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Andrea Martin: Die Geheimnisse von Oaksend - Monsterprüfung

Mit Illustrationen

von Max Meinzold

Inhalt

Kapitel 1 – Eine Schultasche verschwindet

Kapitel 2 – Nachtschicht

Kapitel 3 – Von Löchern und Schneebesen

Kapitel 4 – Tiefseeoktopoden

Kapitel 5 – Die Kammer

Kapitel 6 – Ein Monster zieht um

Kapitel 7 – Todfeinde

Kapitel 8 – Das Noogle

Kapitel 9 – Monsterpost

Kapitel 10 – Unter Tramps

Kapitel 11 – St. Octavian

Kapitel 12 – Besuch vom Giftstachler

Kapitel 13 – Beauregard

Kapitel 14 – Das Hatchpatch

Kapitel 15 – Imogens Geheimnis

Kapitel 16 – Ochd Coluín

Kapitel 17 – Im Zeichen der Fünf

Kapitel 18 – Hausarrest

Kapitel 19 – Die Rettung

Kapitel 20 – Die Acht Säulen

Kapitel 21 – Belthane

Kapitel 22 – Die letzte Prüfung

Kapitel 1
Eine Schultasche verschwindet

SO STAND ES AUF DEN SCHILDERN am Maschendrahtzaun, auf dem sich in drei Meter Höhe Stacheldraht ringelte. Dahinter ragten die Maschinenhallen der alten Gießerei empor. Obwohl sie schon vor Jahrzehnten stillgelegt worden war, hing in der Luft immer noch ein metallischer Geruch, und die Erde war schwarz von Schlacke und Kohlenstaub. Alles an diesem Ort wirkte düster und bedrohlich.

Ein paar Kinder ließen sich nicht davon abschrecken und schlängelten sich durch ein Loch im Zaun. Der Weg über das Gelände war eine prima Abkürzung zum Wald. Alle trugen Schultaschen mit sich, ein besonders kräftig gebauter Junge trug sogar zwei. Er blieb stehen und brüllte in die Richtung, aus der sie gekommen waren: »Robin Miller Käsefratze kriegt später mal ’ne fiese Glatze, ist winzig wie ein Rattenfloh und wohnt in Opas Katzenklo.«

Schadenfroh grinsend rannte er den anderen hinterher, folgte ihnen quer über das Gießereigelände und verschwand in einem Dickicht aus verkrüppelten Sträuchern. Eine Minute später tauchten die Kinder jenseits des Geländes wieder auf und rannten den Hügel zum Wald hinauf.

Robin sah die Truppe zwischen den Stämmen verschwinden. Es war sinnlos, ihnen hinterherzujagen. Der Vorsprung war zu groß. Außerdem wusste er jetzt, wo sie mit seiner Schultasche hinwollten. Er blieb stehen, stützte die Hände auf die Knie und rang nach Luft. Sein T-Shirt war von Schweiß durchnässt. Immerhin, sie wollten in den Wald. Robin hatte schon Schlimmeres erlebt.

Einmal hatten sie seine Tasche über den Zaun des Schrottplatzes geworfen. Robin erinnerte sich mit Schaudern an Mr Stings Höllenhund Mack-Five, dessen schaumtriefendes Gebiss ihm auf der Flucht über den Zaun empfindlich nahe gekommen war.

Ein anderes Mal hatten sie seine Tasche im alten Wasserturm versteckt. Nie wieder würde Robin vergessen, wie es sich anfühlte, wenn man sich in zehn Metern Höhe an einer Eisenleiter festkrallte, während der Wind durch das rostzerfressene Bassin pfiff und ihm die schaurigsten Töne entlockte.

Das letzte Mal hatte er seine Tasche hoch oben in einer Baumkrone gefunden. Bei der Bergung war Robin abgestürzt und hatte tagelang gehinkt. Seinem Großvater Rufus hatte er erzählt, er sei mit dem Fuß umgeknickt. Rufus war anzusehen, dass er ihm kein Wort glaubte. Wortlos hatte er Robin den Verbandskasten in die Hand gedrückt.

Robin richtete sich stöhnend auf und fragte sich, wo er seine Tasche diesmal finden würde. Er zwängte sich durch das Loch im Zaun und trottete den anderen hinterher.

Die Mittagssonne brannte, und als Robin den Wald erreichte, atmete er auf. Die Bäume spendeten kühlen Schatten. Nach seiner Tasche umherspähend, folgte er den verschlungenen Pfaden. Er suchte am Bach, in den Baumkronen, in hohlen Stämmen, in verlassenen Fuchs- und Kaninchenbauten und in Felsspalten – nichts.

Robin wurde nervös. In der Tasche befand sich das Referat, das er morgen bei Mrs Keeman in Heimatkunde halten sollte: Die Geschichte von Oaksend. Ihm wurde ganz schlecht, als er sich ihr Gesicht vorstellte, wenn er ihr gestehen müsste, dass er sein Referat verloren hätte. Ihre Eidechsenaugen würden ihn anvisieren wie ein Messerwerfer sein Opfer im Zirkus, während ihre Hand den Füllfederhalter zücken und mit blutroter Tinte einen unmissverständlichen Kringel neben seinen Namen ins Klassenbuch setzen würde. Mrs Keeman war streng aus Prinzip. Jedwede Erklärung galt in ihren Augen als Ausrede. Selbst wenn Robin im nächsten Moment tot umgefallen wäre, stünde Mrs Keeman als Erste an seinem Grab, um ihm vorzuwerfen, er sei nur gestorben, um sich vor dem Referat zu drücken.

