wieder unter dem Tisch an seinen Fuß stoßen, so nah bei mir, dass ich ihn bewusst berühren könnte, wenn ich wollte.

»Alles«, sage ich nach einem Augenblick. »Alles ist passiert.«

»Na gut«, sagt Conrad. »Dann fangen wir genau hier an.«

ZWEI

An dem Dienstag nach unserem Erkundungstrip zur UCLA saß ich in Professor Conrads Büro und versuchte, ihn mit Engelszungen zu überreden, mir auf eine schriftliche Prüfung, die ich komplett verhauen hatte, doch noch ein Ausreichend zu geben. Ich war sowieso schon eine der Schlechtesten im Seminar, und so würde mein Studium endgültig den Bach runtergehen. Nicht, dass ich mich besonders angestrengt hätte; zugegebenermaßen hatte ich das Studium in letzter Zeit schleifen lassen. Einen guten Grund hatte ich dafür eigentlich nicht, außer dass ich die Uni leid war, all die Hausarbeiten und Vorlesungen und Prüfungen. Und dass das Drama mit Anthony gerade seinen Lauf nahm, trug auch noch seinen Teil dazu bei.

»Vielleicht hast du das falsche Fach gewählt«, meinte Jessica, aber es war zu spät, um es noch einmal zu wechseln. Wenn ich das tat, würde ich weitere drei Jahre die Schulbank drücken, und das war keine Option – weder finanziell noch sonstwie.

»Du hast dich einfach an den Gedanken gewöhnt, dass sowieso nichts Gescheites dabei herauskommt«, sagte Conrad jetzt. »Aber zumindest für meinen Unterricht kann ich das nicht bestätigen.«

»Bitte.« Ich war den Tränen nahe. »Kann ich die Prüfung wiederholen?«

Conrad schüttelte den Kopf. »Nachholprüfungen gibt es bei mir nicht.«

»Ich kann einfach keine Fünf kriegen.«

»Kannst du schon«, sagte er. »Genau die hast du gerade gekriegt.«

Mir war vor Angst ganz flau. »Tut mir leid«, murmelte ich.

Conrad legte mir eine Hand auf die Schulter. Es fühlte sich an wie eine väterliche Geste. Daran war ich nicht gewöhnt. »Du schreibst einfach nächstes Mal eine bessere Note und gleichst diese damit aus«, sagte er zu mir. »Noch ist der Zug nicht abgefahren.«

Ich klaubte meine Sachen zusammen und verließ sein Büro – zurechtgestutzt, genervt, wütend. Ich schaute auf die Uhr. Wenn ich jetzt losfuhr, konnte ich es bis sieben zum Campus der UCLA schaffen. Der zerknitterte gelbe Flyer am Boden meiner Büchertasche sagte mir, dass der Tag der offenen Tür im Fotoclub nicht vor sieben Uhr beginnen würde.

Ich rief Jessica an. »Ich muss lernen«, sagte sie. »Aber Sumir ist an der Uni, und ich habe hier seine Autoschlüssel für dich.«

»Komm schnell runter.«

Auf dem 405 war viel Verkehr. Ich stand im Stau und wechselte zwischen den Sendern hin und her. Auf dem Infosender kam eine Sendung über die NASA. Es wurde jemand interviewt, der gerade von einer Reise ins All zurückgekehrt war. »Was mich am allermeisten beeindruckt hat«, sagte er, »ist, dass das Universum, zumindest was einige Kapazitätsmessungen angeht, tatsächlich endlich ist. Wie sollen wir nur begreifen, dass das Ende wirklich das Ende ist?«

Ich schaltete lieber wieder auf Britney Spears.

Auf dem Flyer stand, der Tag der offenen Tür des Fotoclubs würde im Billy Wilder Theater stattfinden. Als ich den Campus der UCLA erreicht hatte, fragte ich einen Security-Mann nach dem Weg und fand nach einigem Hin und Her sogar einen Parkplatz in der Straße. Auf meiner Uhr war es drei Minuten vor sieben. Genau rechtzeitig.

Mein Herz fing heftig zu klopfen an, als ich den Gehweg überquerte und auf den Eingang des Theaters zuging. Was, wenn er wirklich da war? Was würde ich zu ihm sagen? Wie würde ich meine Anwesenheit erklären? Überrascht tun. Eine Freundin meinte, ich soll hierherkommen. Was ja streng genommen nicht falsch war. Vielleicht würde er mich nicht mal wiedererkennen.