Nein, niemals würde sie das hinnehmen und niemals könnte er ihr die Wahrheit sagen. Er hörte schon das Gefeixe seiner Mitschüler – allen voran Freddy.

Er musste die Tasche finden.

Robin gelangte auf eine Lichtung. In deren Mitte ragte ein mächtiger Findling fast mannshoch aus der Erde hervor – der Druidenstein.

Glaubte man einer Legende, so war die Lichtung vor Urzeiten ein magischer Ort gewesen. Druiden sollten hier ihre Rituale abgehalten und Naturgeister beschworen haben. Irgendwelchen Leuten hatte das damals nicht gefallen. Sie hatten die Druiden vertrieben und den Stein zerstört.

Auf dessen Oberseite klaffte ein Spalt, der tief in die Erde führte. Wie tief genau, das wusste niemand. Der Spalt war zu schmal für einen erwachsenen Menschen. Ein sehr kleines, sehr schmächtiges Kind könnte sich gerade so hindurchquetschen.

Doch eine Schultasche passte problemlos hinein.

Robin hastete über die Lichtung. Unter seinen Sohlen knackten Eicheln. Er kletterte auf den Druidenstein und beugte sich über den dunklen Spalt. Ein feuchter, kalter Lufthauch schlug ihm entgegen. Er schirmte die Augen gegen das Licht ab, um besser sehen zu können.

Da war sie ja, seine Tasche. Sie baumelte etwa einen Meter unter ihm. Freddy musste es eilig gehabt haben, als er sie hineingeworfen hatte, sonst hätte er sehen müssen, dass sie nicht ganz durchgerutscht, sondern mit dem Riemen an einem Vorsprung hängen geblieben war.

Robin sprang vom Findling herunter und durchsuchte das Unterholz.

Mit einem krummen Ast kehrte er zurück und kraxelte wieder auf den Druidenstein. Er schob sich an den Spalt heran, streckte den Ast hinein und angelte nach der Tasche. Endlich gelang es ihm, den Ast unter den Riemen zu schieben … nur noch ein kleines Stück …

TSCHIIIIILP! Eine Amsel schoss knapp über seinen Kopf hinweg über die Lichtung. Robin ließ vor Schreck fast den Ast fallen, der Riemen geriet ins Rutschen und glitt ab. Robin sah seine Tasche mitsamt Schulbüchern, Heften, Stiften und dem Referat in der Tiefe des Druidensteins verschwinden. Entsetzt hörte er, wie sie beim Sturz gegen die Felsen prallte. Die Aufschläge wurden immer leiser. Irgendwann hörte er gar nichts mehr.

Starr vor Schreck, kletterte er vom Findling herunter und stakste über die Lichtung. Im Schatten einer Eiche plumpste er ins Gras. Er war erledigt. Tot. Schlimmer als tot.

Die Bücher konnte man ersetzen. Rufus würde zwar ein Donnerwetter veranstalten, aber am Ende würde er, wenn auch murrend und fluchend, neue Bücher kaufen. Aber das Referat …

Robin konnte sich zwar noch an viele Einzelheiten erinnern, die er in den letzten Wochen gelesen hatte, aber es würde länger als eine Nacht dauern, alles neu aufzuschreiben.

Kurz schoss ihm durch den Kopf, Rufus um Hilfe zu bitten. Der war Experte für alles, was alt war. Rufus konnte über die Geschichte von Oaksend auf Anhieb bestimmt zehn Seiten aus dem Ärmel schütteln. Die Sache hatte nur einen Haken: Im Gegensatz zu Mrs Keeman würde Rufus eine Erklärung haben wollen. Robin müsste dann gestehen, dass Freddy ihn schon seit Langem schikanierte und dass er einfach nicht gegen ihn ankam.

Robin seufzte. War sein Leben nur so schwierig, weil er noch ein Kind war, oder würde es immer so bleiben? Gedankenverloren pflückte er eine Eichel aus dem Gras und zielte auf die Oberseite des Druidensteins, wo der Spalt war.

Plock. Die Eichel prallte einen halben Meter tiefer ab und flog in hohem Bogen ins Unterholz.

Vielleicht wäre alles leichter zu ertragen, überlegte Robin, wenn er nicht so allein wäre, wenn er einen Bruder oder eine Schwester hätte oder wenigstens einen Freund.

Plock. Wieder daneben.

Aber Robin hatte nur seinen knurrigen Großvater Rufus, dem er es nie recht machen konnte, egal, wie sehr er sich anstrengte.

Plock.

Wie schön es doch wäre, einen Freund zu haben, jemanden, mit dem man reden konnte, jemanden, der einen nicht auslachte, egal wie groß oder klein die Sorgen waren. Jemanden, dem man Geheimnisse anvertrauen könnte. Jemanden, mit dem man Popcorn machen, Mau-Mau spielen und an verregneten Nachmittagen stundenlang Comics lesen könnte. Jemanden, der einen mochte, selbst wenn man klein, blass und unscheinbar war.

Plock.

Robin malte sich diesen Jemand weiter aus: Praktisch wäre es, wenn er ein wenig größer und stärker wäre – dann würde sich Freddy zweimal überlegen, ob er Robins Schultasche jemals wieder klauen wollte. Und wenn man schon träumte: Vielleicht könnte dieser Jemand auch über ein paar besondere Fähigkeiten verfügen – Karate oder so – und Robin ein paar kleine Tricks zeigen.

Seine Hand griff nach der nächsten Eichel. Sie war ungewöhnlich groß und schwer. Eine richtige Monstereichel. Er holte weit aus und zielte.

FLUMPH. Die Eichel verschwand im Druidenstein. Das war Robin noch nie gelungen.

Wenigstens etwas!, dachte er grimmig und stand auf. Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er die Lichtung und ging nach Hause, seiner Nachtschicht entgegen.

Kapitel 2
Nachtschicht

ES WAR SCHON WEIT NACH MITTERNACHT. Ganz Oaksend schlief. Still, friedlich und dunkel lagen die Häuser da. Nur im letzten Haus im Mistelweg brannte noch Licht.

Auf der Rückseite drang ein schwacher Schein aus einem Erker im ersten Stock, daneben befand sich ein überdachter Balkon. Vom Garten aus hatte sich ein Brombeerstrauch bis nach oben ausgebreitet und wucherte über das altmodisch verzierte Geländer hinweg. Durch die geöffneten Fenster konnte man in ein kleines Zimmer sehen. Der Erker war mit Kissen ausgepolstert, in denen eine zerschlissene Handpuppe lehnte. Ihren Körper hatte jemand aus einem Frotteehandtuch genäht, zwei bemalte Pingpongbälle dienten als Augen. Sie schielte.

Im Zimmer herrschte Unordnung: Kleider, Bücher, Comics und Spielsachen waren über den ganzen Raum verstreut, die Regale vollgestopft mit Büchern und kunterbuntem Krimskrams: Zwischen Sagen des Altertums, Huckleberry Finn und einem halben Meter Snurps galaktische Abenteuer klemmte ein zerbeulter Globus, der eine Piratenklappe trug. Im Fach darüber dämmerte ein selbst gebasteltes Planetensystem vor sich hin. Zwischen Jupiter und Mars ruhte eine mumifizierte Bananenschale. Neben dem Regal stand eine Klapptür auf und gab den Blick frei auf das chaotische Innenleben eines begehbaren Kleiderschranks. Daneben quetschten sich noch ein Nachttisch und ein Bett.

Das Bett war leer.

Robin saß am Schreibtisch im Schein einer Leselampe. Sein Kopf lag auf einem Durcheinander aus hastig beschmierten Blättern. Er schnarchte. Die Ecke des obersten Blattes hob und senkte sich im Rhythmus seines Atems. Die Geschichte von Oaksend. Referat von Robin Miller, konnte man lesen. Den Rest verdeckte sein angewinkelter Arm. Die Hand umklammerte noch den Stift.

Plötzlich erklang hinter ihm ein leises Geräusch und an der Wand zwischen Regal und Kleiderschrank öffnete sich wie aus dem Nichts ein Loch.

Eine blaugraue, pelzige Hand fingerte am Rand entlang. Dann schoben sich ein Arm, noch ein Arm, zwei Beine mit ziemlich großen Füßen und ein gehörnter Kopf hindurch. Schließlich stand ein sehr haariges Wesen im Zimmer und sah sich neugierig um. Als sein Blick auf Robin fiel, glomm etwas in seinen Augen auf. Das Wesen leckte sich die Lippen und rieb sich voller Vorfreude die Hände. Dann ließ es die Finger spielen, schnappte probeweise die messerscharfen Krallen raus und rein und atmete tief durch. Jetzt kam der knifflige Teil …

Lautlos trat es neben Robin, holte aus – und tippte ihm auf die Schulter. Robin grunzte im Schlaf und drehte den Kopf auf die andere Seite. Das Tippen wurde stärker. Robin murrte nur.

Aus dem Tippen wurde ein Rütteln.

»Hmwasnlos?« Robin fuhr hoch und stierte schlaftrunken um sich. Sein Blick verfing sich an etwas Ungewöhnlichem: Neben seinem Schreibtisch stand ein pelziges blaugraues Ungeheuer und winkte ihm zu. Robin kniff die Augen zu. Ein Traum, schoss es ihm durch den Kopf, das ist nur ein Albtraum! Kein Grund, in Panik zu geraten, es war nicht sein erster Albtraum, er kannte das schon. Gleich würde er aufwachen und alles wäre wieder normal. Wach auf, befahl er sich energisch und linste vorsichtig durch ein Auge.

Das Ungeheuer strahlte ihn an.

Es war nicht besonders groß, höchstens einen halben Kopf größer als Robin, aber doppelt so breit. Sein Fell war dicht, lang und hatte Tupfen. Jetzt lächelte es und entblößte dabei ein makelloses Gebiss – mit Fangzähnen.

Robin öffnete den Mund, um loszuschreien, brachte aber nur einen erstickten Kehllaut zustande.

»Hallo!«, rief das Ungeheuer fröhlich und hielt ihm die Pratze hin. Als Robin nicht reagierte, ergriff es seine Hand und schüttelte den ganzen Arm. Robin kippte fast vom Stuhl.