Ich kramte ein Lipgloss aus meiner Tasche. Schnell ein Tupfer auf die Lippen, dann holte ich tief Luft und zog die Tür auf.

Die Ausstellung war auf der Bühne aufgebaut. Die Fotos hingen an Stellwänden, in den Gängen schlenderten Leute mit Plastikbechern voll Rotwein umher. Ich ging auf die Bühne zu. Bis jetzt keine Spur von ihm.

»Bist du eine der Künstlerinnen?«, fragte ein Mädchen mit einem langen Zopf. Sie trug eine ausgestellte Jeans und eine Bauernbluse, die ich bei Forever 21 gesehen hatte. Genau die gleiche hatte Jessica am vergangenen Wochenende im Beverly Center anprobiert.

Ich fühlte mich ertappt. »Nein«, sagte ich. »Hab nur geschaut.«

Sie nickte, nahm einen Schluck Wein.

»Und du?«

»Das sind meine Bilder da oben.« Sie wies auf eine Stellwand am linken hinteren Ende der Bühne. Ich sah Farbe. Jede Menge Farbe.

»Was dagegen, wenn ich sie mir gleich anschaue?«

»Solange du nicht willst, dass ich mitkomme. Meine Sachen wirken besser, wenn ich nichts dazu sage.«

Ich ließ sie stehen und ging in Richtung Bühne. Ein kurzer Rundumblick. Nirgends zu sehen. Auch in den Gängen Fehlanzeige. Es waren nicht allzu viele Leute da, vielleicht insgesamt dreißig Personen. Ich überlegte, ob ich wieder gehen sollte, doch ich spürte den Blick meiner neuen Freundin auf mir und beschloss, mir ihre Arbeiten anzuschauen.

Aber auf dem Weg dorthin sah ich aus dem Augenwinkel etwas anderes. Es war das Foto eines Mannes. Er sah exotisch aus, vielleicht ein Marokkaner. Das Foto zeigte ihn vom Oberkörper aufwärts, er rauchte eine Zigarre, blies gerade den Rauch aus. Seine Augen waren grau und weit offen, und die tiefen Falten seines Gesichts sahen aus wie Kreidestriche auf einer Schiefertafel.

Mir war sofort klar, dass das Foto von ihm war. Ich weiß nicht, warum, aber es war so.

»Entschuldigung«, sagte ich zu einem Typen mit tief sitzender Jeans und Baseballmütze, der neben der Stellwand stand. »Von wem ist das Bild?«

Er zuckte mit den Achseln und deutete auf ein Schildchen weiter unten an der Stellwand. TOBIAS SALTMAN. Daneben hing ein Foto von ihm. Es war der Typ von der Ausstellung Ashes and Snow.

Ich spürte, wie mein Blut in der Halsschlagader pulsierte. »Ist er hier?«, fragte ich.

Er blinzelte mich erstaunt an. »Glaub nicht«, sagte er.

»Oder ist jemand da, der das wissen könnte?«

Er spähte die Gänge entlang und wies mit dem Kopf auf das Mädchen, mit dem ich zuvor gesprochen hatte. »Frag seine Freundin«, riet er.

Hitze. Das war es, was ich fühlte. Mir war glühend heiß vor Verlegenheit und Scham. Natürlich hatte er eine Freundin. Damit war zu rechnen gewesen, und es war dumm von mir, etwas anderes zu denken. Ich wollte nur noch weg hier.

Doch dann sah ich eine Zahl neben dem Foto mit dem rauchenden Mann. $ 75. Man konnte es kaufen.

Ich hatte keine fünfundsiebzig Dollar. Auf meinem Girokonto waren nur neunundvierzig, und vielleicht zweihundert hatte ich gespart.

Aber ich wusste, ich musste es trotzdem kaufen. Er gehörte mir, jetzt schon.

Ich kramte in meiner Tasche nach dem Scheckbuch. Durch irgendeinen glücklichen Zufall hatte ich es dabei.

»Wie kann ich eins der Fotos kaufen?«, fragte ich ein Mädchen, das vor einem Bild mit Sonnenblumen stand. »Kann ich auch mit Scheck bezahlen?«

»Jenkins wird dir weiterhelfen.« Sie zeigte auf eine junge Frau in Jeans und Brokat-Top, Kurzhaarschnitt, die weit hinten im Saal an einer Wand lehnte und wild mit den Händen gestikulierte. Ich ging hinüber.