»Du bist Robin, stimmt’s?!«

Plötzlich klatschte es sich an die Stirn: »Heiliger Riesenkürbis! Das Wichtigste habe ich vergessen!« Es eilte zu dem Loch an der Wand, langte mit einem Arm hinein und kramte herum. Robin starrte auf die Zimmerwand. Wo kam dieses Loch plötzlich her?

»Muss sich verfangen haben«, murmelte das Ungeheuer und tauchte bis zum Hals hinein. Beim Anblick des kopflosen Rumpfes, der an seiner Zimmerwand zappelte, wurde Robin fast ohnmächtig. Er hatte schon viele Albträume gehabt, aber noch nie einen, der sich so echt anfühlte.

Gedämpft klang es aus dem Loch hervor: »Komm schon her … du … wider…spenstiges … Biest!« Im nächsten Augenblick schepperte es fürchterlich und das Ungeheuer schnellte aus dem Loch zurück. In einer Hand hielt es – Robins Schultasche! Mit der anderen Hand zog das Ungeheuer das Loch von der Wand ab wie einen Aufkleber und stopfte es irgendwo in die Tiefen seines Fells.

Robin beugte sich vor. Die Zimmerwand war wieder unversehrt. Wie aus weiter Ferne hörte er sich krächzen: »Was …Wie … Wer bist du?«

Das Ungeheuer strahlte ihn an: »Ich bin Melvin, dein Schutzmonster.« Melvin stellte die Tasche neben Robin und schwang sich mit dem Hinterteil auf den Schreibtisch. »Du hast doch einen Notruf abgesetzt …?« Er tastete sein Fell ab und griff an mehreren Stellen hinein, so wie andere Leute in eine Jackentasche – nur dass Melvins Fell sehr viele Taschen zu haben schien.

»Wo hab ich sie denn – AH!« Er drückte Robin etwas in die Hand. Es war eine ungewöhnlich große, schwere Eichel. Robin erkannte sie wieder. Es war die Monstereichel, die er nachmittags im Druidenstein versenkt hatte.

Melvin ließ die Beine hin und her baumeln. »Du hast Glück gehabt, dass sie so schnell gefunden wurde. Der Druidenstein wird seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt. Es war reiner Zufall, dass die alljährliche Putzkolonne heute dort war. Du hast einem Quastler eine ganz schöne Beule verpasst. Mach ruhig auf und lies selbst.«

Robin sah Melvin verständnislos an.

»Du musst sie aufschrauben.«

Robin drehte an der Eichel, und tatsächlich: Die Kappe ließ sich abschrauben. Jetzt erkannte er auch, warum die Eichel so schwer war. Es war gar keine richtige Eichel, sondern ein Medaillon. Im Inneren steckte eine winzige Pergamentrolle. Robin zog sie heraus und rollte sie auseinander:

Die Worte erreichten Robins Auge, aber nicht sein Hirn. »Was … Was bedeutet das?«, stammelte er.

»Dass du dir ab heute keine Sorgen mehr machen musst!«, sagte Melvin und zählte an einer Hand ab: »Heute Nachmittag hast du dir einen Freund gewünscht, jemanden, mit dem du reden kannst, der dich nicht auslacht, jemanden, der stark ist und ein paar besondere Fähigkeiten hat. Dann hast du die Eichel in den Druidenstein geworfen und – hier bin ich!«

Plötzlich erklang ein Knurren. Robin machte einen Satz.

Melvin legte eine Hand auf den Bauch und sah Robin verlegen an. »Tschuldigung! Die Reisen im Hatchpatch machen mich immer so unglaublich hungrig. Du hast nicht zufällig etwas zu essen?«

Wie betäubt fingerte Robin nach seiner Schultasche, irgendwo musste noch ein Sandwich sein. Zwischen Mathe- und Erdkundebuch wurde er fündig. Er reichte Melvin das zermatschte Ding. Nur die Frischhaltefolie hielt es noch zusammen. Melvins Augen leuchteten: »Wusste ich doch, dass ich Thunfisch gewittert hatte! Mein Leibgericht!« Beherzt griff er zu und biss in das Sandwich. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, die Folie zu entfernen. »Mmh!«

Mit offenem Mund sah ihm Robin zu. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf und jede einzelne versuchte sich vorzudrängeln. Es war ein heilloses Durcheinander. Schließlich sprudelte es aus ihm heraus: »Woher kommst du?! Bist du von einem anderen Stern?«

Melvin hielt im Kauen inne und sah ihn verblüfft an. »Wie kommst du denn auf die Idee? Nein, nein, ich bin von hier, genau wie du.« Ein paar Thunfischbröckchen flogen durch die Luft.

»Gibt es noch mehr … Monster?«

Melvin schluckte den Rest hinunter und rülpste. »Klar!«

»Und sehen die alle so aus wie du?«

»Oh, nein! Es gibt jede Menge Monsterarten: schuppenartige, federhafte, panzerartige, stachelartige, schleimige … Ich bin übrigens ein Pellitus, ein Fellartiger.«

»Wenn es so viele Monster gibt, wie kommt es, dass ich noch nie eins gesehen habe?«

Melvin klaubte sich ein Stück Thunfisch aus dem Brustfell: »Du hast noch nie ein anderes Monster gesehen, weil wir uns nur zeigen, wenn wir uns zeigen wollen.«

»Du kannst dich unsichtbar machen?!«

Melvin grinste und schwang sich vom Schreibtisch. »Viel besser – ich kann bluffen!« Und dann geschah etwas Irrwitziges. Ein kaum wahrnehmbares Wispern, nicht lauter als der Flügelschlag einer Fledermaus, und Melvin war – weg! Fassungslos starrte Robin auf die Stelle, wo er eben noch gewesen war.

Erneutes Wispern und Melvin erschien wieder – wenn auch nur zur Hälfte: In Robins Zimmer schwebte ein Monster ohne Unterleib.

Melvin grinste noch breiter, als er Robins verdutztes Gesicht sah, und wackelte hin und her. Da wo seine Beine sein sollten, schien die Luft kaum merklich zu flirren – oder spielten ihm seine Augen einen Streich? Er blinzelte und beugte sich vor. Und da sah er es: Vom Nabel abwärts hatte Melvins Fell haargenau die Farbe und die Maserung des Schreibtisches angenommen.

Wie ein Oktopus, dachte Robin.

Wieder das Wispern und Melvins Fell war plötzlich von Kopf bis Fuß dunkelbraun gestreift. Ein Wispern weiter und es war scharlachrot. Wispern: Tarnflecken in Grün und Braun. Wispern: Schachbrettmuster in Violett und Orange. Wispern: Zebrastreifen. Wispern: Lilafarbene Tupfen auf Himmelblau. Wispern: Goldgelbes Waffelmuster. Wispern: Veilchen auf giftgrünem Grund …

Beim Waffelmuster konnte Robin sich noch beherrschen, doch beim Anblick der Veilchen prustete er los.

Mit einem letzten Wispern wechselte Melvin zu seinem ursprünglichen getupften Blaugrau zurück: »Nicht übel, was? Noch besser ist das Morphen – dabei kann man sich in eine komplett andere Gestalt verwandeln. Aber das ist richtig schwierig, und bei der MOE nehmen sie keinen unter sechzehn, und das auch nur, wenn …«

»Wie alt bist du denn?«

Melvin streckte die Brust vor: »Ich bin schon elf!«

»Ich werde an Halloween elf!«, rief Robin.

Melvin machte ein bestürztes Gesicht, als sei ihm etwas siedend heiß eingefallen: »Stimmt! Ich quatsche und quatsche und du musst morgen zur Schule! Höchste Zeit, schlafen zu gehen.«

»Nein, nein! Erzähl mir noch mehr. Was kannst du noch? Kannst du zaubern?«

Doch Melvin schüttelte nur den Kopf und scheuchte ihn Richtung Bett. Robin wollte protestieren, er war viel zu aufgeregt, um jetzt zu schlafen. Da erklang von irgendwoher ein Schnurren und im nächsten Augenblick konnte er sich kaum aufrecht halten. Wie eine besoffene Ente wankte er zum Bett und fiel vornüber in die Kissen.

»Kommst du morgen wieder?«, nuschelte er noch, bevor er in tiefen Schlaf fiel.

Melvin deckte ihn zu und löschte das Licht. Ein Strahl Mondlicht fiel in den Erker. Er stutzte und trat näher. Verblüfft beäugte er die alte Handpuppe, dann grinste er: »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aussiehst wie Onkel Melrose?« Er stupste ihr in den Bauch und der Kopf der Puppe neigte sich. Es sah aus, als ob sie nickte.

Kapitel 3
Von Löchern und Schneebesen

UM SIEBEN UHR RASSELTE DER WECKER. Robin streckte einen Arm unter der Bettdecke hervor und versetzte ihm einen Hieb. In hohem Bogen flog der Wecker in den Wäschekorb, wo er beleidigt verstummte. Robin drehte sich schlaftrunken zur Wand und zog sich die Decke über den Kopf. Irgendetwas hatte er geträumt und die Reste dieses Traums spukten noch in seinem Kopf herum. Er wollte nicht darüber nachdenken und kuschelte sich tiefer in die Decken. Schon fühlte er eine neue Welle warmen Schlafes heranrollen, da durchfuhr es ihn eiskalt: In der ersten Stunde war Heimatkunde bei Mrs Keeman! Das Referat!

Jäh fuhr er hoch – und erblickte am Fußende des Bettes seine Schultasche. Schlagartig fiel ihm alles wieder ein. Das war kein Traum gewesen, oder?

»Hallo?«, flüsterte er. Nichts rührte sich.

»Äh, Melvin …?« Er stieg aus dem Bett und durchsuchte das Zimmer. Er sah unterm Bett, im Kleiderschrank und sogar auf dem Balkon nach. Von Melvin keine Spur. Nachdenklich setzte sich Robin zu Mr Moon in den Erker.

»Es ist kein gutes Zeichen, wenn man nicht mehr weiß, ob man etwas geträumt hat oder ob es wirklich passiert ist, oder?«, murmelte er. Die Handpuppe schielte ihn freundlich an.

Andererseits …

Was hatte Melvin letzte Nacht gesagt? Du hast noch nie ein anderes Monster gesehen, weil wir uns nur zeigen, wenn wir uns zeigen wollen.

Robins Grübelei wurde von einem gedämpften Ticken gestört. Irritiert sah er sich um, dann fiel ihm der Wecker ein. Er grub die Uhr aus der Wäsche hervor und zuckte beim Anblick des Ziffernblattes zusammen. Himmel, schon so spät!