»Ich würde gern diese Fotografie kaufen«, sagte ich und wies auf Tobias’ Bild.

Sie stieß sich von der Wand ab. »Kriegst du«, sagte sie. »Der Typ ist ziemlich gut, was?«

Ich nickte.

»Ich glaube, es ist das erste Mal, dass er was verkauft. Zu schade, dass er nicht da ist.«

Ich schrieb ihr einen Scheck aus, entschlossen, das Geld irgendwo aufzutreiben und schnell auf das Konto einzuzahlen, damit der Scheck nicht platzte, und sie packte mir das Bild ein – nur braunes Papier und Garn, kein Klebeband. »Shit«, sagte sie. »Ich hab vergessen, welches zu kaufen. Das ist das erste Mal, dass wir was verkaufen.«

Auf dem Weg nach draußen winkte ich seiner Freundin zu. Sie lächelte. Zwischen ihren Schneidezähnen war eine große Lücke. Irgendwie machte das meine Zuneigung zu ihm noch größer.

Auf dem Heimweg stellte ich das Foto neben mir auf den Beifahrersitz. Als ich in die Wohnung kam, war Jessica nicht da. Ich wusste, dass ich das Bild nicht aufhängen würde. Als sie mich später fragte, sagte ich ihr, er sei nicht da gewesen, offenbar sei er nicht Mitglied des Clubs.

»Wenigstens hast du es versucht«, meinte sie.

Die nächsten zwei Jahre lag das Foto verschnürt in dem braunen Papier unter meinem Bett. Manchmal, nachts, holte ich es hervor, wickelte es aus und hielt es in meinen Händen wie Diebesgut.

19 UHR 52

Geschichte«, sagt Conrad und tippt mit seinem Stift auf den Tisch. »Das ist eine interessante Wahl.«

»Ich war Geschichtslehrer«, sagt Robert.

»Echt?«

Robert fixiert sein Wasserglas. »Zehn Jahre, ja«, sagt er.

Conrad klatscht in die Hände. »Wunderbar!«, ruft er. »Dann los. Du fängst an.«

»Wir sollten einen Schwerpunkt wählen«, wirft Audrey ein. »Welche Zeit? Amerika? Europa? Sonst ufert es aus.«

»Persönliche Geschichte«, sagt Tobias neben mir. Es fühlt sich so an, als wäre es das Erste, was er sagt, seit wir Platz genommen haben, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. Zuerst ging es um rohen Schinken und dann um Liebe.

Ich schließe die Augen. Öffne sie. »Wo?«, frage ich Robert.

»Sherman Oaks«, sagt er.

»Kalifornien.«

Er nickt. »Meine Frau …«

»Nein«, falle ich ihm ins Wort. Ich will nichts über seine Frau hören. Oder seine Kinder. Oder sein anderes Leben.

»Wir haben in Fresno gewohnt«, sage ich. »Mom ist erst vor zehn Jahren zurück nach Philly gezogen. Und die ganze Zeit über …«

»Das wusste ich nicht«, sagt Robert.

»Ja«, sage ich. »Und trotzdem hast du nie daran gedacht, zurückzukommen, zu schauen, wie es uns geht, oder auch nur mal zu fragen? Ist dir nie der Gedanke gekommen, uns an deinem neuen Glück teilhaben zu lassen?«

Audrey lächelt und beugt sich vor. »Ihr Lieben«, mahnt sie, »benehmen wir uns doch wie zivilisierte Menschen.«

»Warum?«, frage ich. Meine Augen sprühen vor Wut, doch im selben Moment, in dem sich unsere Blicke begegnen, spüre ich, wie mein ganzer Zorn unter ihren braunen Rehaugen dahinschmilzt.

»Weil wir noch nicht mal bei der Vorspeise sind«, scherzt sie. »Außerdem kann sowieso keiner von hier weg.«

»Ich hab erst nach sechs Monaten erfahren, dass du gestorben warst«, sage ich. »Sechs Monate.«

»Ich hab es nicht anders verdient«, erwidert er.