Er fuhr in seine Kleider, schnappte sich die Schultasche und rannte aus dem Zimmer. In vollem Lauf schwang er sich auf das Treppengeländer und rutschte nach unten. Gekonnt fing er den Schwung eine Handbreit vor der Haustür ab. Dieses Kunststück hatte ihn letzten Winter zwei Wochen Training, mehrere blaue Flecken und eine blutige Nase gekostet. An der Haustür klebte ein beschrifteter Umschlag: Essen im Kühlschrank. Buch im Antiquariat abholen. Bis Montag. Rufus.

Im Umschlag lagen eine beachtliche Menge Geld und ein Abholschein.

Es kam öfter vor, dass Robin ein paar Tage allein blieb. Rufus war Wissenschaftler. Seit Jahren schrieb er an einer mehrbändigen Enzyklopädie und hielt Vorträge über seine Forschungen. Diesmal war er zu einem Kongress nach Südfrankreich geflogen.

Robin stopfte den Umschlag in die Hosentasche und stolperte aus dem Haus. Im Laufschritt eilte er zur Schule.

Der Schulhof war leer. Es hatte schon geklingelt. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hetzte er in den ersten Stock. Mrs Keeman war schon mit einem Fuß im Klassenzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Robin gelang es gerade noch, unbemerkt hinter ihrem Rücken hindurchzuschlüpfen. Er huschte auf seinen Platz in der letzten Reihe.

Imogen, seine Sitznachbarin, blickte ihn durch ihre Brille hindurch erstaunt an, als ob sie ihn zum ersten Mal sähe. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Imogen guckte immer so. Ihr Stoffbeutel baumelte an der Stuhllehne und müffelte vor sich hin. Der Geruch erinnerte Robin heute an alten Camembert.

Wie immer in Heimatkunde war es in der Klasse sehr still. Mrs Keeman setzte sich ans Lehrerpult, richtete Bücher und Stifte parallel zur Kante aus und schlug das Klassenbuch auf. Mit einem krallenartigen Zeigefinger fuhr sie langsam die Reihe der Namen entlang. Keiner der Schüler wagte es, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Nur Freddy drehte sich zu Robin um und feixte stumm. Als Robin auf seine Schultasche deutete, zog sich Freddys Gesicht zusammen wie eine geballte Faust, und er machte eine rüde Geste. Ohne vom Klassenbuch aufzusehen, sagte Mrs Keeman: »Frederick O. Blueford, wir alle sind deinem seligen Urgroßvater immer noch dankbar, dass er Oaksend damals mit seiner Fabrik vor dem Ruin gerettet hat.« Ihre Stimme wurde eisig: »Das gibt dir jedoch noch lange nicht das Recht, heute meinen Unterricht zu stören.«

Freddy fuhr herum, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Mit Mrs Keeman war nicht zu spaßen. Ihre Strafen waren so launisch wie legendär.

Der Zeigefinger stoppte. »Robin Miller!« Mrs Keeman hob den Blick: »Du hast ein Referat vorbereitet?«

Robin stand langsam auf. Er war schrecklich nervös. Seine Knie fühlten sich an wie Quallen in Gelee. Er öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Sein Hals war wie zugeschnürt. Alle starrten ihn an. Mrs Keemans Echsenaugen verengten sich, ihre Hand tastete nach dem Füller …

Robin wurde heiß und kalt zugleich … Da tauchte vor seinem inneren Auge ein Bild der letzten Nacht auf: Was hatte doch gleich auf dem Pergament gestanden? Melvin Montgomery ist hiermit unwiderruflich gebunden an den heiligen Eid der Mentora, seinen Schützling von diesem Tag an zu beschützen und vor Unheil jeglicher Art zu bewahren

Waren nicht auch Lampenfieber und Lehrer eine Art Unheil, ganz besonders Mrs Keeman? Und während er das noch dachte, überkam ihn die Vorstellung, wie es wäre, wenn ein pelziges Monster aus dem Nichts auftauchen und sich auf Mrs Keemans Schreibtisch lümmeln würde. Unwillkürlich musste er grinsen und auf einmal ging alles ganz leicht. Die Panik verflog, der Knoten in seinem Hals löste sich und er bekam wieder ein Gefühl in den Beinen. Mit fester Stimme begann er, sein Referat vorzulesen.

Nach der Schule eilte Robin nach Hause. Der kürzeste Weg führte eigentlich über den Marktplatz – aber dann müsste er den Mistelweg hinaufgehen und käme am Haus von Mrs Stickforth vorbei. Da nahm er lieber einen Umweg in Kauf und folgte einem Pfad, der auf verschlungenen Wegen am alten Wasserturm, dann ein Stück am Wald entlang und schließlich zu einer ehemaligen Pferdekoppel führte. An deren verwittertem Gatter endete der Mistelweg in einer Sackgasse. Rufus’ Haus war das letzte in der Straße – und das schäbigste.

Übermütig hechtete Robin über das Gatter und sprintete die letzten Meter nach Hause. Er konnte es immer noch nicht fassen. Für sein Referat hatte er von Mrs Keeman eine Drei minus bekommen – das war so viel wert wie eine glatte Eins bei allen anderen Lehrern. Später im Sportunterricht hatte Freddy mal wieder versucht, Robin als lebendige Zielscheibe zu missbrauchen, doch jedes Mal hatte der Ball einen merkwürdigen Drall bekommen und Robin verfehlt. Freddy war stinkwütend geworden. Nach der Schule sann er auf Rache und trieb Robin in der Toilette in die Enge. Wie genau es geschah, konnte sich Robin nicht erklären, aber plötzlich war da dieses Stück Seife. Freddy glitt darauf aus und schoss wie ein Eishockeypuck gegen das Abflussrohr. Das Rohr zerbarst und im Nu war die ganze Toilette überschwemmt. Robin konnte flüchten. Freddy nicht. Der Hausmeister, angelockt durch den ohrenbetäubenden Krach, bekam einen Tobsuchtsanfall und verdonnerte Freddy dazu, die ganze Suppe bis zum letzten Tropfen aufzuwischen. Was für ein Glückstag!

Zu Hause angekommen, schoss er die Treppe hinauf in sein Zimmer.

»Na, wie war’s in der Schule?« Melvin lümmelte mit Mr Moon im Erker und las in einem Band von Snurps galaktischen Abenteuern. »Wischt Freddy immer noch die Toilette auf?«

Robin ging ein Licht auf: »Du warst das!«

Melvin lächelte fein.

»Du hast Freddy auf der Seife ausrutschen lassen! Hast du auch etwas damit zu tun, dass er mich im Sportunterricht einfach nicht treffen konnte?«

Melvin nickte mit kaum verhohlenem Stolz.

»Und wie hast du das mit Mrs Keeman hingekriegt?«

Melvin hob abwehrend die Hände: »Moment mal, das mit Freddy gebe ich zu, aber das mit dem Referat hast du ganz allein gemacht, damit hatte ich nichts zu tun! Ich saß brav auf der Fensterbank und habe zugehört. Ich fand dein Referat übrigens sehr spannend. Die Stelle mit dem Blutbad auf Schloss Beauregard hat mir besonders gefallen.«

»Oh, äh … danke.«

Melvin legte den Comic zur Seite. »Um das Wichtigste zwischen uns ein für alle Mal klarzustellen: Monster dürfen nur beschützen. Wir dürfen uns nicht in das Leben unseres Schützlings einmischen!« Er setzte sich auf, legte eine Hand auf die Brust und sagte mit feierlicher Stimme: »Die acht Gesetze der Monsterwelt lauten:

1. Du sollst den Menschen beschützen.

2. Deine Kraft diene ausschließlich seinem Wohlergehen.

3. Nie sollst du deine Kraft für andere Zwecke missbrauchen, es sei denn, es droht Gefahr für Leib und Leben.

4. Du sollst die Entscheidungen deines Schützlings respektieren.

5. Nie sollst du deinen Schützling beeinflussen.

6. Du sollst nie in die Träume deines Schützlings eindringen.

7. Du sollst dich nie von deinem Schützling abwenden.

8. Du sollst eines anderen Schützling nicht begehren.«

Ernst sah er Robin an: »Ich habe auf diese Gesetze einen Eid geschworen.«

Robin war sich nicht sicher, ob er alles begriffen hatte, aber es hörte sich fast so an, als ob … Bedeutete das vielleicht, dass er nie mehr Angst vor Freddy haben musste? Augenblicklich breitete sich ein eigenartiges Gefühl in ihm aus, eine Leichtigkeit, die ihm völlig neu war. Es war, als ob ihm Melvin einen schweren Rucksack abgenommen hätte, einen Rucksack, den Robin schon sehr lange mit sich herumgetragen und an den er sich mittlerweile gewöhnt hatte – so sehr, dass er die Last zwar noch spürte, sich aber nicht mehr erinnern konnte, woher sie eigentlich kam.

»Alles in Ordnung mit dir? Du guckst so komisch«, fragte Melvin besorgt.

Robin lächelte. »Keine Sorge – es ging mir nie besser!«

KNURR!

Melvin griff sich an den Bauch: »Sag mal, hast du nicht auch Hunger?!«

»Klar, und wie!« Robin sprang auf. »Rufus hat vorgekocht. Wir müssen es nur aufwärmen!«

Dicht gefolgt von Melvin, lief er nach unten in die Küche und wuchtete einen schweren Topf aus dem Kühlschrank. Als er den Deckel hob, wich Melvin zurück.

Robin sagte: »Was für ein Glück – Linseneintopf! Den kriegt Rufus ganz gut hin. Seine Graupensuppe ist immer …«

»Nas is nich nein Ernst!« Melvin hielt sich die Nase zu und starrte entsetzt auf die trübe Brühe. Graubraune Klumpen dümpelten auf der Oberfläche.

Robin blickte verwundert auf: »Na ja, es sieht zwar nicht aus wie im Pfannkuchen-Palast, aber mit ein bisschen Ketchup – hey!«

Melvin schnappte ihm den Topf vor der Nase weg und trug ihn aus der Küche. Einen Augenblick später hörte Robin das Rauschen der Klospülung.

»Und was sollen wir jetzt essen?«, rief er. Die Aussicht auf öde Butterbrote ließ seinen Magen empört aufknurren. Melvin kam zurück, schob ihn beiseite und langte nach der Küchenschürze. »Linseneintopf!«, schnaubte er und band sich den fadenscheinigen Stoff um den Bauch, »wie kann man nur etwas essen, das aussieht wie Glitschlaich und stinkt wie Stachlerdung?«

Glitschlaich? Stachlerdung?