»Sag das nicht«, wirft Tobias ein. Er schaut Robert mit einer Mischung aus Wohlwollen und Intensität an, aus der ich nicht recht schlau werde, und mir wird bewusst, dass ich, wie so oft, nicht weiß, was er eigentlich meint. Ob er Mitleid mit Robert hat oder sich mit ihm anlegen will.

»Schaut«, sagt Jessica. »Das Essen kommt.«

Drei Kellner erscheinen mit unseren Vorspeisen. Ich bereue es sofort, Salat bestellt zu haben. Mein Teller sieht aus wie moderne Kunst. Winzige Zweiglein von irgendwelchem Grünzeug wechseln sich mit Parmesanspänen ab. Ich frage mich, ob Tobias mir was von seinem Schinken abgibt. Das hat er immer getan – mir ungebeten einfach etwas auf den Teller geschoben.

»Mir wäre viel daran gelegen, zu erklären, was passiert ist«, sagt Robert, als jeder seine Vorspeise hat.

»Wir sind immer noch beim Stichwort Geschichte«, sagt Conrad. »Ich denke, das passt.«

Ich schaue ihn über den Tisch hinweg an, und er hebt die Augenbrauen. »Was ist? Sollen wir vielleicht nur übers Wetter reden oder was?«

Ich schüttle den Kopf. Es ist weder ein Ja noch ein Nein; ich füge mich.

»Nur zu«, sagt Audrey. »Wir sind alle ganz Ohr.«

»Ich hatte nie die Gelegenheit, mich zu verabschieden«, beginnt er. »Sie hat mich rausgeschmissen. Deine Mutter wollte, dass ich nie mehr zurückkomme.«

»Du warst ein Säufer«, sage ich.

Ich picke eins der grünen Zweiglein vom Teller und schiebe es mir in den Mund. Es schmeckt wie Sand.

»Ja, das war ich«, sagt er. »Marcie wollte noch ein Kind. Sie wollte ein Leben, das ich ihr nicht geben konnte.«

»Deshalb bist du einfach abgehauen und hast es jemand anderem gegeben.«

»Ich habe mir Hilfe geholt«, sagt Robert.

»Das ist gut«, wirft Conrad ein. »Man sollte einen Menschen an seiner Fähigkeit messen zu wachsen.«

Leben ist Wachstum. Wenn wir aufhören zu wachsen, sind wir so gut wie tot.

»Aber nicht jede Veränderung bedeutet auch Wachstum«, sagt Audrey. Ich schaue zu ihr hoch. Am liebsten würde ich mich bei ihr bedanken.

»Ich bin nicht dieser Meinung.« Tobias. »Allein schon die Tatsache, dass man etwas riskiert, sich verändert, ist per Definition ein Akt der Evolution. Und wenn wir uns entwickeln, wachsen wir auch. Genau darum geht es.«

»Wobei?«, frage ich.

»Bei der menschlichen Existenz«, sagt Jessica neben mir. Sie löffelt Tomatencremesuppe und wedelt mit der Hand, weil sie so heiß ist.

Ich werfe ihr einen müden Blick zu. Manchmal wünschte ich, sie wäre einfach an meiner Seite, ohne lang Fragen zu stellen.

»Ich sage nicht, dass das, was ich getan habe, richtig war«, erwidert Robert. »Aber es war notwendig. Es blieb mir gar nichts anderes übrig. Ich musste gehen.«

»Notwendig«, wiederholt Conrad, mehr nicht.

»Ich war fünf Jahre alt«, sage ich.

»Ich musste mich behandeln lassen. Unter den gegebenen Umständen konnte ich mich nicht ändern. Deine Mutter traf keine Schuld. Es hat einfach … nicht funktioniert.«

»Und später?«, fragte ich. »Was war dann? Warum bist du nie zurückgekommen, als es dir besser ging?«

»Weil«, sagt er, »ich sie kennengelernt habe. Und dann hatte ich Angst.«

Niemand fragt, wovor. Wir wissen es. Davor, das neue Leben wieder zu verlieren. Seine Gesundheit zu verlieren. Sie zu verlieren. Alles, was er bereits verloren hatte, nicht eingerechnet.

»Wir werden mehr brauchen als nur ein Dinner«, sage ich.

»Aber Sabrina«, sagt Robert und schaut mich zum ersten Mal, seit wir uns gesetzt haben, direkt an. »Wir haben nur dieses eine Dinner.«