Während Melvin sämtliche Schränke und den Kühlschrank durchwühlte, beschloss Robin, sich über gar nichts mehr zu wundern, und ließ sich auf einen Küchenstuhl plumpsen.

»Mal sehen«, murmelte Melvin vor sich hin, »heute ist Freitag, also sollte es etwas Gelbes sein!« Mit atemberaubendem Tempo wirbelte er durch die Küche. Das erinnerte Robin an etwas.

»Melvin, was ich dich noch fragen wollte …« Er duckte sich. Fünf Eier samt Schale flogen knapp an seinem Kopf vorbei in eine große Schüssel. Ein sechstes verfehlte sein Ziel und zerschellte unterhalb der Küchenuhr.

»Hmm?«

»Wenn du Freddy in der Toilette ausgetrickst hast – also mit mir dort warst –, wie konntest du dann vor mir zu Hause sein? Ich bin den ganzen Weg gerannt.«

Zwei ungeschälte Bananen und eine halbe Packung Cornflakes landeten in der Schüssel, die andere Hälfte regnete auf den Küchenboden.

»Was? Ach so …« Melvin tastete sein Fell ab, griff in eine Tasche und warf ihm etwas zu. Es war das seltsame Aufkleberdingsbums, das Robin schon letzte Nacht aufgefallen war. Er wendete es hin und her. Es war nur ein simples Stück Stoff, nicht viel größer als ein Fladen. Fragend sah er hoch – und kippte fast hintenüber, als er sah, wie Melvin eine Kralle hervorschnappen ließ und eine Dose Mais so leichthändig aufschlitzte wie andere Leute einen Briefumschlag.

»Das ist ein Hatchpatch! Damit kannst du von einem Ort zum anderen kommen – eine Art Expresstunnel.« Ein Riesenbatzen Erdnussbutter klatschte in die Schüssel. Großzügig ließ Melvin Honig darüberfließen. Der Tisch bekam auch was ab.

»Das da ist ein Junior-Modell, das bringt es nur auf 120 Batwoms und die Reichweite ist begrenzt. Aber wenn ich groß bin, bekomme ich ein richtiges. Es gibt Modelle, die bringen es auf 300 Batwoms! Wenn man ein bisschen dran rumfrisiert, sogar auf 350. Damit könnte man glatt bis zum Mars fliegen.«

»WAS

»War nur ’n Witz!«, gluckste Melvin und schredderte mit seinen Krallen ein Stück Käse klein.

Robin ließ den Stoff durch die Finger gleiten. Das Gewebe war hauchdünn und fühlte sich kühl an. »Woraus ist es gemacht?«

Klimaanlage

Melvin stellte die Schüssel in den Ofen und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Warte, ich zeig’s dir.«

Er nahm das Hatchpatch und warf es auf den Küchentisch. In dem Augenblick, in dem es die Tischplatte berührte, geschah etwas Unglaubliches: Der Stoff wurde lebendig, faltete sich blitzartig auseinander und verschmolz mit dem Holz. Mit einem leisen, saugenden Geräusch öffnete sich mitten auf dem Küchentisch ein kreisrundes Loch. Melvin nahm den Schneebesen, hielt ihn genau darüber und ließ ihn los. Der Schneebesen verschwand in der Tiefe und in der gleichen Sekunde verschwand auch das Loch.

Robin starrte auf die unversehrte Holzplatte.

Er tauchte unter den Tisch. Nichts.

»Wo ist er hin?«

Melvin deutete auf den Küchenboden.

Dort öffnete sich das Loch wieder und herausgeschossen kam – der Schneebesen! Melvin fing ihn mitten in der Luft auf.

Robin traute seinen Augen kaum. Er lief zum Hatchpatch und streckte die Hand nach dem Loch aus …

»NICHT!«, rief Melvin, »Jedes Hatchpatch kennt seinen Besitzer – wenn jemand Fremdes einzudringen versucht, beißt es zu!«

Das wurde Robin dann doch zu viel: »Jetzt mach aber mal ’nen Punkt!«

»Kein Scherz! Onkel Melrose hat mal aus Versehen sein Hatchpatch mit einem anderen verwechselt – drei Wochen lang musste er durch einen Schlauch atmen!« Robin zuckte zurück.

Während Melvin das Hatchpatch sorgfältig in einer seiner Taschen verstaute, drang ein fremdartiger Duft in Robins Nase. Er schnupperte. Was war das bloß? Roch das gut oder schlecht? Argwöhnisch sah er zum Ofen.

Wenig später stellte Melvin etwas auf den Tisch, das aussah wie ein gigantischer gelber Pilz. Doch als Robin den ersten Bissen nahm, staunte er. Noch nie hatte er so etwas Leckeres gegessen. Gierig langte er zu und schaufelte sich den Teller voll. Erst nach fünf Portionen legte er die Gabel beiseite und sank gegen die Stuhllehne.

Nicht dass er bei Rufus zu wenig zu essen bekam. Aber Robin musste feststellen, dass es sich ganz anders anfühlte, wenn man satt war, weil es geschmeckt hatte.

Melvin tauchte mit dem Kopf in die Schüssel und schleckte sie aus.

»Das war toll!«, sagte Robin begeistert, »was war das eigentlich?«

Dumpf klang es aus der Schüssel hervor: »Altes Montgomery-Familienrezept: Biest im Schlafrock!«